Julia Best of Band 202

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DIESE EINE NACHT MIT DIR
Auch nach zwei Jahren muss Rico Christofides noch an Gypsy denken, die nach einer heißen Nacht spurlos verschwand. Als er sie zufällig wiedersieht und ihr heimlich nach Hause folgt, ist der Selfmade-Milliardär schockiert: Gypsy hält ein kleines Mädchen in ihren Armen - seine Tochter?

KOMM UND KÜSS MICH, SCHÖNER FREMDER!
Magisch angezogen fühlt sich Angel von dem atemberaubenden Fremden! Und als der Unbekannte sie in seine Arme zieht, verzehrt sie sich nach seinen Küssen. Doch dann erfährt sie, wer er ist: der millionenschwere griechische Unternehmer Leo Parnassus - ihr größter Feind!

ALLES, WAS ICH WILL, BIST DU
Rocco ist fassungslos. In seiner Bank steht eine umwerfende Rothaarige und fragt ausgerechnet nach dem Mitarbeiter, der kürzlich eine Million gestohlen hat. Auf keinen Fall darf er sie laufen lassen! Denn mit ihr will er das Geld wiederfinden - und längst verloren geglaubte Gefühle …


  • Erscheinungstag 06.07.2018
  • Bandnummer 0202
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710699
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

AbbyGreen

JULIA BEST OF – BAND 202

1. KAPITEL

Was war nur los mit ihm? Rico Christofides gab sich alle Mühe, seine Gereiztheit zu verbergen und Interesse vorzutäuschen. Immerhin saß er mit einer der schönsten Frauen der Welt in einem der exklusivsten Restaurants Londons. Aber ihm war, als hätte jemand den Ton abgedreht. Alles, was er hörte, war das gleichmäßige Schlagen seines Herzens.

Nachdenklich betrachtete er Elena. Sie gestikulierte temperamentvoll und sprach etwas zu lebhaft. Immer wieder warf sie mit einer gekonnten Kopfbewegung die üppige rote Haarmähne über die eine Schulter und entblößte so die andere. Es sollte verführerisch wirken, tat es aber nicht.

Wie gut er all diese Tricks kannte! Jahrelang hatte er sie bei zahllosen Frauen gesehen, und das noch nicht einmal ungern. Aber im Augenblick verspürte er nach der Frau ihm gegenüber kaum Verlangen. Nachdem sicher war, dass er einige Tage in London verbringen würde, hatte er bei ihr angerufen. Jetzt bereute er es.

Beim Betreten des Restaurants hatte sein Blick eine der Kellnerinnen gestreift. Etwas an der Art, wie sie sich bewegte, ließ ihn aufmerken. Und plötzlich musste er an die einzige Frau in seinem Leben denken, die seine Schutzmauer durchbrochen hatte.

Für die Dauer einer Nacht.

Unwillkürlich ballte er unter dem Tisch die Hand zur Faust. Er war etwas durcheinander, das war alles. Elena sagte gerade etwas, und er lächelte zustimmend. Wie es schien, hatte er richtig reagiert, denn sie plapperte munter weiter.

In der Nacht, als er Gypsy begegnete, waren sie beide in demselben Club gewesen. Gypsy – ob das überhaupt ihr richtiger Name war? Er hatte ihr seinen Namen verraten wollen, doch sie legte ihm den Finger auf die Lippen und sagte mit Nachdruck: „Ich will nicht wissen, wer du bist. Das spielt heute Nacht keine Rolle.“

Er war skeptisch gewesen. Entweder wusste sie verdammt gut, wer er war – schließlich hatte er seit Tagen in den Boulevardblättern für Schlagzeilen gesorgt –, oder aber … Unwillkürlich hatte er geschwiegen und sie nur angeschaut. Sie sah zauberhaft aus. So jung und frisch … und so unverdorben. Und da hatte er zum ersten Mal Zynismus und Misstrauen beiseitegeschoben. „Okay, kleine Verführerin, wie wäre es nur mit den Vornamen?“

Bevor sie etwas sagen konnte, streckte er ihr die Hand hin und stellte sich mit einer ironischen Verbeugung vor. „Rico … zu deinen Diensten.“

Sie legte ihre kleine Hand in die seine und sagte lange Zeit nichts. „Ich bin Gypsy“, erwiderte sie endlich leise.

Ein erfundener Name, klar. Er hatte grinsen müssen. „Gut, spiel ruhig deine kleinen Spielchen, wenn du willst … Im Augenblick interessieren mich ganz andere Dinge als dein Name …“

Blitzartig durchzuckte ihn die Erinnerung an zwei Herzen, die im gleichen Rhythmus schlugen, an schweißnasse Haut und den schlanken Körper jener Frau. An ihre enge, samtweiche Umarmung. Er hatte gespürt, wie ihr Körper bebte, hatte ihr immer heftiger werdendes Stöhnen gehört. Damals hatte er sich hingegeben, wie er sich niemals zuvor und auch nicht danach einer Frau hingegeben hatte.

„Rico, Liebling …“ Elena spitzte schmollend die viel zu roten Lippen. „Du bist ja meilenweit weg. Sag jetzt bitte nicht, dass du an deine langweilige Arbeit denkst.“

Meine langweilige Arbeit und die Millionen, die ich damit verdiene, sind doch der Grund, warum sich Frauen wie Elena von mir angezogen fühlen, dachte er zynisch.

Die Frau von damals war die Einzige gewesen, die nicht völlig aus dem Häuschen geraten war, nur weil er sie sich ausgesucht hatte.

Ganz im Gegenteil. Sie hatte gehen wollen. Und am nächsten Morgen war sie auch verschwunden, nachdem er sie wie ein dummer, unerfahrener Junge einfach allein zurückgelassen hatte. Heute bereute er sein Verhalten. Dabei bereute er doch sonst nie etwas.

Er zwang sich zu einem Lächeln und griff über den Tisch hinweg nach Elenas Hand. Elena schnurrte förmlich, als er ihre Finger umfasste. Schon öffnete er den Mund, um ihr ein belangloses Kompliment zu machen, als eine Kellnerin am Tisch vorbeiging. Sein Körper reagierte sofort auf die Frau. Es war, als würde er etwas spüren, was sein Gehirn noch gar nicht registriert hatte. Rico blickte auf. Es war die Kellnerin, die ihm schon beim Eintreten aufgefallen war. Die Kellnerin, die einen wahren Sturm der Erinnerungen in ihm wachgerufen hatte.

War er jetzt dabei, vollkommen verrückt zu werden? Ein Duft wehte zu ihm herüber, der ihm irgendwie bekannt vorkam. „Was für ein Parfüm benutzt du?“, fragte er beiläufig seine Begleiterin.

Mit verführerischem Lächeln hielt Elena ihm ihr Handgelenk zum Schnuppern hin. „Poison … gefällt es dir?“

Er beugte den Kopf vor, aber noch bevor ihm der Duft richtig in die Nase stieg, wusste er, dass es der falsche war. Wie unter Zwang hob er den Kopf, und sein Blick fiel auf die Kellnerin. Mit dem Rücken zu ihm nahm sie am Nebentisch eine Bestellung entgegen. Dieser Duft! Er erinnerte ihn an … Abrupt zog Elena ihre Hand zurück und stand demonstrativ auf. Sie gab sich keine große Mühe, einen beleidigten Seufzer zu unterdrücken. „Ich gehe mir mal die Nase pudern“, meinte sie und strich sich gekonnt über die in teure Seide gehüllten Hüften. „Wenn ich zurückkomme, bist du hoffentlich nicht mehr so zerstreut.“

Er sah ihr noch nicht einmal hinterher. Der schmale Rücken der kleinen Kellnerin nahm seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Sie hatte eine ganz reizende Figur. Einen festen Po, der von dem engen schwarzen Rock noch betont wurde. Schlanke, wohlgeformte Schenkel und schmale Fesseln. Die Füße steckten in flachen schwarzen Schuhen. So weit, so schlicht.

Sein Blick wanderte über die einfache weiße Bluse, unter der man den BH erahnen konnte, hin zu den Haaren. Sie hatten die Farbe von dunklem Honig und waren sehr lockig. Die Frau hatte sie im Nacken zu einem festen Knoten geschlungen. Was für eine wilde Lockenmähne sie haben musste, wenn sie den Knoten löste! Eine ähnliche wie – leise fluchend schüttelte er den Kopf. Wieso um alles in der Welt verfolgten ihn heute Abend diese Erinnerungen?

Als die Frau sich leicht zur Seite drehte, konnte Rico einen Blick auf ihr Profil werfen. Eine kleine, gerade Nase, ein energisches Kinn und ein voller Mund, konnte man nicht sogar die leichte Andeutung einer Zahnlücke erkennen?

Die Gewissheit traf ihn wie ein Blitz. Sie war es!

Endlich drehte sie sich um. Die großen Menükarten unter den Arm geklemmt, kritzelte sie im Näherkommen auf ihren Bestellblock. Bevor er noch wusste, was er tat, sprang Rico freudig erregt auf und hielt die Frau am Arm fest.

Zuerst verstand Gypsy nicht, was los war. Sie merkte nur, dass jemand sie am Arm festhielt. Sie wollte schon protestieren – da sah sie in diese stahlgrauen Augen.

Wie gelähmt stand sie da und bekam keine Luft mehr.

Der Protest erstarb auf ihren Lippen, und sie blinzelte ungläubig. Das konnte unmöglich er sein. Sie spürte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich, und die Geräusche drangen nur noch wie von weit her an ihr Ohr.

Er war es wirklich. Das war der Mann, der sie seit fast zwei Jahren in ihren Träumen verfolgte. Rico Christofides, halb Grieche, halb Argentinier, millionenschwerer Unternehmer und bereits zu Lebzeiten eine Legende.

„Du bist es wirklich!“ Er sprach aus, was sie dachte.

Sie sah die sturmgrauen Augen, die sich in ihre Seele brannten, das rabenschwarze Haar, die leicht gebogene Nase, die dunklen Brauen, das energische Kinn … das alles war ihr so vertraut. Nur in einem waren ihre Träume ihm nicht gerecht geworden. Er war viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Und da war er wieder, der Schmerz. Der Schmerz darüber, dass dieser Mann am nächsten Morgen so schnell aus ihrem Leben verschwunden war. Nichts als eine kurze Nachricht hatte er zurückgelassen. Sie lautete: Das Zimmer ist bezahlt. R.

Rico stand regungslos da, und Gypsy konnte den Blick nicht von ihm wenden. In diesen Minuten stürzte ihre so mühsam aufgebaute Welt in sich zusammen.

„Rico? Stimmt etwas nicht mit unserer Rechnung?“

Eine weibliche Stimme. Benommen dachte Gypsy, dass sie wohl der bildschönen Rothaarigen gehörte, die ihr schon zuvor aufgefallen war.

Rico achtete nicht auf die Frau. „Du bist es wirklich“, sagte er leise.

Irgendwie brachte Gypsy es fertig, den Kopf zu schütteln und sich von seinem Griff zu befreien. Wieso erinnerte sich einer wie er überhaupt an sie? Sie hatten doch nur eine einzige Nacht zusammen verbracht. Und wieso reagierte sie immer noch mit allen Sinnen auf ihn?

„Tut mir leid. Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.“

Gypsy ließ ihn stehen und flüchtete in den Personalwaschraum. Über das Waschbecken gebeugt, atmete sie tief durch. Schweißnass und fröstelnd hatte sie nur noch ein Bedürfnis: Nichts wie weg!

Nach jener gemeinsamen Nacht hatte sie feststellen müssen, dass sie schwanger war. Und ihr war klar geworden, dass sie Rico Christofides irgendwann von seiner Tochter erzählen musste. Seiner fünfzehn Monate alten Tochter, deren Augen die gleiche Farbe haben wie die ihres Vaters.

Gypsy erinnerte sich noch gut an das Entsetzen, das sie gepackt hatte bei dem Gedanken, Mutter zu werden. Aber auch daran, dass sie sofort eine tiefe Verbundenheit mit dem kleinen Wesen verspürte, das da in ihr heranwuchs. Gleichzeitig war der Wunsch in ihr erwacht, ihr Kind zu beschützen. Sie wusste ja, wie Rico Christofides mit Frauen umging, die es wagten, ihn als Vater ihres Kindes zu nennen.

Also hatte sie schweren Herzens beschlossen, Lola allein aufzuziehen. Sie wollte in einer starken, unabhängigen Position sein, wenn sie später einmal mit Rico zusammentreffen würde. Ihr Job als Kellnerin, wenn auch in einem vornehmen Restaurant, bot ihr keine gute Ausgangsposition für die Auseinandersetzung mit einem so mächtigen Mann.

Kurz entschlossen traf sie eine Entscheidung, aber sie hatte kein gutes Gefühl dabei. Sie spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht und ging zu ihrem Chef.

„Bitte, Tom!“ Sie hasste es zu lügen, aber ihr blieb keine andere Wahl.

„Ich muss nach Hause zu Lola. Es … es ist etwas passiert.“

Ihr Chef fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene blonde Haar. „Lieber Himmel, Gypsy, Sie wissen doch, dass wir nicht genug Leute haben. Kann das nicht noch eine Stunde warten, bis wenigstens der größte Ansturm hinter uns liegt?“

Gypsy fühlte sich miserabel, aber sie schüttelte den Kopf und band bereits ihre Schürze ab. „Es tut mir leid, Tom. Wirklich – Sie können es mir glauben.“

Er machte ein ernstes Gesicht, verschränkte die Arme, und Gypsy überkam ein mulmiges Gefühl. „Mir auch, Gypsy. Es fällt mir schwer, Ihnen das zu sagen, aber so geht es nicht weiter. Während der letzten zwei Wochen sind Sie fast jeden Tag zu spät gekommen.“

Gypsy wollte darauf hinweisen, wie schwierig es war, bei wechselnden Arbeitszeiten immer einen Babysitter für Lola zu bekommen. Aber Tom schnitt ihr das Wort ab.

„Sie machen Ihre Arbeit gut. Aber es stehen Hunderte Schlange, um hier einen Job zu bekommen. Und die werden mich sicher nicht so im Stich lassen wie Sie.“

Er holte tief Luft. „Ich fürchte, Sie sind Ihren Job los, wenn Sie jetzt gehen.“

Gypsy sah Tom an und schüttelte traurig den Kopf. Zum Glück hatte sie ein paar Ersparnisse. Vielleicht würden die sie über die nächsten Wochen retten. „Ich habe keine andere Wahl. Tut mir leid.“

Es dauerte eine ganze Weile, dann trat ihr Chef einen Schritt zurück und breitete bedauernd die Arme aus. „Mir auch, Gypsy. Denn Sie lassen mir keine Wahl.“

Wortlos packte sie ihre Sachen zusammen und trat durch die Hintertür auf die dunkle, nasse Gasse hinter dem Luxusrestaurant.

Später an diesem Abend stand Rico, die Hände in die Hosentaschen vergraben, an dem riesigen Fenster seiner Penthouse-Wohnung im Zentrum Londons. Sein Puls raste immer noch. Der Grund dafür war allerdings nicht die schöne Rothaarige, von der er sich etwas überstürzt verabschiedet hatte. Der Grund war die hübsche Kellnerin, deren plötzliches Verschwinden ihn völlig durcheinanderbrachte.

Rico zog eine Grimasse. Er begehrte sie immer noch!

Dieses übergroße Verlangen und der überwältigende Wunsch, sie zu besitzen, hatten ihn vor zwei Jahren die Flucht ergreifen lassen. Normalerweise kannte er solche Gefühle nicht. Aber heute Abend hatte es ihn wieder erwischt. Warum nur war sie vor ihm davongelaufen?

Er zog einen Zettel aus der Tasche. Der Restaurantchef hatte ihm ihren Namen genannt. Jetzt hatte er also Gypsy Butlers Adresse – wie es schien, hieß sie wirklich so. Er lächelte. Er würde schon noch herausfinden, was ihn an dieser Frau so anzog, mit der er nur eine einzige Nacht verbracht hatte. Und warum, zum Teufel, sie es für nötig hielt, vor ihm davonzulaufen.

Am nächsten Morgen ging Gypsy im Nieselregen vom Supermarkt nach Hause. Die schlafende Lola schob sie in einem schon ziemlich ramponierten Buggy vor sich her.

Kurz hintereinander war das eingetreten, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte: Sie war Rico Christofides begegnet, und sie hatte ihren Job verloren.

Beim Gedanken an Rico bekam sie sofort wieder weiche Knie.

Er sah noch genauso umwerfend gut aus wie zwei Jahre zuvor in der überfüllten Disco.

Damals war sie gerade dabei, ein neues Leben zu beginnen. Viel Leid und Kummer lagen hinter ihr. Für einen erfahrenen Charmeur wie Rico Christofides war sie eine leichte Beute gewesen.

Allerdings hätte sie sich sicher nicht für ihn interessiert, wenn er so angezogen gewesen wäre wie die anderen – schickes Hemd, Blazer und gebügelte Chinos. Aber er sah ganz anders aus, trug T-Shirt und ausgewaschene Jeans. Und die betonten seine schmalen Hüften und die kräftigen Schenkel so, dass es fast unanständig war. Er besaß eine so umwerfend sinnliche Ausstrahlung, dass alle Männer in seiner Umgebung blutarm wirkten.

Das allein hätte ihn allerdings nur zu einem bemerkenswert gut aussehenden Mann gemacht. Aber da war dieser durchdringende Blick gewesen, mit dem er sie angeschaut hatte. Ein dunkler, elektrisierender Blick, der Gypsy, die gerade allein auf der Tanzfläche tanzte, wie vom Blitz getroffen erstarren ließ.

Als sie draußen am Club vorbeigegangen war, hatte sie die laute Musik gehört und plötzlich Lust bekommen, sich auf der Tanzfläche auszutoben. Endlich war sie von ihrem verstorbenen Vater und seiner Kontrollsucht losgekommen. Das wollte sie feiern. Sechs Monate zuvor war er gestorben. Bei seinem Tod hatte sie nichts gefühlt. Wie sollte sie auch um einen Mann trauern, der ihr nie auch nur die kleinste Zuneigung gezeigt hatte?

Als dann dieser blendend aussehende Fremde auf sie zukam, konnte sie plötzlich nicht mehr klar denken. Er sah zu gut aus, zu geheimnisvoll, zu sexy. Und der Blick, mit dem er sie ansah, erschreckte sie zutiefst.

Wie verzaubert hatte sie sich nicht rühren können, bis er dicht vor ihr stand. Es war, als würde sich etwas Schicksalhaftes zwischen ihnen abspielen. Als würde dieser Mann sie für sich fordern.

„Wieso haben Sie aufgehört zu tanzen?“ Seine tiefe Stimme mit dem deutlichen Akzent übertönte den hämmernden Beat.

Ein Ausländer also. Der Blick seiner stahlgrauen Augen, deren Farbe sich von der dunkel getönten Haut abhob, jagte ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken. In dem Moment rempelte sie jemand an, und sie taumelte dem Fremden in die Arme. Als er sie schützend festhielt und an sich drückte, konnte sie spüren, wie muskulös sein Körper war. Allein seine Nähe gab Gypsy das Gefühl, in Flammen zu stehen.

Plötzlich hatte sie echte Angst empfunden. Sie fürchtete nicht um ihre Sicherheit, sie fürchtete um ihren Verstand. „Ich wollte gerade gehen“, stieß sie mit gepresster Stimme hervor und schob ihn heftig von sich.

„Aber Sie sind doch gerade erst gekommen.“

Also beobachtete er sie schon seit ihrem Eintritt! Wenn sie daran dachte, wie selbstvergessen sie getanzt hatte, wurde ihr ganz schwach.

„Wenn Sie unbedingt gehen wollen, komme ich mit“, meinte er.

Seine kühle, arrogante Art machte Gypsy sprachlos. „Aber Sie … Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Dann tanzen Sie jetzt mit mir, und ich lasse Sie gehen.“ Die Tatsache, dass er ihr nicht schmeichelte und auch nicht mit ihr flirtete, verlieh seinen Worten einen Zauber, dem sie nicht widerstehen konnte.

Sie erinnerte sich noch an ihren hilflosen Versuch, ihm zu widerstehen. Am Ende hatte sie dann doch in seinen Vorschlag eingewilligt – nur, damit er sie danach gehen ließ.

Der Tanz bewirkte genau das Gegenteil. Nachdem er so eng mit ihr getanzt hatte, dass sie vor Hitze und Verlangen glühte, beugte er sich zu ihr nieder und flüsterte: „Soll ich dich immer noch gehen lassen?“ Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass sie den Kopf geschüttelt hatte. Es war einfach Schicksal gewesen. Sie begehrte ihn so sehr, wie sie in ihrem ganzen Leben noch niemanden begehrt hatte.

Sie ließ es zu, dass er sie bei der Hand nahm und aus dem Club führte. An diesem Tag hatte sie endlich alles hinter sich gelassen, was sie an ihren Vater band, und dieser Mann erschien ihr wie das Symbol ihrer neuen Freiheit.

Sie ließ es zu, dass er sie verführte … und sie dann am nächsten Morgen fallen ließ wie ein Stück Dreck. Wie billig sie sich gefühlt hatte, als sie seinen Zettel las! Es hatte nur noch das berühmte Bündel Banknoten gefehlt.

Warum musste sie ausgerechnet jetzt daran denken, dass sie sich von diesem Kerl hatte verführen lassen? Der Verkehr stoppte, und Gypsy überquerte die Straße. Er hat sich an dich erinnert … Ihr war klar, dass jede andere Frau diese Tatsache höchst befriedigt zur Kenntnis genommen hätte. Bei ihr löste sie nur Panik aus.

Sie war fast zu Hause. Beim Einbiegen in ihre Straße ergriff sie die altbekannte Verzweiflung. Überall heruntergekommene Häuser. Auf den Treppen der Eingänge lungerten Jugendliche herum, die sich für nichts zu interessieren schienen. Sosehr es ihr selber egal war, wo sie lebte, ihre Tochter hätte sie gerne woanders großgezogen. Es bekümmerte sie, dass ihr Kind in einem so heruntergekommenen Stadtteil leben musste. Selbst den Kinderspielplatz um die Ecke hatten Vandalen zerstört. Sie seufzte tief. Dabei hätte sie in einer viel besseren Gegend leben können. Aber sie hatte keinen Cent vom Geld ihres Vaters haben wollen.

Die glänzende schwarze Luxuslimousine mit den getönten Scheiben hätte einem der Gangster gehören können, die diese Gegend kontrollierten. Aber Gypsy wusste sofort, dass Welten zwischen diesem Auto und den Autos jener Männer lag. Die konnten höchstens davon träumen, jemals so einen Wagen zu fahren.

Während sie näher kam, schwang die hintere Tür auf. Gypsys Herz begann wild zu schlagen, als eine große, dunkle, kräftig gebaute Gestalt ausstieg und sich lässig wie ein Panther in der Sonne reckte.

Nur ein paar Meter von ihr entfernt stand Rico Christofides.

2. KAPITEL

Gypsy trug heute das, was sie immer trug: Ausgebeulte Jeans aus einem Secondhand-Laden und gegen die Januarkälte mehrere alte Pullover übereinander. Außerdem Turnschuhe und einen Parka, ebenfalls secondhand. Ihre wilde Lockenmähne hatte sie unter einer Mütze versteckt, die sie sich tief über die Ohren gezogen hatte. Er dagegen, im langen, schwarzen und sehr teuer aussehenden Mantel, unter dem man den Maßanzug erahnen konnte, war von Kopf bis Fuß der erfolgreiche Großindustrielle.

Sie sah, wie er die grauen Augen zusammenkniff. Sicher bereute er jetzt seinen spontanen Entschluss, sie zu suchen. Als sein Blick auf den Kinderwagen fiel, unter dessen Regenschutz Lola schlief, begann Gypsys Haut zu kribbeln.

Oh Gott, würde er merken, dass sie seine Tochter war?

Ach was, wie sollte er? Ganz im Gegenteil, er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zu beweisen, dass das Kind nicht von ihm war. Schließlich hatte er so etwas ja schon einmal getan. Stünde seine Vaterschaft allerdings fest, dann würde er Lola unter seine Kontrolle bringen, wie es ihr Vater mit ihr getan hatte, als ihm nichts anderes mehr übrig blieb, als sie anzuerkennen.

Rico und ihr Vater kamen nämlich aus der gleichen Welt. Es war die Welt der mächtigen Männer, die Erfolg hatten, weil sie keine Rücksicht kannten.

Als sie damals seinen Namen erfuhr, hatte sie nicht glauben wollen, dass sie ihn nicht gleich erkannt hatte. Sie erinnerte sich sogar noch an die verbitterten Worte ihres Vaters. „Wenn du mich schon für skrupellos hältst, dann gehst du Rico Christofides am besten aus dem Weg. Der Mann ist kalt wie eine Hundeschnauze. Wenn ich ihn fertigmachen könnte, würde ich es tun. Aber der Bastard würde noch von den Toten auferstehen, um mir den Prozess zu machen. Ich gäbe etwas drum, seine Arroganz am Boden zu sehen …“

Gott sei Dank war sie in dieser schäbigen Aufmachung. Sie würde ihn davon überzeugen, dass er sich getäuscht hatte. Dann würde er wieder in seine Luxuslimousine steigen und verschwinden. Bis zu dem Tag, an dem sie bereit war, ihm entgegenzutreten. Mit neu gewonnener Sicherheit ging sie weiter.

Rico betrachtete die Frau, die auf ihn zukam. War das wirklich sie? Von Weitem sah sie äußerst unscheinbar aus, ganz ohne Make-up und Schmuck. Und blass war sie. Sie trug irgendeine unförmige Kleidung, die aussah, als käme sie aus der Mülltonne.

Und sie hatte ein Kind! Hatte er sich doch getäuscht? Vielleicht war die Übereinstimmung des Namens reiner Zufall? Er suchte bereits nach einer Entschuldigung für sein Auftauchen.

Doch dann kam sie näher, und alle Vorbehalte lösten sich in nichts auf, als sein Körper mit hilflosem Verlangen auf sie reagierte. Sie war es!

Er erkannte die feinen Gesichtszüge, den vollen Mund und den offenen Blick der grünen, von langen dunklen Wimpern umrahmten Augen. Und ihr Haar! Es quoll in wilden Locken unter der schäbigen Mütze hervor. Alles erinnerte ihn an damals. Er war schlechter Laune gewesen, und er hatte schon gehen wollen, da war sie zur Tür hereingekommen. In engen Jeans und Top. Sie war so ganz anders gewesen als die sorgfältig gestylten Frauen. Auf ihrem Gesicht hatte ein Ausdruck gelegen, als würde sie von inneren Dämonen gejagt. Wie gut er dieses Gefühl kannte!

Unter dem dünnen Shirt zeichneten sich feste Brüste ab. Ohne zu zögern, war sie auf die Tanzfläche gegangen und hatte völlig versunken angefangen zu tanzen. Hingebungsvoll und voller Grazie. Rico verfügte über eine Menge Erfahrung mit Frauen. Doch etwas an dieser geschmeidigen, sinnlichen kleinen Person verzauberte ihn mehr als jede rehäugige Schönheit aus seiner Bekanntschaft. Mit ihren wilden honigfarbenen Locken strahlte sie etwas Stürmisches und Ungebundenes aus.

Sie war schlichtweg hinreißend gewesen. Und sie war es immer noch. Aber wie konnte sie in einem solchen Stadtteil wohnen! Es war eine gefährliche Gegend. Rico verstand selbst nicht, wieso er sich darüber aufregte. Normalerweise weckten Frauen in ihm keine Beschützerinstinkte.

Jetzt stand Gypsy vor ihm, und er vergaß völlig, dass er sich mit einer Entschuldigung aus dem Staub hatte machen wollen.

Gypsy beschloss, so zu tun, als wäre er ein Fremder für sie.

„Entschuldigung, Sie versperren mir den Weg.“

Er rührte sich nicht. Die grauen Augen sahen sie unverwandt an. Dieser Blick! Er ließ in Gypsy Bilder aufsteigen von zwei schweißnassen Körpern, die sich voller Leidenschaft liebten … Verzweifelt versuchte sie ihre Erinnerungen zu unterdrücken.

„Warum bist du gestern Abend davongelaufen?“

„Ich musste nach Hause zu meiner Tochter.“ Oh nein, jetzt hatte sie zugegeben, dass sie weggelaufen war!

Der Regen wurde stärker. Rico deutete auf die Haustür. „Lass mich dir mit dem Kinderwagen helfen.“

„Nicht nötig, das kann ich schon allein“, protestierte Gypsy sofort. Sie wollte ihn nicht in ihrer Wohnung und schon gar nicht in Lolas Nähe haben. Aber Rico Christofides hatte den Wagen bereits gepackt und hochgehoben.

Als Rico mit dem Kopf zur Treppe hindeutete, blieb Gypsy nichts anderes übrig, als ihm vorauszugehen und die Haustür aufzuschließen. Bevor sie sich versah, standen sie auch schon in ihrem ärmlichen Apartment. Es befand sich im Erdgeschoss. Verblüfft bemerkte Gypsy, mit welcher Vorsicht Rico den Buggy auf den Boden stellte. Danach ging er rasch zur Haustür, schloss sie und kehrte zurück, um auch die Wohnungstür zu schließen. Er blickte sich um. „Hast du ein Handtuch?“

„Ein Handtuch?“, wiederholte Gypsy verständnislos. Irgendwie stand sie unter Schock.

„Ja“, sagte er langsam. „Ein Handtuch … Du bist völlig durchnässt und ich auch.“

„Ein Handtuch“, wiederholte sie noch einmal. Wie vom Blitz getroffen kam sie mit einem Mal zu sich. „Ein Handtuch – natürlich.“ Hol ein Handtuch, lass ihn sich abtrocknen, danach wird er verschwinden.

Sie ging in das winzige Schlafzimmer, das sie sich mit Lola teilte, holte ein Handtuch aus dem Schrank und gab es ihm.

Rico hielt es ihr hin. „Du zuerst. Du bist klatschnass. Sicher hast du mehr als eins?“

Etwas begriffsstutzig starrte Gypsy auf das Handtuch. „Oh, natürlich“, stotterte sie dann und gab es ihm hastig zurück. „Nehmen Sie das hier. Ich hol mir ein anderes.“ Warum ging er nicht endlich?

Als sie ins Zimmer zurückkam, war er dabei, sich die Haare trocken zu rubbeln. Seinen Mantel hatte er über den alten Stuhl gehängt.

Er drehte sich zu ihr um. Die zerzausten Haare ließen ihn sehr sexy aussehen. Seine vibrierende Vitalität gab Gypsy das Gefühl, blass und farblos zu sein.

Rico betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Du solltest deinen Mantel und die Mütze ausziehen.“ Er blickte sich um. „Hast du eine Heizung?“

Widerstrebend nahm sie die Mütze ab und begann, den Mantel aufzuknöpfen. Er hatte ja recht. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war, krank zu werden. Immer noch sah er sie fragend an. Gypsy schüttelte den Kopf. Als sie den Mantel auszog und sein Blick über ihre schäbigen Kleider glitt, errötete sie verlegen. Ihre wilde Haarmähne war durch den Regen sicher noch krauser als sonst. Am liebsten hätte Gypsy sie sofort im Nacken zusammengebunden.

„Unser Heizofen ist heute Morgen kaputtgegangen. Die Speicherheizung wird erst in ein paar Stunden anspringen.“

Rico Christofides schaute sie fassungslos an. „Du hast keine Heizung? Aber du hast ein Kind – und draußen friert es.“

Gypsy errötete schuldbewusst. „Er funktioniert doch erst seit heute Morgen nicht mehr. Wir werden schon zurechtkommen, bis wir einen Ersatz bekommen …“ Sie verstummte, weil ihr einfiel, dass ihre mageren Ersparnisse wohl kaum für einen neuen Heizofen reichen würden. Jetzt, wo sie auch noch arbeitslos war.

Sie warf Rico Christofides einen Blick zu. Breitbeinig stand er da und machte nicht den Eindruck, als würde er so bald gehen. Sie kämpfte mit sich. Endlich fragte sie: „Kann ich Ihnen einen Tee oder einen Kaffee anbieten?“

Er musterte sie wieder aus zusammengekniffenen Augen. Mit einem leichten Lächeln nahm er ihre Kapitulation zur Kenntnis. „Ich hätte gerne einen Kaffee. Schwarz und ohne Zucker.“

Stark und nicht süß – so wie er, dachte Gypsy und ging zur Kochnische, um den Wasserkessel aufzusetzen. Sie konnte nur hoffen, dass Lola nicht wach wurde, bevor Rico Christofides wieder verschwand.

Während Gypsy in der Kochnische beschäftigt war, schaute Rico sich in dem kahlen Apartment um. Was für eine grauenhafte Unterkunft. Jetzt, wo Gypsy nicht mehr neben ihm stand, konnte er wieder klar denken, und er fragte sich, was er hier eigentlich verloren hatte. Besonders, wenn er den wackeligen Buggy betrachtete. Sein gesunder Menschenverstand riet ihm, sich ganz schnell eine Entschuldigung einfallen zu lassen. Aber etwas noch Stärkeres zwang ihn zu bleiben. Trotz des Kindes.

Ihre Tochter war noch sehr klein. Also musste sie geboren sein, nachdem er Gypsy kennengelernt hatte. Und obwohl er wusste, dass nichts ihm das Recht gab, darüber wütend zu sein – er war es einfach.

Er hatte ihr zugesehen, wie sie die scheußliche Mütze und den ebenso scheußlichen Parka auszog, und schon hatte er das Kind und alles andere vergessen. Die schnellen Bewegungen ihrer kleinen Hände erinnerten ihn daran, wie sie ihn an seiner empfindlichsten Körperstelle gestreichelt hatte, bis er sie bitten musste, damit aufzuhören … Wieso behauptete sie nur, ihn nicht zu kennen? Er wusste, dass diese Nacht auch für sie etwas Besonderes gewesen war, etwas Aufwühlendes …

Mit Stolz konnte er von sich sagen, dass er ein guter Liebhaber war. Aber eine Liebesnacht wie die mit Gypsy hatte er noch nie erlebt. Auch danach nicht. War das der Grund, weshalb er sie unbedingt wiedersehen wollte? War da doch mehr gewesen zwischen ihnen? Der Gedanke erschreckte ihn. Guten Sex, das war alles, was er von einer Frau wollte. Aber die Nacht mit Gypsy hatte eine Sehnsucht in ihm geweckt, die seither noch gewachsen war.

Während er seinen Gedanken nachhing, kam Gypsy mit dem Kaffee auf ihn zu. Ohne ihm ins Gesicht zu sehen, reichte sie ihm die Tasse.

Warum sah er sie so an? Gypsy flüchtete vor Ricos Blick zu Lola. Zu ihrer Erleichterung schlief die Kleine friedlich mit roten Backen und Schmollmund. Die langen dunklen Wimpern ruhten auf den dicken Babybäckchen. Wie immer ging Gypsy das Herz auf beim Anblick ihrer Tochter. Und plötzlich quälten sie Gewissensbisse. Nur wenige Schritte entfernt stand Rico und ahnte nicht, dass er Lolas Vater war.

Gypsy richtete sich auf. Unwillkürlich verschränkte sie abwehrend die Arme vor der Brust. Sie hatte schließlich ihre Gründe, warum sie es ihm nicht sagte. Zu ihrer Überraschung nahm Rico Christofides einen Topf aus der Küche und stellte ihn in die Ecke. Dort tropfte es durch die Decke. Jetzt hatte er das auch noch bemerkt!

„Also, was wollen Sie von mir?“, fragte sie.

Rico Christofides setzte sich ruhig auf das kleine Sofa und forderte Gypsy ebenfalls zum Sitzen auf. Widerwillig nahm sie auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz. Rico ließ sich Zeit. Er nippte an seinem Kaffee und stellte dann die Tasse auf den zerkratzten Tisch.

„Ich möchte gerne wissen, wieso du behauptest, wir wären uns nie begegnet. Wo wir doch in Wirklichkeit sehr intim miteinander waren.“

Sie wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Wohl wissend, dass sie ihm jetzt nicht mehr ausweichen konnte, antwortete sie: „Stimmt, wir kennen uns. Aber ich möchte diese Bekanntschaft nicht auffrischen.“

Er sah sie eine ganze Weile an. „Vielleicht glaubst du mir nicht“, meinte er dann, „aber es tut mir leid, dass ich einfach so verschwunden bin.“

Gypsy presste die Lippen aufeinander. Das war doch nur wieder so eine Taktik von ihm. „Ich glaube dir auch nicht. Außerdem vergisst du die bemerkenswerte Nachricht, die du mir hinterlassen hast.“

Jetzt presste er die Lippen aufeinander. „Egal, was du vielleicht von mir denkst, es ist wirklich nicht meine Art, Frauen in Clubs aufzureißen und im nächsten Hotel anonymen Sex mit ihnen zu haben.“

Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. „Was kümmert mich das? Es interessiert mich wirklich nicht.“

„Wie ich sehe, scheinen One-Night-Stands eher deine Sache zu sein“, meinte er sarkastisch und blickte vielsagend zu Lolas Buggy hinüber.

Gypsy fuhr hoch und schnappte empört nach Luft. „Wie kannst du es wagen! Vor dir habe ich so etwas noch nie gemacht.“

Er zog die Brauen hoch. „Aber dann hattest du es bemerkenswert eilig, deine Erfahrung zu vertiefen, Gypsy Butler. Du heißt also wirklich so?“

Sie nickte. „Meine Mutter war besessen von Gypsy Rose Lee. Daher der Name.“ Was sie nicht erwähnte, war, dass man sie lange nicht bei diesem Namen rief. Aber das wurde anders, als ihr Vater starb.

Sie schob ihre Erinnerungen beiseite. „Also, was willst du? Ich habe noch zu tun.“

Misstrauisch betrachtete er sie. „Du hast es ja ziemlich eilig, mich wieder loszuwerden. Warum?“ Sie fühlte sich wie von einem Raubtier in die Enge getrieben. „Und du bist bereit, einen hohen Preis dafür zu zahlen. Zufällig weiß ich, dass dein Verschwinden dich deinen Job gekostet hat …“

Gypsy hielt den Atem an. „Woher weißt du das?“

Lässig zuckte Rico mit den Schultern. „Die Kellner haben sich gestern manchmal ein bisschen zu laut unterhalten.“ Und dann fragte er abrupt: „Wer ist der Vater deines Kindes?“

Der sitzt vor mir, schoss es Gypsy durch den Kopf. Unwillkürlich hob sie abwehrend das Kinn. „Wir sind allein“, antwortete sie und gab sich alle Mühe, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. „Das beweist doch nur, dass ich recht habe, oder? Du hast mit mir geschlafen und danach mit mindestens noch einem Mann. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass das Baby bei fremden Leuten untergebracht war, während du mit mir zusammen warst.“

Empört schüttelte Gypsy den Kopf. „Natürlich nicht. So etwas würde ich nie tun.“

Rastlos sprang Gypsy auf. „Schauen Sie, Mr. Christofides, Sie sind hier wirklich nicht willkommen. Gehen Sie jetzt, bitte.“

Er hob abrupt den Kopf, und Gypsy wurde bewusst, was sie gerade gesagt hatte.

Langsam stand er auf. „Du weißt also, wer ich bin. Und damals wusstest du es auch?“

Sie fühlte sich elend. Dass ihr sein Name herausgerutscht war, konnte ungeahnte Folgen haben. „Nein, nein …“, stotterte sie. „Erst am nächsten Morgen, als ich dich in den Nachrichten sah …“

Gypsy hatte seinen Zettel gelesen und erkannt, dass er sie verlassen hatte. In der Zimmerecke lief der Fernseher. Ohne Ton. Offensichtlich hatte Rico ferngesehen, bevor er ging. Zu ihrem größten Erstaunen sah sie dann ihn auf dem Bildschirm, glatt rasiert und im teuren Maßanzug. Umgeben von Reportern und einer imposanten Gefolgschaft war er die Treppen irgendeines Gebäudes hinuntergegangen. Gypsy hatte den Ton angestellt und mit wachsendem Entsetzen entdeckt, wer Rico in Wirklichkeit war.

„Trotzdem hast du nie den Kontakt zu mir gesucht … Du bist einfach gegangen.“ Frauen, die aus einer Nacht mit ihm keinen Nutzen ziehen, sind wahrscheinlich dünn gesät, dachte Gypsy.

„Ja, ich bin gegangen“, nickte sie heftig. „Als ich den Zettel fand, fühlte ich mich wie eine Nutte. Überhaupt, ich hab jetzt wirklich keine Lust mehr, noch länger zu diskutieren. Geh jetzt. Bitte.“

Ausgerechnet in dem Moment ertönte aus dem Buggy ein lauter Schrei, der in ein nur allzu vertrautes Jammern überging. Lola war wach und verlangte Aufmerksamkeit.

3. KAPITEL

Dass ich sie so einfach verlassen habe, scheint sie wirklich getroffen zu haben, dachte Rico. Er konnte sehen, wie sie hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, sich um ihr Kind zu kümmern, und dem Bestreben, ihn loszuwerden. „Es ist jetzt wirklich kein guter Moment“, platzte sie heraus, während das Geschrei immer lauter wurde. „Bitte, lass uns allein.“

Bitte, lass uns allein.

Etwas an der Art, wie sie „uns“ sagte, und der gehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht ließen Rico bleiben. Es musste noch einen anderen, wichtigeren Grund geben, warum sie ihn loswerden wollte. Zweifellos fühlte sie sich bedroht.

Zu seinem eigenen Erstaunen weckte das durchdringende Babygeschrei nicht das Bedürfnis bei ihm, so schnell wie möglich zu verschwinden. Alles, was Gypsy sagte und tat, faszinierte ihn. Er wollte herausfinden, was mit ihr los war. Davon konnte ihn auch Lolas Gebrüll nicht abschrecken.

Eigentlich konnte er mit Kindern nicht viel anfangen. Seine Erfahrung mit ihnen beschränkte sich auf seine vierjährige Nichte und seinen Neffen, der noch ein Baby war. Die beiden amüsierten ihn. Trotzdem verstand er nicht, warum sein jüngerer Bruder so vernarrt in seine Kinder war. Er selbst jedenfalls hatte nicht die Absicht, bald Vater zu werden. Nicht nach der Kindheit, die er und sein Bruder erdulden mussten …

„Solltest du nicht nach deinem Kind sehen?“, fuhr er Gypsy etwas grob an. Sie ging zu dem Buggy und zog die Decke fort. Sofort hörte die Kleine auf zu weinen. Sie schniefte noch ein wenig, während Gypsy zärtlich gurrend mit ihr redete und sie aus dem Wagen hob.

In diesem Augenblick erinnerte Rico sich wieder an ihre Worte. Bitte, lass uns allein. Er hielt die Luft an. So, als ahnte er, dass gleich etwas Ungeheuerliches geschehen würde. Etwas, das sein Leben veränderte …

Gypsy hob den kleinen warmen Körper ihrer schlaftrunkenen Tochter aus dem Wagen und musste trotz ihrer Sorgen lächeln. Lola war ein glückliches kleines Mädchen, dem man nicht widerstehen konnte. Sie quengelte nur selten und war immer gut gelaunt. Gypsy hätte Lola nie wieder hergegeben. Sie war ihr Ein und Alles.

Während sie dem Kind das Jäckchen auszog, hoffte Gypsy, dass Rico jetzt endlich gehen würde. Wenn man sich um ein Kleinkind kümmern musste, konnte man sich ja wohl kaum gleichzeitig über eine gemeinsame Liebesnacht unterhalten, oder? Er musste doch einsehen, dass sie nicht mehr zu haben war. Wie um ihr das Gegenteil zu beweisen, fühlte sie ein heftiges Verlangen nach ihm in sich aufsteigen.

Lola war jetzt ganz wach. Als sie Rico entdeckte, steckte sie den Daumen in den Mund und kuschelte sich scheu an ihre Mutter.

Widerstrebend blickte Gypsy zu Rico. Sie wusste, was er da vor sich sah: ein zartgliedriges Baby mit langen dunklen Wimpern, heller Haut und einem Wust von schulterlangen, goldblonden Korkenzieherlocken, die jedem Versuch, sie zu zähmen, widerstanden. Lola war einfach zum Verlieben.

Die Kleine nahm den Daumen aus dem Mund, deutete auf Rico und brabbelte los. Wie alle Babys war sie davon überzeugt, dass jeder sie verstand.

Ungeduldig begann sie zu zappeln. Also ließ Gypsy sie runter und sah zu, wie sie zu Rico tappte. Lola sah vertrauensvoll zu ihm auf. Zweifellos erwartete sie, liebevoll begrüßt zu werden. Mit einer bösen Vorahnung beobachtete Gypsy, wie Rico erschüttert auf das Kind starrte.

Lola sah jetzt unsicher von Rico zu Gypsy. Weil er so gar nicht auf sie reagierte, wackelte sie zurück zu ihrer Mutter und streckte ihr die Ärmchen entgegen. Gypsy hob das Kind hoch und drückte es an sich.

„Wie heißt sie noch mal?“, fragte Rico nach einem schier endlosen Moment des Schweigens. Er wusste es. Er hätte blind sein müssen, um es nicht zu merken. Beide hatten sie diese einzigartigen grauen Augen und das energische Kinn. Lola war die weibliche Miniaturausgabe von Rico.

„Lola“, erwiderte Gypsy schwach.

„Wie alt ist sie?“, fragte er heiser, ohne den Blick von ihr zu wenden.

Gypsy schloss verzweifelt die Augen. Es gab keinen Ausweg mehr. „Fünfzehn Monate …“

„Ich habe dich nicht verstanden“, sagte er.

Sein harter Ton ließ Gypsy zusammenzucken. „Fünfzehn Monate.“

Zum ersten Mal sahen sie sich wieder in die Augen. Sein Blick verriet Argwohn, Erkenntnis, Panik, Entsetzen … ein Wirrwarr von Gefühlen.

„Aber das ist unmöglich“, meinte er nachdenklich. „Wenn sie fünfzehn Monate alt ist und du nicht sofort nach mir noch mit einem anderen geschlafen hast … dann würde das ja heißen, dass sie meine Tochter ist. Du hast mir aber nichts erzählt. Sie ist also nicht meine Tochter, oder?“

Gypsy klammerte sich haltsuchend an Lola. Sie durfte ihm die Wahrheit nicht verschweigen und schluckte schwer. „Ich habe mit keinem anderen Mann geschlafen.“ Es brachte sie fast um, aber sie musste es sagen. „Und kurz vor dir gab es auch niemanden.“

„Willst du damit sagen, dass deine Tochter von mir ist? Das kleine Mädchen da ist meine Tochter?“

Gypsy wurde heiß und kalt. Aber sie nickte tapfer. Mit einem untrüglichen Gefühl für das richtige Timing fing Lola genau in diesem Moment zu quengeln an.

Und ihre Mutter war ihr dankbar für die Ablenkung. „Sie ist hungrig. Ich muss sie füttern“, meinte sie und flüchtete in die Küche. Dort setzte sie das Baby in seinen Kinderstuhl und redete mit ihm in einer Art Babysprache. Sie wurde von dem Gefühl überwältigt, verrückt zu werden. Kein Wunder, denn ein paar Schritte entfernt saß der Mann, der die Macht besaß, ihr und Lolas Leben völlig zu verändern.

Rico fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Noch nie war er von einer Nachricht derart überrascht worden. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr bestimmte er selbst über sein Leben. Nichts konnte ihn erschüttern. Zumindest hatte er das noch vor ein paar Minuten geglaubt. Jetzt musste er erkennen, wie brüchig seine sorgfältig aufgebaute Fassade war.

Als das kleine Mädchen zu ihm stapfte und ihn anstrahlte, hatte sein Herz einen Sprung getan. Ihm war, als würde er in diesen grauen Augen versinken. Etwas, von dem er gar nicht wusste, dass es ihm gefehlt hatte, war plötzlich wieder da und rutschte an seinen Platz.

Es war alles zu viel für ihn. Er stürzte aus Gypsys Apartment und rannte zu seinem Wagen. Keuchend riss er die Wagentür auf, griff in der luxuriösen Minibar nach einer Flasche Whisky und nahm einen tiefen Schluck.

Der Fahrer, der pflichtbewusst aus dem Wagen gesprungen war, als er ihn kommen sah, verschwand wortlos wieder hinter dem Lenkrad. Er spürte, dass er seinen Chef jetzt besser allein ließ. Rico stand mit der Flasche in der Hand da, und langsam wurde sein Kopf wieder etwas klarer. Diese Frau hatte ihn auf die gemeinste Art und Weise verraten.

Als Kind hatte er geglaubt, sein richtiger Vater wollte nichts von ihm wissen. Das stimmte aber nicht. In Wirklichkeit taten seine Mutter und sein Stiefvater alles, um ihn in diesem Glauben zu lassen.

Und jetzt wiederholte Gypsy die ganze Geschichte! Ohne ihm ein Wort zu sagen, zog sie seine Tochter groß. Sein eigenes Fleisch und Blut wollte sie ihm vorenthalten!

Mit sechzehn hatte er sich geschworen, dass ihn niemand mehr verletzen sollte. Nachdem er dann seinen richtigen Vater endlich gefunden hatte und sah, wie sehr sie beide belogen worden waren, war dieser Vorsatz zu seiner Lebensmaxime geworden. Seitdem war „Vertrauen“ nur noch ein leeres Wort für ihn.

Wenn er nicht zufällig gestern Abend in dieses Restaurant gegangen wäre, hätte er seine Tochter nie kennengelernt! Der Gedanke machte ihn fast wahnsinnig. Entschlossen warf er die Whiskyflasche zurück ins Auto.

Ab heute würde sich sein Leben gehörig verändern. Und auch das der beiden Menschen in dem Haus dort. Er würde Gypsy und ihre Tochter nicht mehr aus den Augen lassen. Wie Feuer brannte das Verlangen in ihm, Gypsy für ihr Verhalten büßen zu lassen.

Gypsy zitterte am ganzen Körper. Sie zwang sich zur Ruhe, fütterte ihre Tochter und lauschte nach draußen. Sie war erleichtert gewesen, als er so plötzlich aus dem Zimmer stürmte. Aber auch wütend. Wie konnte er seine Tochter so einfach ablehnen?

Dabei kam diese Reaktion nicht unerwartet. Strikte Verleugnung und Ablehnung, so hatte ihr Vater anfangs auch auf sie reagiert.

Aber es war schon gut so. Sie hatte ihr Gewissen beruhigt und Rico Christofides von seiner Tochter erzählt. Später würde sie Lola erzählen, wer ihr Vater war und warum es zwischen ihnen nicht geklappt hatte. Es tat ihr weh, dass Lola in so ärmlichen Verhältnissen aufwachsen musste. Aber dass Rico Christofides ein Multimillionär war, machte ihn noch nicht zu einem guten Vater.

Gypsys eigenes Leben hatte sich von Grund auf geändert, als ihre kranke, mittellose Mutter den Vater bat, seine Tochter bei sich aufzunehmen. Er war der Besitzer eines großen Unternehmens gewesen, in dem Gypsys Mutter als Putzfrau arbeitete. Ein ungeheuer reicher Mann, der sie mit Versprechungen in sein Bett lockte. Kaum hatte sie ihm gesagt, dass sie schwanger war, warf er sie hinaus. Sie bekam keinen Job mehr, konnte keine Miete mehr zahlen und wurde obdachlos.

Die ersten Lebensmonate verbrachte Gypsy in der Obdachlosenunterkunft, in der ihre Mutter nach der Geburt Unterschlupf gefunden hatte. Langsam baute ihre Mutter ihr Leben wieder auf, fand Putzjobs und ergatterte schließlich in einem heruntergekommenen Stadtviertel sogar eine kleine Sozialwohnung.

Von klein auf wusste Gypsy, dass ihre Mutter nur schwer mit all diesen Problemen fertig wurde. Sie lernte, auf frühe Anzeichen eines drohenden Zusammenbruchs zu achten, damit sie sich dann um sie kümmern konnte. Bis sie eines Tages aus der Schule kam und ihre Mutter bewusstlos auf der Couch vorfand. Auf dem Boden lag eine leere Tablettenschachtel.

Die herbeigerufenen Sanitäter konnten sie gerade noch retten. Das Versprechen ihrer Mutter, sie zu ihrem Vater zu schicken, hielt die Behörden davon ab, die sechsjährige Gypsy sofort in eine Pflegefamilie zu geben. Sie sah ihre Mutter nie wieder. Erst später fand sie heraus, dass ihr Vater der Mutter jeden Kontakt zu ihr verboten hatte.

Doch Gypsy wollte nicht länger ihren traurigen Erinnerungen nachhängen. Angestrengt lauschte sie auf Motorgeräusche, aber es blieb still. Was macht er nur? Sie überzeugte sich, dass Lola ihren Plastikbecher fest in der Hand hielt, und stand mit klopfendem Herzen auf. Die Tür zur Wohnung stand noch offen, und sie ging hinüber, um sie zu schließen. Gerade legte sie die Hand auf die Klinke, da hörte sie schwere Schritte auf der Treppe.

Er kommt zurück. Hastig versuchte sie, die Tür zu schließen, aber es war zu spät. Ein Fuß schob sich in den Türspalt, und der kräftige Gegendruck einer Männerhand verhinderte, dass die Tür ins Schloss fiel. Erschrocken fuhr Gypsy zurück.

„Du glaubst doch wohl nicht, dass du mich so leicht loswirst?“, war alles, was er sagte.

4. KAPITEL

Gypsy klopfte das Herz bis zum Hals, während sie zusah, wie Rico Christofides wieder die Wohnung betrat und betont leise die Tür hinter sich schloss. Der Blick seiner zornigen grauen Augen ließ sie nicht los. Er sah unglaublich wütend aus. In seinem Haar und auf seiner Jacke schimmerten Regentropfen. Dieser Mann war im Begriff, ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen, und sie konnte nur machtlos dabei zusehen.

Ihr Vater hatte, zwar spät und auch nur widerstrebend, die Verantwortung für sie übernommen, als sie sechs war. Und jetzt würde Rico das Gleiche bei Lola tun. Sie hatte es geahnt und sich davor gefürchtet.

Mit aller Kraft kämpfte sie gegen ihre Angst an. „Ich möchte Sie nicht hierhaben, Mr. Christofides“, stieß sie mühsam hervor. „Ich wollte nicht, dass Sie …“

Er lachte bitter auf. „Natürlich wolltest du nicht, dass ich von der Existenz meiner Tochter erfahre. Was für ein Glück, dass ich mir gestern Abend aus den vielen Londoner Restaurants genau dieses eine ausgesucht habe.“

Rico presste den sinnlichen Mund zusammen und sah aus, als würde er Gypsy am liebsten an die Kehle gehen.

„Nur durch einen Zufall habe ich von meiner Tochter erfahren! Mir wird heiß und kalt, wenn ich mir das vorstelle.“

„Sie haben mich nicht zu Ende reden lassen“, hörte Gypsy sich wie aus weiter Ferne sagen. „Ich wollte nicht, dass Sie es auf diese Weise erfahren. Ich hätte es Ihnen schon gesagt … später irgendwann.“

Spöttisch hob er die Brauen. „Wann denn? Wenn sie zehn ist? Oder vielleicht sechzehn? Wenn sie erwachsen ist und voller Vorurteile ihrem Vater gegenüber, der sie doch im Stich gelassen hat?“ Es lag etwas Ätzendes in seiner Stimme. „Das war es doch, was du vorhattest, oder? Sie mit Lügen zu füttern und ihr zu sagen, ihr Vater wolle nichts von ihr wissen. Er hätte keine Lust gehabt, bei euch zu bleiben?“

Gypsy schüttelte den Kopf. Ihr wurde ganz schlecht von seinem anklagenden Ton. „Nein, das … das war alles nicht so geplant. Ich hätte es ihr bestimmt erzählt – und Ihnen. Ich schwöre es.“

Selbst in ihren Ohren klang es nicht sehr überzeugend. Rico bekam schmale Augen. Sie spürte, dass er kurz davor war, sie zu packen und zu schütteln. Oder vielleicht Schlimmeres mit ihr anzustellen. Aber er beherrschte sich mühsam. Zum ersten Mal stieg so etwas wie Furcht in ihr auf, und sie wich vor ihm zurück.

„Keine Angst“, meinte er verächtlich. „Dich würde ich noch nicht einmal mit der Feuerzange anfassen. Wenn du allerdings ein Mann wärst …“ Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu sprechen.

Gypsy hätte ihm gerne erklärt, was sie eigentlich machen wollte. Sie hatte ihr Psychologiestudium nutzen und sich als Kinderpsychologin niederlassen wollen. Sie wollte finanziell abgesichert sein, bevor sie ihm alles sagte. Wenn sie nicht unabhängig und erfolgreich vor ihm stand, war sie einem wie ihm doch völlig ausgeliefert! Die jetzige Situation bewies doch nur, wie berechtigt ihre Angst war.

Doch selbst jetzt fühlte sie sich immer noch von ihm angezogen. Zornig hatte er die Fäuste in die Hüften gestemmt. Aber das unterstrich nur noch seine gute Figur. Sie erinnerte sich recht genau daran, wie sie diese Hüften beim Liebesspiel gestreichelt hatte. Und in ihren Träumen streichelte sie sie immer noch. Es waren verwirrend lebhafte Träume …

Der Schock und das plötzlich aufsteigende Verlangen brachten sie völlig durcheinander. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich und sie kreidebleich wurde. Hilflos ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Rico Christofides betrachtete sie ohne jedes Mitleid. Gypsy hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen, aber sie zählte auf ihre innere Kraft. Die hatte ihr auch geholfen, die Jahre mit ihrem dominanten Vater durchzustehen. Mit wackeligen Knien stand sie wieder auf.

In dem Moment erklang aus der Küche ein klagender Schrei. Beide drehten sich um und sahen, wie Lola sie mit großen grauen Augen anblickte. Dabei zitterte ihre Unterlippe bedrohlich. Gypsy erkannte, dass die Kleine ihre Verzweiflung spürte. Schnell ging sie zu ihr und nahm sie hoch.

Mit Lola auf dem Arm drehte sie sich zu Rico um und stellte verblüfft fest, dass Lolas Schreien ihm anscheinend einen Schreck eingejagt hatte. Sie nahm allen Mut zusammen und sagte: „Bitte, lassen Sie uns allein. Sie wissen – Sie wissen jetzt doch, wo Sie uns finden können. Ich will nichts von Ihnen. Wir brauchen auch nichts.“

„Tut mir leid, aber so geht das nicht.“ Gypsy spürte seine Verachtung wie einen Peitschenhieb. „Denn ich will etwas von dir. Nämlich meine Tochter. Und bis sie für sich selbst sprechen kann, bestimme ich, was sie braucht.“

Wie dieses Verhalten sie an ihren Vater erinnerte! Instinktiv presste sie Lola fester an sich. „Ich bin ihre Mutter. Und ich habe beschlossen, sie allein großzuziehen. Ich allein entscheide über ihr Wohlbefinden.“

Misstrauisch sah er sie an. „Wahrscheinlich hast du den Behörden erzählt, ich weigere mich, meine Tochter anzuerkennen. Werde ich in der Geburtsurkunde überhaupt erwähnt?“

Gypsy wurde blass. Als man sie in der Klinik nach dem Vater fragte, hatte sie gelogen und gesagt, sie würde ihn nicht kennen. Und wenn sie an jenem Morgen die Nachrichten nicht gesehen hätte, wäre er ja auch ein Fremder für sie geblieben! Wie sie diese ganze Lügerei hasste. Normalerweise war ihr so ein Verhalten völlig fremd.

Als er jetzt einen Schritt auf sie zumachte, zuckte sie zusammen. Einen Augenblick lang glaubte sie, er wollte ihr Lola einfach entreißen und sie mitnehmen. Das Kind begann zu weinen.

Rico hielt sofort inne. „Der Teufel soll dich holen, Gypsy Butler. Wie konntest du verschweigen, dass ich der Vater bin? Du wusstest doch genau, wer ich bin.“

Um Lola nicht noch mehr zu beunruhigen, versuchte Gypsy, ihm so ruhig wie möglich zu antworten. „Ich wollte sie beschützen. Ich wollte uns beschützen.“

Rico schien ebenfalls zu merken, dass das Kind Angst bekam. „Wovor?“, fragte er etwas leiser, aber immer noch wütend. „Du hattest kein Recht, so eine Entscheidung zu treffen.“

Gypsy suchte nach Worten. Wie sollte sie diesem Mann erklären, was sie empfunden hatte, als sie feststellte, dass sie schwanger war?

„Ich sah dich an jenem Morgen in den Nachrichten“, brach es aus ihr heraus. „Ich sah dich aus einem Gerichtsgebäude kommen. Du hattest gegen eine Frau prozessiert. Nach diesem Prozess war sie nur noch ein seelisches Wrack. Und alles nur, weil sie zu beweisen versuchte, dass du der Vater ihres Kindes bist.“

Rico machte eine ungeduldige Handbewegung. „Du hast ja keine Ahnung, worum es da ging. Ich statuierte ein Exempel an ihr. Keine andere Frau sollte mehr auf den Gedanken kommen, sie könnte mich auf diese Weise drankriegen.“

Angriffslustig reckte Gypsy das Kinn vor. „Und da wirfst du mir vor, dass ich nicht sofort zu dir kam und dir von meiner Schwangerschaft erzählte? Als du an diesem Morgen wortlos verschwunden bist, hast du mir doch sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass du mich nicht wiedersehen willst. Und wie du mit einer Frau umgehst, die behauptet, Mutter deines Kindes zu sein, habe ich dann ja gesehen.“

Rico war kurz davor, ihr zu gestehen, wie sehr er seine überstürzte Flucht bereute. Gleich nach dem Prozess hatte er im Hotel angerufen. Aber sie war nicht mehr da gewesen. Doch ihr diese Schwäche zu zeigen, brachte er nicht über sich. Jetzt nicht mehr.

Gypsy sah, wie Ricos Gesicht sich noch mehr verhärtete.

„Dieser Frau bin ich nur in der Öffentlichkeit begegnet“, erwiderte er mit eisiger Stimme. „Und weil ich auf ihre Avancen nicht einging, versuchte sie mit ein paar armseligen Tricks zu beweisen, dass das Baby von mir sei. Ich bestand auf einem Vaterschaftstest und ging vor Gericht.“

Gypsy überlief es kalt. Er war genauso erbarmungslos, wie ihr Vater ihn beschrieben hatte. „Aber du hast den Ruf der Frau ruiniert, indem du sie vor Gericht zerrtest.“

„Daran ist sie selbst schuld“, meinte er ungerührt. „Ich gab ihr sogar Gelegenheit, es nicht so weit kommen zu lassen. Aber sie lehnte ab. Sie glaubte eben, sie hätte leichtes Spiel mit mir und ich würde zahlen, damit sie den Mund hielt. In der Gerichtsverhandlung gestand sie ziemlich schnell, wer der echte Vater war. Der besaß leider nur eine magere Million Euro. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich damit zufriedenzugeben. Glaub mir, sie verdient dein Mitleid wirklich nicht.“

Gypsy fragte sich, wie die Frau sich solchen Illusionen hatte hingeben können. Gegen ihren Willen musste sie eingestehen, dass er sie überrascht hatte. „Aber du glaubst, dass Lola von dir ist?“

Rico sah ihr in die Augen, und irgendwo in ihrem Innern erwachte ein solches Feuer, dass ihr ganz heiß wurde. „Abgesehen davon, dass du es mir gesagt hast, kann ich mir noch aus einem anderen Grund ziemlich sicher sein, dass sie meine Tochter ist. Damals ist nämlich mein Kondom gerissen. Und als du mir versichertest, es bestünde kein Risiko, glaubte ich dir.“

Gypsy konnte sich nur noch an den Moment erinnern, als er das Kondom überstreifen wollte. „Bitte, Rico … hör nicht auf“, hatte sie ihn angefleht. Vielleicht hatte es mit dem Kondom nicht geklappt, weil sie ihn so drängte. Aber sie war fest davon überzeugt gewesen, es könnte nichts passieren. Allerdings hatte sie nicht daran gedacht, wie unregelmäßig ihr Monatszyklus nach dem Tod ihres Vaters war.

„Und außerdem: Du fragst mich das, obwohl sie mir wie aus dem Gesicht geschnitten ist?“ Abfällig verzog er den Mund. „Aber keine Angst. So naiv bin ich nicht. Ich lasse natürlich noch einen Vaterschaftstest machen.“ Er lachte hämisch. „Ich soll glauben, ich hätte die einzige Frau auf der Welt geschwängert, die keinen Cent von meinem Vermögen will? Das kannst du nicht von mir erwarten.“

Er ließ sie nicht zu Wort kommen.

„Vielleicht wolltest du sie mir auch erst vorstellen, wenn sie etwas älter ist. Ein mageres, schlecht ernährtes Kind – das wäre dann die richtige, herzzerreißende Geschichte für die Öffentlichkeit. Aber vielleicht genießt du ja auch das Wissen, deiner eigenen Tochter das väterliche Erbe vorzuenthalten?“

Gypsy presste Lola schützend an sich. Wütend blickte sie sich in dem schäbigen Zimmer um. „Glaubst du wirklich, ich würde meine Tochter nur wegen irgendwelcher verrückten Erpresserpläne in so einer Umgebung aufwachsen lassen? Ich bin eine gute Mutter, und trotz unserer schwierigen finanziellen Lage fehlt es Lola an nichts. Sie ist gut genährt, gut versorgt und wird geliebt. Sie ist ein sehr glückliches und zufriedenes Kind.“

Draußen war der Himmel dunkel geworden. Der Nieselregen hatte sich in einen Wolkenbruch verwandelt. Aus der undichten Stelle in der Ecke tropfte es beharrlich. Und Rico fühlte, wie feucht die Luft in der Wohnung war.

Diese Frau blieb ihm ein Rätsel. Warum also hatte sie ihn finanziell nicht gerupft wie eine Weihnachtsgans, nachdem sie ihre Schwangerschaft bemerkte? Sie hatte doch gewusst, wer er war! Das alles machte einfach keinen Sinn!

„Wieso hast du mir nichts gesagt?“, fragte er erneut.

Gypsy biss sich auf die Lippen. Endlich sah sie ihn an. In ihren Augen konnte er die Angst erkennen. „Weil ich meine Tochter beschützen wollte.“

Verständnislos schüttelte Rico den Kopf. Normalerweise funktionierte sein Verstand hervorragend. Im Moment aber war sein Kopf wie leergefegt.

„Wovor, um Himmels willen, hast du Angst?“

„Vor dem hier“, war Gypsys schlichte Antwort.

„Aber wieso ziehst du deine jetzige Lage dem, was ich dir zu bieten habe, vor?“

Plötzlich konnte Rico sich vorstellen, wie alles hätte sein können. Zuerst hätte Gypsys Schwangerschaft ihm natürlich einen Schrecken eingejagt. Aber dann wäre alles so einfach gewesen. Gypsy hätte ihm nicht andauernd im Kopf herumgespukt. Sie wäre ja da gewesen, in seinem Bett. So lange, bis er ihrer überdrüssig geworden wäre. Bei dem Gedanken überkam ihn ein seltsames Gefühl. Als hätte er etwas verloren.

Und was Lola betraf, so hätten sie sich sicher arrangiert. Gleichzeitig wusste er, dass es ihn nicht glücklich machen würde, sich wegen des Kindes mit ihr zu arrangieren. Gypsy schuldete ihm etwas. Die ersten fünfzehn Lebensmonate seiner Tochter hatte er versäumt. Die Kleine betrachtete ihn wie einen Fremden, weil er ein Fremder für sie war.

Gypsy reckte entschlossen das Kinn vor. Rico beherrschte sich nur mühsam. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und ihre vollen Lippen geküsst. Alles drängte ihn dazu, dieses fein geschnittene Gesicht zu streicheln.

„Es gibt eine Menge Leute, die mit viel weniger überleben als ich. Geld ist nicht alles. Außerdem habe ich keine Lust, durch sämtliche Gerichtsinstanzen geschleppt und in den Boulevardzeitungen durchgehechelt zu werden. Ich habe mich damals entschieden, Lola zu bekommen. Deshalb bin ich heute auch allein für sie verantwortlich.“

Dazu wären Rico eine Menge Antworten eingefallen. Aber er verkniff sie sich lieber. Er spürte, dass hinter ihrer Ablehnung mehr steckte. Mehr, als sie ihm sagen wollte. Zuerst einmal musste er die beiden aus diesem gottverlassenen Viertel fortschaffen. Danach blieb immer noch genug Zeit, Fragen zu stellen.

5. KAPITEL

Gypsy hoffte, Rico würde sich mit ihrer Erklärung zufriedengeben. Das Gesicht, das er machte, gefiel ihr gar nicht. Er sah so entschlossen aus. Und Lola war auf einmal so still.

Sie blickte zu ihrer Tochter und sah, dass sie, den Daumen im Mund, Rico mit großen, aufmerksamen Augen ansah.

„Pack eure Sachen zusammen. Ihr kommt mit mir“, befahl Rico.

Gypsy fuhr herum. „Wie bitte?“

„Ich möchte, dass du das Nötige zusammenpackst.“ In seiner Stimme schwang eiserne Entschlossenheit mit. „Wir gehen. Und zwar jetzt gleich.“

Verzweifelt schüttelte Gypsy den Kopf. Die Aussicht, diese entsetzliche Wohnung zu verlassen, war verlockend. Mit jedem wäre sie gegangen. Aber nicht mit ihm.

„Ich gehe nirgendwo mit dir hin. Wir gehen nirgendwo mit dir hin.“

Rico verschränkte die Arme. „Warum? Musst du später noch arbeiten gehen?“ Er schnippte mit den Fingern, als würde er sich an etwas erinnern. „Aber nein, du hast ja gestern Abend deinen Job hingeworfen. Nicht gerade sehr verantwortungsvoll von einer alleinerziehenden Mutter.“

Gypsy wurde blass.

„Wer hat gestern Abend eigentlich auf Lola aufgepasst?“, fragte er plötzlich.

Was sollte dieser herrische Ton? „Mrs. Murphy. Sie wohnt ein paar Häuser weiter. Sie ist eine pensionierte Kindergärtnerin und passt abends auf Lola auf. Ich gebe ihr etwas dafür.“

Rico schäumte. „In dieser lausigen Gegend lässt du meine Tochter abends bei einer Fremden?“

„Sie ist keine Fremde“, fauchte Gypsy zurück. „Und Lola ist bei ihr bestens aufgehoben.“ Hätte sie die Wahl gehabt, sie hätte Lola nie bei jemand anderem zurückgelassen. „Außerdem kommt Mrs. Murphy hierher, um sie zu hüten“, fügte sie schnell hinzu.

„So oder so, das spielt alles keine Rolle mehr“, sagte er mit einer heftigen Handbewegung. „In dieser Straße wimmelt es nur so von Banden und Drogendealern. Ich will euch keine Nacht länger hierhaben.“

Für Gypsy wurden ihre schlimmsten Ängste wahr. „Du kannst nicht einfach hier erscheinen und unser Leben auf den Kopf stellen“, widersprach sie zitternd.

„Ach nein?“, schnaubte Rico. „Vielleicht, weil du hier so eine entzückende Wohnung hast? Nicht einmal einen Hund würde man hier großziehen, geschweige denn ein Kind. Ihr kommt jetzt mit mir und übernachtet bei mir zu Hause.“

In dem Moment griff Lola nach Gypsys Gesicht. Sie konnte fühlen, wie kalt ihre kleinen Hände waren. Schuldbewusst senkte sie den Kopf. Die Speicherheizung war immer noch nicht angesprungen. Und selbst wenn, sie verbreitete sowieso keine große Wärme. Aber ohne die Zusatzheizung würde es noch viel kälter sein als sonst. Es war eisig, es war feucht, und die undichte Stelle an der Decke war nicht zu übersehen. Dabei hatte Lola gerade erst eine schlimme Erkältung überstanden.

Rico Christofides hätte sich wirklich keinen schlimmeren Moment für ein Wiedersehen aussuchen können. Oder keinen besseren, dachte Gypsy bitter.

„Was ist los mit ihr?“, fragte Rico scharf und betrachtete Lola, die auf Gypsys Arm immer schwerer wurde.

„Sie ist müde“, erwiderte Gypsy erschöpft. „Letzte Nacht hat sie nicht gut geschlafen. Und im Buggy hat sie nur ein kurzes Nickerchen gehalten.“

„Wenn es sein muss, trage ich selbst euch beide hier raus“, sagte Rico entschlossen. „Glaub mir, ich mache keinen Spaß. Wir müssen miteinander reden. Das schuldest du mir. Und ich weigere mich, hier noch länger zu bleiben.“

Beschämt stellte Gypsy fest, dass sie dabei war, den Kampf zu verlieren. Sie konnte ihm nicht mit gutem Gewissen verweigern, wenigstens einmal über alles zu reden. „Und wo willst du uns hinbringen?“

„In meine Stadtwohnung. Sie ist wesentlich komfortabler. Ich habe eine Haushälterin. Sie kann auf Lola aufpassen, während wir uns unterhalten.“ Gypsy hatte das Gefühl, als würde sie von einem Wasserfall mitgerissen. Schließlich gab sie nach. „Einverstanden. Wir kommen mit.“

Und dann ging alles ganz schnell. Gypsy setzte die schläfrige Lola in ihren Buggy und packte rasch eine Tasche mit dem Nötigsten zusammen. Rico hatte bereits seinen Mantel an und wartete. Er fragte, ob sie einen Kindersitz brauche, und Gypsy erklärte ihm, dass der Sitz des Buggys auch als Kindersitz in einem Auto funktionierte. Danach telefonierte Rico und bellte auf Griechisch Befehle in sein Handy. Auf einmal hatte er so gar nichts mehr mit dem verführerischen Mann gemein, mit dem sie damals in der Disco getanzt hatte. Und trotzdem übte er noch die gleiche Anziehungskraft auf sie aus.

Energisch schob sie ihre Erinnerungen beiseite. Die Hände voller Taschen, warf sie einen Blick auf Lolas Kinderwagen.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, ging Rico zu Lola und entschied: „Ich nehme sie. Du schließt die Tür ab.“

Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. Als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, montierte er den Sitz vom Gestell des Buggys und hob ihn samt Lola mit beneidenswerter Leichtigkeit hoch. Für Gypsy war der Anblick schwer zu ertragen. Am liebsten hätte sie ihm Lola wieder entrissen. Ihr war zum Heulen zumute. Aber sie unterdrückte ihre Tränen. Nur keine Schwäche zeigen. Das war das Letzte, was sie sich jetzt leisten konnte.

Nachdem Wohnungs- und Haustür abgeschlossen waren, lief Gypsy als Erste durch den strömenden Regen zum Wagen. Dabei hielt ihr der aufmerksame Chauffeur den Regenschirm. Bevor er ihr in den Wagen half, verstaute er noch die Tüten im Kofferraum. Als sie Platz genommen hatte, kam Rico. Er schützte Lola mit seinem Mantel vor dem Regen und reichte sie dann Gypsy, die sorgfältig den Sicherheitsgurt um den Sitz schloss. Lola hatte nichts vom Regen abbekommen und nuckelte zufrieden an ihrem Daumen.

Der Wagen rollte an. „Der Buggy!“, rief Gypsy erschrocken.

Rico war gerade damit beschäftigt, ihren Gurt zu kontrollieren. Seine Nähe machte Gypsy nervös. Sie spürte seine Hand an ihrem Schenkel und hätte sie am liebsten weggestoßen. Weil auch Lolas Sitz auf dem Rücksitz befestigt war, saß sie jetzt viel zu dicht neben Rico. In seiner Nähe drohten all die Erinnerungen an jene Nacht zurückzukehren. Er hingegen schien nichts dergleichen zu empfinden.

Kein Wunder, dachte Gypsy beschämt. Was ihr Aussehen betraf, hätte sie fast als Obdachlose durchgehen können. Die einzige anständige Kleidung, die sie besaß, war ihre Arbeitskleidung. Und die brauchte sie jetzt ja nicht mehr …

Endlich war er fertig mit ihrem Gurt und richtete sich auf. „Lass den Buggy mal deine geringste Sorge sein“, knurrte er. „Bis wir bei mir ankommen, ist ein neuer da.“

Gypsy gab sich alle Mühe, sich von der Atmosphäre in dem leise dahinschnurrenden Luxuswagen nicht einlullen zu lassen. „Das kannst du nicht so einfach machen … nur weil du ihr Vater bist.“

Seine grauen Augen funkelten sie zornig an. „Ich habe das gleiche Recht auf meine Tochter wie du. Und jetzt, wo ich von ihrer Existenz erfahren habe, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit sie nicht ohne mich aufwächst.“

Es hatte keinen Zweck, noch länger zu protestieren, also verkniff sie sich eine Antwort. Männer wie Rico oder ihr Vater stellten sich einfach taub, wenn ihnen etwas nicht in den Kram passte.

Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Wenn Rico erst einmal am eigenen Leib erfuhr, was es hieß, mit einem Baby zusammenzuleben, würde er sie vielleicht doch noch mit Freuden ziehen lassen.

Nicht lange, und sie durchfuhren die wesentlich angenehmere Gegend von Mayfair. Saubere Straßen, teure Autos und noch teurer gekleidete Menschen. Als hätten sie mit Gypsys trister Straße auch die dunklen Wolken hinter sich gelassen, hatte es aufgehört zu regnen. Angewidert blickte Gypsy durchs Fenster. Ihr Vater hatte hier ein Apartment für seine wechselnden Geliebten besessen.

Ricos Auto rollte sanft aus und blieb vor einem eleganten Gebäude stehen. Eine Markise wölbte sich über dem Eingang. Ein Portier eilte herbei und öffnete den Wagenschlag. Gypsy stieg aus und griff nach Lola, die während der Fahrt eingeschlafen war. Mit dem Kind auf dem Arm stand sie da und fühlte sich, als wäre sie auf einem anderen Planeten gelandet.

Wortlos und ohne sie eines Blickes zu würdigen, schnappte Rico Gypsys Taschen und ging auf den Eingang zu. Drinnen marschierte er schnurstracks zum Lift und drückte auf P. Wie könnte es auch anders sein, dachte Gypsy und verzog abfällig das Gesicht, das Penthouse, natürlich.

Als sie aus dem Lift auf einen mit dicken Teppichen ausgelegten Gang traten, stand die Apartmenttür offen. Gypsy konnte eine etwas korpulente Frau mittleren Alters erkennen, die gerade eine Unmenge von Paketen und Schachteln in Empfang nahm und die Männer vom Lieferservice irgendwo ins Innere der Wohnung dirigierte. „Alles muss so schnell wie möglich zusammengebaut werden“, sagte sie gerade, da entdeckte sie Rico. „Mr. Christofides – Sie sind schon zurück!“, strahlte sie. „Sie sehen, alles ist angekommen.“

Gypsy, die hinter Rico stand, wurde plötzlich nach vorn geschoben.

„Gypsy, das ist Mrs. Wakefield, meine Haushälterin.“

Gypsy registrierte verblüfft, mit welcher Wärme er den Namen aussprach. Diese Stimme hatte sie damals verführt. Sie vermied es, Rico anzusehen, und schenkte der Frau ein etwas gezwungenes Lächeln. Die Haushälterin betrachtete neugierig das Baby auf ihrem Arm.

„Ach, das ist ja das reinste Engelchen! Nun, Sie müssen müde und hungrig sein. Ich dachte mir, dass die Kleine nach der Fahrt vielleicht schlafen will. Deshalb habe ich im Salon ein provisorisches Bettchen hergerichtet. Wenn Sie mitkommen und sie dort hinlegen wollen?“

Mehr als überrascht folgte Gypsy der mütterlichen Frau in einen weiten, in gedämpften Tönen gehaltenen Salon. Den Farben nach unverkennbar ein Junggesellendomizil.

Mrs. Wakefield zeigte Gypsy, wo sie Lola hinlegen konnte, und deckte sie sogar noch mit einer Kaschmirdecke zu. „Ich habe selbst fünf Mädchen“, meinte sie redselig. „Aber alle sind jetzt schon erwachsen. Man glaubt ja nicht, wie die Zeit verfliegt. Auf einmal haben sie Freunde und wollen jede Nacht ausgehen, und man sitzt da und macht sich Sorgen. Denken Sie an meine Worte!“

Rico war ihnen gefolgt und stand schweigend neben ihr. Sie spürte seine zornigen Blicke. Wahrscheinlich wurde ihm bei Mrs. Wakefields Worten bewusst, wie viel er vom Leben seiner Tochter schon versäumt hatte.

Mit dem Versprechen, bald mit Tee und Sandwichs zurückzukommen, ließ die Haushälterin sie allein. Gypsy kümmerte sich hastig um Lola und mied jeden Blickkontakt mit Rico.

„Ist das normal, dass sie so müde ist?“, fragte er auf einmal.

Gypsy richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Frage gab ihr sofort das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. „Sie muss nur etwas Schlaf nachholen. Sonst schläft sie immer am Nachmittag.“

„Woher soll ich das wissen?“, meinte Rico mit steinerner Miene.

In Gypsy regte sich ihr schlechtes Gewissen. Schweigend beobachtete sie, wie er mit ein paar energischen Bewegungen den Mantel auszog und über einen Stuhl warf. Unruhig ging er auf und ab. Gypsy sah sich in dem Raum um. Deckenhohe Fenster boten einen weiten Blick über London. Trotz des schlechten Wetters war es ein hinreißender Anblick, wie sich die Silhouette der Stadt gegen die dunklen Wolken abhob.

Gypsy drehte sich entschlossen zu Rico um. „Wir können hier nicht lange bleiben. Die Wohnung ist für ein Kleinkind absolut ungeeignet.“ Sie deutete auf einen niedrigen Glastisch. „Überall sind scharfe Ecken und Kanten. Sie wird sich verletzen.“

Die Hände in den Taschen, musterte Rico sie mit zusammengekniffenen Augen. Gypsy spürte, wie sie rot wurde. Gerne hätte sie ein paar ihrer vielen Kleidungsstücke abgelegt, so heiß war ihr auf einmal.

Autor

Abby Green
<p>Abby Green wurde in London geboren, wuchs aber in Dublin auf, da ihre Mutter unbändiges Heimweh nach ihrer irischen Heimat verspürte. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zu Büchern: Von Enid Blyton bis zu George Orwell – sie las alles, was ihr gefiel. Ihre Sommerferien verbrachte sie oft bei ihrer...
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