Tödliche Spritzen

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Ein Kunstfehler bei einer Operation kostet eine Frau das Leben. Dr. Kate Chesne gerät unter Verdacht. Erst als eine weitere Frau stirbt, beginnt der Anwalt David Ransom zu ahnen, dass Kate unschuldig ist und das nächste Opfer sein könnte. Er spürt, dass die schöne Ärztin seine Hilfe braucht, und will alles tun, um sie zu beschützen ...


  • Erscheinungstag 20.06.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955764708
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tess Gerritsen

Tödliche Spritzen

Thriller

Aus dem Amerikanischen von
Katrin Hahn

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Under The Knife
Copyright © 1990 by Terry Gerritsen
erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Covergestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Thorben Buttke
Titelabbildung: Thinkstock
ISBN eBook 978-3-95576-470-8

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

PROLOG

Lieber Gott, wie uns die Vergangenheit am Ende wieder heimsucht

Von seinem Bürofenster aus starrte Dr. Henry Tanaka hinaus in den Regen, der auf den Parkplatz prasselte, und fragte sich, warum nach all diesen Jahren der Tod einer armen Seele zurückgekehrt war, um ihn zugrunde zu richten.

Draußen eilte eine Krankenschwester zu ihrem Auto, ihre Uniform fleckig vom Regen. Noch eine, die ohne Regenschirm erwischt wurde, dachte er. Der heutige Tag war wie die meisten Tage in Honolulu, strahlend und sonnig angebrochen. Aber um drei Uhr waren Wolken über die Gipfel der Ko’olau Range gekrochen, und jetzt, als sich die letzten Klinikmitarbeiter auf den Heimweg machten, weitete sich der Regen zu einer Sintflut aus und überschwemmte die Straßen mit einem Strom schmutzigen Wassers.

Tanaka drehte sich um und starrte hinunter auf den Brief auf seinem Schreibtisch. Das Schreiben war ihm vor einer Woche zugestellt worden; aber wie so vieles seiner Korrespondenz war es in den Stapeln von Geburtshilfe-Zeitschriften und Bestellkatalogen untergegangen, mit denen sein Büro ständig übersät war. Als seine Assistentin ihn heute Morgen endlich darauf aufmerksam machte, hatte ihn der Name auf dem Absender aufhorchen lassen: Joseph Kahanu, Rechtsanwalt.

Er hatte den Brief schnellstens geöffnet.

Jetzt sank er in seinen Stuhl und las ihn noch einmal.

Jennifer Brook. Ein Name, den er am liebsten vergessen hätte.

Eine tiefe Müdigkeit überkam ihn – die Erschöpfung eines Mannes, der entdeckt hat, dass er seinem eigenen Schatten nicht davonlaufen kann. Er versuchte, die Kraft aufzubringen, nach Hause zu gehen, sich nach draußen zu schleppen und in sein Auto zu steigen, aber er konnte nur dasitzen und die vier Wände seines Büros anstarren. Sein Zufluchtsort. Sein Blick wanderte vorbei an den gerahmten Diplomen, den Zertifikaten, den Fotografien. Überall hingen Schnappschüsse von runzligen Neugeborenen, von strahlenden Müttern und Vätern. Wie viele Babys hatte er auf die Welt gebracht? Er hatte vor Jahren den Überblick verloren …

Ein Geräusch im Vorzimmer lockte ihn schließlich aus seinem Stuhl: das Klicken einer Tür, die sich schloss. Er erhob sich und spähte in den Empfangsbereich hinaus. „Peggy? Sind Sie noch hier?“

Das Wartezimmer war menschenleer. Langsam schweifte sein Blick über das geblümte Sofa und den dazu passenden Sessel, über die Magazine, die auf dem Couchtisch fein säuberlich gestapelt lagen, und blieb schließlich an der Tür nach draußen hängen. Sie war nicht verschlossen.

Durch die Stille hindurch hörte er ein dumpfes, metallisches Klirren. Es kam aus einem der Behandlungszimmer.

„Peggy?“ Tanaka ging den Flur hinunter und schaute in das erste Zimmer. Als er das Licht anknipste, sah er das hart glänzende Edelstahl-Waschbecken, den Untersuchungsstuhl, den Materialschrank. Er schaltete das Licht aus und ging zum nächsten Zimmer. Wieder war alles, wie es sein sollte: die Instrumente ordentlich aufgereiht auf der Arbeitsfläche, das Waschbecken trocken gewischt, die Beinhalter des Untersuchungsstuhls zusammengeklappt für die Nacht.

Er durchquerte den Flur und bewegte sich auf den dritten und letzten Behandlungsraum zu. Aber gerade als er nach dem Lichtschalter griff, hielt ihn sein Instinkt zurück. Plötzlich wurde ihm etwas gewahr, eine Präsenz – etwas Böses, das in der Dunkelheit auf ihn wartete.

Voller Angst trat er rückwärts wieder aus dem Zimmer. Erst als er sich umdrehte, um zu fliehen, merkte er, dass der Eindringling hinter ihm stand.

Eine Klinge fuhr durch seinen Hals.

Dr. Tanaka wankte rückwärts in das Behandlungszimmer und warf einen Instrumentenständer um. Als er taumelnd zu Boden ging, stellte er fest, dass das Linoleum bereits rutschig von seinem Blut war. Selbst während er spürte, wie das Leben ihn verließ, zwang ihn ein rationaler Bereich seines Gehirns dazu, die Wunde zu beurteilen, die eigenen Chancen zu analysieren. Durchtrennte Arterie. Verbluten binnen Minuten. Ich muss die Blutung stoppen … Schon kroch die Taubheit seine Beine hinauf.

So wenig Zeit. Auf Händen und Knien schob er sich dem Schrank entgegen, wo die Gaze aufbewahrt wurde. Für seinen halb bewusstlosen Verstand war das dürftige Licht, das die Glastüren zurückwarfen, ein Leuchtfeuer, das ihn lenkte – seine einzige Hoffnung auf Überleben.

Ein Schatten schob sich vor das Licht aus dem Flur. Er wusste, dass der Eindringling in der Tür stand und ihn beobachtete. Trotzdem bewegte er sich weiter.

In seinen letzten bewussten Sekunden gelang es Tanaka, sich hochzuziehen und die Schranktür aufzureißen. Sterile Päckchen regneten auf ihn herab. Blind riss er eines auseinander, nahm den Gazebausch heraus und presste ihn sich an den Hals.

Er sah nicht, wie die Klinge des Angreifers ihren letzten Bogen beschrieb.

Als sie tief in seinen Rücken stach, versuchte Tanaka zu schreien, aber der einzige Laut, der aus seiner Kehle drang, war ein Seufzen. Es war sein letzter Atemzug. Dann glitt er still zu Boden.

Charlie Decker lag nackt in seinem kleinen, harten Bett, und er hatte Angst.

Durch das Fenster sah er eine Neonreklame blutrot glühen: The Victory Ho.el. Jedoch fehlte das t in Hotel. Und was übrig war, ließ ihn an hole denken, Loch. Und das war dieses Haus auch wirklich: The Victory Hole, wo jeder Triumph, jede Freude in einem tiefen, dunklen Loch ohne Wiederkehr versank.

Er schloss die Augen, aber das Neonlicht schien sich einen Weg durch seine Augenlider zu graben. Er drehte sich vom Fenster weg und zog das Kopfkissen über den Kopf. Der Geruch der schmutzigen Bettwäsche nahm ihm den Atem. Er warf das Kissen zur Seite, stand auf und ging hinüber zum Fenster. Dort starrte er auf die Straße hinab. Auf dem Bürgersteig unter ihm feilschte eine blonde Frau mit einem Mann in einem Chevy. Sie hatte strähnige Haare und trug einen Minirock. Irgendwo in der Nacht lachten Menschen, und eine Jukebox spielte „It Don’t Matter Anymore“. Gestank stieg von der Gasse auf, eine eigenartige Mischung aus verrottendem Müll und Frangipani: Ausdünstungen aus dem Hinterhof des Paradieses. Ihm wurde übel davon. Aber es war zu heiß, um das Fenster zu schließen, zu heiß, um zu schlafen, sogar zu heiß, um zu atmen. Er ging hinüber zum Kartentisch und schaltete die Lampe an. Dieselbe Zeitungsschlagzeile starrte ihm wieder entgegen.

Arzt aus Honolulu ermordet aufgefunden.

Er spürte, wie der Schweiß an seiner Brust herunterrann. Er warf die Zeitung auf den Fußboden. Dann setzte er sich nieder und ließ den Kopf in die Hände sinken.

Die Musik aus der fernen Jukebox verklang; das nächste Lied setzte ein, Gitarren und Schlagzeug erzeugten einen drängenden Rhythmus. Ein Sänger heulte: „I want it bad, oh yeah, baby, so bad, so bad …“

Langsam hob Charlie den Kopf, und sein Blick blieb an dem Foto von Jenny hängen. Sie lächelte; wie immer, lächelte sie. Er berührte das Bild und versuchte, sich zu erinnern, wie sich ihr Gesicht angefühlt hatte; aber die Jahre hatten seine Erinnerung getrübt.

Schließlich öffnete er sein Notizbuch. Er blätterte zu einer leeren Seite. Er fing an zu schreiben.

1. KAPITEL

Mit ruhiger Hand injizierte Dr. Kate Chesne zweihundert Milligramm Natriumpentothal in den Infusionszugang ihrer Patientin. Als die blassgelbe Flüssigkeit gemächlich durch den Kunststoffschlauch wanderte, murmelte Kate: „Du solltest bald müde werden, Ellen. Schließ die Augen. Lass los …“

„Ich spüre noch nichts.“

„Es dauert ungefähr eine Minute.“ Kate drückte Ellens Schulter, eine stille, bestärkende Geste. Die kleinen Dinge waren es, die einem Patienten das Gefühl von Sicherheit gaben. Eine Berührung. Eine leise Stimme. „Lass dich treiben“, flüsterte Kate. „Denk an den Himmel … Wolken …“

Ellen warf ihr ein friedliches und schläfriges Lächeln zu. Unter den grellen OP-Lampen trat jede Sommersprosse, jeder Makel auf ihrem Gesicht gnadenlos hervor. Niemand, nicht einmal Ellen O’Brien, war schön auf dem OP-Tisch. „Komisch“, murmelte sie. „Ich habe keine Angst. Überhaupt nicht …“

„Das musst du nicht. Ich werde mich um alles kümmern.“

„Ich weiß. Ich weiß, das wirst du.“ Ellen griff nach Kates Hand. Es war nur eine Berührung, nur flüchtig streiften sich ihre Finger. Die Wärme von Ellens Haut auf ihrer Hand erinnerte Kate noch einmal mehr daran, dass nicht nur ein Körper, sondern eine Frau, eine Freundin, auf diesem Tisch lag.

Die Tür schwang auf, und der Chirurg kam herein. Dr. Guy Santini hatte die Statur eines Bären und sah mit seiner geblümten Chirurgenkappe ein klein wenig albern aus. „Wie geht’s uns denn hier, Kate?“

„Die Pentothal-Infusion läuft.“

Guy bewegte sich zum OP-Tisch und drückte die Hand der Patientin. „Sind Sie noch bei uns, Ellen?“

Sie lächelte. „Wohl oder übel. Aber im Großen und Ganzen wäre ich lieber in Philadelphia.“

Guy lachte. „Da kommen Sie schon hin. Aber ohne Ihre Gallenblase.“

„Ich weiß nicht … Ich war gerade dabei, das Ding irgendwie lieb zu gewinnen …“ Ellens Augenlider sanken. „Denken Sie daran, Guy“, flüsterte sie. „Sie haben es versprochen: keine Narbe …“

„Habe ich das?“

„Ja … haben Sie …“

Guy zwinkerte Kate zu. „Habe ich es dir nicht gesagt? Krankenschwestern sind die schlimmsten Patienten. Immer diese Extrawünsche!“

„Vorsicht, Doc!“, fuhr ihn eine der OP-Schwestern an. „Eines Tages werden Sie auf diesem Tisch vor uns liegen.“

„Nun, das ist tatsächlich ein furchterregender Gedanke“, bemerkte Guy.

Kate beobachtete, wie der Kiefer ihrer Patientin endlich schlaff herabsank. Leise fragte sie: „Ellen?“ Sie strich mit dem Finger leicht über Ellens Augenlider. Keine Reaktion. Kate nickte Guy zu. „Sie ist weg.“

„Ach, Katie, mein Liebling“, sagte er, „du machst so gute Arbeit für ein …“

„Für ein Mädchen. Ja, ja. Ich weiß.“

„Gut, legen wir los“, sagte er und machte sich auf den Weg nach nebenan, um sich die Hände zu schrubben. „Sind ihre Laborwerte in Ordnung?“

„Das Blutbild ist einwandfrei.“

„EKG?“

„Habe ich gestern Abend durchgeführt. Normal.“

Guy salutierte voller Bewunderung von der Tür aus. „Wenn du in der Nähe bist, Kate, muss ein Mann nicht einmal nachdenken. Oh, und Ladies?“, rief er zu den zwei OP-Schwestern, die soeben die Instrumente auslegten. „Kleiner Hinweis: Der Assi ist Linkshänder.“

Die OP-Schwester, die die Instrumente anreichen sollte, schaute mit plötzlichem Interesse auf. „Ist er niedlich?“

Guy zwinkerte ihr zu. „Ein echter Traummann, Cindy. Ich werde ihm sagen, dass Sie gefragt haben.“ Lachend verschwand er zur Tür hinaus.

Cindy seufzte. „Wie hält seine Frau ihn bloß aus?“

Während der nächsten zehn Minuten lief alles wie am Schnürchen. Kate machte sich mit ihrer üblichen Effizienz an die Arbeit. Sie führte den Tubus in Ellens Luftröhre und schloss das Beatmungsgerät an. Sie startete die Sauerstoffzufuhr und fügte Isofluran und Lachgas im richtigen Verhältnis hinzu. Sie war Ellens Rettungsleine. Auch wenn jeder der Schritte automatisiert ablief, überprüfte sie diese doppelt, ja sogar dreifach. Wenn der Patient jemand war, den sie kannte und mochte, war es für Kate besonders wichtig, sich ihre Handgriffe bewusst zu machen. Die Arbeit eines Anästhesisten, so heißt es, besteht zu neunundneunzig Prozent aus Langeweile und zu einem Prozent aus purem Grauen; es war dieses eine Prozent, mit dem Kate ständig rechnete, vor dem sie sich ständig schützte. Wenn es zu Komplikationen kam, konnten sie von einem Augenblick zum anderen eintreten.

Aber heute sollte alles reibungslos verlaufen. Ellen O’Brien war erst einundvierzig. Abgesehen von dem Gallenstein war sie bei bester Gesundheit.

Guy kam in den Operationsraum zurück, seine frisch geschrubbten Arme waren tropfnass. Ihm folgte der „Traummann“, der linkshändige Assistenzarzt, der in seinen Plateau-Schuhen beeindruckende ein Meter siebzig erreichte. Die beiden Männer fuhren mit ihrem Ritual fort und legten die sterilen Kittel und Handschuhe an. Die Zeremonie erfuhr ihren Abschluss mit dem durchdringenden Geräusch von Latex, das auf Haut knallte.

Als das Team seinen Platz um den OP-Tisch herum einnahm, wanderte Kates Blick über die Runde maskierter Gesichter. Mit Ausnahme des Assistenzarztes waren sie ihr alle auf angenehme Weise vertraut. Da war die leitende OP-Schwester Ann Richter, die ihr aschblondes Haar ordentlich unter eine blaue Chirurgenkappe gesteckt hatte. Ann war ein Profi, immer besonnen, und sie mischte niemals Berufliches mit Privatem. Riss man im OP einen Witz, würde sie einem wahrscheinlich einen missbilligenden Blick zuwerfen. Als Nächstes war da Guy, gemütlich und freundlich.Eine Brille mit dicken Gläsern verzerrte seine braunen Augen. Es war kaum zu glauben, dass jemand, der so unbeholfen wirkte, Chirurg sein konnte. Aber wenn man ihm ein Skalpell in die Hand drückte, vollbrachte er Wunder.

Gegenüber von Guy stand der Assistenzarzt, der das bedauerliche Pech hatte, als Linkshänder auf die Welt gekommen zu sein.

Und zuletzt war da Cindy, die OP-Schwester, die die Instrumente anreichen sollte. Cindy war eine dunkeläugige Nymphe mit unbeschwertem Lachen. Heute trug sie einen neuen leuchtenden Lidschatten namens Oriental Malachite. Ihr Aussehen erinnerte an einen Tropenfisch.

„Hübscher Lidschatten, Cindy“, bemerkte Guy, als er die Hand nach einem Skalpell ausstreckte.

„Vielen Dank, Dr. Santini“, erwiderte sie und legte ihm das Instrument in die Hand.

„Ich mag ihn viel lieber als den anderen, Spanish Slime.“

„Spanish Moss.“

„Dieser hier ist wirklich sehr bemerkenswert, finden Sie nicht?“, fragte er den Assistenzarzt, der wohlweislich nichts sagte. „Ja“, fuhr Guy fort. „Erinnert mich an meine Lieblingsfarbe: Gallegrün.“

Der Assi kicherte. Cindy schoss ihm einen bösen Blick zu. So viel zu den Chancen des Traummannes.

Guy setzte den ersten Schnitt. Als eine scharlachrote Linie auf die Bauchdecke quoll, tupfte sein Gegenüber das Blut kurz entschlossen mit einem Schwamm fort. Die Hände der beiden Männer arbeiteten automatisch zusammen, wie zwei Pianisten, die ein Duett spielen.

Von ihrer Position am Kopf der Patientin aus verfolgte Kate, wie sie vorankamen. Währenddessen horchte sie unablässig auf Ellens Herzrhythmus. Alles verlief gut, keine Komplikationen in Sicht. In diesen Momenten genoss sie die Arbeit am meisten – wenn sie wusste, dass sie alles unter Kontrolle hatte. Inmitten all des Edelstahls fühlte sie sich zu Hause. Für sie waren das Rauschen des Beatmungsgerätes und das Piepen vom Herzmonitor eine beruhigende Hintergrundmusik für die Darbietung, die sich jetzt auf dem Tisch entfaltete.

Guy setzte einen tieferen Schnitt und legte die glänzende Fettschicht frei. „Die Muskeln wirken etwas angespannt, Kate“, stellte er fest. „Wir werden Schwierigkeiten beim Zurückziehen der Wundränder haben.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Sie drehte sich zu ihrem Medikamentenwagen um und griff nach der kleinen Schublade, die mit Succinylcholin beschriftet war. Verabreichte man es intravenös, entspannte das Mittel die Muskulatur und ermöglichte Guy einen leichteren Zugang zur Bauchhöhle. Als sie in die Schublade blickte, runzelte sie die Stirn. „Ann? Ich habe nur noch eine Ampulle Succinylcholin. Such mir unbedingt noch ein paar, ja?“

„Das ist komisch“, sagte Cindy. „Ich bin sicher, dass ich den Wagen gestern Nachmittag aufgefüllt habe.“

„Nun, da ist nur eine Ampulle übrig.“ Kate zog fünf Milliliter der kristallklaren Lösung auf und injizierte sie in Ellens intravenösen Zugang. Es würde eine Minute dauern, bis das Mittel wirkte. Sie lehnte sich zurück und wartete.

Guy entfernte mit dem Skalpell die Fettschicht und fing an, die Bauchmuskelhülle freizulegen. „Immer noch ziemlich fest, Kate“, bemerkte er.

Sie blickte hoch zu der Uhr an der Wand. „Es ist drei Minuten her. Du solltest inzwischen irgendeine Wirkung feststellen.“

„Gar nichts.“

„Okay. Ich werde ihr ein wenig mehr geben.“ Kate zog weitere drei Milliliter Succinylcholin auf und injizierte sie an Ellens intravenösen Zugang. „Ich werde bald eine weitere Ampulle brauchen, Ann“, warnte sie. „Diese ist fast …“

Der Summer des Herzmonitors ging los. Kate blickte unvermittelt auf. Was sie auf dem Bildschirm sah, ließ sie vor Entsetzen aufspringen.

Ellen O’Briens Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Im nächsten Augenblick war der Raum in heller Aufregung. Jemand rief Befehle, Instrumenten-Tabletts wurden beiseitegeschoben. Der Assistenzarzt kletterte auf einen Schemel und stieß mit ausgestreckten Armen und seinem ganzen Körpergewicht wieder und wieder auf Ellens Brust nieder.

Das war das sprichwörtliche eine Prozent, der Moment des Schreckens, den jeder Narkosearzt fürchtete.

Und es war der schlimmste Moment in Kate Chesnes Leben.

Während die anderen in panischer Angst um sie herumwirbelten, kämpfte sie darum, die Kontrolle zu behalten. Sie injizierte eine Ampulle Adrenalin nach der anderen, zuerst in die intravenösen Zugänge und dann direkt in Ellens Herz. Ich verliere sie, dachte sie. Großer Gott, ich verliere sie! Dann sah sie ein kurzes Flattern auf dem Oszilloskop, der die Herzströme maß. Es war der einzige Hinweis darauf, dass noch eine Spur von Leben vorhanden war.

„Wir kardiovertieren!“, rief sie aus. Sie blickte zu Ann, die neben dem Defibrillator stand. „Zweihundert Wattsekunden!“

Ann bewegte sich nicht. Sie stand starr da, ihr Gesicht war so weiß wie Alabaster.

„Ann?“, schrie Kate. „Zweihundert Wattsekunden!“

Schließlich war es Cindy, die zu der Maschine lief und den Ladeknopf drückte. Die Nadel schoss hoch auf zweihundert. Guy packte die Defibrillator-Paddel, schlug sie auf Ellens Brust und setzte die elektrische Ladung frei.

Ellens Körper zuckte wie eine Marionette, bei der jemand an allen Fäden gleichzeitig zog.

Das Flattern flaute ab und wurde zu einer leichten Welle auf dem Monitor. Es war das Muster eines sterbenden Herzens.

Kate probierte ein anderes Medikament, dann noch ein anderes in dem verzweifelten Versuch, etwas Leben in das Herz zurückzupeitschen. Nichts funktionierte. Durch einen Tränenschleier hindurch beobachtete sie, wie die Spur auf dem Oszilloskop langsam in eine Linie überging, die ziellos über den kleinen Bildschirm mäanderte.

„Das war’s“, sagte Guy leise. Er gab ein Zeichen, mit der Herzmassage aufzuhören. Der Assistenzarzt wich vom Tisch zurück. Sein Gesicht war schweißüberströmt.

„Nein“, sagte Kate bestimmt und legte ihre Hände auf Ellens Brust. „Es ist nicht vorbei.“ Sie begann zu pumpen – erbittert und verzweifelt. „Es ist nicht vorbei.“ Sie warf sich auf Ellen und bot ihr ganzes Körpergewicht gegen den unnachgiebigen Schild aus Rippen und Muskeln auf. Das Herz musste massiert, das Gehirn genährt werden. Sie musste Ellen am Leben erhalten. Immer wieder pumpte sie, bis ihre Arme schwach wurden und zitterten. Lebe, Ellen, befahl sie lautlos. Du musst leben …

„Kate.“ Guy berührte sie am Arm.

„Wir geben jetzt nicht auf. Noch nicht …“

„Kate.“ Behutsam zog Guy sie vom Operationstisch fort. „Es ist vorbei“, flüsterte er.

Jemand schaltete den Ton des Herzmonitors aus. Das Heulen des Alarms wich einer gespenstischen Stille. Langsam drehte sich Kate um und sah, dass alle sie beobachteten. Sie schaute zu dem Oszilloskop hinauf.

Die Linie war flach.

Kate zuckte zusammen, als ein Krankenpfleger den Reißverschluss des Leichensacks über Ellen O’Briens Körper zuzog. Es lag eine grausame Endgültigkeit in diesem Geräusch; diese zweckmäßige Verpackung von dem, was einmal eine lebendige, atmende Frau gewesen war, erschien ihr obszön. Als der Leichnam in die Leichenhalle fortgerollt wurde, wandte sich Kate ab. Lange nachdem das Quietschen der Bahre den Flur hinab verklungen war, stand sie immer noch da, allein im OP-Saal.

Sie kämpfte gegen die Tränen an und schaute sich um. Schaute auf die blutbefleckte Gaze und die leeren Ampullen, die den Fußboden übersäten. Dieselben traurigen Überbleibsel wie nach jedem Krankenhaustod. Bald würde jemand sie zusammenkehren und verbrennen, und es wären keine Spuren mehr von der Tragödie übrig, die sich gerade abgespielt hatte. Nichts außer dem Leichnam in der Leichenhalle.

Und Fragen. Oh ja, Fragen würde es geben. Von Ellens Eltern. Vom Krankenhaus. Fragen, auf die Kate keine Antwort wusste.

Erschöpft zog sie ihre Chirurgenkappe herunter und spürte ein unbestimmtes Gefühl der Erleichterung, als ihr braunes Haar lose auf die Schultern herabfiel. Sie brauchte Zeit für sich – um nachzudenken, um zu verstehen. Sie wandte sich zum Gehen.

Guy stand in der Tür. In dem Augenblick, als sie sein Gesicht sah, ahnte Kate bereits, dass etwas nicht stimmte.

Schweigend reichte er ihr Ellen O’Briens Krankenakte.

„Das Elektrokardiogramm“, sagte er. „Du hast mir erzählt, es wäre normal.“

„Das war es.“

„Wirf besser einen zweiten Blick darauf.“

Verwundert öffnete sie die Akte und blätterte zum EKG, das die elektrischen Ströme von Ellens Herzen aufgezeichnet hatte. Das erste Detail, das sie bemerkte, waren ihre eigenen Initialen oben auf dem Blatt. Sie besagten, dass sie die Seite gesehen hatte. Als Nächstes überflog sie die Herzstromaufzeichnung. Eine ganze Minute lang starrte sie auf die Reihe von zwölf schwarzen Schnörkeln, unfähig, zu glauben, was sie gerade sah. Das Muster war unverkennbar. Selbst ein Medizinstudent im dritten Jahr hätte die Diagnose stellen können.

„Darum ist sie gestorben, Kate“, sagte Guy.

„Aber … Das ist unmöglich!“, entfuhr es ihr. „Ich kann solch einen Fehler nicht gemacht haben!“

Guy antwortete nicht. Er schaute einfach fort – eine Geste, die aufschlussreicher war als alles, was er hätte sagen können.

„Guy, du kennst mich“, beschwor sie ihn. „Du weißt, ich würde so etwas nicht übersehen …“

„Es steht da, schwarz auf weiß. Um Himmels willen, deine Initialen stehen auf dem verdammten Ding!“

Sie starrten einander an, bestürzt darüber, wie schroff seine Stimme klang.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich schließlich. Plötzlich aufgeregt, drehte er sich um und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Lieber Gott. Sie hatte einen Herzinfarkt. Einen Herzinfarkt. Und wir haben sie operiert.“ Er warf Kate einen jammervollen Blick zu. „Ich schätze, das heißt, wir haben sie getötet.“

„Es handelt sich hier offensichtlich um einen ärztlichen Kunstfehler.“

Rechtsanwalt David Ransom schloss die Akte mit der Aufschrift O’Brien, Ellen und blickte seine Klienten über den breiten Teakholztisch hinweg an. Wenn er sich für ein Wort entscheiden müsste, das Patrick und Mary O’Brien beschrieb, es wäre „grau“. Graues Haar, graue Gesichter, graue Kleidung. Patrick trug ein tristes Tweedjackett. Es war wohl schon vor langer Zeit aus der Fasson geraten und hing schlaff an ihm herab. Mary hatte ein schwarz-weiß bedrucktes Kleid gewählt, dessen Farben zu einem eintönigen Grau zu verschmelzen schienen.

Patrick schüttelte weiter den Kopf. „Sie war unser kleines Mädchen, Mr Ransom. Unser einziges Kind. Sie war immer so lieb, wissen Sie? Hat sich nie beklagt. Selbst als sie ein Baby war. Sie lag einfach da in ihrem Kinderbettchen und hat gelächelt. Wie ein kleiner Engel. Wie ein süßer, kleiner …“ Plötzlich hielt er inne, und sein Gesicht verzog sich.

„Mr O’Brien“, sagte David sanft. „Ich weiß, es ist jetzt kein besonderer Trost für Sie, aber ich verspreche Ihnen, ich werde alles tun, was ich kann.“

Patrick schüttelte den Kopf. „Wir haben es nicht auf Geld abgesehen. Sicher, ich kann nicht arbeiten. Mein Rücken, wissen Sie. Aber Ellie, sie hatte eine Lebensversicherung und …“

„Wie hoch war die Versicherungssumme?“

„Fünfzigtausend“, antwortete Mary. „So eine war sie. Hat immer an uns gedacht.“ Ihr Profil schien im Licht des Fensters wie aus Stahl geschnitten. Im Gegensatz zu ihrem Mann hatte Mary O’Brien keine Tränen mehr. Sie saß sehr aufrecht, ihr ganzer Körper war starr und unbeweglich und zeugte von tiefer Trauer. David wusste genau, was sie fühlte. Schmerz. Wut. Besonders Wut. Sie war da und brannte kalt in ihren Augen.

Patrick schniefte.

David nahm eine Schachtel Taschentücher aus der Schublade und stellte sie stillschweigend vor seinen Klienten hin. „Vielleicht sollten wir den Fall ein anderes Mal besprechen“, schlug er vor. „Wenn Sie sich beide bereit fühlen …“

Mary hob abrupt das Kinn. „Wir sind bereit, Mr Ransom. Stellen Sie Ihre Fragen.“

David blickte Patrick an, der ein schwaches Nicken zustande brachte. „Ich fürchte, die Dinge, die ich Sie fragen muss, könnten Ihnen vielleicht … herzlos vorkommen. Es tut mir leid.“

„Fahren Sie fort“, forderte Mary ihn auf.

„Ich werde mich sofort daranmachen, Klage einzureichen. Aber ich benötige mehr Informationen, bevor wir den Schadensersatz abschätzen können. Dazu gehören entgangene Gehälter – was Ihre Tochter verdient hätte, wenn sie weitergelebt hätte. Sie sagen, sie war Krankenschwester?“

„In der Geburtshilfe. Entbindungsstation.“

„Kennen Sie ihr Gehalt?“

„Ich werde ihre Lohnabrechnung prüfen müssen.“

„Was ist mit Familie? Hatte sie Angehörige?“

„Keine.“

„Sie war nie verheiratet?“

Mary schüttelte den Kopf und seufzte. „Sie war die perfekte Tochter, Mr Ransom, in nahezu jeder Hinsicht. Schön. Und hochintelligent. Aber wenn es um Männer ging, hat sie … Fehler gemacht.“

Er runzelte die Stirn. „Fehler?“

Mary zuckte mit den Schultern. „Oh, ich nehme an, so sind die Dinge heutzutage nun einmal. Und sobald eine Frau ein bestimmtes Alter erreicht, fühlt sie sich, nun, wie ein Glückspilz, wenn sie überhaupt einen Mann hat …“ Sie blickte auf ihre fest verschränkten Hände hinab und verstummte.

David spürte, dass sie sich in gefährliche Gewässer verirrt hatten. Ellen O’Briens Liebesleben interessierte ihn ohnehin nicht. Es hatte für den Fall keine Bedeutung.

„Wenden wir uns der Krankengeschichte Ihrer Tochter zu“, sagte er ruhig und öffnete die Krankenakte. „Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass sie einundvierzig Jahre alt und bei bester Gesundheit war. Hatte sie Ihres Wissens jemals Probleme mit dem Herzen?“

„Nie.“

„Hat sie nie über Brustschmerzen geklagt? Kurzatmigkeit?“

„Ellie war Langstrecken-Schwimmerin, Mr Ransom. Sie konnte den ganzen Tag in Bewegung sein, ohne jemals außer Atem zu geraten. Darum glaube ich diese Geschichte von dem … dem Herzinfarkt nicht.“

„Aber das EKG war diesbezüglich sehr aussagekräftig, Mrs O’Brien. Wenn es eine Obduktion gegeben hätte, hätten wir es beweisen können. Aber ich schätze, dafür ist es ein wenig spät.“

Mary blickte ihren Ehemann an. „Das liegt an Patrick. Er konnte die Vorstellung einfach nicht ertragen …“

„Haben sie sie nicht schon genug zerschnitten?“, entfuhr es Patrick.

Ein langes Schweigen folgte. Dann sagte Mary leise: „Wir werden ihre Asche mit aufs Meer hinausnehmen. Sie hat das Meer geliebt. Seit sie ein Baby war …“

Es war ein ernster, ja feierlicher Abschied. Ein paar letzte Beileidsbekundungen und dann das Händeschütteln, das Besiegeln eines Pakts. Die O’Briens wandten sich zum Gehen. Aber in der Tür blieb Mary stehen.

„Ich möchte, dass Sie eines wissen: Es geht nicht um das Geld“, erklärte sie. „In Wahrheit kümmert es mich nicht, ob wir einen Cent sehen. Aber sie haben unser Leben zerstört, Mr Ransom. Sie haben uns unser einziges Kind weggenommen. Und ich hoffe bei Gott, dass sie es niemals vergessen.“

David nickte. „Dafür werde ich sorgen.“

Nachdem seine Mandanten gegangen waren, drehte sich David zum Fenster um. Er holte tief Luft und atmete langsam aus. Mit reiner Willenskraft zwang er die Gefühle aus seinem Körper. Aber in seinem Magen schien weiter ein harter Knoten zu bleiben. All diese Traurigkeit, all diese Wut; sie trübte sein Denken.

Vor sechs Tagen hatte eine Ärztin einen schrecklichen Fehler begangen. Jetzt war Ellen O’Brien tot, im Alter von einundvierzig Jahren.

Sie war nur drei Jahre älter als ich.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete die Akte O’Brien. Er übersprang die Aufzeichnungen des Krankenhauses und wandte sich den Lebensläufen der beiden Ärzte zu.

Dr. Guy Santinis Lebenslauf war beeindruckend. Achtundvierzig Jahre alt, Chirurg mit einem Abschluss von der Harvard Medical School, und er stand jetzt auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Liste seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen erstreckte sich über fünf Seiten. Ein Großteil seiner Forschung befasste sich mit Leber-Physiologie. Vor acht Jahren war er einmal verklagt worden; er hatte den Prozess gewonnen. Na prima. Santini war ohnehin nicht das Ziel. David hatte die Narkoseärztin im Visier.

Er blätterte zu der dreiseitigen Zusammenfassung von Dr. Katherine Chesnes Laufbahn.

Ihr beruflicher Werdegang war bemerkenswert. Einen Bachelor of Science in Chemie von der University of California, Berkeley, einen Doktor der Medizin von der Johns Hopkins University, Facharztausbildung in Anästhesie und ein Forschungsstipendium für Intensivmedizin an der University of California, San Francisco. Jetzt, mit erst dreißig Jahren, hatte sie bereits eine ansehnliche Publikationsliste zusammengetragen. Sie war vor weniger als einem Jahr als Anästhesistin am Mid Pac Hospital angestellt worden. Es gab kein Foto, aber er hatte keine Schwierigkeiten, vor seinem geistigen Auge das Bild der typischen Ärztin heraufzubeschwören: altmodische Frisur, keine Figur und ein Gesicht wie ein Pferd – wenn auch ein extrem intelligentes Pferd.

David lehnte sich zurück und runzelte die Stirn. Dieser Werdegang war zu gut; er passte nicht ins Profil einer inkompetenten Ärztin. Wie konnte sie einen solch eklatanten Fehler machen?

Er schloss die Akte. Wie auch immer ihre Ausreden lauten mochten, die Tatsachen waren nicht zu bestreiten: Dr. Katherine Chesne hatte ihre Patientin dazu verdammt, unter dem Messer des Chirurgen zu sterben. Jetzt würde sie sich den Konsequenzen stellen müssen.

Er würde dafür sorgen.

George Bettencourt verachtete Ärzte. Diese Einstellung machte seine Arbeit als CEO des Mid Pac Hospital umso schwieriger, denn er musste eng mit dem medizinischen Personal zusammenarbeiten. Er besaß sowohl einen MBA als auch einen Masterabschluss in Gesundheitswesen. In seinen zehn Jahren als Geschäftsführer hatte er erreicht, wozu die alte, von Ärzten geleitete Führung nicht in der Lage gewesen war: Er hatte das Mid Pac von einer komatösen Institution in ein profitables Unternehmen verwandelt. Trotzdem hörte er von diesen dummen, kleinen Ersatzgöttern in ihren weißen Kitteln nichts als Kritik. Schon bei dem Gedanken, ihre heilige Arbeit könnte von Gewinn- und Verlustgrafiken diktiert werden, rümpften sie arrogant die Nase. Die kalte Wirklichkeit war, dass Leben zu retten ein Geschäft war wie Linoleum zu verkaufen. Bettencourt wusste das. Die Ärzte nicht. Sie waren Dummköpfe, und Dummköpfe bereiteten ihm Kopfschmerzen.

Und die zwei, die ihm jetzt gegenübersaßen, bereiteten ihm gerade eine Migräne, wie er sie seit Jahren nicht mehr gehabt hatte.

Dr. Clarence Avery, der weißhaarige Chefanästhesist, war nicht das Problem. Der alte Mann hatte Angst vor seinem eigenen Schatten, er würde sich in einer strittigen Angelegenheit nicht gegen ihn stellen. Seit dem Schlaganfall seiner Frau schleppte sich Avery wie ein Schlafwandler durch die Flure und erledigte seine Aufgaben mechanisch. Ja, man würde ihn zur Zusammenarbeit überreden können. Besonders wenn die Reputation des Krankenhauses auf dem Spiel stand.

Nein, es war die andere, die Bettencourt Sorgen bereitete: die Frau. Sie war neu im Haus, und er kannte sie nicht sonderlich gut. Aber in dem Moment, in dem sie in sein Büro gekommen war, hatte er den Ärger gerochen. Sie hatte diesen Blick, diesen missionarischen Zug ums Kinn. Sie war eine recht hübsche Frau, auch wenn ihr braunes Haar wild und unordentlich war, und vermutlich hatte sie seit Monaten keinen Lippenstift in der Hand gehabt. Aber ein Blick aus ihren durchdringenden grünen Augen reichte, damit ein Mann all die Makel dieses Gesichts übersah. Sie war in der Tat ziemlich attraktiv.

Zu schade, dass sie es vermasselt hatte. Jetzt war sie eine Belastung. Er hoffte, sie würde die Sache nicht noch schlimmer machen, indem sie sich querstellte.

Kate zuckte zusammen, als Bettencourt die Papiere vor ihr auf den Schreibtisch fallen ließ. „Der Brief ist heute Morgen im Büro unseres Anwalts eingetroffen, Dr. Chesne“, sagte er. „Zugestellt per Boten. Ich denke, Sie sollten ihn besser lesen.“

Sie warf einen Blick auf den Briefkopf und spürte, wie ihr der Magen sank: Uehara und Ransom, Rechtsanwälte.

„Eine der besten Kanzleien in der Stadt“, erklärte Bettencourt. Als er ihre benommene Miene sah, fuhr er ungeduldig fort: „Sie und das Krankenhaus werden verklagt, Dr. Chesne. Wegen eines ärztlichen Kunstfehlers. Und David Ransom übernimmt den Fall persönlich.“

Ihre Kehle war trocken geworden. Langsam schaute sie auf. „

Aber wie … wie können sie …“

„Man braucht nur einen Anwalt. Und eine tote Patientin.“

„Ich habe erklärt, was passiert ist!“ Sie wandte sich zu Avery. „Erinnern Sie sich an letzte Woche … ich habe Ihnen gesagt …“

„Clarence ist das mit mir durchgegangen“, fiel Bettencourt ihr ins Wort. „Das ist nicht das Problem, über das wir hier gerade sprechen.“

„Was ist das Problem?“

Ihre Direktheit schien ihn zu überraschen. Er atmete scharf aus. „Das Problem ist Folgendes: Wir haben anscheinend einen Millionen-Dollar-Prozess am Hals. Als Ihr Arbeitgeber sind wir für den Schadensersatz verantwortlich. Aber es ist nicht das Geld, das uns Sorge bereitet.“ Er hielt inne. „Es geht um unsere Reputation.“

Sein Tonfall kam ihr ominös vor. Sie ahnte, was kam, und war auf einmal vollkommen sprachlos. Ihr Magen war in Aufruhr. Sie konnte nur dasitzen, die Hände im Schoß geballt, und darauf warten, dass der Schlag auf sie niederging.

„Dieser Rechtsstreit fällt unangenehmerweise auf das gesamte Krankenhaus zurück“, sagte er. „Wenn der Fall vor Gericht geht, wird die Öffentlichkeit davon erfahren. Die Leute … Patienten … werden die Zeitungen lesen, und was dort steht, wird ihnen Angst machen.“ Er schaute hinunter auf seinen Schreibtisch. „Mir ist bewusst, dass Ihre Performance bislang akzeptabel gewesen ist …“

Sie hob abrupt das Kinn. „Akzeptabel?“, wiederholte sie ungläubig. Sie blickte zu Avery. Der Chefanästhesist kannte jeden ihrer behandelten Fälle. Und alle waren makellos.

Avery wand sich auf seinem Stuhl, seine wässrigen blauen Augen mieden ihren Blick. „Nun, um ehrlich zu sein“, murmelte er, „Dr. Chesnes Tätigkeit hier ist – bis jetzt, jedenfalls – äh, mehr als akzeptabel gewesen. Es hat …“

Um Himmels willen, Mann! wollte sie schreien. Setz dich für mich ein!

„Es hat nie irgendwelche Beschwerden gegeben“, beendete Avery seinen Satz lahm.

„Nichtsdestotrotz“, fuhr Bettencourt fort, „haben Sie uns in eine heikle Situation gebracht, Dr. Chesne. Darum denken wir, es wäre das Beste, wenn Ihr Name nicht länger mit dem Krankenhaus in Verbindung gebracht werden würde.“

Es folgte ein langes Schweigen, das nur von Dr. Averys nervösem Husten unterbrochen wurde.

„Wir bitten Sie um Ihre Kündigung“, erklärte Bettencourt.

Da war er also. Der Schlag. Er ging über sie hinweg wie eine riesige Welle, und sie blieb matt und erschöpft zurück. Leise fragte sie: „Und wenn ich mich weigere, zu kündigen?“

„Glauben Sie mir, Doktor, eine Kündigung wird in Ihrer Personalakte sehr viel besser aussehen als eine …“

„Entlassung?“

Er legte den Kopf zur Seite. „Wir verstehen uns.“

„Nein.“ Sie hob den Kopf. Etwas in seinen Augen, diese kühle Selbstsicherheit, ließ sie erstarren. Sie hatte Bettencourt nie gemocht. Jetzt mochte sie ihn sogar noch weniger. „Sie verstehen mich ganz und gar nicht.“

„Sie sind eine intelligente Frau. Sie sehen doch, welche Möglichkeiten Sie haben. Auf jeden Fall können wir Sie nicht in den Operationssaal zurücklassen.“

„Das ist nicht in Ordnung“, wandte Avery ein.

„Wie bitte?“ Bettencourt sah den alten Mann stirnrunzelnd an.

„Sie können sie nicht einfach feuern. Sie ist Ärztin. Es gibt Dienstwege, die Sie durchlaufen müssen. Ausschüsse …“

„Mir sind die korrekten Dienstwege bestens bekannt, Clarence! Ich habe gehofft, Dr. Chesne würde die Situation begreifen und sich angemessen verhalten.“ Er sah sie an. „Es wäre wirklich einfacher, wissen Sie. Es läge kein Makel auf Ihrer Akte. Nur eine Anmerkung, dass Sie gekündigt haben. Ich kann binnen einer Stunde ein Schreiben aufsetzen lassen. Alles, was es braucht, ist Ihre …“ Seine Stimme verlor sich, als er den Ausdruck in ihren Augen sah.

Kate wurde selten zornig. Für gewöhnlich schaffte sie es, ihre Emotionen unter strenger Kontrolle zu behalten. Die Wut, die sie jetzt an die Oberfläche drängen spürte, war also etwas Neues und Unbekanntes und beinah Beängstigendes. Mit tödlicher Ruhe sagte sie: „Sparen Sie sich das Papier, Mr Bettencourt.“

Sein Mund klappte zu. „Wenn das Ihre Entscheidung ist …“ Er blickte zu Avery. „Wann ist die nächste Sitzung des Qualitätssicherungs-Ausschusses?“

„Sie ist … äh, nächsten Dienstag, aber …“

„Setzen Sie den O’Brien-Fall auf die Tagesordnung. Wir werden Dr. Chesne erlauben, den Fall dem Ausschuss vorzulegen.“ Der CEO sah Kate an. „Eine Beurteilung durch Ihre Kollegen. Ich würde sagen, das ist fair. Finden Sie nicht?“

Sie schluckte ihre scharfe Antwort mühsam herunter. Wenn sie noch etwas sagte, wenn sie das, was sie wirklich über George Bettencourt dachte, aussprach, würde sie ihre Chancen, jemals wieder am Mid Pac zu arbeiten, zunichtemachen. Oder ihre Chancen, jemals irgendwo anders als Ärztin zu arbeiten, nebenbei bemerkt. Er musste ihr nur das Etikett Querulantin aufdrücken; das würde ihre Personalakte für den Rest ihres Lebens belasten.

Sie gingen höflich auseinander. Für eine Frau, der man soeben die Karriere in Stücke gerissen hatte, brachte sie einen großartigen Auftritt zustande. Sie schaute Bettencourt mit festem Blick an und schüttelte ihm kühl die Hand. Sie bewahrte Haltung, den ganzen Weg zur Tür hinaus und den langen Gang den mit Teppich ausgelegten Flur hinunter. Aber als sie mit dem Aufzug nach unten fuhr, schien etwas in ihr zu zerbrechen. Sobald die Türen wieder aufglitten, zitterte sie heftig. Während sie blindlings durch den Lärm und das rege Treiben der Eingangshalle ging, traf sie die Erkenntnis mit voller Wucht.

Lieber Gott, ich werde verklagt. Ich praktiziere noch kein Jahr und werde verklagt …

Sie hatte immer gedacht, dass Gerichtsverfahren, wie alle Katastrophen des Lebens, anderen Menschen zustießen. Nicht einmal im Traum hätte sie gedacht, dass man ausgerechnet sie wegen Inkompetenz verklagen würde. Inkompetenz!

Plötzlich war ihr schlecht, und sie schwankte gegen die Telefone in der Eingangshalle. Während sie mit Mühe ihren Magen beruhigte, fiel ihr Blick auf das Telefonbuch, das an einer Kette von dem Bord neben dem Apparat herabhing. Wenn sie nur die Fakten kennen würden, dachte sie. Wenn ich es ihnen nur erklären könnte …

Es dauerte nur Sekunden, den Eintrag zu finden: Uehara und Ransom, Rechtsanwälte. Ihre Kanzlei war in der Bishop Street.

Sie riss die Seite heraus. Dann eilte sie aus der Tür, getrieben von neuer, verzweifelter Hoffnung.

2. KAPITEL

„Mr Ransom ist nicht zu sprechen.“

Die dunklen Augen der grauhaarigen Empfangsdame waren stumpf und hart wie Gusseisen; ihr Gesicht schien geradewegs American Gothic entsprungen, dem bekannten Gemälde von Grant Wood. Alles, was sie noch brauchte, war die Heugabel. Sie verschränkte die Arme und warnte den Eindringling schweigend vor dem Versuch – nur dem Versuch –, sie umstimmen zu wollen.

„Aber ich muss ihn sprechen!“, sagte Kate nachdrücklich. „Es ist wegen des Falls …“

„Natürlich“, erwiderte die Frau trocken.

„Ich möchte ihm nur erklären …“

„Ich habe es Ihnen gerade gesagt, Doktor. Er ist in einer Besprechung mit den Mitarbeitern. Er kann Sie jetzt nicht empfangen.“

Kates Ungeduld war kurz davor, überzukochen. Sie beugte sich nach vorne über den Schreibtisch der Frau und brachte es trotz ihres Zorns fertig, höflich zu sagen: „Besprechungen dauern nicht ewig.“

Die Empfangsdame lächelte. „Diese schon.“

Kate lächelte zurück. „Dann werde ich so lange warten.“

„Doktor, Sie verschwenden Ihre Zeit! Mr Ransom trifft sich niemals mit der Gegenseite. Also, wenn Sie eine Begleitung brauchen, um den Weg nach draußen zu finden, bin ich gerne bereit …“ Sie blickte sich verärgert um, als das Telefon klingelte. Dann griff sie nach dem Hörer und sagte giftig: „Uehara und Ransom! Ja? Oh, ja, Mr Matheson!“ Sie drehte Kate demonstrativ den Rücken zu. „Lassen Sie mich sehen, ich habe die Akten hier …“

Niedergeschlagen blickte Kate sich im Wartezimmer um. Sie bemerkte die Ledercouch, das Ikebana-Gesteck aus Weide und Zuckerbusch, den Murashige-Druck, der an der Wand hing. Alles ausnehmend geschmackvoll und zweifellos teuer. Offensichtlich florierte das Geschäft von Uehara und Ransom. Das hier ist weit entfernt von dem Blut und Schweiß, was uns Ärzte umgibt, dachte sie angewidert.

Plötzlich ertönten Stimmen und zogen Kates Aufmerksamkeit auf sich. Sie drehte sich um und sah am Ende des Flurs eine kleine Armee junger Männer und Frauen aus einem Konferenzraum kommen. Welcher war Ransom? Sie überflog die Gesichter, aber keiner der Männer sah alt genug aus, um Seniorpartner der Kanzlei zu sein. Sie schaute wieder zum Schreibtisch und sah, dass die Empfangsdame ihr immer noch den Rücken zukehrte. Das hieß: jetzt oder nie.

Es kostete Kate nur den Bruchteil einer Sekunde, um eine Entscheidung zu fällen. Rasch und mit voller Absicht bewegte sie sich auf den Konferenzraum zu. Aber in der Tür blieb sie stehen, ihre Augen wurden plötzlich von Licht geblendet.

Ein langer Teakholztisch erstreckte sich vor ihr. Auf beiden Seiten stand jeweils eine Reihe lederbezogene Stühle wie Soldaten in Habachtstellung. Grelles Sonnenlicht drang durch die Fenster auf der Südseite hinein und ergoss sich über Kopf und Schultern des einsamen Mannes, der am hinteren Tischende saß. Das Licht überzog sein helles Haar mit goldenen Streifen. Er bemerkte sie nicht; seine ganze Aufmerksamkeit war auf einen Stapel Papiere gerichtet, der vor ihm lag. Abgesehen von dem Rascheln, wenn er eine Seite umblätterte, war der Raum vollkommen still.

Kate schluckte schwer und richtete sich gerade auf. „Mr Ransom?“

Der Mann schaute auf und betrachtete sie mit gleichgültiger Miene. „Ja? Wer sind Sie?“

„Ich bin …“

„Entschuldigen Sie bitte vielmals, Mr Ransom!“, unterbrach sie die empörte Stimme der Empfangsdame. Während sie Kate am Arm fortzog, murmelte sie durch die Zähne: „Ich habe Ihnen gesagt, er ist nicht zu sprechen. Wenn Sie jetzt also mit mir kommen …“

„Ich möchte nur mit ihm reden!“

„Wollen Sie, dass ich den Sicherheitsdienst rufe und Sie hinauswerfen lasse?“

Kate riss ihren Arm los. „Nur zu.“

„Führen Sie mich nicht in Versuchung, Sie …“

„Was, zur Hölle, geht hier vor?“ Ransoms dröhnende Stimme hallte in dem großen Raum wider und ließ die beiden Frauen vor Schreck verstummen. Er warf Kate einen langen und vernichtenden Blick zu. „Wer sind Sie?“

„Kate …“ Sie hielt inne. Dann senkte sie die Stimme und schlug einen anderen Ton an. „Dr. Kate Chesne.“ Sie hoffte, es klang würdevoller.

Eine Pause entstand. „Ich verstehe.“ Er schaute sofort wieder auf seine Papiere und sagte ausdruckslos: „Führen Sie sie hinaus, Mrs Pierce.“

„Ich möchte Ihnen nur die Wahrheit erzählen!“, sagte Kate nachdrücklich. Sie versuchte, nicht von der Stelle zu weichen, aber die Empfangsdame trieb sie mit der ganzen Geschicklichkeit eines Hütehundes zur Tür. „Oder würden Sie die Wahrheit lieber nicht hören, ist es das? Arbeitet ihr Rechtsanwälte etwa so?“ Er ignorierte sie geflissentlich. „Die Wahrheit ist Ihnen völlig egal, oder? Sie wollen nicht erfahren, was wirklich mit Ellen O’Brien geschehen ist!“

Daraufhin hob er unvermittelt den Kopf. Sein Blick heftete sich lange und unnachgiebig auf ihr Gesicht. „Warten Sie, Mrs Pierce. Ich habe gerade meine Meinung geändert. Lassen Sie Dr. Chesne bleiben.“

Mrs Pierce war fassungslos. „Aber … sie könnte gewalttätig werden!“

Davids Blick verweilte einen Moment länger auf Kates gerötetem Gesicht. „Ich denke, ich werde mit ihr fertig. Sie können gehen, Mrs Pierce.“

Mrs Pierce murmelte etwas vor sich hin, als sie hinausging. Die Tür schloss sich hinter ihr. Ein sehr langes Schweigen folgte.

„Nun, Dr. Chesne“, sagte David schließlich. „Wo Sie jetzt, wie durch ein Wunder, das Kunststück zuwege gebracht haben, an Mrs Pierce vorbeizukommen, wollen Sie da einfach stehen bleiben?“ Er deutete auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz. Es sei denn, Sie möchten mich lieber von dort durch den ganzen Raum anschreien.“

Seine kühle Ironie ließ ihn erst recht unnahbar wirken und minderte ihre Anspannung nicht. Sie zwang sich, auf ihn zuzugehen, und fühlte seinen Blick bei jedem Schritt. Für einen so hoch angesehenen Mann war er jünger, als sie erwartet hatte; Ransom war noch keine vierzig. Das Wort Establishment schien überall auf seinen Kleidern geschrieben zu stehen, angefangen bei dem grauen Nadelstreifenanzug bis zur Krawattennadel von Yale. Aber eine so tiefe Bräune und die sonnengebleichten Haare passten nicht zu einem Ivy-League-Typen. Er ist nichts weiter als ein erwachsen gewordener Surfer-Boy, dachte sie spöttisch. Er hatte allemal die Statur eines Surfers. Lange, sehnige Gliedmaßen und Schultern, die gerade breit genug waren, um sie stattlich zu nennen. Die große Nase und das stumpfe Kinn bewahrten ihn davor, als hübsch zu gelten. Aber seine Augen. Kate ertappte sich dabei, dass sie den Blick nicht von ihnen wenden konnte. Sie waren von einem kühlen, durchdringenden Blau; Augen, denen absolut nichts zu entgehen schien. Im Moment bohrte sich ihr Blick geradewegs durch sie hindurch, und Kate spürte das fast unwiderstehliche Bedürfnis, die Arme schützend über der Brust zu verschränken.

„Ich bin hier, um Ihnen die Wahrheit zu erzählen, Mr Ransom“, sagte sie.

„Die Wahrheit, wie Sie sie verstehen?“

„Die Wahrheit, wie sie ist.“

„Bemühen Sie sich nicht.“ Er griff in seine Aktentasche, zog Ellen O’Briens Akte heraus und knallte sie auf den Tisch. „Ich habe die ganze Wahrheit hier. Alles, was ich brauche.“

Alles, was ich brauche, um Sie zu hängen, meinte er wohl.

„Nicht alles.“

„Und jetzt wollen Sie mich mit den fehlenden Details versorgen. Richtig?“ Er lächelte, und sie erkannte sofort die unverkennbare Drohung in seiner Miene. Er hatte so perfekte spitze Zähne. Sie hatte das deutliche Gefühl, sie starrte gerade in den Rachen eines Hais.

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