Mörderisches Paradies

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Beth Andersen, Managerin in einem exklusiven Yachtclub in Miami, macht am Strand einen grauenhaften Fund: ein menschlicher Schädel. Doch noch bevor sie ihn jemandem zeigen kann, wird er beiseite geschafft. Aber Beth weiß was sie gesehen hat und forscht nach. Ein gefährliches Unterfangen, denn plötzlich fühlt sie sich bei jedem Schritt beobachtet. Wer will verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt? Und was hat der mysteriöse Keith Henson damit zu tun? Ganz offensichtlich sagt er über seine Mission in Florida nicht die Wahrheit. Dennoch wirft Beth in den warmen Nächten auf seiner Yacht alle Vorsicht über Bord ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761813
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham

Mörderisches Paradies

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Island

Copyright © 2006 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Bernd I. Gutberlet

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Getty Images, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-181-3

www.mira-taschenbuch.de

 

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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PROLOG

“Du willst sie doch nicht schon wieder füttern!”

Molly Monoco sah auf, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. Mit viel Hingabe hatte sie in der Kombüse ein reichhaltiges Lunchpaket zusammengestellt. Ted, dem das ganz und gar nicht gefiel, war mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Anscheinend fiel ihm jetzt erst auf, wie liebevoll sie in der Kombüse das Essen vorbereitete.

Ihr Mann klang sowohl verärgert als auch abgestoßen.

Denn er wusste, was sie vorhatte.

Sie konnte es ihm wirklich nicht vorwerfen. Sein ganzes Leben hatte Ted hart gearbeitet, damit sie ihren Ruhestand so verbringen konnten, wie sie es taten. Sie stammten beide aus kubanischen Familien, die lange vor den großen Flüchtlingsströmen nach Florida gekommen waren. Auch wenn Molly mit Mädchennamen Rodriguez hieß, war ihr Vorname schon immer Molly gewesen. Genau wie Ted immer schon Theodore geheißen hatte. Ihre Eltern hatten sie in die USA gebracht, weil sie an den amerikanischen Traum glaubten, und ihre Kinder dazu erzogen, sich diesen Traum auch zu erfüllen.

In den ersten Jahren hatte Ted in den Nachtclubs von Miami Schlagzeug gespielt, später arbeitete er als Hilfskellner und Kellner, als Wirt und Tänzer. Irgendwann verliebte er sich in die Salsa-Musik. Daher blieb er beim Schlagzeug und tanzte und kellnerte weiter. Dann, als er genug Geld verdient hatte, machte er ein eigenes Tanzstudio auf – nur für Salsa. Aus dem einen Studio wurden mehrere, die er dann mit gutem Gewinn weiterverkaufte.

Arbeit. Das war Teds ganzes Leben gewesen. Deshalb hatte er wenig Verständnis für Menschen, die sich nicht selbst halfen.

Das verstand Molly durchaus.

Aber auch sie hatte Ideale im Leben und versuchte Menschen zu helfen, die ihre Hilfe vielleicht nicht verdient, sie aber durchaus nötig hatten.

Als gut situierter Pensionär pflegte er seine Hobbys, zu denen die technische Ausrüstung seiner Jacht gehörte. Wenn er damit nicht so beschäftigt gewesen wäre, hätte er schon viel früher bemerkt, was sie vorhatte!

Sie lächelte. Selbst wenn er wütend war wie jetzt, fand sie ihn noch immer genauso attraktiv wie den jungen Mann, in den sie sich vor über vierzig Jahren verliebt hatte. Groß, aber nicht zu groß, und immer noch sehr fit. Das Haar auf seiner Brust war längst grau – wie auch die dünneren Haare auf seinem Kopf –, aber das kümmerte Molly nicht weiter. Nach all den Jahren ihrer Ehe, den Höhen und Tiefen, liebte sie ihn noch genauso wie am ersten Tag – auch wenn er seiner Jacht den wenig attraktiven Namen “Retired!” gegeben hatte, wo sie sich so viele charmantere Namen hätte vorstellen können.

Sein Ärger würde wieder verfliegen. Das war immer so. So wie er sich mit Wonne in immer neuen technischen Spielereien verlieren konnte, so war er insgeheim eigentlich ganz zufrieden damit, dass seine Frau sich um andere Menschen kümmerte.

“Ach Ted, was soll ich denn sonst machen?”, fragte sie sanft.

“Deinem Mutterinstinkt das Handwerk legen”, grollte er und verdrehte die Augen. “Wer weiß, ob wir es nicht einmal mit Kriminellen zu tun bekommen. Ganz bestimmt werden wir irgendwann an Verbrecher geraten!”

“Oder orientierungslose junge Menschen, die ein wenig Hilfe bitter nötig haben”, gab sie selbstbewusst zurück. Molly hatte sich ihr ganzes Leben lang um andere gekümmert. Gemeinsam mit ihrer Highschool-Liebe Ted hatte sie in vielen Clubs gearbeitet. Als sie dann nicht die Kinder bekommen konnte, die sie so gern gehabt hätte, engagierte sie sich anderweitig: in der Kirche, für Obdachlose und alle möglichen guten Zwecke – von Spendenaktionen bis zu Suppenküchen. Das konnte sie sich leisten, als Ted immer mehr Geld verdiente.

Und sie konnte sich noch immer glücklich schätzen. Mit fünfundsechzig war sie zwar kein junges Küken mehr. Aber sie war kerngesund und gut in Form und freute sich schon wegen Ted, dass man sie immer noch als attraktive Frau bezeichnete.

“Es ist ein Lunchpaket, Ted”, versicherte sie. “Nur ein bisschen was zu essen. Und es ist sowieso das letzte Mal, bald brechen wir doch ohnehin wieder auf.”

Er seufzte, aber dann erhellte ein kleines Lächeln sein Gesicht und er ging zu ihr und umarmte sie. “Womit habe ich dich eigentlich verdient?”, fragte er.

“Glück gehabt”, schlug sie vor und lächelte.

Lachend gab er ihr einen Klaps auf den Hintern. Sie kicherte. Mit ihm zu flirten, machte immer noch Spaß.

Zwar waren sie beide älter geworden, und ein Klaps auf den Allerwertesten führte nicht gleich zu einem Schäferstündchen in der Kabine. Aber Viagra benutzten sie trotzdem nicht. Ted hatte es am Herzen und Molly erlaubte ihm nicht, es zu nehmen. Mit ihrer wohltuend echten Zuneigung und Vertrautheit nach all den Jahren brauchten sie sowieso keine chemischen Hilfsmittel.

In seinen Armen dachte sie wieder einmal, was für ein wunderbares Leben sie führten und wie schön es war, dass sie immer noch zusammen waren und jetzt diese Jacht besaßen – die Retired! Sie konnten hinfahren, wo immer sie wollten, sich Träume erfüllen, die Welt entdecken und mit einigem Luxus tun, wonach ihnen auch immer der Sinn stand.

“Okay, Frau, wir müssen los, also spiel die Wohltätige, damit wir endlich ablegen können”, sagte er schließlich.

“Gut.”

Molly ging zur Leiter, die an Deck führte, die Essenspakete im Arm. Während sie nach oben stieg, summte sie leise.

Für einen Moment sah sie einfach nur verwirrt aus und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

Dann brach ihr munteres Summen plötzlich ab.

Ihr Mund bewegte sich.

Aber sie bekam keinen Laut heraus.

Ted hörte ein kleines Geräusch vom Deck.

“Molly?”

Keine Antwort.

“Molly?”, rief er wieder, diesmal ein wenig lauter.

Er fühlte einen kleinen Stich in seinem Herzen. Vielleicht war sie hingefallen, als sie ins Schlauchboot steigen wollte, und hatte sich wehgetan. Oder noch schlimmer? Schließlich waren sie beide nicht mehr die Jüngsten. Hatte sie vielleicht einen Anfall gehabt? War sie womöglich bewusstlos ins Wasser gefallen?

Ted sprang auf, weil ihm eine innere Stimme sagte, dass Gefahr im Anzug war.

Er rannte an Deck.

Und blieb wie angewurzelt stehen.

Zwei Gedanken beherrschten ihn.

Wie hatte er nur so dumm sein können!

Und …

Molly, ach Molly, meine Molly …

“Beweg dich, Ted”, sagte eine barsche Stimme.

“Ich kann Ihnen nicht sagen, was Sie wissen wollen”, protestierte er mit Tränen in den Augen.

“Das glaube ich aber schon.”

“Nein! Ich schwör’s, bei Gott! Ich würde doch, wenn ich es könnte!”

“Denken Sie nach, Ted. Und glauben Sie mir, Sie werden mir schon noch erzählen, was Sie gefunden haben.”

1. KAPITEL

Es war ein Totenschädel.

Das war Beth Anderson klar, nachdem sie Staub, Grashalme und Reste von Palmblättern weggewischt hatte.

“Und?”, fragte Amber ungeduldig.

“Was ist es?”, hakte Kimberly nach, die direkt hinter Amber stand und neugierig über ihre Schulter spähte.

Beth warf ihrer vierzehnjährigen Nichte und deren bester Freundin einen schnellen Blick zu. Vor ein paar Minuten noch hatten sie angeregt geschwatzt wie immer – wie fies sich ihre Freundin Tammy benommen hatte, weil sie ihre eigene Freundin Aubrey so schlecht behandelte. Aubrey suchte jedes Mal bei Amber und Kimberly Trost, wenn Tammy sie mal wieder gedisst hatte. So was machten sie nie, beteuerten die beiden Beth, sie würden Tammy immer direkt ins Gesicht sagen, was sie dachten.

Beth mochte die Mädchen sehr und war gern mit ihnen zusammen. Und es ging ihr immer wieder nahe, dass sie eine Art Ersatzmutter für Amber war, die ihre leibliche Mutter als kleines Mädchen verloren hatte. Längst hatte sie sich daran gewöhnt, endlose Diskussionen mitzuhören über die angesagteste Musik, die angesagtesten Talkshows und die angesagtesten Kinofilme – und wer gut oder schlecht gecastet war, denn die beiden wollten Schauspielerinnen werden.

Aber dieses Mal verstummte ihr unaufhörliches Geschnatter von einem Moment zum nächsten.

Just nachdem Kimberly mit ihrem Zeh an das merkwürdige Objekt gestoßen war.

Als Amber das Ding näher in Augenschein genommen hatte, rief sie ihre Tante.

“Los! Graben Sie es aus!”, spornte Kimberly Beth an.

“Ich … vielleicht besser nicht”, meinte Beth zögernd und biss sich auf die Unterlippe.

Denn es war nicht nur ein Schädel. Auch wenn sie es vor lauter Dreck und Schmutz nicht genau sah und Gras und Sand den Blick behinderten, erkannte sie mehr als einen Knochen.

Da sind sogar noch Haare, dachte Beth und spürte ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

Und Gewebereste.

Auf keinen Fall sollten die Mädchen mehr von dem sehen, was sie da aufgestöbert hatten.

Selbst Beth wurde plötzlich eiskalt. Sie fasste den Schädel nicht an, sondern legte ein Palmblatt darüber, um die Stelle beim nächsten Mal wiederzufinden.

Hastig klopfte sie sich den Dreck von den Händen und stand auf. Sie mussten schnell zurück zu ihrem Bruder, der gerade ihr Zeltlager aufbaute, und einen Funkspruch an die Polizei senden, denn mit dem Handy hatte man in dieser Gegend keinen Empfang.

Als ihr eine Schlagzeile wieder einfiel, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl und es lief ihr kalt über den Rücken. Molly und Ted Monaco – zwei erfahrene Segler wie vom Erdboden verschluckt.

Zuletzt waren die beiden vor Calliope Key gesehen worden, also genau hier.

“Lasst uns Ben holen”, schlug sie vor und versuchte dabei sicherer zu klingen, als sie sich fühlte.

“Es ist ein Schädel, oder?”, fragte Amber.

Sie war ein hübsches Mädchen, groß und schlank, mit haselnussbraunen Augen und langen dunklen Haaren. In ihrem Badedress – ein einigermaßen züchtiger Bikini – zog sie die Aufmerksamkeit von Jungen auf sich, die viel zu alt für sie waren, zumindest nach Beths Meinung. Kimberly war das Gegenteil von Amber: zierlich, blond und mit hellblauen Augen, aber ebenso bildschön.

Manchmal kam es ihr wie eine Belastung vor, für zwei derart hübsche Mädchen verantwortlich zu sein. Sie wusste, dass sie sich meistens zu viele Sorgen machte. Aber die Vorstellung, den Mädchen könnte etwas zustoßen …

Nun gut, sie war die Erwachsene. Verantwortlich. Und nach dieser Verantwortung musste sie jetzt auch handeln.

Allerdings waren sie mehr oder weniger allein auf der Insel, ohne Telefon, ohne Auto, ohne den geringsten Luxus. Ein beliebtes Ziel für die Segler der Gegend, aber abgelegen und verlassen.

Bis nach Miami waren es zwei bis drei Stunden mit laufendem Motor, etwas näher lag Fort Lauderdale, und bis zu den nächstgelegenen Inseln der Bahamas dauerte es nur eine knappe Stunde.

Sie atmete ein und wieder aus. Ganz langsam.

Wie schnell sich die Dinge änderten. Vor ein paar Minuten noch war sie von der Einsamkeit der abgelegenen Insel ganz begeistert gewesen. Ihr gefiel, dass es hier keine Kioske gab, keine Autos oder irgendwelche anderen Boten der Zivilisation.

Aber jetzt …

“Könnte ein Schädel sein”, gab Beth zu und zwang sich zu einem Grinsen. Sie hob die Hände. “Vielleicht auch nicht”, log sie dann. “Deinem Vater wird das nicht gefallen, Amber, wo er diesen Urlaub so lange geplant hat, aber …”

Plötzlich verstummte sie. Obwohl sie weder Schritte noch Blätter rascheln gehört hatte, tauchte auf einmal ein Mann vor ihnen auf.

Er kam aus einem schmalen Pfad, den die typischen Büsche und Palmen der Insel völlig überwucherten.

Gerade diese unberührte Natur machte für viele Segler die Attraktion der Insel aus. Man war fernab von der Welt.

Warum nur alarmierte sie dieser Mann so?

Beth rief sich zur Vernunft und beschloss, dass er genau im richtigen Moment kam. Er hatte ausgeblichenes Haar und war tief gebräunt. Nein, nicht nur gebräunt, sondern geradezu verbrannt. Seine Haut hatte diese tief eingefärbte Farbe, die Segler so oft bekamen. Gut gebaut, aber nicht übermäßig muskulös, trug er ausgewaschene abgeschnittene Jeans und Mokassins ohne Socken. Da seine Füße genauso braun wie der Rest seines Körpers waren, musste er viel Zeit barfuß verbracht haben.

Wie einer dieser Typen, die auf einem Boot von Insel zu Insel fuhren. Einer, der sich auskannte. Der an Orten campte, wo es keinerlei Annehmlichkeiten gab.

Und er trug eine Sonnenbrille.

Warum auch nicht, sagte sie sich. Sie trug eine Sonnenbrille und die Mädchen auch. Warum also kam ihr das verdächtig vor, als hätte er etwas zu verbergen?

Diese komischen Gedanken hatte sie nur, weil sie gerade einen Schädel gefunden hatten. Da war ein wenig Panik ganz normal. So arbeitete die menschliche Psyche nun einmal. Wenn sie unter anderen Umständen auf der Insel jemandem begegnet wäre, hätte sie sich nichts weiter dabei gedacht.

Aber sie hatte vor einer Minute einen Totenschädel entdeckt und sich an das nie aufgeklärte Schicksal von Ted und Molly Monoco erinnert, die auch hier gewesen waren und dann plötzlich verschwunden waren …

Dem Sonnenuntergang entgegensegelten?

Ein Freund hatte die beiden als vermisst gemeldet, nachdem sie ihn nicht wie sonst immer angefunkt hatten.

Und jetzt hatten sie den Schädel genau da gefunden, wo die beiden zuletzt gesehen worden waren.

Deshalb war sie alarmiert und schaute den Mann einfach nur an.

Mit ihren vierzehn Jahren verspürte Amber in einer solchen Situation kein Gefühl von Gefahr. Ihr Vater war einer dieser Segler, daher kannte sie diese Leute und war ihnen gegenüber aufgeschlossen. Sie war nicht dumm oder naiv und bestimmt nicht vertrauensselig – immerhin ging sie in Miami zur Schule. Wenn sie es für notwendig hielt, konnte sie sehr vorsichtig sein.

Aber im Moment hielt sie das nicht für notwendig.

Sie lächelte den Mann an und sagte: “Hi.”

“Hi”, antwortete er.

“Hi”, begrüßte ihn auch Kim.

Amber stupste Beth an. “Äh … hi.”

“Keith Henson”, sagte der Mann und sah sie an, auch wenn sie seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht erkannte. Doch sein Gesicht hatte angenehme Züge. Markant, mit hohen Wangenknochen. Und seine Stimme war tief und kraftvoll.

Er hätte ein Sprecher für Werbespots oder ein Model sein können.

“Ich bin Amber Anderson”, sagte ihre Nichte. “Das ist meine Freundin Kim Smith und das ist meine Tante Beth.” Da sie offensichtlich neugierig war, fuhr sie fort: “Wir sind zum Campen hier.”

“Vielleicht”, sagte Beth schnell.

Amber schnitt eine Grimasse. “Ach, komm! Nur weil wir …”

“Wie geht es Ihnen, Mr. Henson?”, fragte Beth und schnitt ihrer Nichte damit das Wort ab. Außerdem machte sie einen Schritt nach vorn, weg von ihrem Fund. “Schön, Sie kennenzulernen. Machen Sie hier Ferien? Wo kommen Sie denn her?”

Prima, das klang ganz harmlos. Als hätte sie keinerlei Hintergedanken.

“Neuankömmling. Bin eigentlich eine Art Rumtreiber”, sagte er lächelnd und reichte ihr seine Hand. Eine schöne Hand, mit langen Fingern, und ebenso braun wie der Rest von ihm. Ordentlich geschnittene saubere Fingernägel. Schwielen auf der Handfläche. Er arbeitete mit seinen Händen. Bestimmt ein echter Segler oder etwas Ähnliches.

Als Beth seine Hand berührte, hatte sie plötzlich die lächerliche Vorstellung, er würde im nächsten Moment ihr Gelenk verrenken und seine Finger eng um ihre Kehle schließen. Diese Angst war so real, dass sie am liebsten den Mädchen befohlen hätte, wegzulaufen.

Er drückte ihre Hand fest, aber nicht zu kräftig. “Amber, Kim”, sagte er dann und schüttelte auch ihnen die Hand.

“Seid ihr hier aus der Gegend?”, fragte er und lächelte die Mädchen an. Anscheinend hatte er Beth schon abgeschrieben.

Schützend schob sie sich zwischen die beiden Mädchen und legte ihre Arme links und rechts um die beiden. Auch wenn sie sich wie ein übervorsichtiger Wachhund vorkam.

“Genau”, sagte Amber.

“Mehr oder weniger jedenfalls”, ergänzte Kim.

“Ich meine, wir sind nicht von der Insel hier, aber wir kommen aus der Gegend”, schloss Amber.

Hensons Lächeln vertiefte sich.

Beth versuchte ruhig zu atmen und sagte sich, dass sie einfach zu viele Fernsehkrimis sah. Es gab keinen Grund für ihren plötzlichen Drang, die Mädchen vor diesem Mann zu beschützen.

Aber es gab auch keinen Grund, ihm einfach so zu vertrauen.

“Wollen Sie auch hier auf der Insel campen?”, fragte Beth.

“Ich weiß noch nicht genau. Ich bin mit ein paar Freunden unterwegs … Wir tauchen und angeln ein bisschen. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir Lust auf Campen haben oder nicht.”

“Wo sind denn Ihre Freunde?”, fragte Beth. Klang das zu scharf, überlegte sie sofort.

“Im Moment bin ich allein unterwegs.”

“Ich habe Ihr Schlauchboot gar nicht gesehen”, zog Beth nach. “Eigentlich habe ich überhaupt kein anderes Boot in der Gegend gesehen.”

“Es liegt da draußen”, antwortete er. “Die ‘Sea Serpent’. Sie gehört meinem Freund Lee, und er hält sich für einen echten Abenteurer. Seid ihr ganz allein hierher gesegelt?”

Natürlich konnte das eine ganz harmlose Frage sein, aber nicht für Beths Ohren. Nicht in dieser Situation.

Seit Jahren schwor sie sich, endlich Karateunterricht zu nehmen, hatte bisher aber noch nicht damit angefangen.

In ihrer Handtasche lag immer Pfefferspray. Aber für den Spaziergang mit den Mädchen hatte sie die Tasche natürlich nicht mitgenommen. Sie hatte überhaupt nichts bei sich. Wie die Mädchen trug sie nur ihren Badezeug und Sandalen.

“Seid ihr allein?”, wiederholte Keith Henson höflich.

Höflich oder drohend?

“Aber nein. Wir sind mit meinem Bruder hier. Und einer ganzen Gruppe Leute.”

“Eine ganze …”, begann Amber.

Beth zwickte sie in die Schulter.

“Aua”, entfuhr es Amber.

“Eine ganze Reihe Freunde meines Bruders sind auf dem Weg hierher. Segler, wissen Sie, handfeste Kerle, die Bierflaschen mit den Zähnen aufmachen”, sagte Beth und versuchte dabei, so locker wie möglich zu klingen.

Amber und Kim schauten sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

“Ja, stimmt, die Freunde meines Vaters sind alle solche großen Naturburschen”, sagte Amber und starrte Beth weiter an. “Genau die Art, die ihre Bierflasche mit den Zähnen aufmacht.”

“Ach so”, sagte Kim und klang ziemlich verwirrt.

“Auf jeden Fall werden wir eine größere Gruppe sein. Da sind sogar ein paar Polizisten dabei”, ergänzte Beth und merkte sofort, wie lächerlich das klang.

Höchste Zeit, sich zu verabschieden.

Sie zog ein bisschen an den Schultern der Mädchen und fügte hinzu: “War uns eine Freude, Sie zu treffen. Wir sollten jetzt aber besser zu meinem Bruder zurückgehen, sonst vermisst er uns noch. Außerdem müssen wir ihm helfen, das Camp aufzubauen.”

“Wir laufen uns hier sicher wieder über den Weg”, sagte Kim freundlich zum Abschied.

“Ja, bis später”, meinte Amber.

“Okay, bis dann”, nickte Keith Henson.

Mit einem gezwungenen Lächeln drängte Beth die Mädchen von dem Mann weg in Richtung Strand, wo sie mit ihrem Schlauchboot angelegt hatten. Und wo sie auf ihren Bruder treffen würden, betete sie.

“Tante Beth”, flüsterte Amber. “Was um Himmels willen ist denn los mit dir? Du hast dich diesem Mann gegenüber so merkwürdig verhalten.”

Kimberly räusperte sich. “Also, ehrlich gesagt, waren Sie ganz schön unhöflich”, meinte sie zögernd.

“Er war allein und tauchte urplötzlich auf, als wir gerade einen Schädel entdeckt hatten”, erwiderte Beth – aber erst, nachdem sie sich umgedreht hatte, um sicherzugehen, dass sie außer Hörweite waren.

“Sie haben doch gesagt, Sie wären nicht sicher, ob es wirklich ein Schädel ist”, warf Kim ein.

“Das bin ich auch nicht.”

“Aber es sah doch so aus, als wäre er auch gerade erst hier angekommen”, meinte Amber. “Und der Schädel – es ist einer, stimmt’s? – liegt doch schon eine ganze Weile dort.”

“Verbrecher kommen fast immer zum Tatort zurück”, zitierte Beth aus irgendeiner Krimiserie und beschleunigte ihren Gang.

Amber fing an zu lachen. “Tante Beth! Gut, du hast plötzlich Angst bekommen. Aber hast du eine Waffe bei ihm gesehen?”

“Oder einen Platz, wo er sie hätte verstecken können?”, fragte Kim kichernd.

Das waren eigentlich keine so dummen Fragen.

“Nein”, gab Beth zu.

“Warum warst du dann so unfreundlich?”, hakte Amber nach.

“Ich weiß es nicht. Vielleicht wird man einfach sehr vorsichtig und misstrauisch, wenn man gerade einen Schädel oder so etwas in der Art gefunden hat, okay?”

“Na gut”, meinte Amber nach einem Moment. “Aber er sah doch ganz in Ordnung aus.”

“Das ist er wahrscheinlich auch.”

Kim kicherte plötzlich los. “Er war richtig klasse.”

“Viel zu alt für euch zwei”, antwortete Beth etwas zu scharf.

“Das ist Brad Pitt auch, aber deswegen ist er trotzdem klasse”, gab Amber zurück und schüttelte den Kopf über die begriffsstutzigen Erwachsenen.

“Stimmt”, murmelte Beth.

Ein Geräusch schreckte Beth auf, die sofort bereit war, die Mädchen notfalls mit ihrem Körper gegen eine Bedrohung zu schützen.

“Tante Beth”, sagte Amber milde, “das war doch nur ein Palmblatt.”

Die Mädchen sahen einander an – als müssten sie nachsichtig mit Beth sein.

Als würde sie gerade ihren Verstand verlieren.

“Los, lasst uns deinen Vater suchen”, schlug Beth Amber vor.

Was für eine merkwürdige Frau, dachte Keith und beobachtete, wie die drei weggingen.

Sie benahm sich, als hätte sie etwas zu verbergen.

Als ob sie irgendetwas … ausgefressen hätte.

Er schüttelte den Kopf. Nein, nicht mit diesen beiden Teenies an ihrer Seite. Die sahen viel zu unschuldig und freundlich aus, um etwas im Schilde zu führen, und hatten ganz bestimmt nichts Ernsthaftes ausgefressen. Über die Jahre war ein ganz guter Menschenkenner aus ihm geworden, und diese beiden Mädchen waren einfach nur jung und aufgeschlossen, wie zwei Püppchen, die sich die Welt eroberten und keinem Menschen etwas Böses zutrauten.

Aber die Frau …

Beth Anderson. Man sah ihr die Verwandtschaft mit dem großen Mädchen an. Sie hatten dasselbe glatte Haar. Und Beth besaß die Art Augen, die sich veränderten. Je nach Stimmung konnten sie hell oder dunkel erscheinen und hatten etwas Exotisches, Geheimnisvolles. Alle drei waren sehr gut gebaut, was die Bikinis nur allzu deutlich verrieten. Beth musste Ende zwanzig sein, sie besaß eine natürliche Sinnlichkeit und war auf eine besondere Art ausgesprochen sexy. Mit schier endlosen Beinen.

Fraglos eine ungeheuer attraktive Frau.

Und ein bisschen verrückt.

Nein. Verängstigt.

Seinetwegen?

Keith war zum ersten Mal auf Calliope Key. Aber er hatte seine Rolle doch nicht schlecht gespielt. Warum war er ihr dann so verdächtig vorgekommen?

Wenn sie sich auf so einer Insel fürchtete, wäre sie wohl kaum mit den Mädchen hergekommen. Also …?

Sie mussten etwas entdeckt haben.

Er sah sich auf der Lichtung um. Auf den ersten Blick erkannte er nichts, was jemanden verstören konnte. Aber was auch immer sie gefunden hatten, es musste genau dort sein, wo sie gestanden hatten.

Für einen Moment zog sich etwas in ihm zusammen und brannte. Wut erfüllte ihn – diese wogende Wut, weil die Welt so ungerecht war und er daran rein gar nichts ändern konnte.

Genau deshalb war er hier, auch wenn er das lieber für sich behielt. Immer das Ziel im Auge behalten, so lautete die Dauerlosung. Und sein Auftrag war eindeutig. Zu finden, was sie suchten, und dabei diskret vorzugehen. Dann würde sich der Rest ganz von selbst ergeben. Das hoffte er jedenfalls. Er war sich nicht sicher, dass irgendjemand sonst daran glaubte, und er hätte auch für nichts in der Welt gesagt, was er selbst glaubte.

Jemand rief seinen Namen. Lee.

Keith atmete einmal tief durch, um seine Gefühle in den Griff zu bekommen.

“Ich bin hier drüben”, rief er zurück.

Kurz darauf tauchten Lee Gomez und Matt Albright auf der Lichtung auf. “Was ist denn los?”, fragte Lee. Als halber Ecuadorianer und halber Nordamerikaner hatte er strahlend blaue Augen, tiefdunkles Haar und dazu eine Haut, die die Sonne geradezu einzufangen schien.

“Nichts, eigentlich. Ich habe eine Frau und zwei Mädchen getroffen – sie sind mit dem Bruder der Frau hier und vielleicht noch mit anderen. Wollen über Nacht auf der Insel campen”, erklärte Keith.

Fluchend schüttelte Matt den Kopf. Er war der Choleriker der Truppe und regte sich schnell auf, um sich dann noch schneller dafür zu entschuldigen. “Es gibt noch mehr Gäste. Zwei recht große Boote, die nicht weit von uns vor Anker gegangen sind. Ich habe ein Schlauchboot herkommen sehen mit ein paar Leuten drin.”

“Na, was soll man machen”, meinte Keith. “Hier kommen schon Boote vorbei seit … na, wahrscheinlich seit Menschengedenken.”

“Ja, schon, verdammt, aber sie kämen besser nicht jetzt”, murrte Matt.

“Kommt, wir wussten doch, dass wir in aller Öffentlichkeit arbeiten müssen – egal, wer auftaucht oder was auch passiert. Hier sind nun mal Leute, also lasst uns einfach das Beste draus machen”, sagte Keith. “Und schließlich ist das doch keine so große Überraschung. Wir haben Wochenende, und diese Insel ist ideal für Segler, die mal ein Stückchen rausfahren wollen.”

“Vielleicht sollten wir uns als Pygmäen verkleiden und sie einfach alle von der Insel verjagen, wie wäre das?”, schlug Lee trocken vor.

“Pygmäen?”, fragte Matt.

“Irgendwelche Eingeborenen, Kannibalen oder so?”, spann Lee seinen Spaß weiter.

Keith lachte. “Ja, genau, damit wir uns so richtig verdächtig machen. Und außerdem – solange sie sich auf der Insel vergnügen, sind sie nicht auf ihren Booten und spionieren bei den Riffs herum. Es ist Wochenende. Lasst uns einfach Touristen spielen. Leute kennenlernen. Wir könnten herausfinden, was sie wissen – und was sie denken.” Und wovor sie Angst haben, dachte er, behielt den Gedanken, dass jemand auf dieser Insel sie für verdächtig halten könnte, aber für sich.

Lee zuckte mit den Schultern. “In Ordnung.”

“Dann holen wir ein paar Sachen und das Zelt und machen es uns gemütlich wie alle anderen auch”, schlug Matt vor. Plötzlich lachte er. “Ist doch gar nicht so schlecht. Auf dem Boot war eine Frau, und die sah wirklich erstklassig aus. Zumindest aus der Entfernung.”

Eine von den Leuten auf dem Boot, dachte Keith. Du hättest mal diese Frau auf der Lichtung sehen sollen. Und die stand direkt vor mir. Gerade mal eine Armlänge entfernt.

“Die kann so scharf sein, wie sie will, heute Abend dürfen wir den Leuten hier nicht zu nahe kommen”, warnte Lee.

“Ach komm, ich spiele einfach nur den netten Kerl, der sich ein bisschen amüsieren will, so ein treudoofer Segeltyp”, versprach Matt.

“Den kannst du später spielen. Ich werde den ganzen Kram nicht allein vom Boot laden”, brummte Lee. “Wenn wir hier auf Pfadfinder machen und die Camper mimen, könnt ihr auch ein bisschen was schleppen.”

“Eigentlich ist die Idee mit dem Campen gar nicht so schlecht”, sagte Keith.

“Genau. Und die Leute hier auf der Insel kennenlernen, ist auch keine schlechte Idee”, grinste Lee. “Ich glaube, ich werde den Bootseigentümer spielen.”

“Dann bin ich aber nächstes Mal damit dran”, antwortete Matt.

“Mit etwas Glück wird es kein nächstes Mal geben”, meinte Keith. Er sah die beiden an.

Mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck erwiderte Lee seinen Blick. “Der unverbesserliche Optimist, was?”

“Ich weiß, was ich tue”, sagte Keith.

Lee musterte ihn eine kleine Ewigkeit lang. “Das will ich hoffen”, meinte er dann. “Ich hoffe sehr, dass du weißt, weshalb wir hier sind.”

“Ich weiß es ganz genau, darauf kannst du wetten”, erwiderte Keith und spürte, wie abweisend er dabei klang.

“Na los, dann lasst uns Touristen spielen”, sagte Lee.

“Klar. Ich bin dabei”, gab Keith zurück.

“Hey, wir machen das zusammen, denkt dran”, erinnerte sie Matt, und seine Augen wurden schmal.

“Stimmt.”

Das stimmte auch tatsächlich, aber die beiden anderen wussten nicht, dass Keith beauftragt worden war, sie genau im Auge zu behalten.

“Verdammt, Keith, was ist denn los mit dir?”, meinte Lee und starrte ihn immer noch an. “Denk daran, was passiert ist. Das Wichtigste ist, dass wir unseren Auftrag erfüllen.”

Wichtiger als ein Menschenleben?, fragte sich Keith im Stillen. “Ich komme gleich nach”, erwiderte er.

Erst als die beiden anderen sich zum Nordstrand aufgemacht hatten, begann er, die Lichtung genau unter die Lupe zu nehmen.

Oh ja, er wusste genau, worum es ging.

Es gab Bilder, die man einfach nicht vergaß. Tote Männer. Tote Freunde. Freunde, die noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt hätten. Jung. Die Allerbesten.

Wieder zog sich etwas in ihm zusammen, und er lauschte. Er hörte Menschen, die sich näherten. Von Minute zu Minute schien sich die Insel zu bevölkern. Er fluchte leise vor sich hin.

“Hallo”, sagte eine kehlige Männerstimme.

Ein Mann von ungefähr sechzig kam auf die Lichtung, gefolgt von einer zierlichen jungen Frau und zwei Männern in Keiths Alter.

“Hallo”, antwortete Keith und ging auf sie zu, ein Lächeln auf dem Gesicht.

Oh ja, die Massen waren angekommen. Er hätte nicht sagen können, was ihn plötzlich so sicher machte, dass er und seine beiden Begleiter nicht als Einzige inkognito unterwegs waren.

Beth und die Mädchen kamen aus dem üppigen Grün in der Mitte der Insel auf den Strand. Es war wunderschön. Früher einmal gab es auf Calliope Key einen sehr kleinen Navy-Stützpunkt. Aus dieser Zeit standen immer noch ein paar Ruinen der alten Gebäude auf der Insel. Sie boten guten Schutz für den Fall, dass das Wetter plötzlich umschlug. Heute aber schien die Sonne an einem strahlend blauen Himmel, eine sanfte Brise wehte und das Meer war völlig friedlich.

Am Strand werkelte Ben, barfuß, in Shorts und Sonnenbrille. In seinem Aufzug sah er dem Mann, der Beth so erschreckt hatte, ausgesprochen ähnlich. Er sah auf, als er sie kommen hörte.

“Schon wieder zurück? Ich dachte, ihr wolltet die Insel auskundschaften und sehen, ob sonst noch jemand hier ist.”

Mit vierunddreißig war ihr Bruder in den besten Jahren, dachte Beth. Aber er widmete sich hauptsächlich der Aufgabe, seine Tochter großzuziehen. Obwohl er seine Frau schon vor einigen Jahren verloren hatte, verbrachte er seine Abende lieber zu Hause, als in den Segelclubs nach Gesellschaft Ausschau zu halten – auch wenn er im “Rock Reef” Mitglied war, wo sie selbst arbeitete. Eigentlich wäre es Beth lieber, wenn er sich öfter mal um sich kümmern würde. Sie wusste, wie viel Amber ihm bedeutete, befürchtete aber, dass er zu wenig an seine eigene Zukunft dachte. Vor Jahren war er unsterblich in Ambers Mutter verliebt gewesen, seine große Highschool-Liebe, und jetzt zählte für ihn einzig und allein Ambers Wohlergehen – seine Gesellschaft eingeschlossen, ob sie das wollte oder nicht. Denn Amber war längst in dem Alter, wo sie abends lieber mit Freunden herumzog, als bei ihrem Vater auf dem Sofa zu sitzen. Auch wenn sie ihn über alles liebte – sie war nun einmal ein Teenager.

“Wir waren auskundschaften”, sagte Beth.

“Wir haben einen Mann getroffen”, meinte Amber.

“Höllisch süß”, fügte Kimberly hinzu.

Beth seufzte vernehmlich.

“Höllisch süß jung oder höllisch süß alt?”, fragte Ben augenzwinkernd.

“Höllisch süß und in deinem Alter – oder Tante Beths. Ich weiß nicht so genau”, erklärte Amber. “Jedenfalls kein Kind mehr.”

“Aha”, zwinkerte Ben Beth zu. “Sie wollen dich wohl verkuppeln.”

“Hoffentlich nicht”, erwiderte Beth etwas zu schnippisch.

“Also war er doch nicht höllisch süß?”

“Oh, doch, er sieht ziemlich gut aus.”

“Aber …?”, neckte Ben sie weiter.

“Nicht mein Typ”, sagte sie kurz angebunden.

Jetzt seufzte Amber theatralisch. “Ihr seid einfach zwei hoffnungslose Fälle.”

“Wir kennen ihn überhaupt nicht, und Fremden sollte man nicht blind vertrauen”, verteidigte sich Beth.

Ben zog eine Augenbraue hoch. Normalerweise versuchte Beth ihn dazu zu bringen, nicht so streng mit Amber zu sein, und nicht umgekehrt.

“Mädels, holt doch mal das Grillzeug, ja?”, bat Beth.

“Sie will dir nämlich von dem Schädel erzählen”, kündigte Amber an.

“Dem Schädel?” Ben hatte mit den Zeltpfosten hantiert, aber nun ließ er die Sachen sinken und sah Beth fragend an.

“Kim ist mit dem Fuß gegen etwas getreten, und ich … ich glaube, es war ein Schädel”, erklärte Beth.

“Hast du ihn … aufgehoben?”, fragte Ben.

“Nein, ich dachte, es wäre besser, wenn wir beide nachsehen gehen. Und dann die Polizei anfunken, falls es wirklich einer ist. Ich wollte nicht mit den Mädchen da herumgraben”, sagte Beth. Sie biss sich auf die Unterlippe. “Allerdings … ich weiß nicht, ob wir sie hier am Strand allein zurücklassen sollten.”

Ben schüttelte den Kopf. “Beth, diese Insel ist seit Ewigkeiten ein Paradies für Segler.”

“Das weiß ich.”

“Der Navy-Stützpunkt ist schon vor Jahrzehnten geschlossen worden. Die Leute hier kommen mit dem Boot und sind – Segler eben.”

“Das weiß ich auch.”

“Also?”, fragte er sanft.

Sie räusperte sich und sah zu den beiden Mädchen, die ganz offensichtlich nicht vorhatten, sie allein zu lassen.

“Ach, Ben, verdammt. Denk doch mal an dieses Pärchen. Ted und Molly Monoco.”

“Was ist mit ihnen?”, fragte Ben verständnislos.

“Sie wurden hier auf dieser Insel zum letzten Mal gesehen.”

Er schüttelte den Kopf. “Und was? Sie hatten eine Luxusjacht und wollten damit um die ganze Welt segeln, Beth.”

“Aber sie sind verschwunden. Ich habe es in den Nachrichten gehört”, erwiderte sie störrisch.

Nun kam auch Ben nicht umhin, zu seufzen. “Beth, ein Freund von ihnen hat sich Sorgen gemacht, das ist alles. Sie könnten sonst wo sein. Die Medien machen doch aus allem eine große Sache.” Als er Ambers Blick auffing, zog er eine Grimasse. “Vielleicht sollten wir deiner Tante doch einen großen dunkelhaarigen Kerl besorgen, was meinst du?”

“Ben!”

“Er ist blond!”, lachte Amber.

“Also gut, Mädels. Ihr bleibt hier und baut weiter auf, während Tante Beth und ich uns diesen Schädel mal genauer ansehen.”

“Ich finde, wir sollten sie nicht allein lassen”, wiederholte Beth.

“Sie hat Angst vor diesem Typen, den wir getroffen haben”, erklärte Amber.

“Ich habe keine Angst vor ihm”, protestierte Beth.

“Ist schon gut”, sagte Ben. “Ich habe vorhin Hank und Amanda Mason getroffen, mit ihrem Vater und einem Cousin, glaube ich. Die lagern nur ein kleines Stück den Strand runter. Mädels, schreit euch einfach die Lunge aus dem Hals, falls euch jemand zu nahe kommt, okay?”

Amanda Mason. Na großartig. Unter anderen Umständen wäre die Aussicht, das Wochenende unmittelbar neben Amanda zu verbringen – die einfach unerträglich sein konnte –, eine Hiobsbotschaft für Beth. Aber nun war sie einfach nur froh, dass die Masons in der Nähe waren.

Nah genug, um ein Schreien zu hören.

“Darauf können Sie wetten”, meinte Kimberly.

“Außer er ist richtig toll und bringt Bier mit”, lachte Amber.

Ihr Vater drehte sich auf der Stelle zu ihr um.

“War nur ein Scherz, Dad”, sagte Amber schnell. “Das hab ich nicht ernst gemeint. Tante Beth? Bitte erklär’s ihm.”

“Sie zieht dich doch nur auf, Ben. Reg dich nicht auf”, versuchte Beth ihren Bruder zu beschwichtigen.

Mit einem Schnauben marschierte er los. “Was soll das nur andauernd?”, wollte er wissen.

“Das liegt daran, dass du es manchmal ein bisschen übertreibst mit deiner Fürsorge und dich wie der reinste Wachhund aufführst”, erklärte Beth und folgte ihm durchs Gestrüpp. Immer wieder mussten sie sich den Weg zwischen riesigen Palmblättern hindurch bahnen.

“Genau. Vielleicht so, wie du es auch gerade ein bisschen übertreibst?”

“Ben, ich bin mir wirklich ziemlich sicher, dass wir einen Schädel gefunden haben. Das ist Grund genug zur Sorge. Und wenn du Amber weiterhin so verrückt machst, wirst du ebenfalls Grund zur Sorge haben.”

“Warte, bis du selbst Kinder hast”, warnte er, blieb stehen und drehte sich zu ihr um. “Sie ist alles, was ich habe”, sagte er liebevoll.

“Dann lass ihr auch ein bisschen Platz zum Atmen.”

“Sie ist gerade mal vierzehn.”

“Nur ein bisschen. Dann wird sie dir all die wilden Geschichten erzählen, die sie mit ihren Freunden erlebt. Aber du musst sie ihr eigenes Leben leben lassen.”

Er nickte ernsthaft.

Auf der Lichtung war niemand zu sehen, als sie ankamen.

“Okay. Ich sehe keinen Mann.”

“Ich bin auch nicht davon ausgegangen, dass er hier auf uns wartet”, sagte Beth.

“Schon gut. Und wo ist der Schädel?”

“Da drüben. Ich habe die Stelle mit einem Palmzweig markiert.”

Sie lief zu der Stelle, an der sie vorhin gestanden hatten. Vorsichtig fegte sie Blätter und Zweige beiseite.

Aber da war nichts zu sehen. Überhaupt nichts. Es war nicht einmal erkennbar, dass jemand die Erde zerwühlt haben könnte.

“Ich …” Sie starrte ihren Bruder an, der sie mit wachsender Skepsis beobachtete. “Verdammt, Ben. Die Mädchen haben es doch auch gesehen!”

“Und wo ist das Ding?”

“Ich weiß es nicht!” Sie sah sich auf der Lichtung um. Überall lagen Zweige und Äste herum. Die Stürme in dieser Gegend konnten Palmen und Büschen ganz schön zusetzen.

Aber auch als sie jeden Quadratzentimeter der Lichtung absuchte und unter jedes einzelne Palmblatt schaute – von einem Schädel war weit und breit keine Spur zu sehen.

Doch dann …

“Ah!”, rief sie und fing an zu graben, stieß aber nur auf eine große Muschel.

“Da hast du deinen Schädel”, meinte Ben.

“Nein, das ist er nicht. Ben, ich sage dir, ich habe diesen Schädel gesehen. Und ihn nicht ausgegraben, damit die Mädchen nicht sehen, dass da noch Haare und sogar verwestes Fleisch dranhingen.”

“Komm, Beth. Du hast zu viel CSI und Akte X gesehen und wie dieser ganze Unsinn heißt. Ich gehe wieder zu unserem Zelt zurück.”

“Ben!”

“Was denn?”, fragte er und drehte sich wieder zu ihr um.

“Ich schwör dir, da war ein Schädel. Und dann war da dieser Kerl …”

“Weißt du was, Beth? Ich bin ein Mann und Jurist und ja, ich bin manchmal ein bisschen zu vorsichtig, weil ich weiß, was für Leute frei herumlaufen. Verdammt, ich habe eine Waffe und kann sie auch benutzen. Aber denk doch mal nach, Beth. Du hast den Kerl vor ein paar Minuten gesehen. Und was du für einen Schädel hältst, kann nur noch blanker Knochen gewesen sein.”

“Nicht ganz”, murmelte sie und fühlte sich ein bisschen komisch.

“Beth”, erklärte Ben, “wie soll denn ein Kerl, der gerade hier ankam, etwas mit einem Skelett zu tun haben, das es vielleicht gar nicht gibt? Und wenn doch, dann war es schon völlig verwest. Ich habe nicht die Absicht, mir mein Wochenende mit meiner Tochter und ihrer Freundin verderben zu lassen, also bitte …”

Sie stand auf, klopfte sich den Sand von den Händen und sah ihn böse an. Dann nickte sie. “Ich weiß, dass Wochenende ist und du es mit deiner Tochter verbringen willst. Okay, wir werden Spaß haben. Versprochen.”

Er war schon auf dem Weg zurück zum Strand.

Beth zögerte. Sie fühlte die Nacht kommen, spürte die Abendbrise in ihrem Haar.

Konnte sie sich geirrt haben?

Nein!

Verdammt! Sie hatte es gesehen, und es war ein Schädel. Ein menschlicher Schädel. Wo also war er abgeblieben?

Hatte er ihn weggebracht?

War er wegen des Skeletts auf die Insel gekommen?

Plötzlich machten die Palmzweige hinter ihr leise Geräusche, und sie wandte sich schnell in Richtung Pfad. “Ben?”

Keine Antwort.

“Ben! Warte auf mich!”

Noch beim Rufen lief sie hinter ihm her und erinnerte sich daran, was er gesagt hatte.

Ich habe eine Waffe und kann sie auch benutzen.

Aber hatte er sie bei sich?

Und wenn der andere Kerl nun auch eine Waffe hatte und wusste, wie man damit umging?

2. KAPITEL

“Da drüben ist dein Kerl”, meinte Ben, als sie den Strand erreichten. Er zeigte auf ein Fleckchen Sand.

Und tatsächlich. Zusammen mit zwei anderen Männern, der eine dunkel und südamerikanisch aussehend, der andere mit leuchtend roten Haaren, baute er ein großes Zelt auf. Sie hielten den unausgesprochenen Diskretionsabstand ein, der unter Seglern üblich war, und bauten ihr Lager in einem gewissen Abstand von den anderen auf. Aus dieser Entfernung konnte Beth den Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht erkennen.

Trotzdem unterbrach der Rothaarige seine Arbeit, stieß Keith an und zeigte anschließend in ihre Richtung. Dann winkte er herüber.

Ben winkte zurück.

“Willst du deinem neuen Schwarm nicht auch zuwinken?”, unkte Ben.

“Er ist kein Schwarm oder sonst irgendwas”, gab Beth patzig zurück.

“Die Mädels fanden ihn toll.”

“Die Mädchen sind nun mal leicht zu beeindrucken”, meinte sie schnippisch.

Ihr Bruder sah sie neugierig an. “Was ist eigentlich mit dir los?”

“Gar nichts. Aber trotz allem bin ich sicher, dass ich diesen Schädel gesehen habe.”

“Den wir aber nicht haben finden können.”

“Nein”, gab sie zu. “Aber ich schwör dir, da war wirklich etwas. Und dieser Kerl war auch da. Und jetzt ist auf der Lichtung nichts mehr, und dieser Typ ist hier am Strand!”

“Ich kann ja mal rübergehen und ihn fragen, ob er in der Zwischenzeit deinen Schädel ausgegraben hat”, schlug Ben mit ironischem Unterton vor.

Entsetzt starrte sie ihn an. “Und du glaubst ernsthaft, er würde das zugeben?”

“Beth, was soll ich denn deiner Ansicht nach machen?”, fragte Ben.

“Vorsichtig sein.”

“Okay, ich werde vorsichtig sein. Sehr vorsichtig sogar.”

“Ben …”

“Beth, ehrlich, ich habe nicht vergessen, was du gesagt hast. Aber denk du auch an das, was ich gesagt habe. Ich bin durchaus in der Lage, auf meine Familie aufzupassen. Ich bin mir immer bewusst, dass ich für zwei Teenager verantwortlich bin, wenn ich die Mädels irgendwohin mitnehme. Okay, du bist verängstigt und dir ist dieses verschwundene Ehepaar eingefallen. Aber ich lese auch Zeitung. Sie wollten um die ganze Welt segeln, ganz auf sich allein gestellt. Sie haben das als Lebensreise angelegt und wollten einfach planlos durch die Meere schippern.”

“Aber trotzdem … sie sind verschwunden”, beharrte Beth störrisch.

“Es ist erwachsenen Menschen schließlich nicht verboten zu verschwinden, wenn sie das wollen.”

“Aber ihre Freunde machen sich Sorgen.”

“Vielleicht wollten sie ja ihre Freunde loswerden”, gab Ben zu bedenken.

“Wer sollte denn so etwas wollen?”, fragte Beth.

“Beth, bitte. Wir haben ein freies Wochenende. Wir wollen hier ein bisschen Spaß haben. Denk einfach nicht mehr dran, okay?”

Ohne ein weiteres Wort ging sie zu den Mädchen. Sie lasen gerade in einem Hollywood-Klatschmagazin und schienen völlig vergessen zu haben, dass sie vor Kurzem auf menschliche Überreste gestoßen waren.

Aber Amber sah auf, als Beth ins Zelt kroch, und kam in den kleinen “Vorraum” ihres Lagers.

“Und? War es ein Schädel?”

“Keine Ahnung. Es war nicht mehr da.”

Woraufhin Amber ein verständnisloses Gesicht machte.

“Glaubst du, dass er ihn genommen hat?”, wollte Kim wissen.

“Psst”, befahl Amber. “Er ist hier.”

Vor Überraschung fuhr Beth herum. Direkt vor ihrem Zelt stand der Mann, der sich als Keith Henson vorgestellt hatte. Neben Ben, der gerade die Feuerstelle vorbereitete, um ein Abendessen zu kochen.

Auch die anderen beiden waren dabei: der große schlanke Rothaarige und der stämmigere muskulöse Dunkelhaarige.

Beth hörte, wie sie sich einander vorstellten und wie ihr Bruder Keith erzählte, dass sie schon von ihm erzählt hatte.

An dieser Stelle machte Beth, dass sie schleunigst aus dem Zelt kam. Auch die Mädchen kamen sofort hinterher. Es gab weitere Begrüßungen, und sie erfuhren die Namen der beiden anderen Männer: Lee Gomez und Matt Albright.

Keith trug immer noch seine Sonnenbrille, sodass von seinem Gesicht nicht abzulesen war, was er dachte. Aber er lächelte, und Beth musste zugeben, dass er wirklich toll aussah. Auch Lee Gomez sah sehr gut aus, und Matt mit seinen vielen Sommersprossen machte den Eindruck eines wirklich netten Kerls.

“Keith sagte gerade, dass sie einen transportablen Grill und genug Fisch für eine ganze Armee haben”, erklärte Ben.

Wollte Ben den Abend etwa mit diesen Fremden verbringen?

“Ich habe sogar einen Kartoffelsalat gemacht”, erklärte Lee.

“Wir haben doch sicher auch etwas zum Anbieten, oder?”, fragte Ben.

“Den Salat”, kam Amber Beth zuvor. “Und Chips haben wir auch und tonnenweise Mineralwasser und ein bisschen Bier.”

“Hört sich gut an. Wir sind ja nicht weit. Ich hoffe, ein verführerischer Duft wird euch rüberlocken”, meinte Matt.

“Na?”, fragte Ben.

“Aber gern”, antwortete Beth, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen können.

“Wir haben noch mehr Leute getroffen, drüben am anderen Ende vom Strand”, sagte Keith. “Sie meinten, dass sie euch kennen, und wollten auch zu uns stoßen.”

“Ach ja, die Masons”, sagte Ben.

“Genau, stimmt. Die Masons sind auch hier”, murmelte Beth. Draußen auf dem Wasser sah sie Hanks Jacht, die “Southern Light”. Ein schönes Schiff, vierzehn Meter lang und vierzig Jahre alt, aber mit einem brandneuen Motor und neuem Innenausbau. Im Club nannten es alle “die alte Dame”.

“Ich weiß noch gar nicht genau, wer wer ist”, meinte Keith. “Abgesehen von Amanda.”

Die hat er sich natürlich gleich gemerkt. Amanda war knapp einssiebzig, mit Wespentaille, blonden Haaren und blauen Augen. Kein Mann vergaß ihren Namen.

“Da war noch ein älterer Mann”, sagte Lee.

“Roger Mason, ihr Vater”, erklärte Beth.

“Hank muss auch dabei sein”, meinte Ben. “Amandas Cousin. Ihm gehört das Boot.”

“Ja, stimmt. Hank. Und der andere Kerl ist …”

“Wahrscheinlich Gerald, noch ein Cousin”, mutmaßte Beth. “Er wohnt ein Stück vom Rest der Familie entfernt, die Küste aufwärts, in Boca Raton.”

“Und die sind alle miteinander verwandt?”, fragte Matt mit einem Funken Hoffnung in der Stimme.

“Hank, Amanda und Gerald sind Cousins und Cousine – zweiten Grades, glaube ich”, sagte Ben.

Er schien den Unterton in Matts Stimme gar nicht bemerkt zu haben. Natürlich nicht, dachte Beth. Er war immer viel zu sehr mit seiner Vaterrolle beschäftigt.

“Ein Stückchen weiter von ihnen campt noch ein junges Pärchen”, erzählte Keith. Auch wenn sie seine Augen nicht sehen konnte, wusste Beth, dass er sie fixierte. “Vielleicht kennen Sie die ja auch. Brad Shaw und eine Frau namens Sandy Allison.”

Sie schüttelte den Kopf. “Die Namen sagen mir nichts.” Wieder schaute sie aufs Wasser hinaus.

Das vierte Boot war ihr entgangen, weil es direkt hinter der Southern Light vor Anker gegangen war.

Bei dem letzten Boot handelte es sich um ein kleines Sportboot. Es schien einen neuen Anstrich gebrauchen zu können. Wahrscheinlich gab es an Bord nicht mehr als eine kleine Brücke, eine Kombüse und vorn vielleicht genug Platz zum Schlafen für zwei. Im Club gab es eine Menge kleiner Boote, und einige davon – vor allem die Motorboote – waren unglaublich teuer.

Andere wiederum nicht. Eine Sache, die Beth bei ihrer Arbeit im Club schon immer gemocht hatte, waren die Leute dort. Allesamt Wasserratten und aus den unterschiedlichsten Ecken, genau wie ihre Boote. Zwar kostete die Eintrittsgebühr für den Club ziemlich viel, aber die Mitgliedsbeiträge waren relativ günstig. Deshalb konnten sich Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft die Mitgliedschaft leisten, wenn sie erst einmal das Eintrittsgeld zusammen hatten. Außerdem bot der Club auch Kurse an: Segeln, Schwimmen, Tauchen und Sicherheit auf dem Wasser.

Und die Clubmitglieder hegten und pflegten ihre Boote, egal wie billig sie waren, selbst die abgetakelten unter ihnen – ganz im Unterschied zu den Besitzern des traurigen Boots hinter der Southern Light.

“Vier Boote”, murmelte Beth.

“Jedenfalls haben wir alle eingeladen zu kommen”, sagte Keith.

“Prima”, erwiderte Ben.

“Kommt einfach, wenn ihr Lust habt. Wir sind ja nicht weit”, meinte Keith und zeigte zu ihrem Lager.

“Brauchen Sie Hilfe?”, fragte Amber eifrig.

Am liebsten hätte Beth ihre Nichte am Arm gepackt.

“Ich glaube, wir haben alles im Griff”, lächelte Keith. “Aber wenn ihr Hilfe braucht, um Chips und Salat rüberzutragen, dann lasst es uns wissen.”

Er hatte Grübchen und eine nette Art, mit den Mädchen umzugehen. Und er versuchte nicht zu flirten oder benahm sich sonst irgendwie unpassend, wie es ältere Männer manchmal taten. Im Grunde sollte sie ihn nett finden, das wusste Beth, aber dafür war sie einfach zu misstrauisch.

“Na dann bis später”, meinte Lee.

Zum Abschied winkten die drei Männer noch einmal und gingen dann über den Sand zurück. Mit einem Strahlen wandte Ben sich an Beth. “Geht’s dir jetzt besser?”

Sie sah ihren Bruder an und schüttelte den Kopf.

“Was? Hast du immer noch Angst? Es wird nichts passieren. Schließlich kommen noch andere Leute vom Club”, erinnerte er sie.

Ihre Arbeit als Clubmanagerin liebte Beth genauso, wie sie die meisten Mitglieder mochte, weil sie überwiegend offen und freundlich waren.

Bis auf Amanda.

Glücklicherweise kam sie nicht jeden Tag in den Club – nicht einmal jede Woche. Der Bootsnarr war Hank. Schon sein Vater war in dem 1910 gegründeten Segelclub aktiv gewesen. Angefangen hatte alles damit, dass zwei dicke Freunde, Clubpräsident Isaak und Vizepräsident Gleason, sich im Ruhestand regelmäßig auf ein Bier getroffen hatten. In den Zwanzigerjahren gab es dann schon zehn Mitglieder, und bis zum Zweiten Weltkrieg wurden es an die hundert. Eine Weile war das Clubhaus der Treffpunkt von Kriegsheimkehrern der Navy gewesen. In den Fünfzigerjahren stieg die Mitgliederzahl wieder, und in den Siebzigern galt der Club als beliebter Treffpunkt. Als aus den Hippies Yuppies wurden, schnellten die Eintrittsgebühren nach oben. Inzwischen zählte der Club um die zweihundert Mitglieder, von denen einhundert einen eigenen Liegeplatz besaßen. Mindestens fünfzig Mitglieder bildeten den aktiven Kern des Vereins. Der Vater von Ben und Beth war ebenfalls Clubpräsident gewesen, und mit seinem Tod ging die Mitgliedschaft an Ben.

Und Beth hatte nach ihrem Marketingstudium einen Job im Club angenommen.

Wäre ihr damals klar gewesen, dass sie es mit den Amandas dieser Welt aufnehmen musste, hätte sie es sich vielleicht anders überlegt. Amanda war der Typ Frau, der ihr einen Brief auf den Schreibtisch legte und ohne sie auch nur anzusehen erklärte, sie bräuchte Kopien davon. Sobald irgendein Clubangestellter auch nur den kleinsten Fehler machte, beschwerte sie sich. Zwei Kellnerinnen aus dem Clubrestaurant hatten gekündigt, nachdem Amanda sie zum Weinen gebracht hatte.

Ben reagierte nicht auf Amanda, er schien gegen ihren verrucht-sinnlichen Charme immun und taub für ihre dauernden gemeinen Sticheleien zu sein.

Ihn über Amanda aufzuklären, hätte jedoch wenig Sinn. Er würde es einfach nur für den üblichen Zickenkrieg halten.

“Wenn sie auch dabei sind, könnte es gar nicht besser sein”, versicherte sie daher lahm.

“Amanda”, maulte Amber und schnitt eine Grimasse.

Genervt verdrehte Ben die Augen. “Stimmt etwas nicht mit ihr?”, fragte er.

“Dad, sie ist eine alte Hexe.”

“Amber!”

“Das war kein schlimmes Wort”, sagte Amber.

“Kein Fluch oder so was”, pflichtete Kim ihr bei.

“Beth”, meinte Ben, “willst du nicht etwas dazu sagen?”

“Sie nennen sie eben so, wie sie sie sehen”, erklärte sie.

“Aber mir gefällt die Wortwahl nicht.”

“Amber, deinem Vater gefällt die Wortwahl nicht. Bitte benutze dieses Wort nicht.”

“Ist gut”, meinte Amber. “Miss Mason ist eine rücksichtslose egoistische Schlange, wie wär’s damit?”

“Mit richtig großen Titten”, fügte Kim hinzu.

“Kim!”, protestierte Ben.

“Entschuldigung”, antwortete Kim wenig überzeugend.

Eindringlich sah Ben sie an. “Dass du dich bloß benimmst!”

“Aber klar”, witzelte Beth. “Schließlich ist Amanda auch immer unheimlich höflich.”

Da gab Ben auf, kehrte ihnen den Rücken und ging zu seinem Zelt. “Vielleicht gefallen euch unsere neuen Bekannten ja besser”, meinte er über die Schulter.

Im Moment gab es niemanden, den sie weniger gemocht hätte, dachte Beth.

Obwohl es nicht gerade eine Abendeinladung war, beschloss Beth, sich etwas überzuziehen, und die Mädchen machten es genauso. Dann nahmen sie ihre Kühlboxen mit Bier und Mineralwasser, den Salat und die Chips und gingen los. Zum Glück kamen sie vor den Masons an. Nur das Pärchen war bereits da, Sandy Allison und Brad Shaw.

Passend zu ihrem Namen hatte Sandy sandfarbenes Haar und hübsche bernsteinfarbene Augen. Sie war mittelgroß und trug ein Oberteil über ihrem Bikini, während Brad zu seinen Schwimmshorts ein Surfershirt angezogen hatte. Die beiden waren sehr nett und kamen von der Westküste, wie Brad erzählte.

“Aber mir gefällt’s hier”, versicherte er. “Seit unserem ersten Tauchgang will ich hier gar nicht mehr weg.”

“Es ist wirklich wunderbar”, stimmte Sandy zu und legte ihren Arm um seine Hüften. “Hier gibt es Stellen, da kann man praktisch direkt vom Strand ins Korallenriff laufen.”

“Das ist schon manchem Schiff zum Verhängnis geworden”, gab Keith zu bedenken. “Früher jedenfalls. Mittlerweile ist die Gegend gut kartiert.”

“Es ist ja auch schon ein paar Jahre her, seit die ersten Europäer hier waren”, sagte Beth.

Autor

Heather Graham
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