Julia Platin Band 13

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  • Erscheinungstag 06.08.2021
  • Bandnummer 13
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503099
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Emilie Richards, Rosalie Hanaghan, Carole Mortimer

JULIA PLATIN BAND 13

1. KAPITEL

Mit erfrorenen Fingern kann ein Mann eine Menge nicht machen: arbeiten, sich rasieren oder kämmen. Eine ganze Menge kann er mit einer Frau nicht machen und eine ganze Menge würde sie ihn nicht machen lassen, selbst wenn er könnte.

Im Moment weigerten sich Jason Millingtons Finger, eine Kaffeetasse von der Theke eines Coffee Shops im Stadtzentrum anzuheben und an seine Lippen zu führen.

„Stimmt was nicht mit dem Kaffee, Kumpel?“

Mit triefenden Augen starrte Jase den Besitzer an. Der war klein und fett, ein kahlköpfiges Bleichgesicht mit dem unpassenden Namen Red. Der Coffee Shop hieß Red’s Place. „Ich lasse mir nur Zeit.“

„Viel Zeit.“

Jase blickte nach beiden Seiten, obwohl er bereits wusste, dass er und Red zwei von sechs Personen in einem Raum waren, der vierzig Leuten Platz bot. „Ist ja nicht so, als ob Sie einen Platz brauchen würden, oder?“

„Wir haben Gesetze gegen Herumtreiben.“

„Wahrscheinlich haben wir auch Gesetze gegen Bedrängen von zahlenden Kunden.“

„Ich habe noch kein Geld gesehen.“

Jase stocherte mit seinem Zeige-Eiszapfen in seiner Hosentasche herum und hörte das beruhigende Klimpern von Münzen. Er hatte an diesem Abend genug Altaluminium zum Recycling gebracht, um sich auch ein Sandwich zu leisten. Aber das wollte er nicht bei Red kaufen. Jase hatte eine lange Nacht vor sich und musste noch einige Zwischenstopps einlegen. Wenn er sich diese Stopps richtig einteilte, brauchte er sich bis zur Morgendämmerung nicht der Kälte aussetzen.

Er stand auf und krümmte seine Finger gerade genug, um drei Quarters zu fassen und sie über die Theke zu schieben. Red murmelte irgendetwas, ging jedoch weg. Jason wärmte sich wieder seine Hände an der Tasse.

Clevelands Winter waren in der Hölle erdacht worden. Niemand zog wegen des Wetters in die Stadt. Vielleicht wegen der Symphonie oder des Kunstmuseums, sogar wegen der Seepromenade im Sommer mit ihren farbenfrohen ethnischen Festen. Aber niemand ließ sich hier nieder – oder versuchte es zumindest, weil er die Januarwinde direkt vom Erie-See oder die tückischen Blizzards des Februar mochte.

Die Optimisten betrachteten den März als Vorspiel des Aprils. An diesem Abend war Jase ein Optimist. Draußen waren es drei Grad, und er besaß nur wenig Schutz. Den Mantel hatte er von seiner Schwester erhalten, und das Ding hatte mehr Löcher als die vom Frost aufgebrochenen Straßen der Stadt. Was noch von dem Fellbesatz übrig war, litt gewaltig unter Räude, und die Ärmel waren acht Zentimeter zu kurz. Pamela hatte noch nie ein Auge für Kleidergrößen gehabt.

Der Mantel brandmarkte Jase, genau wie die Jeans mit den Knien und dem Gesäß, die vom Tragen schimmerten, und die mit Pappe verstärkten Schuhe, die überhaupt nicht schimmerten. Dutzende Männer waren an diesem Abend in den Straßen mit der gleichen unzureichenden Bekleidung, dem gleichen Minimum an Kleingeld in den geflickten Taschen und dem gleichen lustlosen Gesichtsausdruck unterwegs. Mangel an gutem Essen und Schlaf machte jeden lustlos, sogar den Stärksten und Fröhlichsten.

Die Tür des Coffee Shops flog mit einem Knall auf. Zwei Männer, neben denen Jase wie ein Model aus dem „Esquire“ aussah, wurden von einer Böe vom Erie-See hereingeweht. Der eine hatte einen fettigen Pferdeschwanz, und an einem Ohr hing ein Vorhangring aus Messing. Der andere Mann hatte ein engelsgleiches zahnloses Lächeln.

Red Dewayne war an der Tür, bevor sie zuschlug. „Ich habe euch tausendmal gesagt, dass ich euch nicht hier drin haben will. Raus!“

„Ach, Red, wem tun wir denn was?“, fragte der Zahnlose. „Wir haben heute Geld für das Abendessen.“

„Sieht nicht gut fürs Geschäft aus, wenn ihr euch hier aufhaltet. Sieht aus, als wäre hier ein Obdachlosenasyl.“

Jase hörte dem Wortwechsel zu. Als die beiden Männer aufgaben und gingen, schätzte er, dass seine Minuten gezählt waren. Er schaffte es, die Hände um die Tasse zu legen und sie an seine Lippen zu heben.

Gerade als Red sich zu Jase wandte, flog die Tür wieder auf. Dankbar für den Aufschub, blickte Jase hinüber. Er hoffte, dass dieser Wortwechsel lange genug dauerte, dass er seinen Kaffee austrinken konnte.

Diesmal stand eine Frau an der Tür. Quer durch den Raum sah Jase, dass sie zitterte. Sie trug einen Mantel aus einem unattraktiven rattenbraunen Wollstoff, keine Handschuhe, keinen Hut und keinen Schal. Ihre Beine sahen auch nackt aus, und er hoffte, dass sie wenigstens unterm Mantel etwas anhatte.

„Mr. Dewayne?“ Sie ging auf Red zu. „Ich bin Becca Hanks. Ich war gestern Abend wegen eines Jobs hier, aber der Mann hinter der Theke sagte, ich sollte heute Abend wiederkommen und mit Ihnen sprechen.“

Sie streckte die rechte Hand aus. Jase zuckte unwillkürlich zusammen, als Red sie widerwillig mit seiner Hand quetschte. Händeschütteln war auch etwas, bei dem gefrorene Finger nicht gerade ideal waren.

Wenn es ihr wehtat, zeigte sie es nicht. „Tut mir leid, dass ich so spät komme, aber ich hatte Probleme mit dem Wagen und musste die letzten zwei Meilen zu Fuß gehen.“ Sie griff in eine große Plastiktasche, zog ein Stück Papier heraus und hielt es dem kleinen Dicken hin.

Red rümpfte die Nase, als würde das Mädchen ihm ein schmutziges Papiertaschentuch reichen. Er nahm es auch, als wäre es eines, mit Daumen und Zeigefinger an einer Ecke, offenbar um sich nicht anzustecken. Er überflog die wenigen Zeilen und gab den Bogen zurück.

„Ich sehe keine Telefonnummer und keine richtige Adresse, nur ein Postfach. Ich kann Sie nicht in einem Postamt anrufen.“

„Ich weiß. Tut mir leid, aber ich bin neu in der Stadt, und ich … ich wohne bei Freunden, bis ich eine eigene Wohnung finde.“

„Die Freunde haben ein Telefon?“

„Ich möchte sie nicht mit meinen Anrufen belästigen. Aber wenn Sie mich anstellen wollen, kann ich so oft kommen, wie Sie es sagen.“

Jase lauschte dem heiseren Klang der Stimme. Die Frau sprach, als hätte sie eine gewisse Bildung.

Sie war nicht hübsch. Soweit er ihren Körper sehen konnte, war sie viel zu dünn. Ihr hellbraunes Haar war lang, und die Enden waren abgebissen, als hätte jemand mit einer stumpfen Schere daran herumgeschnippelt. Die Masse der Haare wurde mit einem Gummiband aus ihrem Gesicht ferngehalten, ordentlich aber wenig schmeichelnd, und diese Frisur entblößte ein von der Kälte raues Gesicht. Es war nicht so, dass mit ihren Zügen irgendetwas nicht stimmte, aber der Mangel an Vitalität, vielleicht sogar der Mangel an Hoffnung in ihrer Miene war dominierend.

Sie hustete, wobei sie höflich ihren Kopf abwandte und die Hand vor den Mund hielt, aber dieses tiefe und krampfhafte Husten war der letzte Tropfen, der bei Red das Fass zum Überlaufen brachte.

„Ha, Sie brauchen gar nicht zurückzukommen. Ich kann Sie nicht einstellen.“

Sie sah aus, als hätte er sie geschlagen, aber nur für einen Moment, dann hob sie das Kinn an. „Ich würde hart arbeiten. Niemand würde härter oder schneller arbeiten.“

„Sie haben nicht mal eine richtige Wohnung. Woher soll ich wissen, dass Sie nicht nur kurz jobben wollen? Ich muss meine Hilfe ausbilden. Ich hätte Sie gerade ausgebildet, und Sie wären wieder weg.“

„Oh nein, ich werde bleiben, ich …“

„Wie wollen Sie eine Uniform kaufen? Wie wollen Sie die Sachen sauber halten, während Sie auf Ihren Gehaltsscheck warten? Trinkgelder gibt es hier nicht, wenigstens nicht in dieser Schicht. Wenn Sie kein Geld für den Anfang haben, halten Sie es keine zwei Wochen durch. Und ich gebe Ihnen keinen Vorschuss.“

Der Dicke ließ ihr keine Zeit für eine Antwort, obwohl Jase bereits bezweifelte, dass sie überhaupt eine geben wollte. Red wischte sich die Hände an der Schürze ab, ging hinter die Theke und verschwand durch eine Schwingtür.

Jase wollte seinen Blick abwenden, um der völlig jungen Frau wenigstens etwas Privatsphäre zu gönnen, doch gerade in dem Moment wurde ihr dünner Körper von einem Hustenkrampf geschüttelt, bis ihre Beine sie nicht mehr trugen. Noch während er hinsah, knickten ihre Knie ein.

Er war aufgesprungen und quer durch den Raum geeilt, bevor ihm bewusst wurde, dass er sich bewegt hatte. Er wollte nichts mit der Sache zu tun haben. Er hatte seine eigene brutale Nacht, die er durchstehen musste. Er brauchte keine Komplikationen. Kälte, Hunger und kein Platz zum Schlafen waren Komplikationen genug. Aber eine Fremde namens Becca Hanks brach vor seinen Augen zusammen, und das machte ihre Probleme drängender als seine eigenen.

Im nächsten Moment schlang er die Arme um sie. „Stützen Sie sich auf mich!“, befahl er. „Ich passe auf, dass Sie nicht hinfallen.“

Sie hatte keine andere Wahl, als sich gegen ihn zu lehnen. Er hielt ihr Gewicht, während eine Hustenwelle nach der anderen sie schüttelte. Sie wog so wenig wie ein Kind. Bei bester Gesundheit wäre sie wahrscheinlich noch immer leicht gewesen, aber jetzt hatte sie auf ihrem feinknochigen Körper Platz für gut zwanzig Pfund.

„Ich kann nicht … ich kann nicht …“

„Sprechen Sie nicht. Konzentrieren Sie sich aufs Atmen!“ Jase hielt sie noch fester.

Becca rang nach Luft, was noch mehr Husten auslöste.

„Ich bringe Sie zu einem Tisch. Im Sitzen geht es besser.“ Er zog sie halb in die Richtung des nächsten Refugiums.

„Was machen Sie da?“

Jason blickte hoch und sah Red auf sie beide losstürmen. „Wonach sieht das aus?“

„Sieht so aus, als wärt ihr nicht auf dem Weg zur Tür.“

„Sie sind ein schlauer Mann, Red.“

„Ich will, dass ihr beide verschwindet.“

„Sobald sie sich besser fühlt.“

„Sofort!“

Jase drückte Becca auf einen Stuhl. Sie krümmte sich nach Luft ringend vornüber. Jase fiel auf, wie alle Farbe, die der Wind in ihre Wangen gepeitscht hatte, schwand. „Holen Sie ihr ein Glas Wasser!“ Er kauerte sich neben den Stuhl und tätschelte ihr vorsichtig den Rücken.

„Ich werde nicht …“

Sein Kopf ruckte hoch, seine Augen zogen sich schmal zusammen. „Red“, sagte er ruhig, „Sie holen jetzt das Wasser, oder Ihr Name wird Grün-und-Blau sein.“

Der Dicke setzte zu einer Entgegnung an, aber Jase erhob sich in einer fließenden Bewegung und überragte den Mann, der ihn blitzartig einschätzte, hinter der Theke verschwand und mit dem Wasser wiederkam.

„Sie ernähren sich von der Milch der frommen Denkungsart.“ Jase nahm das Wasser und ging neben Becca wieder in die Hocke. „Hier, Honey, machen Sie kleine Schlucke.“

Sie griff nach dem Glas, aber ihre Hand zitterte zu sehr, als dass sie es halten konnte. Jase hob das Glas an ihre Lippen, und sie nahm einen kleinen Schluck.

„Gut. Großartig.“

„Ich will, dass ihr verschwindet.“ Red war tapferer, weil Jase neben dem Stuhl kauerte, aber er wich zurück, als er hinzufügte: „Ihr verscheucht mir die Kundschaft.“

„Keine Sorge. Wer so dumm ist, in diesem Schweinestall zu essen, lässt sich nicht verscheuchen.“

Von dem Stuhl kam ein Geräusch, das sich nicht wie Husten anhörte. Jase war nicht sicher, ob es Lachen oder ein unterdrücktes Schluchzen war. Er fragte sich, ob diese Frau irgendetwas in ihrem Leben zu lachen hatte.

Er hielt ihr das Glas an die Lippen, und sie nahm noch einen Schluck. Der Husten ließ nach, und sie war fähig, das Glas selbst zu halten. Schließlich hob sie den Kopf und sah Jason an. „Vielen Dank.“

„Ich habe doch gar nichts getan.“

„Ich wäre nur noch ein Haufen Elend auf dem Boden.“

„Ein sehr kleines Häufchen.“

„Dieses Lokal könnte so eine Art Bodenschmuck gebrauchen.“

„Sie wären hier eine Verschwendung.“

Becca versuchte zu lächeln, aber ein neuer Hustenanfall schüttelte sie. Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab.

Jason stand auf. Einer der Männer, die am anderen Ende der Theke gesessen hatten, kam zu ihm. Er war alt und sichtlich arm, aber nichts an ihm deutete darauf hin, dass er obdachlos war. Wahrscheinlich nur einer der vielen Alten, die in der Nachbarschaft in kleinen Apartments wohnten. „Ich will euch nur warnen“, sagte er gedämpft. „Red ruft die Cops. Ich habe es von meinem Platz aus gehört.“

Jase nickte dankend. „Können Sie jetzt gehen?“, fragte er Becca.

„Ich glaube schon.“

Er half ihr auf die Beine. Sie war unsicher, bemühte sich jedoch um ihr Gleichgewicht.

Jason erklärte ihr, was der alte Mann gesagt hatte. „Sie könnten hierbleiben. Die werden nur ein paar Fragen stellen.“

„Nein!“ Sie hustete erneut. „Lassen Sie uns verschwinden.“

„Es ist bitterkalt da draußen.“

„Ich komme schon zurecht. Danke. Gehen Sie nur.“

Er lockerte nicht seinen Griff an ihrem Arm. „Wir gehen zusammen. Keine Widerrede“, fügte er hinzu, als sie zu protestieren versuchte.

„Ihr Abendessen“, sagte sie, als er eine Hand nach der Tür ausstreckte. „Haben Sie nicht gerade gegessen, als ich hereinkam?“

„Nein, ich hatte nur Kaffee.“ Er blickte sehnsüchtig zur Theke und glaubte, Dampf aus der fast vollen Tasse aufsteigen zu sehen.

„Tut mir leid, dass Sie nicht austrinken können“, sagte Becca.

„Es war nur Kaffee.“ Er öffnete die Tür und führte sie in die Kälte hinaus.

Becca fasste in ihre Manteltasche, als der Wind um ihre nackten Ohren heulte, und zog einen Schal hervor. Mottenzerfressen und verwaschen, hatte er nicht zu einem Vorstellungsgespräch gepasst, aber nun schlang sie ihn mit zitternden Fingern um ihren Kopf und den Hals. Dabei betrachtete sie den Mann, der sie gerettet hatte.

Captain Kidd oder Blaubart hatten wahrscheinlich sanfter ausgesehen. Ein rotes Piratenkopftuch bedeckte seine dunklen Haare, und ein mehrere Tage alter Bart verdüsterte sein Gesicht. Er war wie viele andere Obdachlose gekleidet, denen sie begegnet war. Zum Glück war er sauberer als die meisten.

Er wirkte entweder zu jung oder zu alt, um auf der Straße zu leben. Sie schätzte ihn ein oder zwei Jahre jünger als dreißig.

„Wir sollten weitergehen“, sagte er. „Ich glaube nicht, dass die Cops nach uns suchen, aber es hat auch keinen Sinn, auf die zu warten.“

„Ich bin Becca.“

Er ergriff behutsam ihre ausgestreckte Hand. „Jase.“

„Danke.“ Sie schob ihre Hände in die Taschen, um sie warm zu halten. „Ich sollte lieber wieder zurück … zu der Wohnung meiner Freunde. Sie werden sich schon fragen, was mit mir passiert ist.“

Jason erkannte die Wahrheit, wenn er sie hörte. Und er erkannte auch eine Lüge. Becca log nicht gut. „Sie hatten eine Panne?“

„Der Motor ist einfach abgestorben.“ Sie begann wieder zu husten.

„Zwei Meilen von hier?“

Sie nickte.

Im Umkreis von zwei Meilen war es in diesem Teil der Stadt nicht sicher. „Sie schaffen es nicht so weit.“

„Ich habe es einmal geschafft, ich werde es wieder schaffen.“

„Und wenn Ihr Wagen nicht anspringt?“

„Wahrscheinlich musste er sich nur ausruhen.“

„Genau wie Sie.“

Becca blickte auf. Er hatte grüne Augen unter dichten dunklen Brauen. „Danke, aber ich komme klar.“

„Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.“

„Sie haben mir schon genug geholfen.“

„Ich begleite Sie zu Ihrem Wagen.“

Sie musste sich darauf konzentrieren, den Husten zu unterdrücken, weshalb sie auf Widerspruch verzichtete. Jeder Schritt war eine Qual. Eine Sturmböe fegte zwischen den Gebäuden durch und warf sie fast um. Ihre nackten Beine waren steif, und sie sehnte sich nach der Jeans, die sie im Kofferraum ihres Wagens verstaut hatte.

Sie waren fünf Querstraßen weit gegangen, bevor Jase fragte: „Können Sie wirklich irgendwo unterkommen?“

„Habe ich doch gesagt.“

„Nicht weit von hier ist ein Asyl für Frauen, und dort haben sie für gewöhnlich Betten für Notfälle.“

„Ich bin kein Notfall.“

Sie waren wieder fünf Querstraßen weiter, als er erneut sprach. „Ich schätze nach Ihrem Akzent, dass Sie aus West Virginia sind.“

„Kentucky.“

„Sie sind weit weg von daheim.“

„Das hier ist jetzt daheim.“

„Warum Cleveland?“

Becca lachte verbittert und bekam wieder einen Hustenanfall. Sie blieb stehen, bis sie sich erholt hatte. „Weil es hier Jobs gibt“, antwortete sie und ging weiter. „Ich hatte gehört, dass es hier viele Jobs gibt.“

„Das Land ist in einer Rezession.“

„Es ist immer eine Rezession für Leute wie mich.“

„Leute wie Sie?“

Sie antwortete nicht, und er drängte nicht.

Sie bogen auf eine kurze Wohnstraße mit alten, heruntergekommenen Häusern und leeren Grundstücken, die da mit Schutt übersät waren, wo Häuser abgerissen worden waren. Sie gingen die Straße entlang, wichen einem kleinen Rudel Hunde aus und erreichten eine große Hauptstraße. Einen halben Block weiter befestigte gerade ein Abschleppwagen der Stadt eine Kette an der Stoßstange eines rostigen alten Chevrolets.

Becca stieß einen spitzen Schrei aus.

Jase wusste sofort warum. „Ihr Wagen?“

Sie schaffte ein Nicken, hustete wieder.

„Die lassen sich nicht mehr aufhalten. Sie werden die Strafe zahlen müssen, um den Wagen wiederzubekommen.“

Der Fahrer des Abschleppwagens stieg ein, und gleich darauf waren der Abschleppwagen und Beccas Fahrzeug verschwunden.

An der Ecke direkt hinter ihnen stand eine Kirche, ein Ziegelmonument, dass an Clevelands Einwanderervergangenheit erinnerte. Becca ließ sich auf die dritte Stufe sinken und stützte ihren Kopf in die Hände. „Das war der Ort, an dem ich unterkommen konnte.“

„Es gibt bessere Orte für ein Eigenheim als eine Parkverbotszone.“

„Der Motor hat hier gestreikt.“

„Die Freunde? Das Apartment? Lügen?“

„Ich musste Red etwas erzählen. Niemand stellt eine Kellnerin ein, die in einem Auto wohnt.“

„Haben Sie Geld, um Ihren Wagen auszulösen?“

„Ich habe nicht einmal Geld für ein Stück Kaugummi.“ Sie blickte zu ihm hoch. „Aber ich kriege welches. Ich finde schon eine Möglichkeit.“

„Nicht heute Nacht.“

Sie stützte ihren Kopf wieder in die Hände. „Vielleicht nicht heute Nacht.“

Jase war hin und her gerissen. In seinem Plan kam nicht vor, dass er sich um jemanden kümmerte. Aber was konnte er machen? Becca war schon krank. Eine Nacht auf der Straße konnte sie umbringen.

„Nicht weit von hier ist eine Mission“, erklärte er. „Da servieren sie Suppe, wenn Sie vorher zum Gottesdienst gehen.“

„Ich bin nicht hungrig.“

„Sie brauchen nicht das Gefühl zu haben, als würden Sie Wohltätigkeit annehmen. Ich habe gehört, dass man die Suppe bezahlt, indem man der Frau des Geistlichen beim Singen zuhört.“

„Sie gehen hin. Danke für alles, aber ich möchte allein sein.“ Sie bekam einen Hustenkrampf und schaute dann wieder hoch. „Sie sind ja noch immer hier.“

„Ich gehe erst, wenn Ihnen warm ist und Sie zu essen haben.“

„Seien Sie vernünftig und verschwinden Sie.“

„Ware ich vernünftig, wäre ich dann auf der Straße?“

Sie sah ihn forschend an. „Warum machen Sie das?“

„Weil Sie offenbar zu müde und zu krank sind, um eine gute Entscheidung zu treffen.“

„Ich kann alles machen. Niemand braucht mir zu helfen.“

Sie begann wieder zu husten.

„Becca, Sie werden hier draußen sterben.“

Sie erkannte, dass dieser Fremde, der sein eigenes Leben nicht in Ordnung hatte, recht haben mochte, was das ihre betraf. Angst krampfte sich in ihr zusammen, mächtiger als Schmerz und Verzweiflung. Sie hatte Gründe, zwei Gründe, um weiterzuleben. „Also gut, ich gehe. Aber es ist meine Entscheidung.“

„Sicher.“ Er stand auf. „Wir gehen langsam.“

Sie passte sich seinem Tempo an. Die Strecke war ihr nicht vertraut, aber es war ihr egal. Sie hatte keinen Wagen mehr, zu dem sie zurückkehren konnte. Ein Ort war so gut wie der andere. Becca hatte kein Gefühl mehr in den Füßen und Fingern, als sie ein blinkendes Neonkreuz am Ende eines Blocks mit schäbigen Ladenfronten sah.

Jase blieb stehen. „Das ist es. Halten Sie den Gottesdienst durch? Er wird bald beginnen.“

Sie versuchte, sich zusammenzureißen. „Ich kann alles.“

„Braves Mädchen.“

Zwei Menschenschlangen zogen sich über die Stufen der Mission auf den Bürgersteig herunter, aufgeteilt nach Geschlecht. Becca stellte sich in die eine, Jase in die andere. Die Schlangen rückten langsam vor, und als Jase die Stufen halb hinauf war, erkannte er den Grund. Jeder wurde vor dem Eintreten einer kurzen Durchsuchung unterzogen.

„Wonach sucht ihr?“, fragte er, als er an der Reihe war.

„Drogen, Messer.“ Der alte Mann an der Tür lächelte ihm zu. „Du bist sauber. Willkommen, Bruder!“

Jason nickte. Becca wartete drinnen auf ihn. Sie fanden einen Platz in der Kapelle. Während des in die Länge gezogenen Gottesdienstes behielt er sie im Auge. Nach Gebeten behielt sie die Augen geschlossen. Und wenn sie für Hymnen aufstand, schwankte sie. Selbst die relative Wärme in der stallartigen alten Kapelle half nur wenig gegen ihren Husten. Die meiste Zeit hörte Jase nicht einmal den Prediger, was eine eigene Art von Wohltat war.

Als der Gottesdienst endlich zu Ende war, standen die ungefähr hundert Menschen auf und gingen in einen großen Speisesaal. Dort stellten sie sich für einen Teller Suppe und eine Scheibe Brot an. Jase gab Becca sein Brot und trug die Suppe. Hätte sie ihren Teller selbst tragen müssen, wäre kein Tropfen übrig geblieben.

Die Suppe sah wässrig aus und das Brot trocken. Nachdem sie sich an einen langen Tisch gesetzt hatten, krümelte er das Brot in seine Suppe und löste damit beide Probleme. Selten hatte ihm etwas besser geschmeckt. Er sah zu, wie Becca ein paar Bissen hinunterschlang. „Wie lange haben Sie schon nichts gegessen?“

„Ich weiß es nicht.“

Er glaubte ihr. „Essen Sie langsam. Hier gibt es auch Betten.“

„Fünfzig Betten“, erklärte der Mann neben ihm. „Die ersten fünfzig an der Tür kriegen sie, fünfundzwanzig Männer, fünfundzwanzig Frauen. Hat man euch die Hand gestempelt?“

Jase sah Becca an. Sie schüttelte den Kopf.

„Dann werdet ihr hier nicht schlafen“, sagte der Mann.

„Sie sind krank“, sagte Jase zu ihr. „Vielleicht machen sie eine Ausnahme.“

„Ich kann doch nicht um den Platz einer anderen bitten.“

Er wollte sie schütteln. Was musste sie denn beweisen? Und wem? Sie war nichts weiter als eine obdachlose junge Frau, und niemand, absolut niemand kümmerte sich darum, ob sie Stolz hatte oder nicht. „Wie Sie wollen“, sagte er. „Aber bevor Sie erfrieren, schreiben Sie eine Nachricht für die Stadtverwaltung, dass Sie Ihr Begräbnis selbst bezahlen wollen, sobald der Heilige Petrus Ihnen Ihren Gehaltsscheck überreicht.“

„Was ich tue, geht Sie nichts an“, murmelte Becca.

„Stolz und Tod sind nichts, womit man prahlt. Sie müssen heute Nacht irgendwo warm schlafen.“

„Ich werde schon etwas finden.“

„Ich finde schon einen Platz.“

Jase beendete das Essen. Dann gingen er und Becca zur Tür. Der Prediger und seine Frau sprachen mit jeder einzelnen Person, die vorbeiging. Der Prediger runzelte die Stirn, als Becca zu husten begann. „Du bist krank. Du hast Fieber, Schwester“, sagte er und befühlte ihre Stirn.

„Könnte sie nicht diese Nacht bleiben?“, fragte Jase.

„Ich nehme niemandem das Bett weg“, sagte Becca zwischen Hustern.

„Am besten wäre sie in einer Notaufnahme aufgehoben.“ Der Prediger nannte zwei Krankenhäuser in der Nähe. „Eines nimmt sie vielleicht auf.“

„Danke“, sagte Becca.

Draußen warf Jase einen Blick auf sie und wusste, dass sie den Rat des Predigers ignorieren würde. Er versuchte es mit einem eigenen Rat. „Ich habe das mit der Unterkunft für Frauen ernst gemeint. Ich kenne jemanden von den Mitarbeitern. Bestimmt findet man einen Platz für Sie. Da kann man Ihnen helfen, wieder auf die Beine zu kommen.“

„Ich will keine Wohltätigkeit. Ich sorge für mich selbst.“

Jason erkannte, dass er sie an niemanden weitergeben konnte. Sie hätte sich lieber selbst geschadet, als sich von jemandem helfen zu lassen. Irgendwie bewunderte er sie, während er überlegte, was zu tun war.

„Suchen Sie einen Job?“

Die Frage überraschte ihn. „Nein.“

„Also, ich werde nicht aufhören, bevor ich etwas finde.“

„Alles erdenklich Gute, aber jetzt brauchen wir einen Platz zum Schlafen.“

„Mir geht es bestens.“

„In der Nähe ist eine Baustelle, und das Untergeschoss ist fertig. Es wird nicht so warm sein wie in der Unterkunft, aber es gibt wenigstens keinen Wind. Dahin gehen wir.“

„Ich gehe nirgendwohin mit Ihnen. Sie haben genug getan.“

Er legte seine bereits taub werdenden Finger auf ihre Schulter. „Sie kommen mit mir. Ich verfolge Sie die ganze Nacht, bis Sie vernünftig werden.“

Für einen Moment fragte sie sich, ob er ihr etwas antun wollte. Bisher war er nur freundlich gewesen. Sie begegnete seinem Blick und versuchte, seine Motive zu ermitteln.

„Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen etwas passiert“, versprach er. „Ich will Sie aus Wind und Kälte wegbringen. Und ich will etwas Schlaf. In Ordnung?“

Welche Wahl hatte sie schon? Sie brachte die Worte nicht über die Lippen, aber sie nickte.

Er lächelte ein wenig. „Gut.“

Als sie die Baustelle eines neuen Wahrzeichens in Clevelands Skyline erreichten, hatte Becca keine Kraft mehr. Ihre Knie zitterten, als sie Jase folgte. Er schien genau zu wissen, wohin er ging, und sie tippte darauf, dass er hier schon geschlafen hatte.

„Es gibt hier Sicherheitsleute“, sagte er. „Machen Sie sich keine Sorgen. In kalten Nächten lassen sie Leute drinnen schlafen.“

Sie fand das sehr seltsam, war jedoch zu erschöpft, um etwas zu erwidern. Sie suchten sich einen Weg durch Baustoffreste und provisorische Tunnels aus Sperrholz. Schließlich führte Jase sie zu einigen Stufen. „Schaffen Sie das?“

Becca nickte und ließ sich in das Untergeschoss führen. Auf halber Strecke durch den riesigen Raum sah er einen Mann mit einer Taschenlampe in der Hand. Jase schob sich vor Becca. Der Strahl glitt über sein Gesicht. Er winkte ab. Der Mann verschmolz mit der Dunkelheit.

„Jase?“, fragte sie.

„Schon gut. Ich habe Ihnen gesagt, dass die uns hier schlafen lassen. Die haben mich schon hier gesehen.“

In einem Raum ganz hinten gab es einen Ölofen. Es dauerte nur Sekunden, um ihn anzuzünden. Becca stand erstaunt daneben und wärmte sich die Hände. Jase beobachtete sie einen Moment, ehe er in den Nebenraum ging und eine Zeltbahn und zwei Schaumstoffbahnen brachte, die eine Ausrüstung für Tausende von Dollar geschützt hatten.

„Das ist besser als auf der Straße“, sagte er.

„Sie haben so viel für mich getan.“

„Tun Sie mir einen Gefallen, schlafen Sie. Ich halte Wache.“

„Aber Sie müssen auch schlafen.“

„Ich schlafe tagsüber“, log er. „Was machen Sie nachts?“

„Ich versuche, Ärger zu vermeiden.“

„Sie wirken so …“

Es war offensichtlich, dass sie nach einem Wort suchte. „Normal?“

„Nein. Tüchtig. Ich wette, Sie könnten eine Menge machen.“

„Schlafen Sie, Becca. Wir reden morgen früh.“

Sie ging zu dem behelfsmäßigen Lager, rollte sich auf der Seite zusammen, setzte sich wieder auf und nahm ein Foto aus ihrer Handtasche. Sie betrachtete es, als hätte es ihr Trost spenden können. Seine Neugierde war bereits voll erwacht.

„Darf ich Ihnen etwas zeigen?“, fragte Becca.

„Sicher.“ Er kniete sich neben ihr auf das Lager. „Was?“

Sie hielt ihm das Foto hin. In der fast vollständigen Dunkelheit konnte er nur zwei Gestalten ausmachen. Zwei kleine Gestalten mit Zöpfchen und in rosa Overalls. „Wer sind die zwei?“

„Das sind meine.“

„Wo sind sie?“

Becca schüttelte den Kopf. Das Foto verschwand wieder in ihrer Handtasche. Sie legte sich hin.

Sie wusste nicht, warum sie ihm das Foto gezeigt hatte. Es war ihr wertvollster Besitz. Wäre es im Wagen gewesen, als er abgeschleppt wurde …

Sie erschauerte. Der Ofen mochte die Luft erwärmen, aber sie fürchtete, die Kälte, die durch die Zeltbahn und den Schaumstoff zog, würde nie weggehen.

Becca fühlte eine Hand auf ihrer Schulter.

„Sie frieren“, sagte Jase.

Sie war den Tränen näher als im ganzen letzten Jahr. Nie zuvor in ihrem Leben war sie näher dran gewesen, einfach aufzugeben. „Es geht mir bestens.“

Es ging ihr nicht bestens, und ihm fiel nur noch eines ein, was sie von ihm annehmen mochte. „Ich komme unter die Decke. Ich habe nicht die Absicht, mich Ihnen aufzudrängen. Zitternde, hustende Frauen haben mich noch nie interessiert.“ Er legte sich hin und schob sich an ihren Rücken heran. Überraschenderweise rückte sie nicht ab. „So wird Ihnen schneller warm.“

Sie lag in den Armen eines Fremden und dachte an die Umstände, die sie hierher gebracht hatten. Der letzte Mann, der neben ihr geschlafen hatte, war ihr Ehemann gewesen. Tränen brannten in ihren Augen, aber sie war zu erschöpft, und der Schmerz war zu alt, als dass sie hätte weinen können.

Der Mann neben ihr war nicht ihr Ehemann, aber er war freundlich und stark. Sie hatte fast vergessen, dass es so etwas gab. „Warum sind Sie so nett?“, fragte sie.

Man hatte ihn in seinem Leben vieles genannt, aber „nett“ war nur selten darunter gewesen. „Weil Sie es verdienen, dass jemand nett zu Ihnen ist.“

„Ich … wir sollten nicht hier sein.“

„Schon gut. Morgen gehen wir woanders hin.“

Sie legte ihre Hände auf seinen Arm. Alle Gedanken schwanden, und im nächsten Moment war sie auch schon eingeschlafen.

2. KAPITEL

„Es ist mir egal, ob es ein schlechtes Geschäft ist. Ja, Sie haben mich richtig verstanden. Es ist mir egal, ob ich einen Verlust habe.“ Jason Millington wechselte den Telefonhörer ans linke Ohr, um seinem rechten eine Pause zu gönnen. Dies war der vierte Anruf innerhalb von fünfzehn Minuten. „Ich kann mir einen Verlust leisten. Besorgen Sie mir den Coffee Shop und sorgen Sie dafür, dass mein alter Freund Red mit nichts aus der Sache aussteigt. Er ist ein Bastard, aber ich bin ein noch größerer.“

Jase legte mit einer weit ausholenden Geste auf. Im selben Moment flog die Tür seines Büros, eine Tür so solide und würdevoll wie sein Mahagonischreibtisch, auf und prallte gegen die Wand.

Er blickte nicht einmal hoch. „Pamela, nehme ich an.“

„Deine neue Sekretärin wollte mich anmelden. Ich habe ihr erklärt, dass bei uns Familienmitglieder nicht angemeldet werden. Jetzt duckt sie sich hinter ihrem Schreibtisch.“

Er warf ihr einen Blick zu, bei dem sich der Tapferste unwohl gefühlt hätte. „Ich schreie sie nie an. Sie hat keinen Grund, sich zu ducken.“

„Alle haben Angst vor dir.“

„Du offensichtlich ausgenommen.“

Seine Zwillingsschwester kam auf ihn zu, beugte sich herunter und gab ihm einen Kuss. „Ich zittere.“

„Unnötig. Du hast mich schon mit zehn verhauen.“

„Wir waren elf, und ich war größer als du.“ Pamela setzte sich und streifte die Schuhe ab. Jetzt war sie nicht mehr größer als Jason. Er war eins achtzig, und sie war fünfzehn Zentimeter kleiner, aber noch immer bestand eine starke Ähnlichkeit zwischen ihnen. Ihre kurzen Haare waren so dunkel wie die seinen, ihre Augen genauso grün. Beide besaßen das kantige Millington-Kinn, wenn auch Pamela eine zartere Ausführung.

Jase wusste, was Männer von seiner Schwester hielten. Zwanzig Minuten, nachdem sie einen Raum voll von schöneren Frauen betreten hatte, kreisten sie um Pamela. Ihre Augen versprühten Vitalität, ihre Züge waren lebhaft und ausdrucksvoll. Das Beste an ihr war jedoch, dass sie nie Angst hatte, ihre Gedanken auszusprechen. Und Pamela hörte nie auf, zu denken.

Sie deutete durch das im zwölften Stock gelegene Fenster auf Cleveland im April. „Eines Tages wird dir das alles gehören, nicht wahr, Jase? Und du wirst jedes Stückchen so verändern, wie es dir passt.“

Da dies oder etwas Ähnliches stets ihr Eröffnungsspruch war, ignorierte Jase die Bemerkung. „Warum bist du hier?“

„Nicht wegen Geld.“

Er griff nach einem Stift und klopfte damit auf den Schreibtisch. Genau das Gleiche hatte Pamela zu ihm an einem Märztag gesagt, und nun brachten diese Worte jenen Tag so klar zurück, als würde Jase ihn gerade erleben.

Der Nachmittag war genau wie heute gewesen. Jase hatte sich mitten in einem Geschäftstelefonat befunden, als Pamela hereinkam. Die Dinge waren nicht so gelaufen, wie er wollte, und reizbarer als sonst, hatte er sein Scheckbuch gezückt, aber sie hatte abgewunken.

„Weißt du, Jase“, sagte sie, „nicht alle Probleme der Welt können mit Geld gelöst werden. Es ist so einfach für dich, einen Scheck auszuschreiben. Deine Mittel sind praktisch unbegrenzt.“

„Was willst du dann?“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und trat an das Fenster. Das Cleveland, das er sah, war eine wachsende Stadt, reich an Potenzial und Energie. Er dachte selten an das andere Cleveland, in dem die Kinder hungrig waren und Männer und Frauen durch die Straßen streiften und nach einer Unterkunft suchten. Das war Pamelas Cleveland. Als Sozialarbeiterin im Greenhouse, einem Heim für obdachlose und misshandelte Frauen, kämpfte sie täglich gegen dieses Cleveland.

„Ich möchte, dass du deiner kleinen Welt entfliehst.“ Sie kam zu ihm an das Fenster. „Ich möchte, dass du nur einmal begreifst, was es heißt, arm zu sein. Was es heißt, hungrig zu sein, kein Zuhause zu haben. Dein Geld hilft jetzt, aber wenn du verstehst, wie es ist, keine Hoffnung zu haben, könntest du die Hilfe bieten, die wir wirklich brauchen.“

„Diese Unterhaltung macht mich krank. Es macht mich krank, dass du auf mir herumhackst. Ich bin nicht das Problem. Du bist mit Geld aufgewachsen, und die Schuldgefühle fressen dich auf. Millingtons haben immer großzügig für gute Zwecke gespendet. Wir brauchen uns für nichts zu schämen.“

„Du verstehst nicht ein einziges Wort.“

Er starrte auf die Straße hinunter. Direkt unter seinem Fenster schob ein Mann einen Einkaufswagen vor sich her, einen schlurfenden Schritt nach dem anderen. „Ich verstehe nicht“, räumte Jase ein. „Ich verstehe nicht, warum sich nicht mehr Leute selbst helfen. Es gibt überall Jobs. Vielleicht sind manche von diesen Jobs nicht toll, aber es sind Jobs. Ich weiß, dass manche Leute nicht arbeiten können. Sie sind zu krank, zu süchtig oder zu verrückt. Aber was ist mit den anderen?“

„Was mit ihnen ist? Vielleicht solltest du es aus erster Hand herausfinden.“

„Wie? Soll ich für ein oder zwei Nächte in einer Suppenküche arbeiten?“

„Ja. Geh für ein oder zwei Nächte in eine Suppenküche. Das wäre nötig. Du wirst nie wirklich verstehen, was es heißt, ohne Hoffnung zu sein, aber du könntest es für eine Weile versuchen, um es zumindest besser zu verstehen.“

Er hatte es gelernt. Nach ihrer Unterhaltung hatte er Pamelas Vorschlag – oder besser, ihre Herausforderung – angenommen und für zwei Nächte und den Tag dazwischen auf der Straße gelebt. Nun erkannte er natürlich, dass er den Obdachlosen gespielt hatte, weil ihn das Neue gereizt hatte. Und weil er Pamela hatte loswerden wollen. Vielleicht hatte auch ein schlechtes Gewissen mitgespielt. Ihm war alles leichtgefallen. Er war in eine Familie hinein geboren worden, deren Vermögenswerte von Stahl bis hin zu Rinderfarmen reichten. Er war ein überlegener, beliebter Student gewesen und später ein überlegener, wenn auch nicht beliebter Geschäftsmann. Millington Development war seine Schöpfung, und im letzten Jahr war die Bilanz der Firma solide wie Gold gewesen.

Aber nichts von alledem hatte für zwei Nächte im März gegolten. Er hatte schnell erfahren, dass ein Obdachloser wie der andere war. Er hatte sich an Ecken herumgedrückt, Orte vermieden, an denen man ihn erkennen mochte, und hatte im Müll herumgewühlt. Und in der zweiten Nacht hatte er eine Frau namens Becca Hanks getroffen …

Das Klopfen auf dem Schreibtisch hörte abrupt auf. Es war April, und Pamela wartete auf seine Frage. „Ich nehme an, du würdest es mir sagen, wenn du etwas von Becca hörst?“

Sie sah ihn mitfühlend an. „Niemand namens Becca Hanks ist irgendwo aufgetaucht. Ich habe überall nachgefragt. Sie scheint nicht zu existieren.“

„Sie existiert. Oder hat es zumindest getan.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Sie hat im Keller meines neuen Gebäudes auf der 4th Street geschlafen. Sie war krank und stolz, und als ich am nächsten Morgen erwachte, war sie fort.“

„Ich weiß. Tut mir leid. Vielleicht hat sie einen Job gefunden, oder sie ist zurück, wo sie hergekommen ist.“

„Sie hat ihren Wagen nicht abgeholt. Ich habe dafür gesorgt, dass ich angerufen werde, falls sie es versucht.“

„Du hast dich verändert.“

„Überhaupt nicht.“

„Du hast dich verändert. Du bist sanfter geworden. So mag ich dich lieber.“

„Du hast mich schon vorher gemocht.“

„Ich bete dich an. Nur deinetwegen habe ich die Kindheit überlebt.“

Er sah ihr in die Augen. „Wir hatten eine gute Kindheit, Pamela.“

„Wir hatten eine elende Kindheit, aber wir hatten uns.“

Jase ignorierte das. „Warum bist du hier, wenn du keine Neuigkeiten hast und kein Geld willst?“

„Um dich zum Abendessen auszuführen. Ins Greenhouse.“ Sie hob die Hände. „Sag nicht Nein.“

„Du willst Leuten Essen wegnehmen, die jede Kalorie brauchen?“

„Jemand hat uns einen riesigen Schinken gespendet, und die Kinder proben ein Stück, mit dem sie hinterher alle unterhalten wollen. Es ist ein festlicher Anlass, und du weißt, dass du immer willkommen bist. Dir gehört praktisch das Haus.“

„Du wärst überrascht, wenn ich ja sage, nicht wahr?“

Sie lächelte. „Ehrlich?“

„Ich komme gern. Ich habe ohnehin etwas mit dir und Shareen zu besprechen.“

Pamela lächelte strahlend. „Viel, viel sanfter geworden.“

„Sag das Red.“

„Red?“

„Nur ein Mann, der sich bald verdammt wünschen wird, mich nie kennengelernt zu haben.“

Das Greenhouse war nicht grün. Es war ein weitläufiges weißes viktorianisches Haus mit rosa und gelbem Zierwerk und einem Lattenzaun, bei dem ungefähr jede sechste Latte fehlte. Das Haus befand sich ständig in einem reparaturbedürftigen Zustand. Fensterläden schlugen im Wind, und Teile von verrottendem Holzzierrat fielen bei jedem Sturm auf die breite Veranda.

Eine der anderen Bewohnerinnen hatte Becca erzählt, dass Pamela Millingtons Bruder jedes Mal einen Bautrupp für Reparaturen herschickte, wenn eines seiner anderen Projekte langsamer lief. Nach und nach hatten die Bautrupps gemalt und genagelt und Schindeln angebracht, bis das Haus grundsätzlich solide war. Offenbar stand der Zaun als nächstes auf der Liste, und neuer Zierrat war bei einer Firma bestellt, die sich auf Reproduktionen spezialisiert hatte. Das Haus überstrahlte förmlich seine Nachbarn, aber die Renovierung hatte auch andere Nachbarn dazu ermutigt, mehr Stolz zu zeigen. Zwei Häuser weiter leuchtete neue Farbe. Vier Häuser weiter pflanzte jemand Stiefmütterchen.

Stiefmütterchen waren großartig, aber Becca war im Garten des Greenhouse und pflanzte Bohnen. Die erste Aussaat war vor zwei Wochen erfolgt, zusammen mit dem Salat. Das war ein wenig spät, aber im März, als sie einen Garten hätte anlegen sollen, hatte sie nicht an Salat und Bohnen gedacht …

„Ma-ar-ry!“

Sie drehte sich hastig um. „Shareen. Du hast mich erschreckt!“

„Ich habe dich immer wieder gerufen.“

„Wenn ich grabe, dann grabe ich. Dann sehe und höre ich nichts.“

Shareen ließ sich neben Becca ins Gras sinken. „Was ist das?“

„Salat. Ich habe zwei Sorten gepflanzt.“

„Und was wächst dort am Zaun?“

„Bohnen.“ Shareen verzog das Gesicht, und Becca lachte. „Ich habe auch Spinat gesät.“

„Mädchen, willst du uns vergiften?“

„Ich versuche, Geld zu sparen. Wenn das Greenhouse einen Teil des Essens selbst anbaut, brauchen wir weniger zukaufen.“

„Wie du willst.“ Shareen stand auf. „Weißt du, dass es heute eine Party gibt?“

„Eine Party?“ Becca lächelte. Noch vor Wochen hatte sie sich gefragt, ob ihr das Leben jemals wieder etwas bieten würde. „Was für eine Party?“

„Einfach eine Party. Schinken, Süßkartoffeln, Kuchen von meiner Mutter.“

„Kommt deine Mutter?“

„Sie bringt die Kuchen. Ich will sie überreden, dass sie bleibt. Pamela versucht, ihren Bruder ebenfalls zu animieren.“

Becca liebte Shareens Mutter. Dorey Moore war eine kleine Frau mit schwarzen Augen und einem Mund, der den Arrogantesten zurechtstutzen konnte. Shareen hatte mehr Schliff, aber nicht weniger Mumm. Pamela und Shareen hatten Becca während ihrer ersten Woche im Greenhouse so sanft und zärtlich gepflegt, wie sie ihren Garten pflegte. In den letzten Jahren war selten jemand so freundlich zu ihr gewesen.

Abgesehen von einem Obdachlosen namens Jase, der ihr wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

„Also, zieh dir deine Tanzschuhe an“, sagte Shareen.

„Machen wir uns schön?“, fragte Becca.

„Wäre doch hübsch.“

„Ich habe ein wunderschönes Kleid in einem der Kartons mit Kleidern gefunden, die wir heute gewaschen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand weggegeben hat.“

„Wahrscheinlich hat es nicht gepasst. Hat es dir gepasst?“

„Es ist etwas zu groß.“

„Alles ist ein wenig groß für dich, abgesehen von Puppenkleidern. Du isst heute Abend eine doppelte Portion von diesem Schinken. Und Mama sagt, auf einem der Kuchen steht dein Name.“

Becca hustete, aber dieser Husten war inzwischen nicht mehr als ein Kratzen. Wochen intravenös verabreichter Antibiotika hatten dafür gesorgt. „Ich wette, deine Mama isst Bohnen.“

„Du arbeitest zu hart.“

„Das ist keine Arbeit, sondern Vergnügen.“

„Gehst du jetzt hinein? Nimm eine Dusche und leg dich für eine Weile hin, bevor es Zeit zum Umziehen ist.“

„Ich wollte beim Abendessen helfen.“

„Ausgeschlossen.“

Becca erkannte einen starken Willen. Sie stand auf. „Dann helfe ich beim Servieren.“

„Vielleicht.“ Shareen legte einen Arm um Beccas Schultern und drückte sie. „Geh jetzt und kümmere dich um dich selbst. Das ist der einzige Job, den du hier machen musst.“

Becca schuldete Shareen zu viel, um zu widersprechen. Doch Shareen täuschte sich. Becca musste für sich selbst sorgen, das stimmte, aber sie musste auch eine Möglichkeit finden, um den Leuten, die ihr geholfen hatten, ihre Schuld zurückzuzahlen. Der Garten war eine Möglichkeit.

Sie wünschte sich, Jase zu finden und auch etwas für ihn tun zu können. Sie fragte sich, wo er sich wohl aufhalten mochte. Er hatte ihr erzählt, dass er keinen Job suchte. Was suchte er dann? Was immer es war, sie hoffte, dass er es gefunden hatte.

Jase machte sich in Gedanken eine Notiz, dass der Zaun von Greenhouse noch nicht repariert war. Das Haus sah allerdings besser aus. Er stand davor und versuchte, den Grund herauszufinden.

„Nein, du kannst hier keinen Wolkenkratzer bauen“, sagte Pamela.

„Ich versuche herauszufinden, was anders ist.“

„Es sieht besser aus, nicht wahr?“

„Viel besser.“ Er erkannte, was sich geändert hatte. „Wer hat den Garten gemacht?“

„Dir entgeht nichts, wie? Unsere neue Bewohnerin, Mary Smith.“

„Mary Smith?“ Er warf Pamela einen Blick zu. „Echt?“

„Wir stellen nicht allzu viele Fragen.“

„Sie ist eine gute Gärtnerin.“

„Sie arbeitet zu hart.“

Drei kleine Mädchen stürmten zur Tür heraus und liefen zu Pamela. Lachend streckte sie die Arme aus.

„Ein Fanclub?“, fragte Jase lächelnd.

„Eine meiner Belohnungen.“ Pamela schleppte ihre klammernden Freundinnen zur Tür. „Soll ich Shareen suchen für diese Besprechung, die du erwähnt hast?“

„Wenn wir vor dem Essen noch Zeit haben.“

„Warte im Wohnzimmer.“ Sie ging so normal weg, wie es überhaupt möglich war, wenn an jedem Bein ein Kind hängt.

Das Wohnzimmer war ein Sammelsurium an alten Möbeln und hübschen Gegenständen und Bücherregalen. Jase ging auf und ab, bis Shareen und Pamela kamen.

„Der Löwe im Käfig.“ Shareen ging zu ihm und gab ihm einen Wangenkuss. Genau wie Pamela fand auch sie nichts an Jase furchterregend.

Er bewunderte sie. Sie war klein, mit Rundungen an allen richtigen Stellen und einem Lächeln, das die ganze Welt willkommen hieß. Das Lächeln konnte sich jedoch jeden Moment ändern, wenn sie dachte, dass jemand im Greenhouse bedroht war. Als Schwarze, die in der Innenstadt von Cleveland aufgewachsen war, hatte sie mehr als genug Hürden nehmen müssen. Die Fakten des Lebens, die sie hatte lernen müssen, machten sie zur idealen Leiterin für das Greenhouse.

„Wir freuen uns, dass Sie hier sind“, sagte Shareen. „Wir haben Sie gern hier. Aber es muss einen besseren Grund dafür geben als Schinken und Süßkartoffeln.“

Jase mochte ihre Direktheit. „Ich habe eine alte Fabrik gekauft, nicht weit von den Fiats. Die Gegend ist nicht vornehm, und das Gebäude ist eine Katastrophe.“

„Soll ich dir Beileid wünschen?“, stichelte Pamela.

„Ich möchte die Fabrik in Apartments umwandeln. Die Möglichkeit besteht. Das Gebäude wird ewig stehen. Alles daran kann repariert werden. Im Moment ist es voll Schutt, die Fenster sind zerbrochen, und drinnen ist es ein Stall. Aber die Böden sind solide, und der Raum kann auf jede beliebige Art aufgeteilt werden, wie wir wollen.“

Shareen stellte die Ohren auf. „Wir?“

„Ich könnte ein paar Jahre warten. Ich wette, dass dann die Gegend saniert wird. Dann werden mehr Gebäude in Apartments umgewandelt. Es ist ein Glücksspiel, aber ich gewinne dabei mehr, als ich verliere.“

„Bescheidenheit steht dir, Jase.“ Pamela staubte die Oberfläche eines Schränkchens mit dem Saum ihres Blazers ab. „Was hat das mit uns zu tun?“

„Ich könnte warten, oder ich könnte das Objekt jetzt in Apartments umwandeln. Allerdings nicht auf die gleiche Art. Ich würde nicht gut verdienende Angestellte als Zielgruppe anpeilen. Wenn ich es jetzt mache, dann für Frauen wie diejenigen, die aus dem Greenhouse kommen, Menschen, die gerade wieder auf eigene Füße kommen und für den Neubeginn eine Bleibe brauchen. Ich spende das Gebäude und Material und Arbeiter, so viel ich entbehren kann. Die Regierung wird einen Teil der Kosten übernehmen. Der Rest wird von Privatleuten kommen müssen.“

„Sie machen genau das Richtige“, sagte Shareen. „Das Schwerste ist, eine anständige Unterbringung für unsere Frauen zu finden, sobald sie von hier weggehen.“

„Ich weiß.“

„Was meinst du damit, dass Privatleute für den Rest aufkommen müssen?“ Pamela trat an das elektrische Klavier. „Wie viel, und wie kriegen wir sie dazu, es zu machen?“

„Sehr viel. Und es ist deine Aufgabe, sie dazu zu kriegen.“

„Komitees? Spendengalas?“

„Mutter.“ Jase sah, wie Pamela das Gesicht verzog. „Das liegt genau auf ihrer Linie“, erinnerte er sie.

„Mrs. Millington wäre bereit, das Geld aufzubringen?“, fragte Shareen.

„Mutter lebt für Komitees. Jase hat recht. Wir brauchen jemanden wie sie, um einer solchen Sache vorzustehen. Sie kennt alle richtigen Leute, und alle schulden ihr einen Gefallen. Sie sorgt dafür.“

„Sie werden uns so ohne Weiteres dieses Gebäude schenken?“, fragte Shareen Jase. „Wie kommt das?“

Jase lächelte. „Fragen Sie Pamela.“

„Ein blendendes Licht neben der Straße nach Damaskus“, erwiderte Pamela. „Er wurde zu guten Werken bekehrt.“

Er erkannte ihren Stolz und wurde verlegen. „Ich mache es, weil es gemacht werden muss. Das Gebäude steht nutzlos da. Ich hasse Verschwendung.“

Es klopfte an der Tür, und ein kleines Mädchen steckte den Kopf herein. „Abendessen ist fertig“, lispelte es.

„Sind wir fertig?“, fragte Shareen. „Für jetzt?“

„Fertig.“

Shareen hob das Kind auf ihren Arm und ging in den Speisesaal voraus. Jase registrierte sofort die Partyatmosphäre. Shareen und Pamela glaubten daran, dass Freude zu den Dingen gehörte, die den Frauen und Kindern in diesem Haus wieder vertraut werden mussten, zusammen mit gutem Essen und einem sicheren Platz zum Wohnen. Keine Gelegenheit war zu klein für eine Feier, und Krepppapier und Luftballons gehörten für gewöhnlich zu dem Dekor von Greenhouse.

Diesmal waren die Schlangen aus Krepppapier gelb und die Ballons rot. Geschirr und Gläser passten nicht zusammen. Jase war kein sentimentaler Mann, aber er fühlte einen Kloß in der Kehle, als er erkannte, dass sein Platz am Kopfende der langen Tafel war. Shareens Mutter traf mit den Kuchen in der Hand ein und drückte Jason auf ihrem Weg in die Küche einen Kuss auf die Wange.

Es waren noch zwei Plätze frei, als Pamela ihn zum Sitzen drängte.

„Die sind für Gina und Mary“, sagte sie. „Die beiden servieren.“

Jase blinzelte einem kleinen Jungen zu, dem zwei Vorderzähne fehlten, und setzte sich. Sie waren die beiden einzigen männlichen Wesen im Raum. „Ihr habt im Moment ein volles Haus.“

„Wir haben heute Vormittag eine Frau mit zwei Kindern weggeschickt. Die Stadt würde unser Haus schließen, wenn wir auch nur eine Person mehr als erlaubt aufnehmen.“

„Wohin ist sie gegangen?“

Pamela antwortete nicht.

„Pamela?“

„Das möchte ich nicht sagen.“

Er legte eine Hand auf ihren Arm. „Hast du sie aufgenommen?“

„Also, sie wohnt ein paar Tage bei mir.“ Sie sprach so leise, dass er sie kaum hören konnte. „Sie hat eine Schwester in Kalifornien, die herkommt und sie heimholt.“

„Und was sagt Shareen dazu?“

„Sie hat nicht gefragt, und ich habe ihr nichts gesagt.“ Sie sah ihm in die Augen. „Und du sagst auch nichts, kapiert?“

„Du kannst nicht die ganze Welt bei dir aufnehmen.“

„Und du kannst nicht die ganze Welt kaufen, aber du versuchst es weiterhin, nicht wahr? Selbst wenn es nur dafür ist, dass du sie wieder verschenken kannst.“

„Komm bloß nicht auf Ideen. Die Fabrik ist nur ein einziges Gebäude, und sie hat mir zugesagt. Deshalb musste ich mir eine Möglichkeit ausdenken, sie zu nutzen.“

Pamela beugte sich vor. „Diese Becca hat dich verändert, Jase. Du wirst es nie zugeben, aber sie hat es getan.“

Er verpasste den Moment, in dem der Schinken auf der Bildfläche erschien, bis er spontanen Beifall hörte.

Der Beifall überdeckte den Ausruf der Frau, die das Tablett hielt. Als Jase schließlich aufblickte, sah er sie, den Mund leicht geöffnet, die Augen voll Schmerz. Seine Hand krampfte sich um Pamelas Arm.

Becca starrte ihn an.

Wahrend er sie noch sprachlos betrachtete, stellte sie den Schinken auf das Sideboard und verschwand wieder in der Küche.

3. KAPITEL

Becca pflanzte Möhren, während sie sich daran erinnerte, wie sie am Abend zuvor den Mann wiedererkannt hatte, dem sie ihr Leben zu verdanken hatte, und wie sie hinausgelaufen war und einen langen Spaziergang gemacht hatte …

„Ich könnte das für Sie tun.“

Sie wusste, wer gesprochen hatte, noch bevor sie aufblickte. Diese Stimme war in den Wochen im Krankenhaus bei ihr gewesen.

„Ich mache es selbst, danke“, sagte sie und hob den Kopf an. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht. Ich habe sie nie gebraucht.“

„Nun, die Haare sind anders, und die Kleider passen besser, aber die Frau ist dieselbe.“

„Komisch, der Mann ist es nicht.“

Jase lächelte nicht. Er fühlte sich wie ein ertappter Voyeur. „Derselbe Mann, andere Kleidung.“

„Man sagt, Kleider machen Leute. Selbst dumme Leute vom Land haben davon gehört.“

„Ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie zornig sind.“

„Zornig? Warum sollte ich zornig sein, Mr. Millington? Nur weil Sie dafür gesorgt haben, dass ich mich wie eine Närrin fühle?“

„Geben Sie mir eine Chance zu einer Erklärung?“

„Ich würde liebend gern eine Erklärung hören. Meine Fantasie hat sich verabschiedet.“

„Ich habe so getan, als wäre ich obdachlos, weil eine mir nahestehende Person …“

„Pamela?“

Er wollte seine Schwester nicht mit hineinziehen. „Weil eine mir nahestehende Person meinte, ich müsste mehr tun als Schecks auszuschreiben. Also kam ich zu dem Schluss, dass ich erst weiß, wie es ist, obdachlos zu sein, wenn ich selbst für ein paar Nächte obdachlos bin.“

„Was haben wir doch für ein Glück. Man stelle sich vor, Sie hätten Umweltverschmutzung oder den Weltfrieden zu Ihrer Lieblingswohltätigkeit erkoren. Statt dessen haben Sie sich dafür entschieden, mit einem Haufen Herumtreibern durch finstere Straßen zu schleichen.“

„Das habe ich nicht verdient.“

„Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, jemand könnte Sie für einen echten Obdachlosen halten? Jemandem könnten Sie ein wenig bedeuten? Sie haben keine Ahnung, wie oft ich mich gefragt habe, was aus Ihnen geworden ist.“ Ihre leidenschaftliche Rede hatte sie stark mitgenommen. Sie begann zu husten, doch als er auf sie zutrat, scheuchte sie ihn weg. „Lassen Sie mich allein!“

„Sie sind noch immer krank.“

„Nein, bin ich nicht. Ich bin nur noch nicht ganz gesund.“

Während Jase darauf wartete, dass Becca wieder zu Atem kam, dachte er über alles nach, was sie gesagt hatte. Das Leben war für ihn ein Schachspiel, das er immer gewann. Becca hatte ihr Schachspiel mit nichts als einem oder zwei Bauern begonnen, aber sie spielte noch immer mit voller Kraft. Zum ersten Mal verspürte er etwas, das nahe an Scham heranreichte.

„Sehen Sie“, sagte er schließlich, „es tut mir wirklich leid. Ich wollte Ihnen am Morgen nach unserem Kennenlernen sagen, wer ich bin, aber Sie waren weg.“

„Ich habe Ihnen vertraut, und Sie haben mit mir gespielt.“

„Ich wollte nie mit irgendjemandem spielen. Mein ganzes Leben lang hatte ich alles, wie ich es wollte. Ich wollte einfach sehen, wie es wäre, wenn ich nicht alles habe.“

„Und was haben Sie gelernt?“

„Ich habe gelernt, was es bedeutet, Glück zu haben.“

„Die Menschen schaffen sich ihr eigenes Glück.“

„Nicht immer. Sehen Sie sich an. Was haben Sie getan, um zu verdienen, was Sie bekommen haben?“

„Sie wären überrascht.“ Becca griff nach der Schaufel und fing wieder zu graben an.

Jason wollte ihr die Schaufel aus den Händen reißen und sie zwingen sich auszuruhen, hielt sich jedoch zurück. „Wenn Sie mir vertraut haben, Becca, warum sind Sie gegangen, ohne sich zu verabschieden?“

Sie wollte ihm nicht verraten, dass es Stolz gewesen war, gemischt mit einer großen Dosis weiblicher Intuition. Sie war an seine Brust geschmiegt erwacht, und sie hatte gewusst, dass im Tageslicht keiner von ihnen bestehen konnte. Sie war schmutzig gewesen und krank, und sie hatte nicht den Mut gehabt, ihm gegenüberzutreten und ihn sehen zu lassen, wen er die ganze Nacht in seinen Armen gehalten hatte.

„Ich hatte Angst, jemand könnte uns finden.“

„Wohin sind Sie gegangen?“

Sie grub die Erde mit ihrer Schaufel um. „Es war noch dunkel. Ich setzte mich auf eine Bank, aber es war die falsche Bank.“ Sie konnte die Schaufel nicht mehr anheben, weil Jase sie festhielt. Becca blickte in mitfühlende grüne Augen. „Zwei Kerle entrissen mir meine Tasche. Als ich sie verfolgen wollte, schlug mich der eine nieder. Ich erwachte im Krankenhaus.“

„Becca …“

„Ich war wochenlang dort. Dann haben sie mir gesagt, sie würden mich nur entlassen, wenn ich hierherginge, um mich auszukurieren. Ich hatte keine andere Wahl.“

Jason berührte ihre Schulter, sanft, ganz sanft. „Sie sind eine starrsinnige Frau.“

„Wäre ich es nicht, wäre ich tot.“

„Und wie kam Mary Smith ins Spiel?“

„Ich hatte keinen Ausweis. Becca Hanks hatte kein Glück. Also dachte ich, vielleicht hat eine Frau namens Mary Smith mehr Erfolg.“

„Es tut mir so leid.“

„Was? Dass Sie mich belogen haben? Dass Sie jemanden kennen, dessen Leben so kaputt ist wie das meine? Braucht Ihnen nicht leidzutun.“

„Ich habe Sie nicht belogen, als ich Ihnen helfen wollte. Ich wollte es wirklich. Es spielte keine Rolle, wer ich bin. Ich wollte helfen.“

Sie entzog ihm die Schaufel. „Sie waren freundlich zu mir, haben mir vielleicht sogar das Leben gerettet. Dafür schulde ich Ihnen Dank. Aber ich will nichts außer einer Chance, meinen eigenen Weg zu gehen. Die Leute hier sind großartig, aber ich muss fort. Und ich werde gehen, sobald ich alles zurückgezahlt habe, was man für mich getan hat.“

Jason fand keine Worte, um ihr zu sagen, dass das Greenhouse nicht so funktionierte. „Ist schon in Ordnung, wenn Sie für sich selbst sorgen. Bleiben Sie hier, bis Sie bereit sind, sich wieder der Welt zu stellen. Lassen Sie sich vom Greenhouse helfen. Lassen Sie sich von mir helfen.“

„Von Ihnen?“ Sie gab einen verächtlichen Laut von sich. „Gehört Ihnen noch ein Fußboden, auf dem ich schlafen kann? Ich schätze, dieser eine hat Ihnen gehört.“

„Becca …“

„Warum wollen Sie mir helfen?“

„Weil ich es kann, leicht sogar. Lassen Sie sich von mir bei einem Neuanfang helfen.“

Er stand selbstbewusst vor ihr, ein Mann, zu dem sich jede Frau hingezogen fühlte. In einer dunklen Märznacht, als er auch in Schwierigkeiten gewesen war, hatte sie ihn viel lieber gemocht. „Nein. Nein, Jason Millington, der Wievielte Sie auch immer sein mögen, der Dritte, Vierte, Zehnte. Es ist mir egal. Ich habe Danke für Ihre Hilfe gesagt, und ich sage Danke für Ihr Angebot. Aber ich will nicht, dass man mir irgendetwas schenkt – nichts, von niemandem.“

„Warum, zum Teufel, sind Sie so stur?“

Sie schleuderte die Schaufel auf den Boden und trat gegen den Stiel. Schmerz zuckte durch ihr Bein, aber es störte sie nicht. „Weil die Sturheit mich ausmacht. Das ist das Einzige, das mir niemand wegnehmen kann. Das Einzige!“

Sie war fast am Ende der Reihe angelangt, bevor er ging. Sie hörte ihn nicht weggehen, sie sah ihn nicht weggehen. Aber sie wusste, wann er es tat. Seltsam, aber sie wusste, wann er fort war.

Jasons und Pamelas Eltern, Jason III Millington und seine Frau Dorothea, lebten in einem weitläufigen Achtzehnzimmerhaus, das über fünf Morgen gepflegten Rasens und immergrüner Sträucher und Bäume blickte, östlich von Cleveland in Hunting Valley. Dorothea litt unter Allergien und mochte keine Bienen, weshalb jeder blühende Busch und Baum in der Woche des Einzugs der Millingtons von dem Grundstück entfernt worden war. Pamela nannte den Besitz ihrer Eltern Sing-Sing. Sie selbst nannten ihn ihr kleines Landhaus.

Jase besuchte seine Eltern selten zu Hause, sondern traf sich mit ihnen für Drinks oder Dinner in Cleveland. Er wusste nicht, warum seine Eltern umgezogen waren. Ihr Haus in Cleveland Heights war groß und perfekt für die zahlreichen Einladungen, die sie noch immer gaben. Er konnte nur raten, dass Cleveland Heights mit der Mischung von Reichen und nicht so Reichen zu sehr wie die reale Welt geworden war, als dass sie sich wohlgefühlt hätten.

Am Samstagabend nach seinem Gespräch mit Becca fuhr Jase aus der Stadt zum Geburtstagsdinner seiner Mutter. Pamela hatte darauf bestanden, sich dort mit ihm zu treffen. Auch wenn sie eine Verabredung beim Friseur vorgeschoben hatte, kannte er den wahren Grund. Pamela besuchte ihre Eltern nur im eigenen Wagen, mit dem sie fliehen konnte.

Als er die baumbestandene Auffahrt hinauffuhr, war Pamela bereits da. Sie untersuchte einen neu gepflanzten Wacholderstrauch, als Jase zu ihr stieß.

„Warst du schon drin?“

„Noch nicht. Es fasziniert mich, was Mutter an Neuem in ihrem Garten zugelassen hat.“

„Wie lange bist du schon hier draußen?“

„Eine Weile.“

„Mit anderen Worten, sie wissen nicht, dass du hier bist?“

„Wahrscheinlich nicht.“

„Du konntest ihnen nicht allein gegenübertreten?“

„Habe ich das gesagt? Wacholder fasziniert mich. Die Vielfalt von Pflanzen, die Mutter immer wieder auftreibt und die nicht blühen und keine Früchte tragen, fasziniert mich.“ Einen Arm legte sie um Jases Taille, unter dem anderen hielt sie ein Geschenk. „Gehen wir.“

„Es ist eine Party, Pamela, eine Feier.“

„Ja. Vielleicht lächelt sogar jemand.“

„Die beiden sind nicht so schlimm.“

„Nein, schlimmer.“ Sie legte einen Finger auf ihre Lippen, um eine weitere Diskussion zu verhindern. „Ich werde brav sein.“

„Das solltest du auch.“

Jase klingelte. Er hatte nie in diesem Haus gewohnt, sodass er keinen Schlüssel hatte und auch keinen wollte. Überraschenderweise öffnete sein Vater die Tür.

„Wir haben uns schon gefragt, ob ihr überhaupt kommt.“ Er trat zurück, um sie eintreten zu lassen.

„Würden wir denn eine eurer wundervollen Partys versäumen?“, fragte Pamela.

Jase schoss ihr einen warnenden Blick zu, doch in Pamelas Miene zeigte sich nichts weiter als guter Wille. Sie machten den nötigsten Small Talk, bevor sie ihrem Vater in den Wintergarten folgten.

Dorothea Millington begoss eine hochragende Palme, als sie eintraten. Sie war eine große, hagere Frau mit dunklen Haaren, die sie nicht grau werden ließ, und Händen, deren härteste Arbeit darin bestand, zweimal wöchentlich für eine Maniküre stillzuhalten. Ihr Ehemann war noch größer und breitschultriger als sein Sohn und schlank von regelmäßigem Training in einem privaten Fitnesscenter. Die beiden würden immer ein sagenhaftes Paar abgeben.

„Ich wollte Gladys gerade sagen, dass sie mit dem Dinner warten soll“, sagte sie und goss fertig, ehe sie sich umdrehte. „Ich wünschte, du würdest dein Haar etwas wachsen lassen, Pamela. Es ist so wash-and-go.“

„Praktisches Haar für eine arbeitende Frau. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mutter.“ Pamela ging gerade nahe genug heran, um ihrer Mutter das Geschenk zu überreichen. „Niemand wird glauben, dass du achtundfünfzig bist.“

Jase ging näher heran, aber seine Mutter war von einem Niemandsland umgeben, in das niemand eindrang. Er kannte die Grenzen. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Er gab ihr sein Geschenk, sie beugte sich vor, und er küsste sie auf die Wange.

„Ich mache sie später auf. Gladys hat schon die Hors-d’oeuvres aufgetragen, und euer Vater hat Manhattans gemacht.“

Weder Jase noch Pamela tranken Manhattans, aber es hatte keinen Sinn, darauf hinzuweisen. Einmal hatte Jase sich gefragt, ob seine Eltern Manhattans und unfreundliche Bemerkungen aus Feindseligkeit machten, Jetzt erkannte er, dass ihr Mangel an Takt nichts weiter war als Beschränkung auf sich selbst. Die Welt der beiden war eng und behaglich. Sie waren in Reichtum hineingeboren worden und hatten sich nie dagegen gestemmt wie er und Pamela. Sie verstanden nicht, konnten nicht verstehen, dass es andere Menschen gab, besonders ihre Kinder, die die Welt anders sahen.

Jase und Pamela nahmen die Manhattans entgegen und machten noch mehr Small Talk. Bis sie zu Tisch gingen, war Pamela dafür getadelt worden, dass sie nicht zu einem Wohltätigkeitsdinner für die Opera Society gegangen war, und Jase dafür, dass er sich im Stadtmagazin als einen von Clevelands begehrenswertesten Junggesellen hatte beschreiben lassen.

Das Dinner war angenehm, obwohl Jase nicht anders konnte, als es mit der Party am Vorabend im Greenhouse zu vergleichen. Hier gab es keine Luftschlangen oder Ballons, und das Speisezimmer duftete nicht nach dem Essen. Es gab Beef Wellington und gedämpften Brokkoli und als Dessert eine Schokolade-Mandel-Torte. Seine Mutter aß nur wenig und warf Pamela schiefe Blicke zu, als diese sich jedes Mal eine zweite Portion nahm.

Sie öffneten die Geschenke im Wintergarten bei Kaffee. Von Jase kam eine Onyxbrosche mit einigen winzigen Perlen, teuer, aber nicht teuer genug, um unter schlechten Geschmack zu fallen. Die Millingtons stellten ihren Reichtum nicht zur Schau.

Pamela schenkte einen eleganten schwarz-weißen Schal aus einer Beachwood-Boutique. Wie üblich hatten er und Pamela ihre Geschenke nicht abgestimmt, aber ihre Geschenke ergänzten einander perfekt. In einem Jahr hatte er Parfüm und Pamela einen Kristallzerstäuber gekauft. In einem anderen Jahr hatte er einen blauen Cashmere-Pullover gekauft, und Pamela war mit einer Seidenbluse in der gleichen Farbe gekommen. Sie untersuchten das Phänomen nicht.

„Meine Kinder kaufen wundervolle Geschenke“, sagte Dorothea.

„Deine Kinder wünschen dir alles Glück zum Geburtstag“, erwiderte Jase. Er stand auf, und Pamela schloss sich ihm an. „Aber ich fürchte, ich muss jetzt gehen.“

„Sag nicht, dass du morgen arbeitest.“

„Das tue ich.“

„Es ist Sonntag, Jase. Weder du noch Pamela sollte am Sonntag arbeiten.“

Jase wusste, dass die Bemerkung seiner Mutter weniger von religiöser Überzeugung als von ihrer Abneigung gegen die Berufe ihrer Kinder stammte. „Manchmal können die Geschäfte nicht warten.“

„Und die Leute sind auch sonntags obdachlos“, bemerkte Pamela.

„Es wäre etwas anders, wärt ihr auf diese Arbeit angewiesen.“

„Ich brauche meine Arbeit, Mutter“, sagte Pamela. „Und das erinnert mich daran, dass ich etwas brauche, das du für mich tun kannst.“ Sie umriss kurz Jasons Plan, die Fabrik in Apartments umzuwandeln. „Jase und ich finden, du wärst perfekt als Vorsitzende eines Spendenkomitees. Du kennst jeden in der Stadt, und die Hälfte der Leute schuldet dir einen Gefallen.“

Dorotheas Gesicht wurde von ungewohnten Falten durchzogen. „Ihr wollt mich?“

„Wer wäre besser geeignet?“

„Aber ich weiß nicht einmal, ob ich dieses Projekt gutheiße.“

Für einen Moment zeigte Pamelas Gesicht all ihre Frustration, den ganzen Schmerz. Dann glättete es sich zu der Miene, die Jase für sich als ihre Familienmaske betrachtete. Ihre Stimme klang kühl. „Vermutlich verlangen wir sehr viel von dir, die Tatsache zu akzeptieren, dass Jase so sagenhaft erfolgreich ist, dass er aus einer Laune heraus ganze Gebäude spenden kann, oder dass ich bis über beide Ohren damit beschäftigt bin, Leuten zu helfen, die ich deinen Wünschen nach besser gar nicht kennen sollte. Aber so sind wir nun mal, Mutter. Und wir möchten, dass du uns dabei unterstützt. Ich hoffe, du wirst darüber nachdenken.“

Ihr Vater machte den Eindruck, als wollte er gegen Pamelas Plan Einspruch einlegen, aber offenbar fand er keine Begründung.

„Pamela meint“, erklärte Jase, um die Wogen zu glätten, „dass diese Angelegenheit für uns wichtig ist und wir dich gern dabei hätten. Aber wenn du nicht interessiert bist, kennst du vielleicht jemanden, der uns helfen könnte.“

„Ich weiß nicht recht.“

Jase nickte und ergriff Pamelas Arm. „Keine Sorge. Denk einfach darüber nach.“ Er verabschiedete sich so ausgiebig, dass es Pamelas Schweigen überdeckte, und bugsierte sie dann durch das Haus. An der Tür küsste er seine Mutter auf die Wange und klopfte seinem Vater auf die Schulter.

Er brachte Pamela zu ihrem Wagen, nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

„Nun, du hast fast den ganzen Abend ohne Szene geschafft.“

„Denkst du, das war eine Szene?“

„Ich weiß, dass es nicht die war, die du machen wolltest. Du besserst dich.“

„Ich hasse die beiden wirklich nicht. Ich verstehe sie nur einfach nicht. In diesem Haus ist so viel Wärme wie in einem Iglu am Nordpol.“

Jase legte die Arme um seine Schwester. „Es spielt keine Rolle, nicht wahr?“

„Nein, nicht, solange ich ihnen nicht zu intensiv ausgesetzt bin.“

„Du brauchst lediglich eine Umarmung.“

„Und du gibst sie mir, weil die beiden es nicht können und weil es keinen Mann in meinem Leben gibt. Wir beide haben solche Angst, wir könnten uns verlieben und letztlich eine Ehe wie die beiden führen.“

Er lehnte diese improvisierte Analyse ab, dachte jedoch im selben Moment an Becca. „Ich bin nicht verheiratet, weil ich keine Zeit habe.“

„Du bist nicht verheiratet, weil du Angst hast, du könntest ein solches Zuhause haben. Wir beide kompensieren. Ich gebe anderen Menschen die Wärme und Liebe, die ich nicht bekam, und du formst die Welt nach deinen Wünschen um.“ Sie schüttelte den Kopf. „Hör nicht auf mich. Es war ein langer, mieser Tag.“

„War etwas im Greenhouse?“

„Der Ehemann einer Bewohnerin fuhr eine Stunde vor dem Haus hin und her und schrie Obszönitäten, bis die Polizei ihn verjagt hat.“

„Doch nicht Marys Mann?“

„Soviel ich weiß, hat Mary keinen Mann.“ Sie machte eine Pause. „Erklärst du mir deine Verbindung zu Mary?“

Jase lehnte sich gegen ihren Wagen. „Mary Smith ist Becca.“

Pamela seufzte. „Das dachte ich mir, als sie gestern Abend weglief, nachdem sie dich gesehen hatte.“

„Ich war heute Morgen da.“

„Hat sie dir erzählt, dass sie im Krankenhaus fast gestorben wäre?“, fragte Pamela.

Etwas in ihm krampfte sich zusammen. „Nein.“

„Sie hatte eine besonders hässliche Lungenentzündung. Sie ist eine hübsche Person, Jase. Ich verstehe, warum du sie nicht vergessen konntest. Und sie ist so stolz.“

„Das stimmt.“

„Sie ist sehr schwer dazu zu bringen, sich auszuruhen.“

„Was kann ich machen?“

„Hast du bei Millington Development einen Job, den sie übernehmen könnte?“

Er überlegte. Viele der Jobs waren höchst technisch, und viele andere erforderten mehr Kraft und Energie, als Becca besaß. Er konnte eine Stelle in seinem Büro schaffen, aber sie würde erkennen, dass sie nicht gebraucht wurde. „Mir fällt nichts ein, und es muss auch etwas sein, von dem sie weiß, dass sie dafür qualifiziert ist, sonst nimmt sie nicht an.“

„Du hast wahrscheinlich recht. Und sie braucht einen Job, der auch eine Wohnmöglichkeit bietet.“

„Ich brauche keine Haushälterin. Ich bin nie zu Hause.“

„ Jase, was ist mit Kathryns Haus?“

Das Haus ihrer Großmutter war ein Thema, über das Jase und Pamela für gewöhnlich nicht sprachen. Kathryn Willington war eine exzentrische, eigenwillige alte Frau gewesen, das schwerste Kreuz, das Jases und Pamelas Eltern hatten tragen müssen. Sie hatte ihren Sohn für seine Steifheit gestraft und wegen der Wahl seiner Gemahlin getadelt, bis er ihr sein Haus verbot. Daraufhin hatte sie aus der Ferne ihre Enkelkinder unter ihre Fittiche genommen und ihnen alles gegeben, was ihre Eltern ihnen verboten, wodurch sie die Kindheit der Zwillinge äußerst bereichert hatte.

Bei ihrem Tod hatte Kathryn ihr Haus in Shaker Heights Jase hinterlassen, ein hundert Jahre altes Tudor-Gebäude mit Mauern so dick wie ein Fort und zwei Morgen kunstvoll angelegter Gärten. Pamela hatte Kathryns Sommerhaus am Erie-See im nahen Vermillion geerbt. Pamela lebte dort rund ums Jahr, eines der wenigen Privilegien des Reichtums, das sie genoss.

„Was ist mit dem Haus?“, fragte Jase.

„Findest du nicht, es wäre Zeit, es in Ordnung zu bringen und einzuziehen? Seit drei Jahren versprichst du, es zu tun.“

Jase verstand Pamelas Bindung an das Haus. Es war ein Zufluchtsort gewesen. Er hing weniger daran, wollte es aber trotzdem nicht verkaufen. Er wusste nicht so genau, was das Haus für ihn darstellte, aber es war mehr als eine Investition. „Ich bin glücklich, wo ich bin, und ich hatte keine Zeit für Renovierungsarbeiten. Was hat das mit Becca zu tun?“

„Becca könnte die Renovierung überwachen. Sie könnte im Cottage des Hausmeisters wohnen. Der Garten ist ein Dschungel, aber du hast gesehen, was sie im Greenhouse gemacht hat.“

Jason war überrascht, dass er nicht daran gedacht hatte. Ihm war allerdings klar, dass er einziehen musste, sobald das Haus fertig war, es sei denn, er verkaufte. „Meinst du, sie wird zustimmen?“

„Ich denke schon. Sie kann das sicher, und es wäre keine Wohltätigkeit. Davor hat sie nämlich Angst.“

„Es wäre nur vorübergehend“, warnte er. „Nur für den Sommer.“

„Weißt du, das alles sieht dir gar nicht ähnlich. Es ist sehr persönlich, Jase. Du wirst sie häufig sehen. Sie wird schwer zu ignorieren sein.“

„Unmöglich“, verbesserte er.

„Sag mir, warum du das machst.“

„Weil ich es hasse, wenn Potenzial verschwendet wird.“

„Sie ist kein Häuserblock in der Stadt, den du planieren und durch etwas Neues und Tolles ersetzen kannst.“

„Fahr heim, Pamela!“

Sie tat es, und er fuhr auch heim, aber auf dem Weg zu seinem Penthouse mit Blick auf den See fragte er sich, welche Veränderungen ihm und Becca bevorstanden.

4. KAPITEL

Zu Kathryn Millingtons Überspanntheit hatte gehört, dass sie nichts wegwarf. In dem Haus in Shaker Heights türmten sich noch immer Bücher und Magazine. Jedes Poststück, das sie je erhalten hatte, war säuberlich in Kartons verpackt. Jedes Kleid, das sie getragen hatte, jeder Regenschirm, der ihren grauen Kopf beschützt hatte, jeder Hausschuh, den ihre fünf Hunde zerkaut hatten, befand sich noch irgendwo. In jedem der vierzehn Zimmer standen viermal so viele Möbel, wie eigentlich drin stehen sollten, und als das Haus aus allen Nähten zu platzen drohte, hatte Kathryn die Sachen im Cottage des Hausmeisters gestapelt.

Als Jason zum ersten Mal in den drei Jahren seit dem Tod seiner Großmutter das Cottage aufschloss, warfen seine Arbeiter nur einen Blick nach drinnen und holten einen zweiten Lastwagen zuzüglich zu dem, mit dem sie gekommen waren.

Ein Tag verstrich, bevor Fußboden und Wände des Cottages zu sehen waren, und zwei weitere, bis die grundlegendsten Reparaturen durchgeführt waren. Eine Woche verging, bis Wände und Schränke neu angestrichen waren, und noch drei Tage, bis neue Fußböden in Küche und Bad verlegt waren. Erst dann konnte er Becca das Cottage zeigen.

Als er diesmal ins Greenhouse kam, fand er sie in der Küche, wie sie einen Eintopf umrührte. Von der Tür aus beobachtete er sie bei der Arbeit. Ihre Haare waren zurückgekämmt, und sie trug Jeans und ein Herrenflanellhemd, doch an ihrer Figur war nichts Jungenhaftes.

„Es wird schwer sein, Sie dazu zu bringen, den Eintopf zu lassen und mit mir zum Dinner auszugehen.“

Sie drehte sich um. Ihre Hand beschrieb langsam Kreise mit dem Kochlöffel. Schließlich lächelte sie. Das Lächeln verschwand rascher als es gekommen war, aber nicht rasch genug, um ein Stolpern seines Herzschlags zu verhindern. „Ich habe mich gefragt, ob Sie wiederkommen werden.“

„Sie haben mir nicht genug Angst eingejagt.“

„Ich wette, Ihnen jagt nichts Angst ein.“

„Ich bekomme Angst, wenn ich denke, eine Frau lehnt eine Verabredung ab.“

„Ich wette, Ihnen ist noch nie etwas abgelehnt worden.“

„Es könnte eine Premiere geben.“

„Sicher.“ Sie wandte sich wieder ihrem Eintopf zu. „Das ist das Rezept meiner Großmutter.“

Von diesem flüchtigen Lächeln ermutigt, kam er näher. „Es duftet gut.“

„Sie haben in Ihrem Leben noch keinen Eintopf gegessen.“

„Sicher doch.“

Becca rührte weiter. An diesem Abend war er der erfolgreiche Geschäftsmann in einem dunklen Anzug, aber er hatte seine Krawatte abgenommen, vielleicht um so zu tun, als wäre er nur ein Mann von der Straße.

Becca ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, weil seine Einladung sie überrascht hatte. „Also, ich bin vom Land, und meine Ausbildung war nicht besonders gut, aber mein Daddy hat keine dummen Kinder großgezogen, und er hat mir zeitig beigebracht, mich zu fragen, warum ein Mann nett zu mir ist.“

„Welche Antwort haben Sie diesmal?“

„Nicht die übliche. Für gewöhnlich will ein Mann etwas, das ich nicht zu geben bereit bin. Ich bin aber sicher, dass Sie keine Schwierigkeiten haben, das anderswo zu finden.“

„Diskutieren wir mein Sexleben?“

„Nein, wir diskutieren, was Sie von mir wollen. Sie wollen dafür sorgen, dass ich mich gut fühle. Sie wollen etwas für mich machen, damit Sie selbst sich besser fühlen. Ich tue Ihnen leid, und das wollen Sie nicht.“

„Alle diese tiefgründigen, finsteren Motive hinter einer schlichten Einladung zum Dinner?“

„Nun ja.“

Er nahm ihr den Kochlöffel aus der Hand und legte ihn auf den Herd. Dann ergriff er ihre Hand. „Sie tun mir leid. Was wäre ich denn andernfalls für ein Bastard?“ Er drückte ihre Hand, als sie ihn unterbrechen wollte. „Nein, lassen Sie mich aussprechen. Sie tun mir leid wegen der Dinge, die Sie durchmachen mussten, aber ich bemitleide Sie nicht. Sie werden mit mir oder ohne mich eine Möglichkeit finden, Ihr Leben besser zu gestalten. Ich weiß nicht viel über Sie, aber das weiß ich. Es ist nur so, dass ich es Ihnen viel leichter machen könnte.“

Becca zog ihre Hand weg. „Vielen herzlichen Dank, aber ich will Ihre Hilfe nicht.“

Er sprach weiter, als wäre er nicht unterbrochen worden. „Ich könnte Ihren Kampf leichter machen, und gleichzeitig könnten Sie mir mein Leben auch leichter machen.“

„Wie?“

„Ich glaube, das müssen Sie selbst sehen, damit Sie wissen, dass ich nichts erfinde. Aber ich brauche wirklich Ihre Hilfe, Becca.“

Sie konnte sich nicht vorstellen, was Jase Millington von ihr brauchte, aber er hatte die einzige sichere Eintrittskarte in ihr Leben gefunden. Er und seine Schwester hatten ihr schon unermesslich geholfen. Wenn er auch nur im entferntesten irgendetwas brauchte, das sie ihm geben konnte, musste sie zustimmen.

Sie griff nach dem Kochlöffel. „Von was für einem Dinner sprechen wir hier?“

Er zuckte die Schultern. „Was immer Sie möchten.“

Autor

Emilie Richards
Bevor Emilie Richards mit dem Schreiben begann, studierte sie Psychologie. In ihren preisgekrönten, spannenden Romanen zeigt sie sich als fundierte Kennerin der menschlichen Seele. Nach einem mehrjährigen Auslandsaufenthalt in Australien wohnt die erfolgreiche Autorin heute mit ihrem Mann, einem Pfarrer, in North Virginia.
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<p>Zu den produktivsten und bekanntesten Autoren von Romanzen zählt die Britin Carole Mortimer. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Liebesroman, inzwischen gibt es über 150 Romane von der Autorin. Der Stil der Autorin ist unverkennbar, er zeichnet sich durch brillante Charaktere sowie romantisch verwobene Geschichten aus. Weltweit...
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