Mitternachtsfantasie

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Nachts sind alle Katzen grau? Von wegen! Immer, wenn es dunkel wird, nimmt Tulips spröde Bibliothekarin Amelia Beauchamp ihre Hornbrille ab und schlüpft in ein sexy Kleid, schwarze Netzstrümpfe und High Heels. Der Zweitjob als Cocktailkellnerin Amber bringt nicht nur Geld, sondern auch jede Menge Spaß. Problematisch wird es allerdings, als ihr heimlicher Schwarm Tyler Savage auftaucht - und sich vom Fleck weg in die heiße "Amber" verliebt. Plötzlich ist Amelia ihre eigene Rivalin! Denn nie und nimmer, davon ist sie überzeugt, könnte Tyler sich für die unscheinbare Maus aus der Bibliothek interessieren … oder doch?


  • Erscheinungstag 01.09.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783862786954
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sharon Sala

Mitternachtsfantasie

Roman

Übersetzung aus dem Amerikanischen von

Camilla Kneschke

MIRA® TASCHENBUCH

Band 55626

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Amber By Night

Copyright © 2003 by Sharon Sala

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises, S.A., Schweiz

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN epub 978-3-86278-695-4

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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1. KAPITEL

Die Gasse zwischen der Fourth Street und dem Beauregard Boulevard war nicht gerade der beste Ort in Tulip, Georgia, für eine Autopanne.

Tyler Savage lag unter seinem Wagen und fluchte über sein Pech und das schwache Licht. Und weil er sich so darauf konzentrierte, das Leck zu finden, aus dem das Öl tropfte, registrierte er die schnellen Schritte erst, als es fast zu spät war.

Er drehte sich auf die Seite und stellte fest, dass es sich um eine Frau handelte, die die Gasse entlanglief. Aus seiner Position konnte er sie nicht vollständig sehen, aber er bemerkte ihre außerordentlich langen Beine, die in einer grauen Jogginghose steckten, ihre schlanke Figur und ihre Brüste, die bei jedem Schritt verlockend wippten.

Tyler stieß einen anerkennenden Pfiff aus und grinste, als die Frau daraufhin stehen blieb. Doch bevor er unter dem Auto hervorkommen und sich vorstellen konnte, landete ein dicker Öltropfen auf seiner Nase und lief ihm in die Augen.

„Mist!“

Er griff nach einem Lappen und wischte sich Augen und Hände ab, während er unter dem Wagen herausrutschte, doch es war zu spät. Die Frau war verschwunden. Tyler fluchte leise und trat frustriert gegen einen Hinterreifen. Dann trottete er zu Raymond Earl Showalters Haus einige Straßen weiter. Raymond Earl führte die einzige Autowerkstatt in Tulip.

Tyler überlegte, wer die Frau gewesen sein mochte. Sie ähnelte keiner, die er kannte. Falls er sich eben nicht nur etwas eingebildet hatte, war eine neue Frau in der Stadt.

Während Tyler bei Raymond Earl Hilfe suchte, saß Amelia Beauchamp zusammengekauert auf dem Vordersitz von Raelene Stringers altem Wagen und hoffte, dass die Begegnung von vorhin keine Folgen haben würde.

Sie war kurz davor gewesen, aufzufliegen – zum ersten Mal, seit sie ihr Doppelleben führte. Doch am beängstigendsten war die Tatsache, dass es ausgerechnet Tyler Savage war, der sie beinah erwischt hätte.

Amelias Herz schlug immer noch heftig, als sie sich aufrichtete, um ihre Frisur zu richten und Make-up aufzulegen. Bei dieser Tätigkeit, die ihr inzwischen vertraut war, entspannte sie sich langsam.

Tyler Savage war der begehrteste Junggeselle von Tulip und ein großer Herzensbrecher. Dennoch hatte sie schon immer eine Schwäche für ihn gehabt. Dummerweise war sie ganz und gar nicht sein Typ. Amelia seufzte, als sie sich im Spiegel betrachtete. Nein, sie war gewiss nicht Tylers Typ, aber Amber schon. Wenn sie sich nur trauen würde, immer so wie Amber zu sein …

Mitternacht war lange vorüber, als Amelia sich ins Haus ihrer Tanten zurück schlich. Sie verschloss die Tür und seufzte vor Erleichterung.

Eine weitere Nacht voller Heimlichtuerei lag hinter ihr, und ihr blieben nur noch wenige Stunden Schlaf, bis sie wieder aufstehen musste. Als sie die Treppe hinaufging, achtete sie darauf, nicht auf die Stufe treten, die immer knarrte.

Das schöne Gesicht, das Amelia aus dem Spiegel ihrer Frisierkommode anstarrte, hätte ihre Tanten schockiert. Amelia beugte sich vor und nahm die Rubinohrringe ab. Dann bürstete sie ihr dichtes kastanienbraunes Haar und flocht es zu einem Zopf. Schließlich entfernte sie das Make-up. Die verräterischen Abschminktücher spülte sie die Toilette hinunter. In diesem Haus durfte nichts an Amber erinnern. Hier lebte Amelia.

Als sie den Jogginganzug auszog und hinten in ihren Schrank stopfte, hörte sie draußen eine Eule rufen – die einzige Zeugin ihres Doppellebens. Amelia zog ihr Nachthemd an und genoss den vertrauten Stoff auf ihrer Haut, der sich so sehr von dem roten Satin unterschied, den sie als Amber bei der Arbeit trug.

Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, fielen ihr die Augen zu. Sie seufzte noch und schlief tief und fest, bis sie Tante Wilheminas Stimme am Morgen hörte.

„Amelia! Zeit zum Aufstehen! Du kommst zu spät zur Arbeit.“

Amelia stöhnte und rollte sich aus dem Bett. Es war ihre eigene Schuld, dass sie sich so schlecht fühlte, doch wenn ihr Plan funktionierte, war es das wert.

Als sie damals zu ihren Tanten Wilhemina und Rosemary Beauchamp gekommen war, war sie ein dünnes, zu groß geratenes neunjähriges Mädchen gewesen. Die beiden Tanten waren ihre einzigen lebenden Verwandten, nachdem ihre Eltern bei einem Erdbeben in Mexiko ums Leben gekommen waren, wo sie als Missionare gearbeitet hatten.

Amelia war daran gewöhnt gewesen, viel herumzureisen und ständig neue Sitten kennenzulernen. Deshalb war es ein Schock für sie, bei ihren altjüngferlichen Tanten zu leben – genauso wie Amelias Ankunft ein Schock für ihre Tanten war. Aber die Beauchamps waren eine zuverlässige Familie. Was notwendig war, wurde getan. Amelia hatte sonst niemanden mehr, also war klar, dass sie blieb. Und so hatten die Tanten begonnen, ihre Nichte zumindest äußerlich in eine jüngere Version ihrer selbst zu verwandeln.

Trotzdem gelang es Amelia, sich ihr offenes Wesen zu bewahren. Während ihrer Zeit auf dem College in Savannah genoss sie sogar eine gewisse Unabhängigkeit. In dieser Zeit führte sie ein relativ normales gesellschaftliches Leben und hatte sogar einen ernsthaften Verehrer, der ihr erhalten blieb, bis sie ihm ihre Tanten vorstellte.

Amelia nahm an, dass er in die Zukunft geblickt und dort nicht bloß eine Ehefrau, sondern auch zwei ältliche Verwandte gesehen hatte, um die er sich würde kümmern müssen. Daraufhin hatte er die Flucht ergriffen.

Nach dieser Enttäuschung war Amelie nach Tulip zurückgekehrt und hatte sich im Laufe der Zeit unbewusst mehr und mehr ihren Tanten angeglichen. Sie hatte angefangen, sich wie sie zu kleiden und benahm sich auch wie sie. Sogar ihre Zukunft hatte sie von ihnen planen lassen.

Die Zeit hatte ihr gebrochenes Herz geheilt. Das Einzige, was sich nicht wiederherstellen ließ, war ihre Jungfräulichkeit. Doch darüber war sie froh. Sie hätte es gehasst, nicht nur eine alte Jungfer zu werden, sondern auch tatsächlich Jungfrau zu sein.

Irgendwann war ihr klar geworden, wie ihr Leben vermutlich aussehen würde in zwanzig, dreißig, sogar in vierzig Jahren. Sie konnte sich sehen, in diesem Haus, in derselben Stadt, mit der immer gleichen unauffälligen Kleidung – und immer allein. Sie liebte ihre Tanten sehr, aber sie hatte keineswegs die Absicht, wie sie zu enden. Sie wollte Abenteuer erleben und Aufregung. Sie wollte aus Tulip wegkönnen, wann immer sie Lust dazu hatte.

Deshalb brauchte sie ein neues Auto, doch das ließ sich vom Gehalt einer Bibliothekarin nicht finanzieren. Für die Beauchamp-Schwestern war der alte blaue Chrysler ausreichend, aber mit einem dreißig Jahre alten Wagen konnte Amelia nicht das Land bereisen.

Amelia war klar, dass ihre Tante erneut rufen würde, wenn sie sich nicht beeilte, also ging sie ins Bad. In Windeseile war sie angezogen, wobei sie ignorierte, dass das beigefarbene Hemdblusenkleid nicht gerade die günstigste Wahl für sie war.

Das Gesicht der letzten Nacht, das ihr eine geheime Freude bereitet hatte, das, mit dem sie gewagt hatte, anders zu sein und zu lachen, hatte sich zusammen mit ihrer Frisur gewandelt. Nun wirkte sie brav und sittsam.

Sie steckte ihr Haar auf, verzichtete völlig auf Make-up und benutzte nur etwas Feuchtigkeitscreme und einen Hauch pinkfarbenen Lippenstift. Zum Schluss setzte sie ihre Hornbrille, dann ging sie die Treppe hinunter. Es war Zeit für Miss Amelia, ihren Tag in der Stadtbibliothek zu beginnen.

„Setz dich, Mädchen.“ Wilhemina stellte ihr einen Teller mit frisch gebackenen Brötchen hin.

Amelia schob ihn beiseite. „Danke, Tante Witty, aber ich habe keinen Hunger.“

Wilhemina Beauchamp hob eine Augenbraue. Das genügte. Während Amelia zu essen begann, lächelte sie ihre Tante Rosemary an, die gerade ihre zweite Tasse Kaffee trank und aus dem Fenster starrte.

„Morgen, Tante Rosie“, sagte Amelia mit vollem Mund.

Rosemary blinzelte, als sie so in ihren Tagträumen gestört wurde, dann lächelte sie.

„Man spricht nicht mit vollem Mund“, bemerkte Wilhemina.

„Sei still, Willy!“ Rosemary tätschelte Amelia den Arm und schob ihr das Glas mit der selbst gemachten Pfirsichmarmelade hin. „Lass das Mädchen ausnahmsweise mal in Ruhe essen.“

„Ich sage dir schon seit achtzig Jahren immer wieder, dass ich nicht Willy heiße.“

Rosemary schob die Unterlippe vor. „Aber Amelia nennt dich …“

„Ich weiß. Als sie klein war, war mein Name für sie zu schwer auszusprechen, sodass ich ihr erlaubt habe, ihn abzukürzen. Und außerdem ist es deine Schuld. Sie dachte immer, du würdest mich Witty nennen, nicht Willy. Jetzt ist es zu spät, das noch zu ändern. Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen.“

Amelia hatte genug, sowohl von den Brötchen als auch vom Streit. „Wir sehen uns heute Abend.“

Während sie zur Bibliothek fuhr, spürte sie einen Anflug von Aufregung. Sie unternahm die ersten Schritte, um ihr Leben zu verändern. Ihre Arbeit als Kellnerin in einem Nachtclub war allerdings eher ein Sprung als ein Schritt. Das Schwierigste daran war für sie, an drei Abenden in der Woche dieses knappe rote Outfit zu tragen, das nur noch wenig der Fantasie überließ. Aber das Geld, das sie auf diese Weise verdienen konnte, war Anreiz genug, um ihre Hemmungen zu überwinden.

Sie summte vor sich hin, während sie die Hauptstraße ansteuerte. Dann parkte sie zwischen zwei Magnolienbäumen, die die Stelle markierten, an der Cuspus Albert Marquiside im Bürgerkrieg eine Horde Yankees aufgehalten hatte.

Vor etwa achtzig Jahren hatten die Marquisides darauf bestanden, einen Gedenkstein aufzustellen. Der war inzwischen längst bemoost, und niemand aus der Familie lebte mehr hier. Ein Gerücht besagte, sie wären alle während der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren nach Norden gezogen, aber das wollte keiner in Tulip glauben. Ein echter Südstaatler würde eher verhungern, als unter Yankees zu leben.

Tyler Savage bog von der Hauptstraße ab und steuerte auf das Postamt zu. Dank Raymond Earls Hilfe schnurrte der Motor seines Wagens wieder, und im Moment überlegte er, wie viel Dünger er kaufen sollte. Plötzlich wurde er gezwungen, scharf zu bremsen.

Effie Dettenberg war es offensichtlich egal, dass sie mitten auf einer Durchgangsstraße herumlief. Sie trat vor Tylers Wagen und sah ihn böse an. Tyler war sich vollkommen bewusst, dass er als der böse Junge dieser Stadt galt. Deshalb grinste er, zwinkerte Effie zu und fuhr weiter. Was ihm nicht bewusst war, war, dass noch jemand anders ihn beobachtete.

Amelia stapelte die Bücher auf, die sie gerade vom Rückgabetresen geholt hatte, und bemühte sich, den Mann in seinem Wagen draußen auf der Straße nicht anzustarren. Sie wusste ja, dass man so etwas nicht tat, aber Tyler Savage war mehr als einen flüchtigen Blick wert, und sie war immer noch dankbar dafür, dass sie bei ihrer überraschenden Begegnung letzte Nacht unerkannt flüchten konnte.

Tyler war über eins achtzig groß und vermutlich der begehrenswerteste Mann, den Tulip je hervorgebracht hatte. Er hatte schwarzes Haar, das immer zerzaust aussah, blaue Augen, die ständig zu strahlen schienen, selbst wenn sein sexy Mund das nicht tat. Seit Amelia alt genug war, ihn zu bemerken, träumte sie von Tyler Savage.

Nun seufzte sie. Warum mussten die gut aussehenden Männer immer solche Playboys sein? Es war niemand da, der ihr diese Frage hätte beantworten können, und außerdem spielte es sowieso keine Rolle. Männer wie er bemerkten Frauen wie sie gar nicht.

Amelia lächelte Effie Dettenberg zu, die gerade hereinkam. „Guten Morgen, Miss Effie. Sie sind ja früh unterwegs.“

Effie legte eine Hand auf ihre flache Brust, so außer sich, als wäre sie gerade der Hölle entronnen. „Haben Sie ihn gesehen?“

„Wen denn, Miss Effie?“

„Diesen Savage-Jungen! Er hätte mich fast überfahren. Leute wie er sollten nicht frei herumlaufen dürfen.“

Amelia bemühte sich, nicht zu lächeln. Dieser „Junge“ war über dreißig.

„Ich habe auch gesehen, wie er abgebremst hat.“

Effie Dettenberg schnaubte laut. „Trotzdem sollte er nicht frei herumlaufen dürfen bei dem Ruf, den er hat.“ Sie senkte die Stimme und blickte über ihre Schulter, um zu prüfen, ob auch niemand sie hörte. „Sie wissen doch, was man über die Savages sagt.“

Amelia versuchte zu ignorieren, dass ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte, aber ohne Erfolg. Was auch immer über Tyler Savage geredet wurde, war für sie von Interesse. „Nein, Ma’am.“

„Man sagt, sie wären früher Schmuggler gewesen. Und …“ Sie atmete tief ein und rückte die Brille auf ihrer Hakennase gerade. „Und sie haben sich mit Indianern eingelassen. Daher ihr pechschwarzes Haar und die ausgeprägten Wangenknochen.“

„Aber Miss Effie, das war vor fast zweihundert Jahren. Ihre christliche Einstellung hindert Sie doch sicher daran, ihm vorzuwerfen, was seine Vorfahren möglicherweise getan haben könnten.“

Effie fummelte an ihrer Handtasche herum und starrte nach draußen auf die Straße, als würde sie erwarten, dass Tyler gleich erschien und sie in die Sümpfe schleppte. Sie war bekannt für ihre lebhafte Fantasie.

„Na ja, vielleicht“, murmelte sie. „Aber Sie können nicht leugnen, dass er ganz schön herumkommt. Denken Sie an meine Worte, Amelia Beauchamp. Halten Sie sich fern von Männern wie ihm. Die machen nur Ärger.“

„Ja, Ma’am.“ Amelia dachte niedergeschlagen, dass Tyler für sie sowieso keine Bedrohung darstellte. Leider. „Kommen Sie, Miss Effie. Ich habe gerade eins dieser Handarbeitsbücher bekommen, die Sie so mögen. Es ist ein hübscher gehäkelter Schal auf dem Umschlag.“

Die Uhr schlug sechs, während Amelia mit ihrer Gabel spielte. Sie hatte weniger als drei Stunden Zeit, um ihre Tanten ins Bett zu schicken und mit Raelene Stringer zum Nachtclub zu fahren. Nun zuckte sie zusammen, weil ihre Gabel auf dem Teller ein lautes Kratzgeräusch verursachte. Ihre Tanten würden einen Schlaganfall bekommen, wenn sie wüssten, dass Amelia nicht nur im selben Etablissement arbeitete wie die „gefallene Frau“ von Tulip, sondern auch noch mit ihr zusammen zur Arbeit fuhr.

Wilhemina verzog ihr Gesicht. „Kratz nicht auf deinem Teller herum! Ich habe dir doch wohl bessere Manieren beigebracht.“

„Ja, Ma’am“, murmelte Amelia und seufzte.

Rosemary schnitt eine Grimasse. „Willy, du ärgerst dich zu viel. Das ist nicht gut für die Verdauung. Ich habe gelesen, dass man von unangenehmen Mahlzeiten tatsächlich Magengeschwüre bekommen kann.“

Wilhemina schnappte nach Luft. „Meine Mahlzeiten sind nie unangenehm!“

„Ich habe nicht behauptet, das Essen wäre es. Ich meinte einfach, dass du manchmal …“

Amelia ging dazwischen. „Vergesst es, alle beide.“

Die Schwestern sahen sich böse an, während Amelia anfing, das Geschirr abzuräumen. „Ich wasche ab. Schaltet schon mal den Fernseher ein. Gleich kommt eure Lieblingssendung.“

Rosemary bekam vor Aufregung rote Wangen. „Oh, ich liebe das ‚Glücksrad‘. Vielleicht kann ich eines Tages mal mitmachen.“

Wilhemina schnaubte. „Mach dich nicht lächerlich! Das ist ein Glücksspiel, und wir spielen nicht. Außerdem ist Kalifornien weit weg. Wir müssten fliegen, und wir fliegen nicht.“

„Willy, ich glaube, du wirst allmählich senil. Erst neulich habe ich gelesen …“

„Ich bin nicht senil“, unterbrach Wilhemina sie. „Und du liest zu viel.“

Amelia sah auf die Uhr, während sie das Geschirr zusammenstellte.

Zwei Stunden später rutschte sie nervös auf ihrem Stuhl herum und fragte sich, ob ihre Tanten wohl jemals schlafen gehen würden. Doch dann erschien zu ihrer Erleichterung Tante Witty in ihrem blauen Bademantel oben an der Treppe. „Amelia kommst du nicht rauf? Es ist fast halb neun.“

Die Tanten glaubten fest daran, dass man früh ins Bett gehen und früh aufstehen sollte, und sie wichen nie von dieser Routine ab. Amelia biss sich auf die Unterlippe. Sie hasste es zu lügen, aber noch mehr hasste sie es, kein eigenes Auto zu haben.

„Noch nicht, Tante Witty. Ich will erst das Buch zu Ende lesen. Ich bin gerade in einem richtig guten Teil.“

Wilhemina brauchte gar nicht erst nachzusehen, um zu wissen, dass es sich um einen Liebesroman handelte. Die las Amelia am liebsten. „Du musst aufhören, diesen Schund zu lesen. Der bringt dich nur durcheinander.“

Als Tante Wittys Tür zufiel, blickte Amelia wieder auf die Uhr. Dann legte sie das Lesezeichen in das Buch und lief zu dem Schrank im Erdgeschoss, aus dem sie eine kleine Reisetasche und ein Paar Joggingschuhe nahm. Alles, was sie für ihre Arbeit brauchte, war in der Tasche. Sie schaltete das Licht aus und schloss leise die Haustür hinter sich.

Die Straßen waren fast leer. Amelia hoffte, dass sie niemanden traf, dem sie erklären müsste, weshalb sie so seltsam gekleidet war und sich so seltsam benahm, während sie zu dem zwei Blocks entfernten Treffpunkt lief.

Der dunkelgraue Jogginganzug war in der Dunkelheit wie eine Tarnkleidung. Es war Donnerstag, und es war fast Zeit für Amber Champion, im „Old South“ außerhalb von Savannah ihre Arbeit anzutreten. Raelene wartete bereits.

Sie kicherte, als Amelia einstieg. „Ich dachte schon, du kommst nicht.“ Dann schaltete sie die Scheinwerfer ein und startete. Man konnte dem Motor anhören, dass eine Reparatur überfällig war.

Als Amelia den Job bekommen hatte, war ihre Aufregung darüber schnell dahingeschwunden, weil ihr klar geworden war, dass sie ein Problem hatte, denn es fuhren nur wenige Busse zwischen Tulip und Savannah hin und her.

Raelene hatte einen Blick auf die große, langbeinige Frau geworfen, die aus dem Büro des Chefs gekommen war, und hätte fast ihr Kaugummi verschluckt. Die Bibliothekarin von Tulip war der letzte Mensch, den sie an diesem Ort erwartet hätte.

Der Nachtclub war sehr beliebt. Viele Männer nahmen an, dass eine Frau, die in so einen Laden arbeitete, zu mehr bereit war, als nur Drinks zu servieren. Raelene machte das nichts aus. Sie hatte auf diese Weise schon viele Freunde gewonnen. Sie kannte Amelia aus der Bibliothek, sagte jedoch keinen Ton, als diese ihr als Amber Champion vorgestellt wurde, sondern bot ihr an, sie im Auto mitzunehmen. Daraus war eine Freundschaft entstanden, die beide noch immer überraschte.

Amelia zuckte zusammen, als der Motor etwas von sich gab, das wie ein Husten klang. Wenn Raelenes Auto auf der Hauptstraße den Geist aufgab, könnte es Komplikationen geben, überlegte sie, denn angeblich saß sie ja zu Hause und war in einen Liebesroman vertieft.

Zu ihrer Erleichterung schien sich der Motor wieder zu erholen, und es wurde Zeit, sich in Amber zu verwandeln. Sie klappte die Sonnenblende herunter, holte ihr Make-up aus der Tasche und ersetzte die Brille durch Kontaktlinsen.

Raelene warf einen neidischen Blick auf Amelias kastanienbraune Locken. „Ich habe mal versucht, diese Haarfarbe hinzukriegen, aber es ist ein Kupferton herausgekommen, der mich an das Bettgestell im Schaufenster von Murphys Möbelladen erinnert hat. Und deine Augen! Du solltest immer Kontaktlinsen tragen. Ich glaube nicht, dass ich vor dir schon mal jemanden getroffen habe, der blaugrüne Augen hatte.“

„Mein Dad hatte welche.“ Amelia machte eine kurze Pause, während Raelene über eine alte Brücke fuhr. Es war schon bei den Schlaglöchern in der Straße schwer genug, Make-up aufzulegen, auf der Brücke war es unmöglich. „Und ich trage eine Brille, weil es einfacher ist. Tante Witty sagt, ich sehe damit professionell aus.“

„Quatsch. Sie verbirgt bloß deine Augen und lässt dich zehn Jahre älter aussehen. Wenn du schon eine Brille brauchst, solltest du dir eine schicke, moderne kaufen. Ich habe ein Foto gesehen …“

Amelia ließ Raelene reden, und bald waren sie am Ziel.

Der Parkplatz füllte sich bereits, was darauf schließen ließ, dass eine Menge los war im Laden.

Amelia steckte ihre Sachen weg und lockerte ihr Haar auf. „Wir sollten uns beeilen. Tony bekommt einen Anfall, wenn wir uns verspäten.“

„Also, Tyler, was denken Sie? Wenn Sie mir Ihre nächste Erdnussernte verkaufen, schneiden Sie auf jeden Fall gut ab.“

Tyler grinste. Seth Hastings verstand sich großartig auf Warentermingeschäfte. Und die Tatsache, dass seinem Vater eine der größten Fabriken der Gegend gehörte, schadete seinem Ruf auch nicht gerade.

„Ja, Seth, ich schätze, ich könnte viel verdienen, außer ich habe eine schlechte Ernte und muss die von jemand anderem kaufen, um meinen Vertrag mit Ihnen zu erfüllen.“

„Sie wissen, dass das nicht passieren wird. Sie sind einer der besten Farmer im ganzen Staat. Sie hatten noch nie eine schlechte Ernte, seit Sie angefangen haben, Hosen mit Reißverschlüssen zu tragen.“

„Ich war zu viele Male zu verdammt nah dran, um das für selbstverständlich zu halten.“ Tyler lehnte sich zurück. „Aber ich werde das Risiko eingehen.“

„In Ordnung.“ Seth grinste. „Das schreit nach einer Feier. Und ich weiß den richtigen Ort dafür. Kennen Sie das ‚Old South‘?“

„Nein, aber ich habe den Eindruck, das wird sich bald ändern.“

Amelia, die nun Amber war, sah in dem schwachen Licht aus, als würde sie glühen. Ihr perfekter Körper steckte in rotem Satin und etwas, das dem Badeanzug der Bademeisterin von Tulips öffentlichem Schwimmbad ähnelte, nur dass Lorna kein schwarzes Netzteil daran hatte, das beim Gehen wippte. Außerdem waren ihre Beine auch nicht so lang wie Amelias, und sie trug keine schwarze Netzstrumpfhose.

Während Amelia zwischen zwei Tischen hindurchging, versuchte sie zu ignorieren, dass sich die Hand eines Mannes auf ihren Oberschenkel legte. „Ich komme gleich zu Ihnen, Sir“, sagte sie.

Er grinste. „Ich warte.“

Sie kämpfte gegen den Drang an, ihm die Drinks auf ihrem Tablett ins Gesicht zu schütten, und ging zum nächsten Tisch weiter.

Seth stieß einen leisen Pfiff aus, während er und Tyler sich an einen Tisch in einer dunklen Ecke des Clubs setzten. „Wow.“

Tyler folgte seinem Blick und grinste, als er die Frau in Rot sah, ihre langen Beine, das wippende Netzteil – und dann stockte ihm der Atem. Er beobachtete, wie sie mit einer unangenehmen Situation fertig wurde, eine Bestellung aufnahm und grapschenden Händen auswich, ohne ihr Lächeln zu verlieren.

Zu seinem Entsetzen hatte er plötzlich das Gefühl, um ihn herum würde sich alles drehen, und er hielt sich am Tisch fest, damit die Welt wieder in Ordnung kam. Es wäre schrecklich gewesen, wenn er in Ohnmacht gefallen wäre, ohne je den Namen dieser Frau erfahren zu haben. Sie erregte ihn so sehr, dass er unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutschen musste. So stark und so schnell hatte er nicht mehr auf eine Frau reagiert, seit an seinem sechzehnten Geburtstag Kissy Beth Syler vor seinen Augen nackt ins Wasser gesprungen war. Seitdem hatte er eine Menge für kleine Seen übrig, denn das war eine denkwürdige Art für einen Jungen gewesen, seine Unschuld zu verlieren.

„Was für ein Klasseweib“, murmelte Seth.

Tyler fand, dass dieses Wort es nicht mal annähernd traf.

Dann grinste Seth. „Großartig, sie kommt hierher. Wir sitzen an einem ihrer Tische.“

„Was hätten Sie denn gern?“

Amelia stand mit Block und Stift da und starrte auf einen Punkt links von den Männern. Sie sah den Gästen nie direkt in die Augen. Das war ihre Art, einigermaßen anonym zu bleiben. Aber sie hätte sich gar keine Mühe zu geben brauchen. Als Amber war sie von ihrem Image als brave Bibliothekarin so weit entfernt wie ein Diamant von Kohlenstoff.

Der Mann, der mit dem Rücken zur Wand saß, murmelte etwas Unverständliches und zwang Amelia auf diese Weise, ihn doch anzusehen. Sofort begann ihr Herz wild zu klopfen.

Ihre Blicke trafen sich. Tyler sah in Augen, die so grün waren, dass sie ihn an tiefe Bergseen erinnerten. Er blinzelte. Vielleicht waren sie aber auch blau. Er hätte schwören können, den Himmel in ihnen sehen zu können. Nun bemerkte er, dass die Frau unter ihrem Make-up blass geworden war. Sie öffnete den Mund ein bisschen, sodass er ihre weißen Zähne erkennen konnte, und es sah aus, als wollte sie sich auf die Unterlippe beißen.

Amelia stöhnte innerlich. Lieber Himmel, dachte sie. Ich wusste, dass das irgendwann geschehen würde. Was soll ich jetzt bloß tun? Wenn er das in Tulip herumerzählt, bin ich ruiniert!

Da war er, der Mann ihrer Träume, und sie musste gegen den Drang ankämpfen davonzulaufen. In diesem Moment begann die Band mit einer Jazznummer, die es ihr fast unmöglich machte, etwas zu verstehen. Sie beugte sich vor.

„Entschuldigen Sie, Sir, aber ich habe Ihre Bestellung nicht verstanden. Was hätten Sie gern?“

Beide Männer bekamen einen überdurchschnittlich guten Einblick in den Ausschnitt ihres trägerlosen Oberteils.

Tyler schien es, als schwankte der Raum. Er spürte das starke Bedürfnis, diese Frau auf den Tisch zu ziehen, ihr das rote Trikot abzusteifen. Und zu seinem Entsetzen sprach er das auch aus: „Was ich möchte? Sie!“

Lieber Himmel hatte er das wirklich gesagt? „Äh, ich meinte … Entschuldigen Sie. Seth bestellen Sie etwas. Ich muss … Wo ist …“

Amelia war erleichtert. Er hatte sie nicht erkannt. „Die erste Tür links im Flur.“

Tyler spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, obwohl es eine andere Körperstelle gab, die die Abkühlung wesentlich nötiger gehabt hätte. Dann trocknete er sich mit Papiertüchern ab.

Was zur Hölle ist da gerade mit mir passiert? fragte er sich.

Sein Spiegelbild konnte ihm auch keine Antwort geben. Er warf die Papiertücher in den Korb und ging langsam zurück.

Autor

Sharon Sala
Es war ein Job, den sie hasste, der sie dazu brachte, ihre ersten Zeilen auf einer alten Schreibmaschine zu verfassen und es war ihre Liebe zu diesem Handwerk, die sie schreiben ließ. Ihre ersten Schreibversuche landeten 1980 noch unter ihrem Bett. Ein zweiter Versuch folgte 1981 und erlitt ein ähnliches...
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