Mein blonder Engel kehrt zurück

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Einst brannte Carole Anne nach Los Angeles durch, jetzt ist sie zurück in der Kleinstadt Belle’s Grove. Der Arzt Jeff hat Carole schon immer geliebt - und ist entschlossen, sie nie wieder gehen zu lassen!


  • Erscheinungstag 10.03.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499135
  • Seitenanzahl 129
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Aunt Connie’s Wedding

Copyright © 1993 by Marie Rydzynski-Ferrarella
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold & partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Maya Gause

Titelabbildung: oredia / Tetra Images; Getty Images, München;
HarperCollins Frankreich

ISBN eBook 978-3-95649-913-5

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Marie Ferrarella

Mein blonder Engel kehrt zurück

Roman

Aus dem Amerikanischen von
M. R. Heinze

1. KAPITEL

Die ganze Fahrt vom Flughafen war wie ein einziger gewaltiger Schritt zurück in der Zeit. Alles war noch wie früher. Acht Jahre, aber die Stadt hatte sich nicht verändert.

Nur sie selbst war nicht mehr dieselbe.

Carole Ann Wellsley steuerte den silberfarbenen Leihwagen auf das Haus ihrer Tante zu. Es kam ihr so vor, als würde sie sich in Zeitlupe bewegen, als würde sich jeder Meter wie eine Katze strecken, die sich im Winter vor einem brennenden Kamin reckt.

Und dann gab es einfach keine Straße mehr, die ihr als Ausrede dienen konnte. Freude und Sorge schwappten in ihr hoch und schleuderten ihre Emotionen hin und her wie einen Volleyball, der während eines hitzigen Turniers über das Netz fliegt. Sie war froh, endlich hier zu sein, und sie wollte zweitausend Meilen weit weg sicher an ihrem Schreibtisch sitzen und an einem neuen Artikel arbeiten.

Es wird alles gutgehen… Du machst dich nur grundlos verrückt…

Carole Ann holte tief Atem, um sich zu beruhigen. Die Luft an diesem Julitag war heiß und stickig. Nein, nichts hatte sich verändert.

Sie zog an dem Türgriff und zwang sich dazu, ihren schützenden Wagen zu verlassen. Die Sonne über Missouri schien warm und geduldig auf sie herunter. Carole Ann ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.

„Komm, Schatz, wir sind da.“ Sie legte ihre ungewöhnlich kalten Finger um Brandons Hand, während er von seinem Sitz rutschte.

Die Berührung gab Carole Ann Kraft. Sie drehte sich um und betrachtete die Front des Hauses wie ein Soldat, der sich etwas Unbekanntem stellt. Oder schlimmer noch: etwas Bekanntem. Carole Ann rührte sich nicht von der Stelle.

„Mom“, meldete Brandon sich zu Wort, „du quetschst mir die Hand.“

Carole Ann lächelte entschuldigend, lockerte ihren Griff und räusperte sich befangen. Sie hatte versucht, Brandon unbeugsame Unabhängigkeit anzuerziehen. Wenn er nun in den Augen seiner Mutter Unbehagen bemerkte, konnte das ihre Bemühungen zweifellos um ein paar Monate zurückwerfen.

Sie schüttelte leicht den Kopf, sodass ihre lockigen, hellblonden Haare von einer Seite zur anderen schwangen. „Tut mir leid.“ Ihr Lächeln hatte nun etwas Sorgloses. Brandon blickte geradeaus und bekam offenbar nicht mit, welche Vorstellung seine Mutter um seinetwillen darbot. Er blinzelte gegen das helle Sonnenlicht. „Das ist es?“

Sie konnte nicht feststellen, ob er enttäuscht war. „Das ist es.“

Brandon Wellsley musterte seine Umgebung mit einem langen, eindringlichen Blick. Er war viel stiller, viel introvertierter als ein durchschnittlicher Sechsjähriger. Dass er das einzige männliche Wesen im Leben seiner Mutter war, hatte ihn viel zu früh ernst werden lassen. Carole Ann machte sich deshalb Gedanken.

Brandon blickte über seine Schulter zurück. Die Straße, die zu dem großen zweistöckigen Haus führte, war von Bäumen gesäumt. Mächtige Eichen neigten ihre grünen Häupter auf beiden Seiten zueinander, wie Schildwachen, die sich ein Geheimnis zuflüsterten. Sie ließen nur einzelne Sonnenstrahlen bis auf die Straße durchdringen. Brandon kam alles wie ein Abenteuer vor. So ein Haus hatte er noch nie vorher gesehen. Daheim im südlichen Kalifornien wohnten sie nahe am Strand. In seiner Nachbarschaft waren die würfelförmigen Häuser hell, strahlten Fröhlichkeit aus und erinnerten ihn an eine Reihe Legosteine, die darauf warteten, dass jemand mit ihnen spielte.

Das Haus, vor dem sie nun standen, wirkte, als hätte es schon immer existiert, vielleicht sogar schon vor den Dinosauriern. Es sah alt, aber nicht traurig aus, genau wie Tommy Andersons Großvater. Es sah nett alt aus, fand Brandon. Hübsch und nett alt. Es war ein Haus für die Ewigkeit. Brandon fühlte sich ganz erwachsen, nur weil er in der Nähe dieses Hauses war.

Er legte seinen Kopf mit den struppigen, hellbraunen Haaren leicht schief und kratzte sich, ehe er sich von dem Haus abwandte und seine Mutter forschend betrachtete.

„Du hast wirklich hier gewohnt?“

Sie nickte. „Sechzehn Jahre lang.“

Während sie es aussprach, fühlte Carole Ann förmlich, wie jedes einzelne dieser sechzehn Jahre in ihr ein Bindeglied berührte, das sie schon längst begraben geglaubt hatte. Sie war seit dem Morgen zweitausend Meilen gereist, nur um hierherzukommen.

Wieso hast du dann solche Schwierigkeiten, auch noch die letzten sechs Meter zurückzulegen, Carole Ann? fragte sie sich ungeduldig. Vor welchen Geistern hatte sie denn Angst? Es gab hier keine Geister, nur die Lebenden.

Besonders eine.

Brandons Augen leuchteten auf, als er eine alte Schaukel entdeckte, die an dem Ast einer knorrigen Eiche hing und leicht im Wind schwankte. In seinem Garten zu Hause war eine blitzend neue Schaukel aufgestellt, aber diese Schaukel übte vielleicht wegen ihres Alters einen besonderen Reiz auf ihn aus.

Als Brandon einen Schritt in die Richtung der Schaukel machte, um sie auszuprobieren, wurde ihm bewußt, dass seine Mutter ihn noch immer festhielt. Seufzend blieb er stehen.

„Warum bist du weggegangen?“, wollte er wissen.

Aus hundert verschiedenen Gründen – weil ich fliegen anstatt gehen wollte; weil ich hier nicht atmen konnte; weil ich herausfinden musste, was sich hinter dem nächsten Hügel, dem nächsten Regenbogen befindet.

„Weil ich deinen Dad geliebt habe und er nach Kalifornien wollte.“ Sie lächelte um seinetwillen und blickte in seine Augen, die den ihren so ähnlich waren. „Erinnerst du dich? Ich habe dir diese Geschichte hundertmal erzählt.“ Neunundneunzigmal davon auf Bitten ihres Jungen, für gewöhnlich vor dem Schlafengehen, dachte sie lächelnd.

Brandon nickte, während seine Gedanken bereits vorauseilten. „Ja, ich erinnere mich. Komm schon!“, drängte er, zerrte und erzielte das gewünschte Ergebnis. „Lernen wir jetzt Tante Connie kennen?“

Sein Blick wanderte noch einmal zu der Schaukel. Je schneller er alle kennenlernte, die er kennenlernen sollte, desto schneller konnte er sich umziehen und spielen gehen. Die Jacke, die ihm seine Mutter für den Flug hierher aufgezwungen hatte, war heiß und engte ihn ein und fühlte sich wie eine schwere, rauhe Wolldecke an. Er wartete sehnsüchtig darauf, sie loszuwerden, hatte bisher jedoch nichts gesagt, weil er die Nervosität seiner Mutter spürte. Ihre stumme Erregung fachte sein Unbehagen an. Seine Mutter wurde nie wegen irgend etwas nervös, Spinnen ausgenommen. Wie war bloß diese Tante Connie?

Carole Anns Beine schienen sich in Blei zu verwandeln und pressten ihre Füße auf den Boden, während sie das Haus betrachtete. Nicht Angst vor Tante Connie hielt sie zurück, sondern Angst vor allem anderen – vor den Erinnerungen.

Carole Ann schüttelte den Kopf und versuchte, die Verwirrung abzustreifen, die ihr ständiger Begleiter war, seit sie Tante Connies weitschweifigen Brief mit dem beiläufig hingeworfenen Postskriptum erhalten hatte. Tante Connie wollte heiraten, und Carole Ann sollte doch ein Schatz sein, zu ihr kommen und ihr bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen.

Einfach so, ohne Einleitung, ohne Erläuterungen. Nichts weiter. Aber so war Tante Connie. Ihre Gedanken beschäftigten sich ständig mit hundert verschiedenen Dingen gleichzeitig. Hatte Carole Ann bei einem Thema endlich mit ihr gleichgezogen, war Tante Connie schon zum nächsten gesprungen, wobei sie nichts zu Carole Anns Zufriedenheit ausführte.

Carole Ann hätte sich beinahe verschluckt, als sie die Worte las. Ein sofortiger Anruf bei Tante Connie hatte auch nicht mehr Licht auf die Sache geworfen, außer dass die Tante ekstatisch glücklich und aufgeregt war. Trotz aller Bemühungen hatte Carole Ann der lieben alten Tante nicht mehr an Informationen über den zukünftigen Bräutigam entlockt als seinen Namen und die Tatsache, dass er breite Schultern hatte. Tante Connie hatte sich in Ausführungen über Plätzchen und Blumenarrangements bei dem Hochzeitsempfang verloren.

Frustriert und besorgt hatte Carole Ann für das darauffolgende Wochenende einen Flug gebucht.

Brandon zerrte erneut an ihrer Hand. Er wartete noch immer auf eine Antwort. Ihre Gedanken schweiften schon wieder ab. Carole Ann rief sich zur Ordnung.

„Wir werden Tante Connie kennenlernen“, versicherte sie ihm. „Das heißt, du wirst es.“ Er zog seine großen blauen Augen leicht zusammen und sah sie fragend an. Carole lächelte. „Ich kenne sie doch schon, nicht wahr?“

Sie war jünger als Brandon gewesen, als sie zum erstenmal mit Tante Connie zusammentraf. Die Frau war in Wirklichkeit ihre Großtante und seit ihrem vierten Lebensjahr auch Mutter und Vater. Tante Connie hatte Carole Ann in ihr großes Haus und ihr noch größeres Herz schon Stunden nach dem tödlichen Unfall ihrer Eltern aufgenommen – zweier sehr junger Menschen, die sich mit einem Zug ein verrücktes Rennen geliefert hatten, das für sie auf einem Bahnübergang jäh endete.

Bevor Carole Ann noch etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür des stattlichen viktorianischen Hauses. Eine kleine, stämmige Frau mit kurzem, platinblond gefärbten Haar und in einem unmöglich aufreizenden gelben Kleid kam heraus. Selbst aus der Distanz von sechs Metern konkurrierte die Wärme ihres Lächelns mit der Sonne über ihren Köpfen und zog die beiden Besucher in ihrem Vorgarten zu ihr.

Connie Jenkins breitete ihre Arme in einer vertrauten Geste aus, die auf ewig in Carole Anns Herz eingegraben war. Plötzlich war sie wieder zehn und lief von der Schule nach Hause, angelockt von dem Duft von Schokoladenplätzchen und Vanille, der genauso zu Tante Connie gehörte wie ihr engelsgleiches Lächeln und ihre funkelnden blauen Augen.

Carole Ann warnte sich selbst davor, sich nicht zu sehr von diesem Gefühl überwältigen zu lassen. Es handelte sich nur um einen Besuch an einem Ort, der einst ihr Zuhause gewesen war, jetzt aber nicht mehr. Ihr Zuhause befand sich inzwischen anderswo. Und genau so wollte sie es haben.

Connie schüttelte den Kopf und lachte hell auf, und ihr platinblondes Haar schwang um ihr rundliches Gesicht.

„Ihr zwei habt aber lange gebraucht!“, rief sie und kam die zwei Stufen von der Veranda herunter. „Umarmt mich! Alle beide!“

Im nächsten Moment gab es zwischen ihnen keine Distanz mehr. Brandon richtete sich nach seiner Mutter und lief mit ihr auf Tante Connie zu.

Connie Jenkins sank so beweglich, als wäre sie nur halb so alt, auf die Knie und drückte den kleinen Jungen an sich, den sie bisher nur auf den Fotos gesehen hatte, die Carole Ann gewissenhaft zusammen mit jedem langen Brief geschickt hatte. Fotos, die an den Wänden ihres Wohnzimmers aufgereiht hingen.

Tränen standen Connie in den Augen, und sie konnte sich nicht mehr Glück wünschen als in diesem Moment. „Bist du aber ein hübscher Junge“, murmelte sie, und ihre leise Stimme vibrierte leicht, während sie ihn fest an ihren üppigen Busen drückte.

„Und Sie sind eine sehr starke Lady“, sagte Brandon selbstbewußt.

„Ich halte dich zu fest, nicht wahr?“ Connie lachte, lockerte ihre Arme ein wenig, presste ihn jedoch noch einmal an sich. Sie hatte lange darauf gewartet und wollte es genießen.

„Ja, Ma’am“, stimmte Brandon arglos zu. „Wie Mom.“ Er wandte den Kopf zu seiner Mutter. „Sie hat mir fast die Finger zerquetscht, als wir aus dem Auto stiegen.“

Connie stand langsam auf, putzte die Knie ab und wandte sich an Carole Ann. Ihre Augen wurden hinter der randlosen Brille feucht, aber sie kam gar nicht auf die Idee, die Tränen wegzuwischen. Es waren gute Tränen, reinigende Tränen, derer man sich nicht zu schämen brauchte.

Sie überlegte nicht, was es zu fürchten gab und warum ihre Nichte die Hand ihres Sohnes gequetscht hatte, nur weil sie gleich das Haus betreten würde, dass sie vor so langer Zeit verlassen hatte, jenes Haus, in dem sie aufgewachsen war. Es war nur wichtig, dass sie jetzt hier war. Die zurückliegenden Jahre verschwanden wie Tau unter den wärmenden Strahlen der aufgehenden Sonne.

Connie schlang ihre Arme um Carole Ann und drückte sie an sich. „Willkommen daheim, Carole Ann.“ Ihre Stimme klang belegt.

Carole Ann schlug das schlechte Gewissen, weil sie so lange gewartet hatte, wehrte sich jedoch dagegen und auch gegen das Verlangen, sich von dieser wundervollen Frau umsorgen zu lassen. Sie war erwachsen und kein Kind mehr.

Doch sie wehrte sich nicht gegen die Umarmung und erwiderte sie. „Ich bin nur zu Besuch hier“, erinnerte sie ihre Tante. „Gerade lange genug, um den Mann zu überprüfen, der dein Herz gewonnen hat, und um dir bei den Hochzeitsvorbereitungen zu helfen, sofern er meiner Überprüfung standhält.“

Tante Connie trat zurück und ergriff die Hände ihrer Nichte. Carole Ann erinnerte sich daran, wie weich und sanft sich ihre Hände stets angefühlt hatten. Nostalgie ergriff von ihr Besitz, trotz der Fenster und Türen, die sie gegen das alles hier verbarrikadiert hatte.

Connie lächelte geduldig. Carole Ann wirkte nervös, würde sich aber bald beruhigen. Alles kam immer irgendwie in Ordnung.

„Ich würde dich auch daheim willkommen heißen, wenn es nur für fünf Minuten wäre.“ Mit einem Blick deutete sie auf das Haus hinter sich. „Dies hier ist dein Zuhause, ganz gleich, wohin du gehst. Und ganz gleich, für wie lange.“

Carole Ann wusste, dass es sinnlos war, Tante Connie zu widersprechen. Es brachte nichts, wenn sie ihre Tante daran erinnerte, dass ihr Zuhause jetzt woanders war. Sie war nicht so weit gereist, um mit der Frau zu streiten, die sie ihr ganzes Leben lang geliebt hatte. Abgesehen davon wäre es nicht Tante Connie gewesen, mit der sie gestritten hätte, sondern etwas, das sich tief in ihr verbarg und der gleichen Meinung wie Tante Connie war: Dies blieb ihr Zuhause.

Doch das war es nicht – nicht mehr. Vielleicht nie gewesen. Sie hatte sich hier nie hundertprozentig wohl gefühlt. Ein wenig hatte sie stets den Eindruck gehabt, nur ihre Zeit abzusitzen, zu warten. Wie ein Preisboxer, der auf den Gong für die erste Runde wartet, einen Gong, der das Signal für den Beginn eines aufregenden Lebens anstelle endloser Ruhe gibt.

Und so war sie weggegangen und hatte erwartet, dass ihr Leben richtig losging. Sie hatte die Stadt verlassen, weil das Schicksal und Cal Wellsley sie gelockt und etwas versprochen hatten, das Belle’s Grove niemals bieten konnte.

Carole Ann sah, wie ihre Tante sie nachdenklich betrachtete. Tante Connie schwebte meistens irgendwo in den Wolken, aber sie besaß die unheimliche Fähigkeit, direkt zum Kern der Sache vorzudringen, wie ein erfahrener Chirurg, der stets den Schnitt an der richtigen Stelle ansetzt. Aber sie wollte im Moment keine Fragen hören.

Carole Ann drückte Tante Connies Hand voll Zuneigung. „Also, wo ist denn dieser sagenhafte Mann, der dir den Kopf verdreht hat, und wann lerne ich ihn kennen?“

Connies zufriedenes Lächeln schloß Brandon mit ein. „Jetzt.“ „Jetzt?“ Carole Ann war überrascht, glaubte sich verhört zu haben. Sie blickte an ihrem marineblauen Geschäftskostüm hinunter. „Tante Connie, ich bin soeben zweitausend Meilen weit gereist und…“

Connie störte sich nicht daran. „Und du hast nie besser ausgesehen.“ Sie sah den Jungen um Bestätigung an. „Sieht sie nicht gut aus, Brandon?“

Er zuckte seine schmalen Schultern. „Ich denke schon.“

„Na bitte, ein unvoreingenommenes Urteil.“ Connie hakte sich bei Carole Ann unter. „Emmett ist im Wohnzimmer.“

Carole Ann fühlte sich staubig und müde und sehnte sich nach einer kalten Limonade. Aber sie konnte es jetzt gleich hinter sich bringen anstatt später. Immerhin war sie wegen Emmett Carson so schnell so weit gereist. Wer weiß, wann sie ohne ihn wiedergekommen wäre, falls überhaupt jemals.

„Also gut, dann wollen wir deinen Märchenprinzen mal in Augenschein nehmen.“

„Braves Mädchen.“ Connie tätschelte Carole Anns Hand, ohne den stählernen Griff an ihrem Arm zu lockern, nahm dann Brandon an der Hand und führte die beiden zur Haustür. „Mach die Tür auf, Brandon! Gentlemen halten den Ladies immer die Türen auf.“

„Mom sagt, dass sich jeder selbst die Tür aufmachen kann“, wiederholte Brandon automatisch, was ihm seine Mutter stets vorgesagt hatte, folgte jedoch Connies Aufforderung.

Connie überlegte einen Moment. „Manchmal“, stimmte sie zu, während Brandon die Tür aufriß.

Carole Ann wollte schon sagen, dass es immer so sein und niemand erwarten sollte, dass ihm andere halfen. Das hatte sie schmerzhaft gelernt, seit sie die schützenden Eichen von Belle’s Grove verlassen hatte. Cal hatte es ihr ungewollt beigebracht.

Doch alle ihre gewandten Worte zerstoben. Ihre Augen weiteten sich.

Das nach vorn gelegene Wohnzimmer von Connies zweihundert Jahre altem Haus war mit Leuten angefüllt. Leuten aus der Stadt, alten und jungen. Menschen, mit denen sie aufgewachsen war. Es mussten dreißig, vierzig Personen sein.

Sie sah keinen von ihnen klar. Die einzelnen Körper waren wie Teile eines Paisleymusters und bildeten nur den Hintergrund. Ihr Blick wurde nur von einer einzigen Gestalt, nur von einem einzigen Gesicht angezogen.

Und alle Geister, vor denen sie sich gefürchtet hatte, vereinigten sich in dieser Person.

Jefferson Drumm.

Jefferson war klar, dass das Glas mit der kalten rosa Limonade zerbrechen musste, wenn er es noch etwas fester hielt. Dann wären ihm nur Eiswürfel und tropfende rosa Flüssigkeit geblieben, ganz zu schweigen von Schnitten und Schmerzen.

Dann würde ich mich nicht viel anders fühlen als an dem Morgen, wo ich feststellen musste, dass Carole Ann fort war, dachte Jefferson. Nur mit äußerster Anstrengung verzog er keine Miene, während sein Blick musternd über sie glitt.

Sie war schön.

Das langhaarige Mädchen, das Belle’s Grove und ihn vor acht Jahren verlassen hatte, war hübsch gewesen, eine wildwachsende Blume, die man auf einer Wiese erst finden musste. Die Frau, die jetzt im Türrahmen stand, war eine voll erblühte Rose.

Alle alten Gefühle stiegen in Jefferson hoch und bereiteten sich auf einen Kampf gegen die eiserne Ruhe vor, mit der er sein Leben umgeben hatte, nachdem Carole Ann gegangen war und seine Sonne mitgenommen hatte.

Er hatte unbedingt herkommen wollen. Nur der Tod hätte ihn fernhalten können.

Beinahe war es dazu gekommen, als Simon Barlow an diesem Morgen mit angeschwollenem und steifem Arm in die Praxis gewankt kam. Der sture Narr hätte beinahe seinen Arm verloren, weil er sich nicht von Lappalien wie Verletzungen und Schmerzen beeindrucken lassen wollte.

Männer wie Simon verwandelten Jeffersons Arztpraxis selbst in der heutigen modernen Zeit in eine Herausforderung. Sie gehörten noch ins Mittelalter. Er hatte Simon zwei Injektionen gegeben, die Wunde gesäubert und genäht und Simons Tochter dreimal die Dosierung für die Medikamente ihres Vaters eingeschärft, in der Hoffnung, dass sie es behielt. Dann hatte er sich rasch umgezogen und war zu Connies Haus geeilt, wo er als letzter eintraf.

Jefferson dachte in diesem Augenblick allerdings nicht an Simon. Während er auf Carole Anns Ankunft wartete, hatte er an sie gedacht. Daran, wie sie sich in seinen Armen angefühlt hatte, als sie beim Abschlußball der High School im Mondschein tanzten. Daran, wie begierig und scheu sich ihre Lippen angefühlt hatten, als er sie zum erstenmal küsste. Daran, wie er sie begehrt und Nacht für Nacht Pläne geschmiedet hatte, wenn er in seinem Internatszimmer wach lag – und wie er nach Belle’s Grove zurückgekehrt war und entdeckt hatte, dass sie mit Cal Wellsley, seinem Freund, durchgebrannt war. Seinem besten Freund. Dem Kerl, den er gebeten hatte, sich um Carole Ann zu kümmern, während er in der Schule war.

Zahlreiche Emotionen hatten an jenem Tag in ihm getobt. Zorn, Wut, das Gefühl, betrogen worden zu sein. Und Schmerz. Überwältigender Schmerz.

Doch er hatte sich davon nicht unterkriegen lassen, hatte es überwunden, sein Diplom gemacht und sich hier in der Stadt niedergelassen, die Carole Ann gehaßt hatte. Und er hatte mit seinem Leben weitergemacht.

Das hatte er zumindest gedacht. Aber das Leben sah auf einmal heller aus, als sie zur Tür hereinkam.

Jefferson lächelte, als sie ihn anschaute. Seine Lippen fühlten sich wie kleine, enge Gummiringe an, die bis zum äußersten angespannt waren. Was denkt sie? fragte er sich. Fühlt sie überhaupt etwas?

Er trat direkt auf sie zu. Sie duftete noch genau wie früher. Er versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen. Es gelang ihm nicht.

„Carole Ann.“

Seine Stimme durchdrang sie und bewirkte, dass ihr Magen sich zusammenzog. Ich bin keine zwanzig mehr, ermahnte sie sich. Sie war eine achtundzwanzig Jahre alte Frau, die sich nicht von dem Klang einer Männerstimme beeindrucken ließ. Auch wenn ihr der Mann einmal etwas bedeutet hatte.

Es half ihr jedoch nicht gerade, dass Jefferson in dem Zeitraum von acht Jahren sich von ansprechend zu höchst attraktiv gewandelt hatte. Es half nicht, dass sein Gesicht durch die Prägung seines Charakters schärfere Züge bekommen hatte, seine grünen Augen klarer, sein Mund fester und sinnlicher geworden waren. Sein dunkelbraunes Haar war länger als früher. Es wellte sich einladend in dem gebräunten Nacken.

Sie ertappte sich dabei, dass sie ihn anstarrte. Und sie erkannte, dass die Leute sie beide ansahen, und zwang sich zu einem freundlichen, unverbindlichen Lächeln, als sie ihm kühl die Hand hinstreckte. „Wie nenne ich dich jetzt? Dr. Drumm?“

„‚Jeff‘ war mir immer recht.“

Jefferson ergriff ihre Hand. Carole Ann war nervös. Und sie hatte Angst vor ihm. Warum denn bloß? Er war ihr gegenüber stets freundlich und aufmerksam gewesen.

Vielleicht, dachte er, ohne ihre Hand loszulassen, wäre sie nicht weggelaufen, wäre er verwegen, düster grübelnd und dramatisch wie Cal gewesen.

Carole Ann zwang sich dazu, sich ein wenig zu entspannen. Und sein Lächeln half ihr dabei. Jeffersons Lächeln hatte stets in ihr ein Gefühl erzeugt, als würde sie in ein warmes Schaumbad gleiten.

Unterbewußt nahm sie wahr, dass die anderen Menschen im Raum einen Kreis um sie herum bildeten. Brandon hatte wieder ihre Hand ergriffen und zog sie näher an sich.

„Wie ist es dir ergangen, Jeff?“, fragte sie ein wenig zu beiläufig.

„Ich hatte viel zu tun.“ Jefferson blickte zu dem Jungen neben ihr und streckte ihm die Hand von Mann zu Mann hin. „Hallo, Brandon!“

Carole Ann zog die Augen schmal zusammen, während ihr Sohn feierlich Jefferson die Hand schüttelte. „Woher kennst du seinen Namen?“

Der Junge hat die Augen seiner Mutter, stellte Jefferson fest. Der Rest stammt von Cal. Er sah Carole Ann an. „Ich habe mich auf dem laufenden gehalten.“

„Ich habe es ihm gesagt.“ Tante Connies fröhliche Stimme löste die plötzlich aufkommende Spannung. „Jeder in der Stadt kennt Brandons Namen. Zumindest die Leute in meinem Bekanntenkreis.“ Sie deutete auf die im Raum Anwesenden. „Und jeder liest deine Artikel und deine Bücher. Die Aprilausgabe des Journals war in dem Moment ausverkauft, als sie an die Verkaufsstände kam.“ Sie strahlte buchstäblich. „Wir sind alle so stolz auf dich.“ Mit einem Arm drückte sie Carole Ann an sich. „Und jetzt musst du Emmett kennenlernen.“

„Darum bin ich hier.“ Carole Ann blickte über ihre Schulter zurück, als Tante Connie sie wegführte. Jeff betrachtete sie nachdenklich, und Vorfreude stieg in ihr hoch.

Doch das war albern. Es bestand kein Grund zur Vorfreude. Was immer es einmal gegeben hatte, existierte nicht mehr. Sie selbst hatte das Ende eingeläutet. Was man auch über sie sagen mochte, sie hatte jedenfalls stets die volle Verantwortung für ihr Handeln übernommen. Als sie Belle’s Grove – und Jefferson Drumm – verließ, hatte sie gewußt, dass es für immer war. Und nichts würde daran etwas ändern.

Mit einem entschlossenen Lächeln wandte sie sich ab und begrüßte die Leute, die sich in Tante Connies Haus versammelt hatten, um sie wiederzusehen. Sie wurde jedoch das Gefühl nicht los, von Jeff beobachtet zu werden.

Sie ahnte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass in dieser kleinen, hinterwäldlerischen Stadt etwas passieren würde.

Irgend etwas.

Und das sollte sich nicht nur auf Tante Connies Hochzeit beziehen.

2. KAPITEL

Und hier, mein Schatz, ist der romantischste Mann auf dieser Welt.“

Mit einer weit ausholenden Geste deutete Tante Connie auf einen großen, stattlichen, weißhaarigen Mann, der ihnen amüsiert entgegensah.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, soweit sie unter dem schneeweißen Schnurrbart zu sehen waren, dessen Spitzen bis zu den breiten Koteletten reichten. Die braunen Augen inmitten von so viel Weiß funkelten belustigt, als Carole Ann mit ihrer Tante näher kam.

Emmett Carson nickte ihr grüßend zu, doch obwohl er sie anschaute, hatte Carole Ann den deutlichen Eindruck, dass seine ganze Aufmerksamkeit der Frau an ihrer Seite galt. „Constance schmeichelt mir.“

„Constance!“ Tante Connie seufzte selig. „So hat mich niemand mehr genannt, seit ich ein kleines Mädchen war.“

Emmett nahm Tante Connies Hand in seine langen, schön geformten Hände. „Und das ist erst wenige Jahre her.“

Tante Connie wandte sich an ihre Nichte. Jugendliche Freude strahlte von ihr aus. „Begreifst du jetzt, warum ich ihn liebe?“

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