Paragraph Liebe - Im Namen der Leidenschaft

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TAUSEND MAL BERÜHRT, HEUT' NACHT VERFÜHRT?

"Du musst mir helfen!" Verzweifelt bestürmt Lucy den attraktiven Anwalt Gabriel Blake. Seit Jahren ist er wie ein großer Bruder für sie und kennt sie in- und auswendig. Da weiß er doch bestimmt auch, wie sie sich verhalten muss, damit sie endlich einen Heiratsantrag von ihrem Freund bekommt! Aber kaum hat Lucy sich mit Gabriels Hilfe in eine verführerische Femme fatale verwandelt, geschieht etwas gänzlich Unerwartetes. Plötzlich knistert es so heiß zwischen Gabriel und ihr, dass sie sich fragen muss, ob sie nicht die ganze Zeit von dem falschen Mann geträumt hat …

ANWÄLTE KÜSSEN BESSER!

Der smarte Anwalt Blake Bennington braucht dringend eine Frau, die zu ihm passt. Die berechenbar ist. Vernünftig. Also das genaue Gegenteil zu der unkonventionellen Jax, die er gerade als Pflegerin für seine kranke Schwester eingestellt hat. Und doch lodert ungeahntes Verlangen in Blake auf, sobald er in Jax’ Nähe ist. Mit jeder Faser sehnt er sich danach, sie an sich zu ziehen und wild zu küssen. Dass Jax ihren Arbeitsvertrag mit ihm spontan um die Klausel "Küssen verboten!" ergänzt, macht es nicht besser. Ständig muss Blake an ihre sinnlichen Lippen denken …

ROTES HAAR - HERZ IN GEFAHR!

Der erfolgreiche Anwalt Gideon St. Claire muss den Bodyguard spielen, als seine neue Kollegin Joey bedroht wird. Tag und Nacht soll er die temperamentvolle Rothaarige vor einem rachsüchtigen Klienten beschützen - mehr nicht! Allerdings findet er die bezaubernde Joey immer aufregender, und bald kann er ihren sinnlichen Reizen nicht mehr widerstehen. Doch kaum kommt es zu einer leidenschaftlichen Liebesnacht, wird ihm klar, dass Joey mehr will als ein vorübergehendes erotisches Abenteuer. Dabei hat Gideon der Liebe schon seit Langem abgeschworen …

GESTÄNDNIS AUF DEN BERMUDAS

Wer ist dieser aufregende Mann? In Alex' Nähe verspürt Sanchia plötzlich eine räselhafte Leidenschaft- als würden ihre Körper sich bereits kennen. Vielleicht ist der erfolgreiche Anwalt der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit, an die sie seit einem Unfall keine Erinnerung mehr hat ... Bei einer Reise auf die Bermudas kann sie seiner Anziehungskraft immer weniger widerstehen und verliebt sich in einer hei§en Nacht in ihn. Oder war sie etwa schon früher in ihn verliebt und liebt ihn immer noch? Alex hüllt sich in Schweigen. Bis plötzlich das Gerücht auftaucht, Sanchia sei seit Jahren mit ihm verheiratet .


  • Erscheinungstag 10.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773762
  • Seitenanzahl 592
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Charlotte Phillips, Aimee Carson, Carole Mortimer, Elizabeth Power

Paragraph Liebe - Im Namen der Leidenschaft

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2013 by Charlotte Phillips
Originaltitel: „The Proposal Plan“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
in der Reihe: MODERN TEMPTED
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA
Band 092015 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Kara Wiendieck

Abbildungen: Picture Press / astra production, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733701611

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

„Willst du …?“

Lucy Telford klopfte das Herz bis zum Hals. Erwartungsvoll beugte sie sich vor. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre grünen Augen leuchteten. Sie war sich so absolut sicher, wie der Satz enden würde, dass sie einen Moment glaubte, die Worte „mich heiraten“ tatsächlich gehört zu haben.

Doch als ihr Gehirn wieder funktionierte und sie es schaffte, ihre Gedanken einigermaßen zu ordnen, musste sie feststellen, dass Ed bereits zur Beschreibung der zum Verkauf stehenden Cottages am Rande von Bath übergegangen war. Und dass er ihr keinen Antrag machen, sondern sie um Geld bitten wollte.

Sie unterdrückte ein Stöhnen. Es war schon wieder passiert.

Früh am nächsten Morgen lenkte Lucy ihren Wagen durch die ruhigen Straßen der Stadt. Ihre Laune war angesichts der Geschehnisse des vergangenen Abends alles andere als gut. Männer! Einmal mehr hatte sich gezeigt, dass sie einfach nicht fähig waren, einen offensichtlichen Wink mit dem Zaunpfahl zu erkennen.

In Gedanken ging sie die ganze Liste noch einmal durch: Valentinstag. Korrekt! Verabredung mit dem Partner, seit zwei Jahren fest zusammen. Korrekt! Reservierung im Lieblingsrestaurant, Lieblingsblumen für sie zur Begrüßung, plus der Hinweis, er wolle sie etwas Besonderes fragen.

Sie seufzte. Welche Frau hätte in dieser Situation keinen Antrag erwartet? Hinzu kamen noch die verschiedenen Andeutungen, die sie ihm gegenüber im Laufe der letzten sechs Monate hatte fallen lassen. Himmel, irgendwann musste er es doch endlich kapieren!

Lucy umfasste das Lenkrad fester. Das Gesicht, das ihr aus dem Rückspiegel entgegenblickte, wirkte entschlossen, wobei die dunklen Locken, die es umrahmten, noch widerspenstiger wirkten als sonst. Und genauso fühlte sie sich auch.

Widerspenstig.

Der Rest des vergangenen Abends verschwamm in ihrer Erinnerung. Besser war es auf jeden Fall nicht geworden. Auch später nicht, als sie ruhelos in ihrem Bett lag und sich hin und her wälzte. Ihre Gedanken hatten sich wild im Kreis gedreht, bis ihr etwa um zwei Uhr morgens endlich eingefallen war, wie sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen konnte.

Sie lenkte ihren Wagen in eine Parklücke in einer der reizenden kleinen Seitenstraßen von Bath. Die hellgelben Fassaden der Reihenhäuser schimmerten in der Wintersonne. Es war ein perfekter Februarmorgen, eisig kalt, aber sonnig. Seit sie ihre Bäckerei betrieb, war sie an frühes Aufstehen gewöhnt, und sie liebte den Anblick der noch halb schlafenden Stadt. Heute Morgen jedoch besaß sie dafür keinen Blick.

Sie stellte den Motor ab, stieg aus und betrat das dreistöckige Gebäude, in dem der einzige Mensch wohnte, dem sie rückhaltlos vertrauen konnte. Der Mensch, der immer ein offenes Ohr für sie hatte, bei dem sie ihrem Ärger Luft machen durfte und der mit seiner ehrlichen Meinung nie hinter dem Berg hielt. Ihr bester Freund seit Kindertagen. Ihr Vertrauter. Eine Art großer Bruder, der sie beschützte.

Und der sich gleich von dem Gedanken verabschieden durfte, einen gemütlichen Sonntagvormittag im Bett zu verbringen.

Gabriel versuchte, sich ein Kissen aufs Gesicht zu drücken und sich gleichzeitig die Ohren zuzuhalten, doch das Geklingel erreichte ein noch nervtötenderes Level. Er öffnete ein Auge und linste nach der Uhr auf dem Nachtisch. Sieben Uhr dreißig. Er kannte nur eine Person, die an einem Sonntag so früh aufstand.

Das Klingeln ging unverdrossen weiter, während er aus dem Bett kroch und schlaftrunken die Treppe hinunterwankte. Dunkles Haar stand in allen Himmelsrichtungen von seinem Kopf ab, ein sexy Bartschatten umgab sein markantes Kinn. Er rieb sich die schmerzenden Augen.

Mittlerweile hatte der Störenfried es aufgegeben, immer wieder auf den Klingelknopf zu drücken, stattdessen ließ er ihn gar nicht mehr los. Das Ergebnis war ein konstantes Schrillen, das Gabriels drohendem Kater überhaupt nicht guttat.

Er öffnete die Tür einen Spalt und kniff rasch die Augen vor der gleißenden Morgensonne zusammen. „Lucy, es ist halb acht an einem Sonntag“, knurrte er. „Was, zur Hölle, tust du hier?“

„Deine Augen sind zu. Woher wusstest du, dass ich es bin?“

„Niemand sonst würde es wagen, mich um diese Zeit zu stören.“ Er hob vorsichtig die Lider. „Vor allem nicht an einem Sonntag.“

Lucy beugte sich vor und spähte an ihm vorbei ins Innere des Hauses. „Ist jemand bei dir?“, fragte sie direkt. „Wenn ja, wirf sie raus. Das hier ist ein Notfall.“

Gabriel fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, verstrubbelte es dabei noch mehr und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich bin allein. Was meinst du mit Notfall? Geht es dir gut?“

„Ich kann darüber nicht zwischen Tür und Angel reden. Lass mich rein.“

Müde wich er zur Seite, woraufhin sie unverzüglich an ihm vorbei in Richtung Küche stürmte. Sehnsüchtig warf er einen Blick zu der geschwungenen Treppe, die in sein Schafzimmer hinaufführte, und hisste innerlich die weiße Fahne. Er machte sich nichts vor: Jetzt, da er Lucy ins Haus gelassen hatte, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Resigniert schloss er die Tür und ging ebenfalls in die Küche, um Kaffee aufzusetzen.

Als er den Raum betrat, drehte Lucy sich zu ihm um. Erst jetzt erkannte er mit wachsender Verzweiflung, dass sie Jogging-Klamotten trug. Dreiviertellange Leggins umschmeichelten ihre langen Beine und ließen erkennen, wie fit und durchtrainiert sie war. Ihre Figur schien so zart, dass sie in weiten Kleidern fast zerbrechlich wirkte. Ironie des Schicksals, dachte er manchmal, dass jemand, dessen Lebensinhalt die Herstellung von Torten war, so schlank sein konnte. Die Haare hatte sie zu einem schlichten Pferdeschwanz zusammengefasst, doch wie immer waren einige Strähnen dem Band entkommen. Dieser Look konnte nur eines bedeuten: Sie wollte ihn zum Joggen überreden – dabei fehlten ihm noch mindestens drei Stunden Schlaf. Vorsichtig geschätzt.

Kurz bevor er endgültig wütend wurde, bemerkte er die dunklen Ringe unter ihren grünen Augen und die Traurigkeit, die sich in ihnen spiegelte. Seit sie einander zum ersten Mal begegnet waren – sie war damals sechs, er acht Jahre alt gewesen –, fühlte er sich verpflichtet, sie zu beschützen. Deshalb verwarf er nun sein Vorhaben, Kaffee zu kochen, und schloss sie stattdessen fest in die Arme. Ihre Schultermuskeln waren völlig verkrampft, ihre Hände auf seinem nackten Rücken eiskalt. Die Spannung, unter der sie stehen musste, war enorm.

„Was ist los?“, flüsterte er. Ihr Kopf passte genau unter sein Kinn, ihre Haare kitzelten seine Wangen. Er atmete den leichten Zitronenduft ihres Shampoos ein, wobei ihm einfiel, dass auch er eine Dusche gebrauchen könnte. Lucy hingegen schien es nicht zu bemerken. Und normalerweise war sie die Erste, die ihn darauf hinwies, wenn sie das Essen vom vergangenen Abend an ihm riechen konnte. „Sag mir, dass es etwas Ernstes ist“, fügte er, nun etwas lauter, hinzu. „Etwas, das rechtfertigt, dass du mich vor elf an einem Sonntag aus dem Bett klingelst.“

Unglücklich schaute sie ihn an.

„Oh Gott, nicht deine Eltern, oder?“, stieß er erschrocken hervor. „Ist einer von ihnen krank?“

Sie zog sich auf Armeslänge von ihm zurück und musterte ihn ungläubig. „Meine grauenhaften Eltern besitzen in meinem Leben nicht gerade Priorität, das müsstest du doch wissen.“

„Okay“, gab er nach. „Offensichtlich hat es nichts mit deinen wundervollen Eltern zu tun.“ Dass Lucy das Gesicht verzog, ignorierte er geflissentlich. „Aber auf Ratespielchen habe ich jetzt wirklich keine Lust. Also setz dich hin und erzähl mir, was passiert ist.“

Er führte sie ins Wohnzimmer, räumte einen Stapel Zeitungen beiseite und zog Lucy neben sich auf das weiche weiße Sofa. Sie blickte auf ihre zarten Hände, auf die kurzen Nägel, die nie lackiert waren, weil sich das mit dem Backen nicht vertrug.

„Es geht um Ed“, sagte sie knapp. Abwesend hob sie eine Hand und begann, an einem Nagel zu knibbeln.

„Ich wusste es!“, entfuhr es ihm. „Sag schon: Was hat der Idiot jetzt wieder angestellt?“

Gabriel schüttelte den Kopf. Er hatte keine wirkliche Meinung zu Ed. An dem Mann gab es nichts, was starke Gefühle auslöste – weder in die eine noch in die andere Richtung. Er schien Lucy gut zu behandeln und mischte sich nicht in ihre Freundschaft ein. Mehr interessierte Gabriel nicht.

„Es geht nicht darum, was er getan hat“, erklärte sie, wobei sich Traurigkeit in ihrem Blick spiegelte. „Sondern darum, was er nicht getan hat.“

„Ich kann dir nicht ganz folgen.“

Sie seufzte. „Ed und ich sind jetzt seit zwei Jahren zusammen, und eigentlich läuft alles gut. An Weihnachten dachte ich, das wäre es jetzt …“

„Was wäre was?“ Die Kopfschmerzen wurden stärker. Er wünschte, Lucy würde endlich auf den Punkt kommen.

„Als er mir die Kette geschenkt hat. Die mit dem Mondanhänger, erinnerst du dich?“

Gabriel hatte keine Ahnung, was sie meinte, nickte aber trotzdem.

„Er hat mir die Schachtel mit dieser großen Geste überreicht, und da dachte ich halt, jetzt kommt’s! Ich würde sie öffnen, und darin läge der Ring.“ Sie hielt eine Hand vor sich ausgestreckt, als würde sich darauf gleich ein Ring materialisieren.

Endlich verstand Gabriel. Darum ging es also! „Du hast auf einen Antrag gehofft und stattdessen eine Kette bekommen?“ Er lachte und verspürte einen Anflug von Mitgefühl für Ed. Frauen! Manchmal konnte man es ihnen einfach nicht recht machen. „Hey, zumindest hat er dir ein hübsches Schmuckstück geschenkt!“

„Du übersiehst das Wesentliche!“ Verärgert hob sie die Hände. „Welcher Tag war gestern?“

Gabriel kratzte sich am Kopf. „Jetzt hast du mich erwischt … Samstag?“

Sie versetzte ihm einen Schubs. „Nein, du Idiot! Es war Valentinstag. Das musst du doch wissen. Der Postbote hat sich wahrscheinlich einen Hexenschuss eingefangen bei der Menge an Karten, die er zu deinem Briefkasten geschleppt hat.“ Sie wandte sich ab und murmelte angewidert: „Ich kann nicht fassen, dass du es vergessen hast.“

„Na klar, Valentinstag. Ein paar Karten habe ich tatsächlich bekommen.“ Er warf einen Blick auf den Papierkorb neben der Couch, in den er alle Karten geworfen hatte.

„Deine Karten sind mir völlig egal!“, stellte sie klar. „Es war Valentinstag, und Ed hat einen Tisch bei unserem Lieblingsitaliener reserviert. Und er hat mir gesagt, er wolle etwas Wichtiges mit mir besprechen. Und da dachte ich halt …“

Gabriel verdrehte die Augen. Er ahnte, wohin die Geschichte führte. „Du dachtest, er würde dir einen Antrag machen“, schlussfolgerte er.

„Ja.“

„Und? Hat er?“

„Nein! Er hat mir von dieser Investmentchance erzählt und mich gefragt, ob ich Geld investieren will. Die Bäckerei läuft ja ziemlich gut, und …“ Sie stockte.

Gabriel biss sich auf die Unterlippe. Hin und hergerissen zwischen dem Drang, laut aufzulachen und dem Wunsch, sie tröstend in die Arme zu ziehen, musterte er Lucy aufmerksam. Natürlich wusste er, dass sie insgeheim von einer glücklichen Zukunft träumte. Ehe, zwei Komma vier Kinder und ein Hund. Wie sollte es nach ihrer schwierigen Kindheit auch anders sein? Selbstverständlich wollte sie ihre eigene Familie gründen. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald akut wurde. Und Ed hätte er niemals für einen …

Ja, für was eigentlich? Für einen Konkurrenten gehalten? Ganz unerwartet zog sich sein Magen zusammen. Wo, um alles in der Welt, war denn dieser Gedanke hergekommen? Er brauchte wirklich Schlaf, er konnte ja nicht mehr klar denken. Aufstöhnend hob er die Hände und massierte langsam seine Schläfen. „Lu, er hat es doch nicht getan, um dich zu ärgern … Vielleicht hat er gar keine Ahnung, wie du empfindest. Hast du es ihm denn gesagt?

Sie schüttelte den Kopf.

„Du weißt doch, wie Ed ist. Wahrscheinlich ist ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen, dass du gerne einen Antrag von ihm bekommen würdest.“ In der Tat hielt er Ed nicht gerade für den Allerhellsten. Doch selbst wenn er ein Genie gewesen wäre – Gedankenlesen überstieg auf jeden Fall seine Fähigkeiten. „Aber das bedeutet doch nicht, dass er in eurer Beziehung unglücklich ist.“

Sie hob die Schultern.

Gabriel hatte keine Ahnung, wieso – aber auf einmal verspürte er den Drang, ihr diese komischen Heiratspläne auszureden. Das hatte nichts damit zu tun, dass er Ed nicht mochte, nein. Im Grunde war der Typ ihm völlig egal. Lucy hingegen … Himmel, sie war noch nicht einmal dreißig und viel zu ehrgeizig, um sich mit einem Leben in häuslicher Spießigkeit zufriedenzugeben. Außerdem war der Wunsch, so bald wie möglich vor den Altar zu treten, bestimmt nur wieder eine ihrer vorübergehenden Launen. Er kannte sie. Manchmal setzte sich eine verrückte Idee in ihrem Kopf fest, der sie sich dann mit Herz und Seele hingab … nur um sich keine zehn Minuten später wieder anderen Dingen zuzuwenden. Der einzigen Sache, die sie sich bislang mit absoluter Ausdauer gewidmet hatte, war kreatives Backen.

Er nickte, wie um sich selbst zuzustimmen. Jetzt waren klare Worte angezeigt. „Ich denke, du solltest dich von dieser fixen Idee verabschieden, demnächst Hochzeit zu feiern. Schau, heutzutage ist eine Ehe doch längst nicht mehr das eine erstrebenswerte Ziel im Leben. Viele Menschen führen eine langjährige Beziehung ohne Trauschein und sind sehr glücklich. Und vergiss nicht, deine Bäckerei floriert. Ed glaubt vielleicht, es besteht kein Grund zur Eile. Und damit liegt er ganz richtig.“

Vehement schüttelte Lucy den Kopf. „Du verstehst mich nicht. Ja, ich kenne auch viele Leute, die nicht heiraten, und das kann auch jeder halten, wie er will. Aber hier geht es um mich. Und mir reicht ein einfaches Zusammenleben eben nicht.“ Mit funkelnden Augen schaute sie ihn an. „Meine Eltern haben auch auf eine Hochzeit verzichtet, und einer von beiden wollte immer gerade ausziehen, war dabei auszuziehen oder hat es schon getan. Wären sie verheiratet gewesen, hätten sie alles vielleicht ein bisschen ernster genommen.“ Sie ballte eine Hand zur Faust und presste sie gegen ihren flachen Bauch. „Für Ed gibt es keine Entschuldigung. Wenn wir übers Heiraten im Allgemeinen reden, ist er immer Feuer und Flamme. Und wir haben oft darüber gesprochen.“

Gabriel stand auf und machte sich auf den Weg zurück zur Küche. Er brauchte Kaffee und Schmerztabletten, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

„Immer sagt er, er möchte eines Tages heiraten“, rief sie ihm nach. „Aber wenn es darum geht, es tatsächlich zu tun, kneift er.“ Sie stieß ein lautes Seufzen aus. „Offensichtlich fühle ich mich von Männern mit Bindungsangst angezogen. Und genau deshalb sollst du mir helfen.“

Auf der Türschwelle blieb er stehen, drehte sich um und musterte sie misstrauisch. „Was meinst du damit? Wie soll ich dir denn dabei helfen?“

„Na, du hattest doch schon so viele Freundinnen, oder etwa nicht? Und du bist der bindungsscheuste Mensch, den ich kenne.“

„Nun, ja … ich meine, nein!“ Er versuchte zu ergründen, ob ihre Worte ein Kompliment darstellten oder eine Beleidigung. Vermutlich beides, dachte er schließlich. „Inwiefern ist das von Bedeutung?“

„Also, ich habe mich entschieden, die Sache selbst in die Hand zu nehmen“, erklärte sie. „Es macht keinen Sinn zu warten, bis Ed die Kurve kriegt. Bevor das passiert, bin ich neunzig. Und meine innere Uhr tickt.“

„Okay, können wir diese Sache mit der Uhr auslassen? Männer wollen nichts von biologischen Zeitbomben hören. Falls du das Ed gegenüber mal erwähnt hast, könnte das der Grund sein, weshalb du jetzt hier sitzt.“

Rasch hob sie eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. „Genau das meine ich. In diesen Dingen bist du der Experte.“

Fragend zog er eine Braue hoch.

„Du sollst mich beraten“, erklärte sie. „Mir sagen, was ich falsch einschätze. Warum brennt er denn nicht darauf, mir einen Ring an den Finger zu stecken?“ Allmählich kam sie richtig in Fahrt „Du verfügst über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, den ich nur anzuzapfen brauche, und könntest mir zeigen, was ich tun muss, um unwiderstehlich auf ihn zu wirken. Und dann …“ Sie schlenderte an ihm vorbei in die Küche. Er hörte, wie sie anfing, den Wasserkocher zu befüllen. „Und dann werde ich ihm einen Antrag machen. Am neunundzwanzigsten Februar.“

Fassungslos starrte er sie an. Hatte sie jetzt komplett den Verstand verloren?

„Wir haben ein Schaltjahr“, erläuterte sie. „An diesem Tag haben Frauen die Chance, ihren Männern einen Antrag zu machen. Nein, nicht die Chance, sondern das Recht. Und du wirst mir helfen, es so zu tun, dass er gar nicht anders kann, als Ja zu sagen.“

Inzwischen war sein Kater vollends vergessen, und er stürmte hinter ihr in die Küche. Er wusste ja, dass sie ab und an die verrücktesten Ideen überkamen, aber diese hier …„Nein!“, stellte er klar. „Auf gar keinen Fall.“

„Warum nicht?“ Stirnrunzelnd wandte sie sich zu ihm um. „Ich dachte, wir sind Freunde.“

„Sind wir auch. Aber ich habe ganz einfach keine Zeit, dich mit der männlichen Gedankenwelt vertraut zu machen. Und selbst wenn ich sie hätte …“

„Ja?“

„Das bringt doch alles nichts, Lucy. Du musst Ed gegenüber das Problem direkt ansprechen und ihm sagen, wie unglücklich du bist.“

„Glaubst du denn, das hätte ich nicht schon versucht?“ Ein wütender Unterton schlich sich in ihre Stimme. „Genau das habe ich doch an Weihnachten getan. Er war sich über meine Gefühle absolut im Klaren und hat mich trotzdem vertröstet.“ Sie setzte zwei Tassen so hart auf der Arbeitsplatte ab, dass Gabriel erschrocken zusammenzuckte. „An meinem Geburtstag hat er mir Parfüm geschenkt. Noch eine verpasste Gelegenheit! Und jetzt Valentinstag, der romantischste Tag des Jahres. Und wir verbringen ihn damit, Investmentchancen zu diskutieren.“

Gabriel schüttelte eine ordentliche Portion Instantkaffee in seine Tasse. Wenn er dieses Gespräch überleben wollte, brauchte er so viel Koffein wie möglich. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass er vielleicht nicht der Richtige ist?“

Die Wut wich aus ihrem Gesicht und machte Verzweiflung Platz. „Er ist der Richtige, Gabe. Wir kommen hervorragend miteinander aus. Er unterstützt mich, bringt mich zum Lachen, und ich liebe ihn. Er ist auch selbstständig, also versteht er, dass ich abends und am Wochenende nicht immer Zeit habe.“

Nichts davon klang in Gabriels Ohren wie untrügliche Zeichen wahrer Liebe, sondern vielmehr nach unverhoffter Freizeit, die Ed mit seinen Kumpels verbringen konnte, um Fußballspiele zu schauen.

„Bitte, Gabriel, eines Tages werde ich dasselbe für dich tun.“

„Ich brauche absolut keine Nachhilfe darin, Frauen einen Antrag zu machen.“

„Das wollte ich auch nicht vorschlagen. Ich meinte nur, dass ich dir einen Gefallen schulde. Ich weiß, dass du seit Alisons Tod keine feste Beziehung mehr willst.“ Unsicher sah sie ihn an. Ihr war klar, dass ihre Worte einen wunden Punkt trafen.

Er verspürte einen Stich in der Brust, dort, wo er sein Herz vermutete. Es war nicht fair, Alison zu erwähnen. Die meiste Zeit über bemühte er sich, die Erinnerungen irgendwo ganz tief in seinem Inneren wegzuschließen. Und ganz sicher hegte er nicht die Absicht, jetzt über sie zu sprechen. Er bemühte sich um eine möglichst gleichgültige Miene und wechselte rasch das Thema. „Aber wenn du mir schon einen Gefallen schuldest …“ Er wirbelte herum und griff nach einer Karte mit goldenen Verzierungen, die mit einem Magnet am Kühlschank befestigt war. „Begleitest du mich zu einer Party meiner Kanzlei?“ Er reichte ihr die Einladung, die sie aufmerksam betrachtete.

„Du willst mich als Date zu einem Arbeitsessen?“, fragte sie. „Ich dachte, die Frauen stehen bei dir Schlange. Kann das nicht diese Tabitha übernehmen? Oder Agatha? Verflixt, ich habe den Überblick verloren.“

„Mit Tabitha habe ich vor Monaten Schluss gemacht. Bestimmt meinst du Susan?“

„Wer, zur Hölle, ist Susan?“

Er winkte ab. „Spielt keine Rolle. Ich habe mich letzte Woche von ihr getrennt. Sie wurde ein bisschen zu aufdringlich.“ Da er keinen Löffel entdecken konnte, rührte er seinen Kaffee mit einer Gabel um.

„Tja, dann solltest du jemand Neues kennenlernen.“ Mit großer Geste blickte sie auf ihre Uhr. „Und zwar bald. Die Party findet in zwei Wochen statt, dann dürftet ihr am Höhepunkt eurer Beziehung angelangt sein. Problem gelöst, mich brauchst du dazu nicht.“ Sie reichte ihm die Karte und griff nach ihrer Tasse. „Außerdem reden wir hier nicht über deine Verabredungslappalien, sondern über meine Probleme.“

Gabriel schüttelte den Kopf. „Du hast mich nicht verstanden. Die Party ist wichtig, ich kann nicht irgendwen mitnehmen. All unsere Klienten werden dort sein, ebenso die Seniorpartner der Kanzlei. Ich brauche eine Begleiterin, die nicht zu auffällig ist und sich nicht ununterbrochen an mich klammert. Und genau da kommst du ins Spiel. Tabitha wird übrigens auch dort sein, da sie für uns arbeitet. Unsere Trennung verlief nicht sonderlich nett.“

Lucy kniff die Augen zusammen. „Soll das ein Witz sein?“ Sie schüttelte den Kopf. „Hast du dich eigentlich nie gefragt, ob deine Schwierigkeiten vielleicht daher rühren könnten, dass du auf den falschen Frauentyp stehst? Oder – was für eine entsetzliche Vorstellung – daher, wie du deine Partnerinnen behandelst? Ich meine, dein Interesse an ihnen erlischst doch schon nach ein paar Verabredungen.“

„Ich bin immer ehrlich und vermittle nie den Eindruck, ich sei auf eine ernsthafte Beziehung aus“, verteidigte er sich. „Aber die Sache ist die, dass ich eben auch mit ein paar Frauen aus der Kanzlei ausgegangen bin. Du bist als gute Freundin von mir bekannt. Also wird es keine Eifersüchteleien geben. Von dir wird sich niemand bedroht fühlen. Problem gelöst.“

Lucy lachte zynisch auf. „Davon bin ich nicht überzeugt. Deine Exfreundinnen sind nicht gerade meine größten Fans. Frauen misstrauen stets einem weiblichen besten Freund.“

„Nein, nein, sie haben immer gesagt, dass sie dich mögen.“

„Natürlich behaupten sie das. Sie wollen dir ja gefallen. Meine Güte, ein bisschen Einsicht in die weibliche Logik könnte dir wirklich nicht schaden.“ Sie seufzte. „Okay, schließen wir ein Abkommen. Ich gehe mit dir zu dieser Party, dafür hilfst du mir bei meinem Vorhaben. Ich brauche dringend Einsicht in die männliche Psyche.“ Erwartungsvoll schaute sie ihn an. „Also? Abgemacht? Ich glaube, wir können gleich anfangen. Lass uns am Fluss joggen gehen, dann können wir erste Details besprechen.“ Sie stand auf und vollführte ein paar einfache Dehnübungen.

Entsetzt und fasziniert zugleich sah er ihr zu. „Du bist verrückt, wenn du ernsthaft denkst, ich würde jetzt irgendwohin laufen. Ich bin erst um drei ins Bett gekommen.“

Er stutzte. Ging es ihm wirklich nur darum? Unvermittelt verspürte er heftigen Widerwillen, ihr behilflich zu sein, den Heiratsantrag für Ed einzufädeln. Rasch schob er den Gedanken beiseite. Warum sollte es ihn kümmern, ob sie heiratete? Schließlich wollte er nichts anderes, als sie glücklich zu sehen. Außerdem standen die Chancen nicht schlecht, dass sie sich in ein paar Wochen gelangweilt von ihrer Idee abwandte – und wenn er sie auf ein paar von Eds Fehlern aufmerksam machte, konnte er diese Zeit vielleicht sogar beschleunigen. Im Augenblick schien jedenfalls das Sinnvollste zu sein, einfach mitzuspielen.

„Lass mich weiterschlafen, dann komme ich morgen Abend zu dir“, schlug er vor. „Ich bringe sogar eine Flasche Wein mit. Also, was ist? Abgemacht?“

2. KAPITEL

Nachdem Lucy gegangen war, ließ Gabriel sich dankbar wieder ins Bett fallen. Doch sosehr er sich auch bemühte, an Einschlafen war nicht mehr zu denken.

Sie will heiraten, sie will wirklich heiraten! Er kam einfach nicht darüber hinweg. Und eines stand fest: Sollte sie Ed tatsächlich einen Antrag machen, würde der ihn ohne mit der Wimper zu zucken annehmen. Das musste er einfach. Jeder Mann wäre ein kompletter Volltrottel, es nicht zu tun. Und so wie er sie kannte, würde sie alles daransetzen, noch vor Ablauf des Jahres den Bund fürs Leben zu besiegeln. Und was wird dann aus unserer Freundschaft?

Es war nicht das erste Mal, dass sie zu ihm kam, wenn sie Hilfe brauchte. Nein, so war es seit Kindertagen. Er hatte die Räumlichkeiten gefunden, in denen jetzt die Backstube und der dazugehörige Laden untergebracht waren. Er hatte Lucy überredet, nach Bath zu ziehen und das Kuchengeschäft auszubauen – bis dahin hatte sie in der kleinen Küche ihrer winzigen Wohnung gebacken und sich allein auf Mundpropaganda verlassen. Er hatte ihr sogar erlaubt, sechs Monate mietfrei bei ihm zu wohnen, bis sie den Laden ans Laufen gebracht hatte.

Und umgekehrt? Wenn ihm etwas sehr Gutes oder auch Schlechtes widerfuhr, war sie der Mensch, dem er es erzählen wollte. Die schönen Dinge, weil er wusste, dass sie sich mit ihm freute. Die schlechten, weil es ihm danach besser ging. Wie sollte er sich dabei fühlen, wenn nun jemand anders seine Rolle übernahm?

Wenn er ehrlich war, überhaupt nicht gut.

Drei Stunden später schälte Lucy Kartoffeln in der Küche ihrer kleinen Wohnung, als Ed nach Hause kam. Er gab ihr einen Schmatzer auf die Wange und spähte über ihre Schulter hinweg in die Töpfe auf dem Herd.

„Hm, das duftet ja köstlich.“

„Danke.“

Er trug T-Shirt und Trainingshose, seine Haare waren noch leicht feucht von der Dusche. Ed spielte im örtlichen Fußballclub und trainierte fast jeden Sonntagmorgen. Jetzt öffnete er den Kühlschrank, nahm zwei Flaschen Bier heraus und bot ihr eine an.

Lucy schüttelte den Kopf. „Wie war das Training?“ Sie hatte nichts dagegen, dass er Fußball spielte. Sonntag war der einzige Tag in der Woche, an dem der Morgen ihr allein gehörte. Eigentlich freute sie sich sogar immer darauf. Abgesehen von diesem Morgen natürlich. Eds Gedankenlosigkeit von gestern Abend setzte ihr immer noch zu. Wenigstens hatte sie schon Gegenmaßnahmen eingeleitet. In ein paar Wochen würden sie Verlobung feiern. Bei dem Gedanken musste sie innerlich lächeln.

„Ganz okay. Das Knie macht mir ein bisschen zu schaffen. Ich denke, ich sollte mein Bein kurz hochlegen. Oder kann ich dir irgendwie helfen?“

„Nein, geh nur und ruh dich aus. Ich setze noch die Kartoffeln auf, dann leiste ich dir Gesellschaft.“

Als sie zehn Minuten später ins Wohnzimmer kam, hatte Ed es sich im Sessel bequem gemacht und den Fuß auf den Tisch gelegt. Im Fernsehen lief ein Fußballspiel.

Lucy setzte sich auf die Lehne und zerzauste ihm liebevoll das Haar. Es fiel ihm bis weit über die Stirn, die Koteletten hatte er als Hommage an sein Idol Elvis Presley ebenfalls lang wachsen lassen.

„Heute Morgen habe ich Gabriel besucht“, sagte sie. „Ich wollte mit ihm joggen gehen, aber er hat einen Kater vorgeschützt. Ich bin dann alleine gelaufen.“

„Hm.“ Unverwandt blickte Ed auf die Mattscheibe.

„Er hat mich gebeten, ihn zu einer Party der Kanzlei zu begleiten.“

Jetzt schaute Ed sie doch an. „Kann er nicht eine seiner Freundinnen mitnehmen? Davon gibt es doch genug!“

„Genau das habe ich auch gesagt“, erwiderte sie lächelnd „Anscheinend hat er eine von ihnen beleidigt, und genau die wird auch bei der Veranstaltung sein. Er braucht eine neutrale Verabredung, um Ärger zu vermeiden. Es ist übernächstes Wochenende. Du hast doch nichts dagegen, oder?“

Er trank einen Schluck aus der Bierflasche. „Nein. Dann mache ich mir einen netten Abend mit den Kumpels.“

„Gabriel möchte morgen Abend vorbeikommen, wir wollen über ein paar Probleme bei der Arbeit sprechen. Aber dann bist du ja sowieso unterwegs.“

Ed nickte nur. Der Fernseher war ganz offensichtlich spannender als seine Freundin. Es hatte mal eine Zeit gegeben, als sie gerade zusammengekommen waren, da hätten sie jetzt darüber gestritten, dass Gabriel zu einem abendlichen Besuch anrückte. Mit den paar wenigen Freunden, die sie vor Ed gehabt hatte, war es genauso gewesen. Lucy konnte es ihnen nicht verübeln. Normalerweise dauerte es ein paar Monate, bis sie einsahen, dass ihre Freundschaft zu Gabriel wirklich rein platonisch war. Dann verstummten die Proteste. Nur Ed nörgelte trotzdem hin und wieder.

Nach dem Essen sah sie ihm zu, wie er in der Fernsehzeitung blätterte, während sie die Spülmaschine einräumte. Genau das gefiel ihr so gut daran, mit ihm zusammen zu sein: Häuslichkeit. Bevor sie es verhindern konnte, wanderten ihre Gedanken zurück zu ihrer eigenen Kindheit. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, befand sich auf dem Grundstück von Gabriels Familie. Es gehörte zum Job ihres Vaters als Gärtner. Alles, was zur Instandhaltung des Anwesens zählte, fiel in seine Verantwortung. Und er hatte seinen Job immer gut gemacht. Zumindest bis der Alkohol die Kontrolle über sein Leben übernahm.

Lucy verspürte einen schmerzhaften Stich, als sie nun auch an ihre Mutter denken konnte, die all das nicht hatte verhindern können, sondern stattdessen ihre eigenen Alkoholprobleme entwickelte. Die Streitereien zwischen beiden hatten immer weiter zugenommen, anfangs nur verbal, schließlich auch manchmal körperlich. An Lucys sechzehntem Geburtstag hatte ihre Mutter die Familie längst verlassen. Von da an hatte sie, die Tochter, sich gleichzeitig um Schule und Haushalt kümmern müssen.

Während sie nun weiter Ed beobachtete, verspürte sie ein warmes Gefühl in sich aufsteigen. Sie fühlte sich entspannt und sicher. Und sie wollte, dass sich dieses Gefühl auf jeden Aspekt ihres Lebens ausbreitete. Sie wollte darüber nachdenken, Kinder zu bekommen. Es war der nächste logische Schritt in ihrer Beziehung. Und beginnen sollte die gemeinsame Reise mit ihrer Hochzeit. Der Gedanke machte sie glücklich.

Endlich eine eigene Familie!

Am nächsten Abend trudelte Gabriel mit der ihm eigenen Verspätung ein. In seinem Job war er stets bestens vorbereitet und absolut pünktlich. Er war der loyalste und integerste Mensch, den Lucy kannte. Der aufsteigende Stern in Juristenkreisen. Noch vor seinem dreißigsten Geburtstag war er zum Partner in der Kanzlei befördert worden. Seither ging es mit seiner Karriere weiterhin steil nach oben. Nur auf sein Privatleben schien all dies nicht zuzutreffen. Er kam immer zu spät, und in seinem wunderschönen Haus herrschte ein heilloses Chaos.

Zur Begrüßung küsste er sie auf die Wange. Der Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Eine warme erdige Note, die sie gerne tief eingeatmet hätte. Gabriel ging an ihr vorbei in die Küche. Lucy folgte ihm, blieb auf der Schwelle stehen und sah ihm amüsiert zu, wie er nach zwei Gläsern griff und in einer Schublade nach dem Korkenzieher kramte.

„Fühl dich wie zu Hause“, neckte sie.

Er winkte ab. „Du bist so ein Gewohnheitstier, Lu. Ich wette, ich kann jeden Gegenstand in dieser Küche mit verbundenen Augen finden. Immerhin haben wir sechs Monate zusammen gewohnt.“

„Steakmesser?“

Er öffnete die Schublade unter dem Herd und zog das Messer heraus. Scharfe Gegenstände bewahrte sie in der Nähe von Herd und Schneidebrettern auf.

„Das war Glück“, protestierte sie. „Olivenöl?“

Er deutete auf den Hochschrank zu seiner Linken. „Bei den Vorräten neben den Gewürzen.“

Natürlich stimmte auch das. Jedes Teil hatte seinen Platz. „Salatschleuder?“

„Was, zur Hölle, ist das denn?“

Sie lachte. Und auch Gabriel grinste, als er jetzt die Weinflasche entkorkte.

„Okay, fangen wir an.“ Sie griff nach einem der Gläser und ging voran ins Wohnzimmer. Der Raum war klein und aufgeräumt. Die Kerzen, die sie vorhin entzündet hatte, verbreiteten den angenehmen Duft nach Orangen und Nelken. Er folgte ihr mit der Flasche und setzte sich in den Sessel, während sie sich aufs Sofa fallen ließ.

„Soll ich ihn fragen, wenn wir alleine sind oder lieber in Gegenwart von Freunden und Familie?“ Sie legte den Kopf auf die Seite. „Hältst du es für zu verrückt, wenn ich mir selbst einen Ring kaufe?“

Gabriel hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. Ungeduldig wartete Lucy, während er einen Schluck Wein trank.

„Als Erstes muss ich sagen, dass ich das für die größte Schnapsidee halte, die du je hattest“, begann er. „Einschließlich der, als du mich damals überzeugt hast, dass es meiner Mutter gefallen würde, wenn wir die Salontür mit meinen Fingerfarben gelb anmalen.“

Wieder lachte sie, und auch er lächelte. Er besaß ein hinreißendes Lächeln, das sich langsam in seine Augen stahl, die feinen Fältchen um sie herum vertiefte und ihm ein ungemein warmherziges und sympathisches Aussehen verlieh. Lucy hatte immer das Gefühl, er habe dieses Lächeln allein für sie reserviert. Bestimmt, dachte sie jetzt nüchtern, glaubten eine Menge Frauen dasselbe.

„Aber da du einverstanden bist, mich zu dieser leidigen Party zu begleiten, werde ich dir trotzdem helfen.“

Aufgeregt klatschte sie in die Hände.

„Aber wir machen es auf meine Weise, verstanden?“ Er musterte sie streng.

„Okay.“ Sie schob sich die Hände unter den Po und wartete darauf, dass Gabriel weitersprach. Wenn er sich einmal auf eine Sache eingelassen hatte, ließ er nicht zu, dass sie ihn mit ihrem Enthusiasmus ablenkte. Auch das zählte zu den Dingen, die sie so an ihm mochte.

In all den Jahren, die sie einander kannten, hatte er sie nie im Stich gelassen. Die Episode mit den Fingerfarben erinnerte sie daran, wie sehr sie es schon als Kind geliebt hatte, Zeit mit ihm zu verbringen. Im Gegensatz zu ihren Eltern waren seine einfühlsam und ausgesprochen reich. Das Geld hatte sie nie interessiert, aber sie beneidete ihn um das liebevolle und sorgenfreie Leben, das er führte. Seine Familie hatte auch sie immer mit offenen Armen willkommen geheißen. Für sie war das „große Haus“, wie sie es insgeheim nannte, zu einer Zuflucht geworden, um den täglichen Streitereien ihrer Eltern zu entkommen.

„Bis zum neunundzwanzigsten sind es nur noch zwei Wochen“, holte Gabriel sie in die Gegenwart zurück. „Das heißt, wir müssen radikale Pläne schmieden.“ Er lehnte sich zurück und musterte sie. „Ich kenne dich, Lucy. Am liebsten würdest du auf der Stelle eine riesige Party planen, um Mitternacht vor Ed auf die Knie sinken und ihm deinen Antrag machen. Aber es reicht eben nicht, eine Rede einzustudieren und sich auf große Gesten zu verlassen.“ Er hielt einen Moment inne. „Um wirklich erfolgreich zu sein, musst du die Ursache finden, weshalb Ed dir nicht längst einen Antrag gemacht hat. Wenn uns das gelingt, können wir die Art und Weise ändern, wie er über dich denkt. Nur das garantiert uns einen positiven Ausgang.“ Er grinste.

„Und wie sollen wir das anstellen?“ Es beeindruckte sie, wie gut er sie kannte. Fast war es ihr sogar ein bisschen unheimlich. Tatsächlich hatte sie über eine Party nachgedacht. Oder darüber, eine A-capella-Band anzuheuern, die Ed den Antrag vorsang, während sie sich gemütlich zurücklehnte und auf sein Ja wartete. Manchmal ging ihr Enthusiasmus wirklich mit ihr durch – genau deshalb brauchte sie Gabriels ruhige analytische Perspektive.

„Wir werden jeden Bereich deines Lebens unter die Lupe nehmen“, erwiderte er. „Wir schauen uns dein Privatleben an, deine Freunde, deine Garderobe, dein Aussehen …“ Er lehnte sich zurück und ließ seinen Blick langsam über sie wandern. Seine grauen Augen wirkten müde, aber um seinen Mund entdeckte sie einen entschlossenen Zug. Selbst wenn er erschöpft ist, sieht er fantastisch aus, dachte sie. Wie ungerecht. Und jetzt will er auch noch meinen Stil kritisieren!

Abweisend fuhr sie mit den Fingern durch ihre Locken. „Was stimmt nicht mit meinem Aussehen?“

„Nichts, meine Süße. Außer …“

„Ja?“

„Wie soll ich es sagen? Ed hat sich an deinen Anblick gewöhnt. Wir müssen jetzt erreichen, dass er dich mit neuen Augen sieht. Und was ist der einfachste Weg, das zu erreichen? Richtig, wir müssen dein Äußeres verändern. Ich kenne einen Personal Shopper bei Jolly’s …“ Er winkte ab. „Ach, überlass einfach alles mir.“

„Also“, sagte sie zweifelnd, „falls du es darauf abgesehen hast, meinem Ego zu schmeicheln, hast du komplett versagt.“

Gabriel ignorierte den Einwurf. „Erzähl mir von deinem Tagesablauf.“

„Wochentags oder am Wochenende?“, fragte sie seufzend. Sein geschäftlicher Tonfall begann, ihr auf die Nerven zu gehen. Hier ging es schließlich um ihr Leben, nicht um irgendeinen juristischen Fall!

„Wochentags. Was tust du? Was tut Ed? Wann seht ihr euch? Wie oft geht ihr zusammen aus?“

„Also schön. Ich stehe natürlich früh auf. Normalerweise gegen fünf Uhr, damit ich in der Bäckerei alles vorbereiten kann. Deshalb bleibt Ed unter der Woche selten über Nacht.“

„Ihr seht euch also nur abends?“

„Nein, üblicherweise ruft er mich morgens an“, widersprach sie. „Wenn er nicht in einem seiner Häuser zu viel zu tun hat.“

Ed arbeitete als freier Bauunternehmer. Vor drei Jahren hatte er seinem Job in der IT Branche den Rücken gekehrt – kurz danach hatten sie sich kennengelernt. Jetzt kaufte er heruntergekommene Häuser auf, um sie zu renovieren und mit Gewinn weiter zu verkaufen. Bislang jedoch noch ohne den großen Erfolg, an den er so fest glaubte.

Er befindet sich noch in der Anlaufphase, beruhigte sie sich. Gib ihm eine Chance. Ihr gefiel die Tatsache, dass er sein altes Leben über Bord geworfen hatte, um sein eigener Chef zu sein. Damit konnte sie sich identifizieren. Sie hatten viel gemeinsam, was sie für die Basis einer guten Beziehung hielt.

„Wie viel häusliche Arbeiten übernimmt er?“, fragte Gabriel und riss sie aus ihren Überlegungen.

„Jede Menge.“

„Reicht mir nicht. Wie sieht seine Wohnung aus? Stell dir vor, wie es sein wird, wenn ihr verheiratet seid und zusammenlebt.“

Zufrieden blickte sie sich in ihrer sauberen und aufgeräumten Wohnung um. Sie liebte ihre vier Wände, die ungewöhnlichen Kleinigkeiten und Möbelstücke, die sie auf Flohmärkten und in Antiquitätengeschäften gekauft hatte.

„Stell dir vor“, fuhr er fort, „du musst geschäftlich eine Woche verreisen. Wie würde die Wohnung aussehen, wenn du zurückkommst?“

Lucy verzog das Gesicht. „Nun ja, alleine kommt er nicht so gut zurecht. Kochen ist nicht seine Stärke, also hat er wahrscheinlich von Pizza und Fast Food gelebt. Vermutlich hätte er auch nicht aufgeräumt. Du würdest dich bestimmt wohlfühlen.“ Rasch duckte sie sich, als Gabriel ein Kissen nach ihr warf.

„Hey, so schlimm bin ich nicht!“

„In deinem Haus herrscht absolutes Chaos, Gabe. Sieh es endlich ein. Das einzige Mal, dass Ordnung darin herrschte, war, als wir zusammengewohnt haben.“

„Lenk jetzt nicht ab, wir reden über Ed, nicht über mich. Was fällt dir noch ein?“

„Die Wäsche würde sich stapeln“, gab sie nachdenklich zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt weiß, wie die Waschmaschine funktioniert.“

„Erbärmlich!“

„Und die Pflanzen wären wahrscheinlich tot. Er vergisst immer, sie zu gießen.“

Rasch hob Gabriel eine Hand. „Ich glaube, ich habe genug gehört. Im Grunde genommen …“ Er legte eine dramatische Pause ein.

„Ja?“, fragte sie vorsichtig nach.

„Du bist zu Eds Mutter mutiert, Lu.“

Einen Moment herrschte Stille, dann schüttelte Lucy den Kopf. „Du machst dich ja lächerlich! Ed ist doch kein Faulpelz, der keinen Finger krumm macht, während ich alles leiste.“

„So klingt es aber.“

„Dann hast du das falsch aufgefasst! Wir sind einfach verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Prioritäten. Es muss Millionen Paare wie uns geben.“

„Da bin ich mir sicher“, erwiderte er amüsiert. „Aber ich glaube trotzdem, ihr folgt dem klassischen veralteten Beziehungsmodell. Du stehst am Herd, er bringt das Geld nach Hause. Das Problem ist nur, dass du über kurz oder lang diejenige sein wirst, die nicht nur hinterm Herd steht, sondern auch das Geld heranschafft. Denn du wirst die Hauptverdienerin sein.“

„Das bedeutet doch gar nichts!“

„Es bedeutet alles!“

Die Hände in die Hüften gestemmt, funkelte sie ihn wütend an.

„Okay“, unternahm er einen Beruhigungsversuch. „Betrachten wir die Situation aus einer anderen Perspektive. Hast du ihm schon gesagt, dass du mich zu der Kanzleiparty begleiten wirst?“

„Sicher“, entgegnete sie und entspannte sich ein wenig.

„Und? Wie hat er reagiert?“

„Für ihn ist das völlig in Ordnung. Er hat mir sogar eine schöne Zeit gewünscht.“

„Oje.“ Mitleidig schaute Gabriel sie an.

„Was stimmt denn jetzt nicht?“

„Nun, für mich ist das natürlich gut. Aber für dich …“

„Ja?“

„Nun, dich hält er offenbar für selbstverständlich.“

Abermals stand Lucy kurz davor, die Fassung zu verlieren. Das Gespräch entwickelte sich zusehends zu einer Sezierung von Eds Charakter, bei dem er alles andere als gut davonkam. „Ich sehe das nicht so“, entgegnete sie kalt. „Es ist doch positiv, dass er sich so vernünftig verhält.“

„Aha! Und genau an diesem Punkt liegst du falsch.“ Er beugte sich vor, griff nach ihrem Handgelenk und schaute ihr in die Augen. Unwillkürlich schien ihr Herz einen kleinen Hüpfer zu machen, ihr Puls beschleunigte sich. Sie ignorierte das Gefühl und schob es auf die Tatsache, dass sie immer noch um Selbstbeherrschung rang. „Lucy, wenn ich eine Beziehung mit dir führen würde, würde ich dich nicht zu einer Verabredung mit einem anderen Mann gehen lassen. Es wäre mir egal, ob er dein Kindergartenfreund ist oder schwul oder was auch immer!“

Sie erwiderte seinen Blick und entdeckte in Gabriels schiefergrauen Augen aufrichtige Zuneigung und Besorgnis. Sofort spürte sie, wie eine lange vergessene Erinnerung an die Oberfläche dringen wollte, aber dann war der Gedanke auch schon wieder fort. Sie senkte den Blick. Was passierte hier gerade?

„Als wir uns kennengelernt haben, war Ed auch so“, protestierte sie leise. „Er konnte dich nicht ausstehen.“

„Siehst du, genau das meine ich!“ Triumphierend lächelnd lehnte er sich zurück. Ein merkwürdiges Gefühl von Verlust beschlich sie, als er ihre Hand losließ. „Er hat sich daran gewöhnt, dass du da bist“, erklärte er. „Du schaust keine anderen Männer an, andere Männer interessieren sich nicht für dich.“

„Hey!“

„Das ist keine Kritik, Lu. Ich will dir nur vor Augen führen, dass er es sich bequem gemacht hat. Deine Anwesenheit ist für ihn selbstverständlich geworden. Er braucht sich nicht mehr anzustrengen, weil er sich darauf verlassen kann, dass du da bist. Er kümmert sich nicht um eure Beziehung. Das ist der Schlüssel.“

„Was?“ Sie verstand nicht, worauf er hinaus wollte.

„Ed denkt, er hat den Sieg schon in der Tasche. Er muss dir keinen Antrag machen, er hat dich längst. Und deshalb ist es jetzt unsere Aufgabe, ein bisschen an seiner Wahrnehmung zu rütteln. Wir müssen ihm zeigen, wie großartig und liebenswert du bist, und dass er sich gefälligst anzustrengen hat, wenn er dich behalten will.“

Jetzt begriff sie, was er meinte. „Okay, und wie erreichen wir das, Sherlock?“

„Du musst das Ziel neu definieren“, sagte er mit fester Stimme. „Mach dich rar, triff dich häufiger mit mir. Bring ihn dazu, dass er dich vermisst.“ Er lächelte. „So hätte ich auch etwas davon. Du fehlst mir, seit du ausgezogen bist.“

Das warme Gefühl in ihrem Bauch meldete sich wieder. Rasch trank sie einen Schluck Wein, damit es aufhörte. Wieder drängte die verschüttete Erinnerung an die Oberfläche. Selbstverständlich ist es normal, versicherte sie sich, dass ich mich aufgewühlt und nervös fühle. Immerhin plane ich gerade meine Zukunft!

„Wirklich?“, fragte sie nach. Anfangs hatte sie ihn auch vermisst. Es war schön gewesen, ihn eine Weile jeden Tag zu sehen.

„Ja.“ Er grinste schelmisch. „Aber seitdem du nicht mehr immerzu so penibel aufräumst, strahlt das Haus eine viel entspannter Atmosphäre aus. Und ich muss die Fernbedienung nicht mehr teilen. Trotzdem fehlen mir ein voller Kühlschank und das Gefühl, dass jemand da ist, wenn ich nach Hause komme. Es hat mir gefallen, mich abends mit dir zu unterhalten.“

Lucy trank noch einen Schluck Wein und erinnerte sich daran, dass es Gabriel war, der ihr gegenüber saß. Ihr alter Freund, dem ihr Glück am Herzen lag. Er würde ihrer Beziehung niemals schaden. Nein, er versuchte wirklich, ihr zu helfen – worum sie ihn immerhin auch gebeten hatte. „Oh, das ist süß von dir. Allerdings auch ein zweischneidiges Kompliment. Und entspannt ist wohl nicht das richtige Wort, um deinen chaotischen Haushalt zu beschreiben. Du hast Nerven, Ed in dieser Hinsicht zu kritisieren.“

„Hier geht es nicht um mich, schon vergessen? Und außerdem … zweischneidige Komplimente sind die besten. Ich wünsche mir, dass du immer noch bei mir wohnst – trotz all deiner Fehler. Das ist etwas anderes, als zu sagen, dass du dich ändern sollst.“

„Hm, wahrscheinlich hast du recht“, stimmte sie widerwillig zu.

Er schenkte ihr Wein nach, dann sich selbst. „Dann bist du also mit meinem Vorschlag einverstanden? Großartig! Warum kommst du nicht am Sonntag mit zum Lunch zu meinen Eltern? Sie würden dich so gerne wiedersehen.“

„Du meinst nach Gloucestershire?“ Unvermittelt verspürte sie Unbehagen in sich aufsteigen, und drängte das Gefühl hastig beiseite. Normalerweise vermied sie es, in ihre Heimat zurückzukehren, aus Angst das neue Leben anzugreifen, das sie sich aufgebaut hatte.

„Klassischer Sonntagsbraten. Du brauchst nicht zu kochen. Na, klingt das nicht verführerisch?“ Gabriel lächelte erwartungsvoll.

Einen Moment haderte sie mit sich. Ihr war klar, dass sie endlich aufhören sollte, allem aus dem Weg zu gehen, was mit ihrer Kindheit zusammenhing. Vielleicht würde ihr ein Ausflug nach Gloucestershire ja auch guttun? Sie könnte ein paar Geister zu Grabe tragen. Außerdem musste sie zugeben, dass Gabriel im Hinblick auf Ed nicht ganz falsch lag. Und sollte gelegentliche Abwesenheit die Liebe nicht fördern? In letzter Zeit hatte sich eine unschöne Routine eingeschlichen.

Lucy gab nach. „Klingt sogar sehr gut. Und ich glaube, du könntest recht haben. Vielleicht schadet es Ed tatsächlich nicht, mich ein bisschen zu vermissen.“

„Das denke ich auch. Er sollte dich mehr zu schätzen wissen und das Gefühl haben, dass er ein absoluter Glückspilz ist, dich an seiner Seite zu haben. Er ist sich deiner zu sicher, das ist die Wurzel des Ganzen. In der Zwischenzeit können wir uns deinem Äußeren widmen. Außerdem will ich beobachten, wie ihr beide euch in Gegenwart eurer Freunde verhaltet.“

Zweifelnd blickte Lucy auf ihr schlichtes weißes T-Shirt und die Jeans hinunter. Die Aussicht, dass Gabriel ihre Garderobe unter die Lupe nahm, verlieh ihr ein leicht mulmiges Gefühl. Um ihn davon abzulenken, stürzte sie sich auf sein zweites Vorhaben. „Kein Problem. Morgen Abend treffen wir uns alle in der neuen Weinbar in der George Street. Du könntest mitkommen und bei der Gelegenheit so viel beobachten, wie du willst.“

„Wer ist wir?“

„Eds Freunde“, sagte sie. „Mittlerweile sind es auch meine. Digger und Yabba mit ihren besseren Hälften, Suzy und Kate.“

„Digger und Yabba“, wiederholte Gabriel. „Klingt nach Spitznamen aus Kindertagen.“

Lucy lachte. „Niemand aus Eds Clique wird bei seinem richtigen Namen genannt. Das ist so eine Männersache. Auch Ed heißt in Wahrheit anders.“

„Soll das ein Witz sein?“, erwiderte Gabriel auf einmal interessiert. „Wie denn?“

„Roland“, entgegnete sie und ignorierte geflissentlich, dass Gabriel sich vor Lachen an seinem Wein verschluckte. „Ja, ich weiß. Roland klingt furchtbar. Ed passt viel besser zu ihm.“

Verwundert schüttelte Gabriel den Kopf. „Diese ganze Kumpel-Kultur scheint an mir vorbeigegangen zu sein.“

„Da hast du nicht viel verpasst. Als Kind mag das ja ganz witzig sein, aber irgendwie ist es schon traurig, von allen immer noch Yabba genannt zu werden, wenn du dreißig bist und als Feuerwehrmann arbeitest, oder?“ Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und musterte ihn erwartungsvoll. „Na, möchtest du dich trotzdem mit uns treffen?“

„Auf jeden Fall! Wird bestimmt ein sehr aufschlussreicher Abend. Gibt es auch weibliche Singles in eurer Clique?“

„Du meine Güte, Gabriel! Kannst du nicht einen Moment aufhören, an deine nächste Eroberung zu denken? Ist das wirklich zu viel verlangt? Du sollst dich auf Ed und mich konzentrieren.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Pause. „Und? Kommen weibliche Singles?“

Lucy seufzte müde. „Wahrscheinlich Joanna, Kates Schwester. Sie ist seit einer ganzen Weile Single. Aber sie hat eine schreckliche Trennung hinter sich. Und das Letzte, was sie braucht, ist eine dreiwöchige Liaison mit jemandem wie dir!“

„Das tut weh!“, protestierte er. „Ich meinte nur, es wäre nett, wenn ich nicht der einzige Single am Tisch bin.“

„Hm“, gab sie zweifelnd zurück. „Na gut, ich will dir glauben. Dann kommst du also mit? Acht Uhr im Hardings. Ich nehme an, es macht keinen Sinn, dir zu sagen, dass du pünktlich sein sollst, oder?“

3. KAPITEL

Zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten blickte Lucy auf ihre Uhr. Viertel vor neun schon, und immer noch keine Spur von Gabriel!

Sie fluchte unterdrückt. Normalerweise kümmerte sie sein gewohntes Zuspätkommen nicht. Aber heute … Er hatte schließlich dabei sein wollen. Und überhaupt! Seine negativen Kommentare über ihre Beziehung gingen ihr auch auf die Nerven. Sie hatte sich darauf gefreut, ihm beweisen zu können, wie gut Ed und sie sich verstanden. Nicht, dass es heute Abend wirklich danach aussah. Ed hatte einen schlechten Tag gehabt. Mit dem Umbau eines seiner Häuser gab es ein Problem, das zu beheben ihn eine Menge Geld kosten würde. Wie sehr ihm das zusetzte zeigte sich schon daran, dass er nicht, wie üblich, Bier trank, sondern zu Whiskey übergegangen war. Na toll! Vielleicht wäre es das Beste, wenn Gabriel überhaupt nicht mehr kommt, dachte sie seufzend. Er muss ja nicht unbedingt mitbekommen, wie Ed sich betrinkt.

Sie blickte auf, als genau in dem Moment die Tür aufschwang und Gabriel die Bar betrat. Suchend schaute er sich um, erblickte sie und schlenderte in aller Seelenruhe zu ihrem Grüppchen. Beiläufig nahm sie wahr, wie Joanna, der einzige Single am Tisch, sich aufrechter hinsetzte. Lucy nahm sich einen Moment Zeit, Gabriel so objektiv wie möglich zu beurteilen. Er trug ein dunkles Hemd, der oberste Knopf stand offen. Eng anliegend, betonte es seine muskulösen Schultern. Die feuchte Nachtluft hatte seine Haare im Nacken ein wenig gelockt.

Sie riss sich von seinem Anblick los und lächelte knapp. „Da bist du ja endlich“, begrüßte sie ihn.

„Komme ich etwa zu spät?“, flüsterte er ihr ins Ohr, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Als sein warmer Atem ihren Nacken streifte, breitete sich Gänsehaut auf ihrem Körper aus. Hastig rückte sie von ihm ab.

„Nicht mehr als üblich“, sagte sie und wandte sich der Tischrunde zu. „Leute, das ist mein Freund Gabriel. Gabriel, das sind Digger und Kate, Yabba und Suzy. Digger und Yabba spielen mit Ed Fußball.“ Alle nickten einander zu. „Und das ist Joanna.“ Lucy deutete auf die Blondine auf der anderen Seite, die anscheinend den Blick nicht von Gabriel abwenden konnte. „Und natürlich kennst du Ed.“ Statt einer Begrüßung hob Ed nur sein Whiskeyglas.

Gabriel nahm sich einen Stuhl vom Nebentisch. Es versetzte Lucy einen kleinen Stich, dass er ihn zwei Plätze weiter zwischen Joanna und Yabba schob. So war sie gezwungen, sich weiter mit Kate über deren Pläne für die Sommerferien zu unterhalten.

Nachdem er eine Runde für alle bestellt hatte, vertiefte Gabriel sich in ein augenscheinlich intensives Gespräch mit Joanna. Ed wurde mit jeder Minute betrunkener, während Lucy zunehmend genervt an ihrem Orangensaft nippte.

Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie zu Gabriel hinüberblickte. Gleichzeitig entging ihr auch nicht, dass Joanna die anderen Anwesenden inzwischen komplett vergessen zu haben schien. Ständig beugte sie sich zu Gabriel vor, wobei ihre blonden Haare wie unabsichtlich seinen Arm streiften. Lucy runzelte die Stirn, als sie bei dem Anblick einen Stich verspürte. Aber hatte sie nicht jedes Recht, verärgert darüber zu sein? Schließlich war Gabriel hier, um seine Beobachtungen anzustellen. Doch er nahm kaum Notiz von ihr. „… sollten uns mal zum Essen treffen … nichts Großartiges, nur ein entspannter Abend … “, hörte sie ihn nun zu Joanna sagen. Lucy kniff die Augen zusammen. Das wurde ja immer besser! Sie griff nach ihrem Orangensaft und bemühte sich, weiterhin vergnügt zu lächeln. Gabriel, wie er leibt und lebt, dachte sie. Gleich klare Grenzen setzen, ein paar Dates, auf keinen Fall eine feste Bindung. Sie betrachtete sein markantes Kinn und die dunklen Haare, die knapp über den Kragen fielen. Er sah wirklich gut aus. Kein Wunder, dass Joanna fasziniert war. Und er besaß das Talent, ihr das Gefühl zu geben, dass sie die einzige interessante Frau im Raum war. Denn ganz gleich, wie oft Lucy auch zu ihm hinüberschaute, er schien ihre Blicke überhaupt nicht zu bemerken.

Irgendwann hatte sie genug von diesem Anblick. Sie stand auf, schlenderte zur Bar und bestellte noch einen Saft. Warum sollte es sie kümmern, wenn Gabriel mit einer anderen Frau flirtete? Dergleichen hatte sie schon unzählige Male zuvor erlebt. Sie griff nach der Karte und überflog die Liste mit fetttriefenden Snacks. Sie brauchte dringend etwas, um diesen Abend zu überstehen.

Als Lucy am nächsten Morgen auf die Uhr schaute, war es gerade Viertel vor sieben. Nach fünf Minuten Jogging war sie schon völlig außer Atem. In der Nacht hatte sie kaum geschlafen, sondern sich nur im Bett hin und her gewälzt und einfach nicht abschalten können. Und jetzt hatte sie Kopfschmerzen. Gabriel hingegen wirkte trotz der frühen Stunde frisch und erholt. Sie fragte sich, ob er wohl vorhatte, Joanna noch einmal zu treffen. Sofort rief sie sich zur Ordnung. Das ging sie nichts an, und es interessierte sie auch nicht.

„Also, welche Schlüsse ziehst du nach gestern Abend, du Beziehungs-Guru?“, fragte sie keuchend.

Gabriel musterte sie mit einem knappen Seitenblick und wurde langsamer. Er griff nach ihrem Arm und deutete auf eine Bank wenige Meter vor ihnen. „Setzen wir uns, ja? Du siehst ein bisschen müde aus.“

Lucy rang viel zu sehr nach Luft, um zu widersprechen. Außerdem klang die Aussicht, sich ein paar Minuten auszuruhen, einfach wundervoll. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und ließ den Blick über den Fluss vor ihnen schweifen. Der Morgen war so kalt, dass sie beobachten konnte, wie ihr Atem in weißen Wölkchen emporstieg. Gabriel öffnete eine Flasche Wasser und reichte sie ihr.

„Es war ein interessanter Abend“, begann er, während sie trank.

„Nun, ich wäre überrascht, wenn du von Ed und mir überhaupt irgendetwas mitbekommen hast“, grummelte sie. „Du warst doch die ganze Zeit damit beschäftigt, Joannas Telefonnummer zu ergattern.“

„Damit habe ich nur an meiner Tarnung gearbeitet“, protestierte er grinsend. „Wir wollen doch nicht, dass Ed uns auf die Schliche kommt, oder? Meinst du nicht, er wäre etwas verwundert gewesen, wenn ich euch beide den ganzen Abend über beobachtet hätte? Nicht, dass ihr wirklich viel miteinander gesprochen habt …“

„Hm“, sagte sie wenig überzeugt. „Wie also lauten deine Schlussfolgerungen? Hat die ganze Aktion überhaupt Sinn gemacht?“

„Natürlich hat sie das. Meine Beobachtungen bestätigen meine Vermutungen.“

„Und die wären?“

„Ganz einfach: Der Grund, weshalb Ed dir keinen Antrag macht, besteht darin, dass eine Hochzeit ihm keinen zusätzlichen Gewinn bringt.“

„Das ist alles?“ Lucy stöhnte auf. „Ehrlich gesagt habe ich ein bisschen mehr erwartet.“

„Das war auch nur die Kurzfassung, keine Sorge.“ Er stand auf und begann mit ein bisschen Stretching, um sich warm zu halten. Lucy hingegen blieb einfach sitzen. So, wie ihre Muskeln sich heute Morgen anfühlten, machten Dehnübungen auch keinen Unterschied. Genauso gut konnte sie das Training abbrechen und nach Hause gehen – aber erst, nachdem sie sich Gabriels verrückte Theorien angehört hatte.

„Schau dir die Leute an, mit denen ihr ausgeht“, sagte er.

„Was soll mit denen sein?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Ich kann mich nicht an Beschwerden erinnern, als du gestern mit Joanna geflirtet hast.“

Gabriel schüttelte den Kopf. „Du übersiehst das Wesentliche. Sie alle sind in ihrem Leben angekommen und haben ihren Platz gefunden. Abgesehen von Joanna natürlich, aber nach unserem kurzen Gespräch kann ich dir versichern, dass auch sie sich einen Partner fürs Leben wünscht. Ansonsten sind alle verheiratet oder wollen demnächst heiraten.“

„Ich ahne, wohin das führen soll, aber du irrst dich. Digger und Kate sind nicht verheiratet, sie wohnen zusammen.“

„Was nur daran liegt, dass Kate versucht, Digger zu einer Hochzeit zu drängen. Trotzdem gibt es ein Muster. Und das trifft auch auf Ed und dich zu. Der Unterschied ist nur, dass Digger schon zu Kate gezogen ist, während Ed noch in seiner Junggesellenbude hockt. Verstehst du, was ich sagen will?“

Sie runzelte die Stirn. „Nicht die Spur.“

„Heiraten scheint in eurer Clique eine Mädchen-Sache zu sein. Die Jungs haben kein wirkliches Interesse daran. Ihnen reicht es, mit euch zusammenzuwohnen – ohne das ganze Drumherum.“

„In einer Ehe geht es doch nicht ums Drumherum“, protestierte sie. „Es geht um Verbindlichkeit. Um Treue und Stabilität.“

„So kann man es natürlich auch sehen“, entgegnete er. „Aber eine gemeinsame Wohnung stellt auch eine Art Verbindlichkeit dar. Man braucht nur keine Unsumme für eine Hochzeit auszugeben. Trotzdem ist der Schritt nicht weniger bedeutsam.“

Lucy schwirrte der Kopf. So ging es ihr immer, wenn sie mit Gabriel diskutierte. Ständig verdrehte er die Tatsachen, bis sie ihre eigenen Überzeugungen infrage stellte. „Komm endlich zum Punkt“, fuhr sie ihn an, woraufhin er tief Luft holte. Das kannte sie schon. Er machte das immer, wenn er etwas sagen wollte, was sie vermutlich ärgerte, also wappnete sie sich innerlich.

Schließlich sagte er: „Ich glaube, dass du vor allem heiraten willst, um besser in deinen Freundeskreis zu passen. Aber Ed wird dir niemals einen Antrag machen, solange du ihm nicht die Pistole auf die Brust setzt. Seien wir doch mal ehrlich: Was bietet ihm eine Ehe denn schon für Vorteile? Im Moment besitzt er die Freiheit, sein eigenes Leben ohne große Veränderungen weiterzuführen. Er weiß, dass du für ihn da bist, wenn er dich braucht. Warum sollte er also einen Haufen Geld ausgeben, um alles offiziell zu machen? Irgendwann wird er dich bestimmt fragen, ob ihr nicht zusammenziehen wollt, aber hey, für ihn besteht absolut kein Grund zur Eile.“

Lucy verschlug es für einen Moment die Sprache. Die Tatsache, dass Gabriel ihrem Blick auswich, verriet ihr, dass er genau wusste, wie wütend seine Worte sie machten. Hinter ihren Schläfen hämmerte es, deshalb fehlte ihr die Kraft, ihm Kontra zu geben, wie sie es sonst getan hätte. Stattdessen begnügte sie sich damit, einen schärferen Ton anzuschlagen.

„Ehrlich, Gabriel, deine Amateurpsychologie geht mir langsam auf die Nerven. Ich wollte nur ein paar Tipps von dir. Es ist nicht nötig, dass du gleich mein ganzes Leben auseinandernimmst.“ Sie stand auf und massierte sich die Schläfen. „Allmählich wünschte ich, dir nie von meinem Plan erzählt zu haben.“

Er zuckte die Schultern. „Wie du willst, Lu. Ich dachte, dass du meine ehrliche Meinung hören möchtest, aber ganz offenbar ist das nicht der Fall. Trotzdem gebe ich dir noch einen letzten Rat: Ed wird dir nie einen Antrag machen, wenn du schon vorher die Ehefrau für ihn spielst.“

„Das erwarte ich ja auch gar nicht. Ich werde ihm nämlich einen Antrag machen. Darum geht es doch!“

„Natürlich. Aber vorher solltest du ergründen, warum er noch nicht die Initiative ergriffen hat. Wenn du das weißt, kannst du Maßnahmen ergreifen, damit er aufhört, dich für selbstverständlich zu halten. Im Augenblick scheint er das Gefühl zu haben, sich überhaupt keine Mühe mehr geben zu müssen. Ich meine, nimm doch nur mal gestern Abend. Hat er eigentlich mehr als zehn Sätze mit dir gewechselt? Offenbar glaubt er, dass es okay ist, dich so zu behandeln. Und ich kann dir auch sagen, warum: Weil du ihn in dem Glauben lässt, es sei in Ordnung.“

Lucy sah ihn mit ernster Miene an. Zu müde, um die Diskussion fortzusetzen, stieß sie ein tiefes Seufzen aus. „Okay, okay, ich verstehe, worauf du hinauswillst.“

Gabriel kannte sie gut genug, um jede Geste des Triumphs zu unterdrücken. Er nickte bloß.

„Was sollen wir also tun?“, fragte sie. „Ich begebe mich vertrauensvoll in deine Hände.“

Gabriel begann, leichtfüßig auf der Stelle zu joggen. „Nun, der nächste logische Schritt besteht natürlich darin, dass wir uns um dein Äußeres kümmern. Wir müssen ihn dazu bringen, dass er wieder Notiz von dir nimmt. Wir nehmen uns deine Garderobe vor, danach dein Verhalten. Okay?“

„Okay“, bestätigte sie mit mehr Überzeugung, als sie empfand.

„Okay“, wiederholte er in geschäftsmäßigem Tonfall. „Da du offensichtlich keine Lust mehr zum Joggen hast, kannst du jetzt nach Hause fahren. Wir treffen uns Donnerstagabend zum Shoppen.“

Sie konnte es kaum erwarten.

Am frühen Donnerstagabend schloss Lucy die Tür des Ladens hinter sich ab und machte sich auf den Weg zu ihrem alten gelben Mini. Es war schon fast dunkel, und sie verfluchte die fast nutzlose Heizung des Wagens, die ihren rechten Fuß röstete, während ihr linker zu einem Eisklumpen gefror. Langsam steuerte sie die Innenstadt an. Dort hatten sich die Modegeschäfte von Bath angesiedelt. Ihr Magen zog sich zusammen. Sie stand überhaupt nicht auf Shopping. Deshalb liebte sie das Internet – bestellen im heimischen Wohnzimmer, eine Tasse Kaffee in der Hand. Und wenn ihr etwas nicht gefiel, schickte man es einfach zurück. Eines Tages, so ihr Plan, würde sie auch ihre Kuchen übers Internet verkaufen.

Seufzend parkte sie den Mini. Wenn sie wirklich in den Aufbau eines Internet-Shops investieren wollte, brauchte sie jeden Penny für sich selbst. Was bedeutete, dass sie ihr Geld auf keinen Fall Ed zur Verfügung stellen konnte. Aber das würde ganz sicher verstehen, da war sie sich sicher. Er war so zuverlässig wie ein Fels in der Brandung – ein Charakterzug, den sie besonders an ihm schätzte. Überhaupt nicht unvorhersehbar und stur.

Ganz anders als Gabriel, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf.

Sie stutzte. Woher kamen nur diese seltsamen Gedanken? Es konnte ihr doch völlig egal sein, wie unterschiedlich Ed und Gabriel waren. Denn zum Glück gehörte sie nicht zu seiner schier endlosen Riege an Freundinnen, die kurzfristig das Bett mit ihm teilten. Sie hatte keine Ahnung, wie die Frauen mit der Ungewissheit umgingen, ob er für eine weitere Verabredung noch zur Verfügung stand oder nicht. Für sie wäre das jedenfalls nichts. Ganz bestimmt nicht – oder?

Rasch brachte sie die leise Stimme in ihrem Hinterkopf zum Schweigen, die darauf beharrte, dass Unvorhersehbarkeit weitaus interessanter und spannender war als Beständigkeit – dummerweise aber auch etwa eine Millionen Mal riskanter.

Sie erreichte die Einkaufsstraße. Gabriel hatte einen – wie er es nannte – Gefallen eingefordert: einen Personal Shopper, der ihr beratend zur Seite stehen würde. Sie brauchte, so hatte er ihr versichert, nichts zu kaufen. Das erleichterte sie. Schließlich kannte sie Gabriels exklusiven und nicht gerade preiswerten Geschmack. Aber ein paar neue Sachen anzuprobieren und sich die Looks zeigen zu lassen, auf die Männer standen, konnte nicht schaden. Gabriel zufolge unterschied sich das komplett von den Sachen, von denen Frauen glaubten, dass Männer sie mochten.

„Am Ende des heutigen Tages wirst du mir zustimmen, wie wichtig dieser Unterschied ist“, versicherte er ihr, als er sie etwas später ins Innere des Einkaufszentrums führte. Seinen Aston Martin hatte er netterweise unmittelbar neben ihrem Mini abgestellt, sodass das alte Auto noch schäbiger wirkte. „Ein paar kleine Veränderungen können eurer Beziehung frischen Wind verleihen. Ed wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht!“

„Bislang hat er sich nie beschwert“, warf Lucy ein. „Tatsächlich macht er mir sogar viele Komplimente hinsichtlich meines Aussehens. Er merkt immer, wenn ich beim Frisör war. Er mag es, wie ich aussehe.“

Gabriel nickte bewundernd. „Er ist ein vernünftiger Mensch, das muss ich ihm zugestehen. Hält sich immer schön an die Regeln.“

„Welche Regeln?“

„Du weißt schon, wenn du nichts Gutes sagen kannst, dann sag gar nichts. Sie sieht immer wunderschön aus, vor allem morgens. Und wenn sie dich fragt, ob sie in etwas dick aussieht, lautet die Antwort immer Nein.“

„Selbst wenn es stimmt?“

„Vor allem, wenn es stimmt.“

Lucy starrte ihn an. „Soll das bedeuten, alle Männer spielen Spielchen mit uns? Oder willst du mich nur auf den Arm nehmen?“

Er blieb stehen und schaute sie nachdenklich an. „Vielleicht übertreibe ich ein bisschen“, gab er zu. „Allerdings nicht viel. Es gibt ungeschriebene Gesetze, an die Männer sich besser halten sollten.“

Sie blinzelte. „Die da wären?“

„Nun, zum Beispiel, dass man sich viel Kummer und Leid ersparen kann, wenn man seiner Partnerin nicht die schonungslose Wahrheit mitteilt. Also sagt man ihr, was sie hören will und wird dafür mit einem ruhigen Leben belohnt. Männer achten nicht halb so sehr auf die Kleidung wie andere Frauen.“

„Wenn das so ist … warum sind wir dann eigentlich hier?“

„Weil wir möchten, dass Ed dich endlich wieder wahrnimmt.“ Entschlossen fasste er sie am Arm und zog sie ins Kaufhaus. Hier vereinten sich angesagte Designer und High-Fashion-Shops unter einem Dach. An den Decken hingen antik wirkende Kronleuchter, geschwungene Treppen verbanden die einzelnen Stockwerke. Als sie den Lift verließen und sich dem luxuriös ausgestatteten Bereich der Personal Shopper zuwandten, beobachtete Lucy überrascht, wie Gabriel die unglaublich gut aussehende Frau am Eingang zur Begrüßung auf die Wange küsste.

„Lucy, das ist Amanda“, stellte er vor.

Unschlüssig nickte Lucy der perfekt gestylten Blondine in dem eleganten Kostüm zu.

„Vielen Dank, Amanda, dass du uns dazwischennehmen konntest“, sagte er mit warmem Unterton, während er sich von der Frau in den Ankleidebereich geleiten ließ. Mit ein paar Schritten Abstand folgte Lucy den beiden – in ihren Jeans und dem schlichten Pulli kam sie sich auf einmal richtig schäbig vor. „Heiratet bald … könnte ein kleines Umstyling gebrauchen …“, hörte sie Gabriel sagen. So eine Frechheit!

Amanda führte sie zu einem weichen Ledersofa und verschwand dann durch eine kaum sichtbare Seitentür. Sobald sie außer Sicht- und Hörweite war, baute Lucy sich vor Gabriel auf und stieß ihm ihren Ellenbogen in die Rippen.

„Au!“

„Geschieht dir recht“, flüsterte sie wütend. „Ich brauche kein Umstyling, hörst du? Mit meinem Aussehen ist alles in Ordnung!“

„Beruhige dich, Lu.“ Lachend hob er die Hände. „Ich halte sie nur bei Laune. Sie soll nicht auf die Idee kommen, wir seien … nun ja … zusammen, verstehst du?“

„Kein Wort.“

Er seufzte. „Hast du eine Ahnung, wie ausgebucht die Termine hier sind? Ich habe dir doch gesagt, ich musste einen Gefallen einfordern.“ Er zwinkerte ihr zu.

Lucy verdrehte die Augen. „Soll das heißen, ich bekomme Styling-Tipps von einer deiner Eroberungen? Das ist ein Witz, oder?“

Er bedeutete ihr, leise zu sein, was sie nur noch wütender machte. „Pst! Amanda ist keine Eroberung, sondern die Freundin einer Freundin und …“

„Na, wunderbar! Dann ist sie halt eine baldige Eroberung. Großer Unterschied!“

„Wirst du dich endlich beruhigen? Sie beherrscht ihren Job, und du wolltest doch ein paar neue Kleider anprobieren. Wo also liegt das Problem?“

Ungeduldig schüttelte Lucy den Kopf und setzte dann rasch ein Lächeln auf, als Amanda zurückkehrte. Über dem Arm trug sie einen Stapel Kleidungsstücke, die sie nun ordentlich auf eine Garderobenschiene hing.

Sie lächelte Lucy an. „Größe acht“, entschied sie. „Vielleicht eine zehn in Jeans. Und sehr zierlich.“

Lucy nickte bewundernd.

„Folgen Sie mir, Lucy. Ich stelle Ihnen ein paar Outfits zusammen, dann können wir schauen, welcher Typ Sie sind und welche Farben am besten zu Ihnen passen.“ Sie wandte sich an Gabriel. „Mach es dir bequem, Gabriel. Die Drinks werden in einer Minute serviert.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das Gabriel erwiderte. Dann lehnte er sich auf dem Sofa zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Lucy folgte Amanda zu der durch einen Vorhang abgetrennten Umkleidekabine. Dieses Separee hatte nichts mit den engen muffigen Kabinen in anderen Modegeschäften gemeinsam. Hier gab es viel Platz und einen großen Spiegel, in dem man tatsächlich den gesamten Körper in Ruhe betrachten konnte. Draußen hingen natürlich an allen Wänden Spiegel, sodass man einen dreihundertsechzig Grad Blick auf sich werfen konnte, während der Begleiter nützliche Kommentare zum Besten gab. In diesem Fall also Gabriel. Auf einmal fühlte Lucy sich seltsam schüchtern. Das ist ja lächerlich, versicherte sie sich. Sie kannte Gabriel ihr ganzes Leben lang. Außerdem sollte es überhaupt keine Rolle spielen, was er über ihr Aussehen dachte. Schließlich ging es um Ed.

Sie schlüpfte aus ihrem schlichten T-Shirt und griff nach dem ersten Kleidungsstück.

Verstohlen zog Gabriel sein Smartphone aus der Tasche – vorrangig, um seine E-Mails zu lesen, aber auch, um einem Gespräch mit Amanda auszuweichen. Jedes Mal, wenn sie die Umkleidekabine verließ, damit Lucy ein neues Ensemble anprobieren konnte, kam sie zu ihm und hüllte ihn in eine Wolke ihres intensiven Parfüms. Gabriel seufzte. Zwar war sie ausgesprochen attraktiv, doch für einen Flirt fehlte ihm im Moment einfach die Lust.

Er schaute auf, als er hörte, wie der Vorhang beiseitegezogen wurde. Ein wenig unsicher stakste Lucy auf ihn zu. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine mit großem Blumenmuster bedruckte Bluse aus fließendem Stoff. Er wusste sofort, dass die Sachen ihr gefielen. Natürlich taten sie das – sie hätten aus ihrem Kleiderschrank stammen können.

Amanda schüttelte den Kopf. „Hübsch, aber Ihre Figur kommt überhaupt nicht zur Geltung.“ Sie griff nach der Bluse und raffte den Stoff hinter Lucys Rücken. „Schauen Sie, wie gut Ihnen taillierte Kleidung steht? Ich würde Sie auch gerne mal in etwas Auffälligerem sehen.“

„Amanda hat recht“, meldete Gabriel sich zu Wort, woraufhin die Blondine vor Freude errötete. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, gratulierte er sich insgeheim.

„Sie sind so zierlich“, sagte Amanda, während sie die Kleidungsstücke durchging. „In diesen fließenden Stoffen ertrinken Sie förmlich.“

Lucy zog sich wieder in die Kabine zurück, und Gabriel widmete sich ohne echtes Interesse der E-Mail-Korrespondenz zu einem Fall, den er gerade übernommen hatte. Nach einer Weile hörte er ein Geräusch, schaute auf – und erstarrte. Grundgütiger, seit wann besaß Lucy denn solche Beine?

Natürlich wusste er um ihre grazile Figur, die der Tatsache, dass sie ihren Lebensunterhalt mit Kuchen und Torten verdiente, zu spotten schien. Doch statt sie, wie weite Kleidung es oftmals tat, dünn wirken zu lassen, saß das rote Oberteil perfekt. Dazu trug sie schwarze, schmal geschnittene Hosen. Gabriel schluckte. Plötzlich fühlte sein Mund sich ganz trocken an.

„Diese Hose entspricht überhaupt nicht deinem Stil, Lucy“, hörte er sich sagen. „Vergiss nicht, dass du eine Bäckerei führst. Diese Hose ist absolut unpraktisch für dich.“

Die beiden Frauen ignorierten ihn komplett. „Versuchen Sie die dazu“, sagte Amanda gerade und zauberte ein Paar nudefarbene High Heels mit dezenter Plateausohle hervor.

Lucy schlüpfte in die Schuhe, und Gabriel drückte aus Versehen auf die Sendentaste seines Handys, obwohl die Mail erst zur Hälfte fertig war. Dank der Schuhe wirkten Lucys Beine endlos. Hilfesuchend schaute sie ihn an und er wusste nicht mehr, was er sagen sollte.

„Sehr schön“, brachte er schließlich über die Lippen.

„Vielleicht als Nächstes ein Outfit für den Abend …“ Amanda hielt ein golden schimmerndes Satinkleid hoch. Obwohl es noch am Bügel hing, konnte Gabriel sehen, dass es wohl knapp zehn Zentimeter oberhalb der Knie endete. Unwillkürlich beschleunigte sich sein Herzschlag.

„Das entspricht überhaupt nicht ihrem Stil“, stieß er hervor.

Verärgert drehte Amanda sich zu ihm um. „Etwas mehr Zuspruch könnte nicht schaden, Gabriel. Du weißt wohl eine Menge über Styling, oder?“

„Das liegt nur daran, dass er am liebsten mit Stereotypen ausgeht, Amanda“, verkündete Lucy laut. „Sahneschnittchen ist die korrekte Bezeichnung, glaube ich. Er mag es, wenn seine Freundinnen Killer-Absätze, knappe Tops und enge Jeans tragen, nicht wahr, Gabe?“, zog sie ihn auf. „Ich bin das genaue Gegenteil deines Typs, oder? Wie könnte ich also gut in etwas aussehen, das deine Ex-Freundinnen anziehen würden?“ Sie wandte sich an Amanda. „In seinen Augen bin ich nicht wirklich eine Frau. Mehr so ein Mittelding aus Freundin und Kumpel.“

„Eine Kumpeline?“ Amanda grinste und betrachtete selbstzufrieden ihre weibliche Figur in einem der Spiegel hinter Lucy.

„Ja, eine Kumpeline, genau!“ Lucy lachte auf. „Du würdest mich ebenso wenig in dieses Kleid stecken wie einen deiner Rugby-Jungs, nicht wahr?“

„Unsinn!“, protestierte er empört. „Ich meinte doch nur … Nun ja, es ist schon ganz anders als die Sachen, die du normalerweise trägst“, versuchte er sich zu rechtfertigen.

„Und genau darum geht es doch heute“, bekräftigte Amanda. „Die Grenzen zu verschieben, neue Stile auszuprobieren und unbekannte Seiten an sich zu entdecken.“

Allmählich konnte er die Blondine immer weniger leiden. Er konnte sich kaum erinnern, wann er sich das letzte Mal in Gegenwart einer Frau so unwohl gefühlt hatte.

Er war froh, als die beiden hinter dem Vorhang verschwanden. Mit diesem Verlauf hatte er nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass Lucy sich eine Stunde mit dem Anprobieren neuer Kleider vergnügte, während er in Ruhe ein bisschen Arbeit erledigte. Wie hätte er ahnen könne, dass Amanda ihr genau die Kleider aussuchte, die seine Freundinnen trugen? Seine Lucy sah nämlich überhaupt nicht so aus – und das sollte auch tunlichst so bleiben!

In diesem Augenblick wurde der Vorhang abermals beiseitegeschoben. Einen Augenblick später trat Lucy mit deutlich gewachsenem Selbstbewusstsein auf ihn zu. Das goldene Kleid umschmeichelte ihren Körper und betonte ihre Kurven. Die Spiegel verschlimmerten alles noch, konnte er sie doch aus jedem Winkel gleichzeitig sehen. Er zupfte an seinem Kragen, der plötzlich sehr eng zu sitzen schien. Kleine Schweißperlchen bildeten sich über seinen Brauen. Lucy besaß zweifellos eindrucksvolle weibliche Kurven. Sie hatte eine schmale Taille und sehr, sehr lange Beine. Ihre Haut schimmerte hell wie geschlagene Sahne. Lächelnd wartete sie auf sein Urteil. Dabei stand er einfach unter Schock, dass sie so erwachsen aussehen konnte, so … sexy. Plötzlich verspürte er heiße Sehnsucht in seinem Inneren aufsteigen. Seine Miene musste ihn verraten haben, denn ihr Lächeln verwandelte sich in Verwirrung.

„Was ist los? Gefällt es dir nicht?“, fragte sie.

Er schaute sie an, blickte ihr tief in die Augen. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Natürlich kannte er das Gefühl, er hatte es schon oft empfunden. Fast immer, sobald er eine attraktive Frau entdeckte. Er war nur nicht daran gewöhnt, es bei Lucy zu verspüren. In seiner Vorstellung besetzte sie ein sehr behagliches Plätzchen als beste Freundin. Er kannte sie schon so lange, normalerweise achtete er überhaupt nicht darauf, wie sie aussah. Anscheinend funktionierte der Weckruf, der für Ed gedacht war, auch für ihn, erkannte er verwirrt.

Du bist eifersüchtig! Der Gedanke kam aus dem Nichts und traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Plötzlich fühlte er sich ganz schwindelig. Aber sicher war alles ganz anders. Bestimmt hatte er einfach nur Angst, dass Lucys Hochzeitspläne ihre Freundschaft zerstörten, das war alles – oder?

In dem Moment bemerkte er ihre enttäuschte Miene und zwang sich, etwas zu sagen. „Du siehst wunderschön aus, Lu. Ich liebe es.“

„Du hast eben irgendwie merkwürdig ausgeschaut. Ist etwas?“

„Ich bin es halt gewohnt, dich in Jeans und T-Shirt zu sehen.“

„Ich denke, mit hübschen Dessous würde es noch besser aussehen“, warf Amanda ein, einen sexy schwarzen BH und das passende Höschen präsentierend. „Welche Größe tragen Sie, Lucy?“

Gabriel hätte sich beinahe verschluckt. Er musste hier weg. Auf der Stelle!

„Ich muss euch jetzt leider allein lassen“, stieß er hervor und hielt sein Handy in die Höhe. „Dringend. Die Arbeit ruft. Kann nicht warten.“ Hastig griff er nach seinem Jackett.

Kurz schaute Lucy ihn überrascht an, doch die Begeisterung über ihre Verwandlung überwog und lenkte sie rasch ab. Mit schnellen Schritten eilte sie zu Amanda und den Dessous. Gabriel kämpfte mit sich, den Blick endlich von ihren langen Beinen abzuwenden. „Kein Problem, Gabe“, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu. „Ich rufe dich später an. Und danke, dass du diesen Termin für mich organisiert hast. Du bist echt ein guter Freund!“ Sie sah ihn an und zog die Brauen zusammen. „Weißt du, du arbeitest zu hart. Du hast schon dunkle Ringe unter den Augen.“ Mit einem Finger fuhr sie ihm über die Wange. Gabriel spürte, wie seine Haut unter der Berührung prickelte, als stünde sie in Flammen. Lucys Duft, leicht und blumig, hüllte ihn ein, und es gelang ihm nur mit Mühe, ein Aufstöhnen zu unterdrücken.

Amanda begleitete ihn zum Aufzug. Dort angekommen, flüsterte sie ihm ins Ohr: „Ruf mich an.“ Sie schenkte ihm ein einladendes Lächeln. Eine seltsame Erleichterung durchflutete ihn, als die Türen des Lifts sich endlich schlossen.

So schnell er konnte, verließ er das Einkaufszentrum. Die Nachtluft kühlte sein erhitztes Gesicht, während er zu seinem Wagen eilte. Auf dem Weg nach Hause bekam er von den anderen Fahrzeugen, die ebenfalls unterwegs waren, kaum etwas mit. In seinem Kopf gab es nur noch Platz für einen Gedanken. Nur noch Platz für eine Person.

Lucy.

Plötzlich schienen sich alle Regeln des Spiels geändert zu haben. Und er hatte keine Ahnung, wie er jetzt weiterspielen sollte.

4. KAPITEL

„Du bist also mit einer Frau Klamotten einkaufen gegangen … Hast du den Verstand verloren?“

„Jetzt übertreib mal nicht gleich!“ Seufzend legte Gabriel ein Handtuch um seine Schultern und trank einen Schluck aus der Wasserflasche. Eigentlich hatte er vorgehabt, bei ein paar Runden Squash mit seinem Arbeitskollegen Joe die Spannung in seinem Körper abzubauen – bislang funktionierte das jedoch leider nicht.

Zwei Tage waren seit seinem Shoppingausflug mit Lucy vergangen, und seitdem konnte er sich auf rein gar nichts mehr konzentrieren. Sobald er es versuchte, drängte Lucy sich in seine Gedanken. Wie sie aussah, wie sie duftete, wie es sich angefühlt hatte, als sie seinen Arm berührt hatte … Er schüttelte den Kopf. Seit Alison hatte keine Frau mehr solche Gefühle in ihm geweckt – und selbst sie verblasste langsam zu einer Erinnerung. Zu seinem Entsetzen musste er sich langsam eingestehen, dass der Grund, weshalb er nicht wollte, dass Lucy heiratete, weniger mit den eventuellen negativen Auswirkungen auf ihre Freundschaft zu tun hatte als vielmehr mit der Tatsache, dass sie einem anderem Mann das Ja-Wort geben wollte.

Ed …

Du willst sie ganz für dich! flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Und offensichtlich stand er diesem Gedanken machtlos gegenüber. Wenn er sich jetzt an Alison erinnerte, verglich er sie sofort mit Lucy. Alisons Lächeln war bezaubernd, aber wenn Lucy lächelte, schien jede Faser in seinem Körper zu prickeln. Alisons blonde Haare waren hübsch und seidig, doch Lucys widerspenstige Locken weckten in ihm den Wunsch, auf der Stelle mit den Fingern hindurchzufahren.

„Das war nicht so, wie du denkst“, erwiderte er nun keuchend. Gegen die Wand gelehnt, wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Sie will ihrem Freund einen Antrag machen. Angeblich dürfen in Schaltjahren Frauen Männern Anträge machen. Ich habe ihr geholfen, das richtige Outfit auszuwählen.“

Zu seiner Überraschung nickte Joe. „Meine Schwester hat das auch gemacht. Vor acht Jahren hat sie ihren Mann am neunundzwanzigsten Februar gebeten, sie zu heiraten. Der arme Kerl hatte nicht den Hauch einer Chance.“

„Die Sache ist die …“ Er zögerte kurz, ehe er weitersprach. „Lucy ist so was wie eine Schwester für mich, weißt du? Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Aber sie in diesen neuen Kleidern zu sehen …“ Er schüttelte den Kopf. „Mir ist vorher nie aufgefallen, wie atemberaubend gut sie aussieht. Und jetzt kann ich nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Ist das nicht verrückt? Eigentlich soll ich ihr helfen, diesen Hochzeitsplan auszuhecken. In Wahrheit aber möchte ich dem Kerl am liebsten eine reinhauen.“

„Du machst Witze, oder?“ Joe starrte ihn an, als sei er verrückt geworden. „Du musst dich unbedingt mit der neuen Sekretärin verabreden. Das wird dich schnell wieder auf andere Gedanken bringen.“

Einen Moment verbarg Gabriel sein Gesicht in dem Handtuch. Er verspürte absolut kein Interesse an dieser neuen Schreibkraft. Noch vor zwei Wochen hätte er sie längst um ein Date gebeten. Allmählich kam es ihm so vor, als stünde sein ganzes Leben auf dem Kopf.

„Vielleicht hast du recht“, sagte er, vor allem, um Joe zu beruhigen. „Ich bin seit zwei Wochen nicht mehr ausgegangen. In jeder wachen Sekunde beschäftige ich mich entweder mit dem neuen Fall oder mit Lucy.“

„Daran solltest du dringend etwas ändern.“ Ermutigend klopfte Joe ihm auf die Schulter, während sie zurück auf den Platz gingen. „Vergiss Geschichte mit dem Antrag, und alles wird gut.“

Gabriel nickte, griff nach seinem Schläger und atmete noch einmal tief durch. Dann dachte er an Ed und schmetterte den Ball so fest er konnte gegen die Wand. Augenblicklich fühlte er sich besser.

„Lucy, meine Liebe, du siehst wunderschön aus! Es tut gut, dich zu sehen.“

Lucy schloss die Augen, als Gabriels Mutter sie herzlich in die Arme schloss, und genoss einen Moment lang die Liebe und Zuneigung, die in dieser Begrüßung lagen. Unwillkürlich flackerte eines der intensivsten Gefühle ihrer Kindheit wieder auf: Eifersucht auf Gabriel, auf seine liebevollen Eltern, die immer für ihn da waren, während ihre eigenen nur ihre Probleme im Kopf hatten.

„Die sind für dich.“ Lucy überreichte ihr eine weiße Schachtel. Elizabeth Blake öffnete den Deckel und betrachtete gerührt die Auswahl an Baisertörtchen und Muffins darin.

„Lucy, die sind unglaublich. Allerdings enthält wahrscheinlich jedes mehr Kalorien, als ich in einer Woche esse! Gabriel hat mir alles über deinen Laden erzählt. Wir freuen uns, dass du so großen Erfolg hast.“

Lucy folgte ihr durch das kühle Haus zur geräumigen Küche. Hinter dem Rücken seiner Mutter wechselte sie einen Blick mit Gabriel. Entschuldigend hob er die Schultern, doch sie lächelte und schüttelte den Kopf. Sie liebte Elizabeth und fand es wundervoll, eine mütterliche Freundin zu haben, der man jedes winzige Detail seines Lebens anvertrauen konnte. Ihre eigene Mutter hatte sich nur um sich selbst gekümmert und nie Zeit für ihre Tochter gehabt.

Sie erreichten die Küche, in der es dank eines riesigen antiken Herdes wohlig warm war. Eine ungefähr fünfzig Jahre alte Frau stand am Herd und bereitete das Essen zu.

„Das ist Angela“, stellte Elizabeth sie vor. Die Frau drehte sich um und lächelte. „Angela ist ein Schatz“, flüsterte Gabriels Mutter, nachdem sie die Kuchenschachtel in den Vorratsraum gestellt hatte. „Sie kümmert sich um das Haus und kocht für uns, wenn wir sie brauchen. Spiegeleier für Gordon und mich schaffe ich ja noch, aber wenn wir schon mal Gäste haben, möchten wir auch etwas Ausgefalleneres servieren.“

Tatsächlich schmeckte das Essen, das Angela zubereitet hatte, großartig. Plötzlich bemerkte Lucy, wie sehr es sie freute, mit Gabriel und seinen Eltern an einem Tisch zu sitzen. Es war, als wäre sie wieder nach Hause gekommen. Vermutlich musste es Gabriel jedes Mal so ergehen, wenn er hier war.

„Wie geht es deinen Eltern? Siehst du sie oft?“, fragte Elizabeth irgendwann. Lucy verspürte einen Stich. Die eigentlich harmlose Frage ließ sie sich peinlich berührt fühlen – schließlich wussten hier alle genau um ihre albtraumhafte Mutter und ihren alkoholkranken Vater.

„Nicht wirklich“, antwortete sie. „Karten zu Weihnachten und zum Geburtstag, das ist alles. Manchmal telefonieren wir.“ Und genau so wollte sie es auch haben. Endlich besaß sie die alleinige Kontrolle über ihr Leben. „Meine Mutter lebt mit ihrem dritten Ehemann in Las Vegas. Mein Vater ist nach Birmingham gezogen. Ein Freund hat ihm einen Job besorgt.“

Elizabeth nickte höflich.

„Ich glaube, er arbeitet als Portier in einem Krankenhaus“, fügte Lucy hinzu. „Um ehrlich zu sein, passt es mir ganz gut, dass beide weggezogen sind. Ich führe jetzt mein eigenes Leben.“ Sie lächelte. „Aber es ist schön, hierher zurückzukommen. Es erinnert mich an den Spaß, den Gabriel und ich als Kinder immer hatten“, wechselte sie rasch das Thema. Immerhin besaß sie genug Übung darin, jedes Gespräch über ihre Eltern zu vermeiden.

Nach dem Essen zogen Gabriel und sein Vater sich in den Salon zurück, um noch einen Kaffee zu trinken. Elizabeth hingegen bat Lucy, sie auf einen Spaziergang durch den Garten zu begleiten. Untergehakt schlenderten die beiden Frauen über die säuberlich angelegten Wege.

„Es ist wunderschön hier“, bewunderte Lucy die Beete und die ordentlichen Rasenflächen. Fast glaubte sie, sich und Gabriel zu sehen, wie sie als Kinder hier Fußball gespielt hatten. Dann musste sie an die hohen Bäume denken, auf die sie mit Begeisterung geklettert waren. Unwillkürlich legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen. Was war sie doch für ein Wildfang gewesen!

„Wie lieb von dir, das zu sagen. Gordon hat einen Mann eingestellt, der sich an ein paar Tagen in der Woche um alles kümmert.“

Schweigend gingen sie weiter. Elizabeth wirkte angespannt. Plötzlich ahnte Lucy, dass die ältere Frau sie nicht ohne Grund um den Spaziergang gebeten hatte, sondern weil sie in Ruhe mit ihr reden wollte. Worum es wohl gehen mochte?

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie neugierig.

„Nichts Besonderes, meine Liebe“, erwiderte Elizabeth lächelnd. „Ich habe mich nur gefragt, wie es Gabriel geht. Er sagt immer, dass alles in Ordnung ist, aber ich bekomme nicht wirklich etwas aus ihm heraus. Ich hatte gehofft, du könntest mir ein bisschen mehr erzählen. Glaubst du, er ist glücklich?“ Sie seufzte. „Wir bekommen ihn nicht mehr so oft zu Gesicht, wie wir es uns wünschen.“

Überrascht schaute Lucy sie an. Sie hatte immer geglaubt, Gabriel stünde seinen Eltern sehr nahe.

„Natürlich ist er glücklich“, erwiderte sie. „Er leistet brillante Arbeit. In juristischen Kreisen ist er weithin bekannt. Und er führt ein sehr geschäftiges Sozialleben.“

Elizabeth entging die versteckte Anspielung nicht. „Also noch niemand Besonderes.“ Wieder seufzte sie. „Ich mache mir Sorgen um ihn. Er war noch sehr jung, als er Alison verloren hat. Sie war ein so liebenswertes Mädchen! Ich wusste, er wird Zeit brauchen, um über sie hinwegzukommen. Aber seither hat er uns nie wieder eine Freundin vorstellt.“

Mitfühlend streichelte Lucy die Hand der alten Dame. Alison war ein Jahr, nachdem sie und Gabriel die Universität beendet hatten, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Damals war er am Boden zerstört gewesen. Alison war seine große Liebe gewesen. Und selbst in den Jahren danach hatte er sich niemandem anvertraut … nicht einmal ihr. Irgendwann hatte er dann gar nicht mehr über Alison gesprochen. Und auch Lucy mied das Thema, um ihn nicht zu verärgern. Seitdem verhielt Gabriel sich, als habe Alison nie existiert. Schaute man jedoch genauer hin, erkannte man, dass er jede Beziehung seither kurz und oberflächlich hielt – wohl vor allem, damit ihm ein solcher Verlust nicht ein zweites Mal widerfahren konnte. Keine seiner Freundinnen ließ er nahe an sich heran. Und keine bedeutete ihm wirklich etwas. Elizabeth hatte recht: In zehn Jahren hatte er sein Trauma nicht überwunden.

„Irgendwann wird er die Richtige finden“, versicherte Lucy ihr trotzdem. „Ich bin mir ganz sicher.“

„Weißt du, Gordon und ich haben immer gehofft, du und er würden …“ Sie verstummte abrupt.

Lucy zuckte zusammen. Das Blut schoss ihr in die Wangen. Eine längst vergessen geglaubte Erinnerung stieg in ihr auf. Sie versuchte ihr Bestes, das Bild wieder in die Tiefen ihres Gedächtnisses zurückzudrängen. Allein die Vorstellung, dass Gabriel und sie eine Beziehung eingingen, sollte lächerlich wirken. Sie war sich sicher, dass Gabriel bei diesem Vorschlag laut auflachen würde. Und ihr Körper sollte auf keinen Fall so reagieren, wie er es jetzt tat: Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und ihr wurde ganz heiß. Peinlich berührt hoffte sie, dass Elizabeth nicht mitbekam, wie aufgewühlt sie war.

Es hatte tatsächlich eine Zeit gegeben, in der ihre Gefühle für Gabriel über Freundschaft hinausgegangen waren. Natürlich nur in ihren Gedanken, nicht in seinen. Einen Moment dachte sie über den schlauen Satz nach, dass man den wahren Wert von etwas erst erkennt, wenn man es verloren hat.

Denn damals, als Gabriel für sein Studium an die Universität gegangen war, hatte sie genau das lernen müssen. Bis dahin hatte er ihr allein gehört. Elizabeth hielt nichts von Internaten, weshalb er auf eine Privatschule in der Nähe ging. Lucy besuchte natürlich die örtliche Gemeinschaftsschule. Wie ihre Häuser, ihre Eltern und ihre Herkunft, unterschied sich auch ihre Erziehung fundamental, aber nichts davon hatte je eine Rolle gespielt. Sie standen einander trotz – oder vielleicht auch wegen – aller Unterschiede sehr nahe. Jeder füllte für den anderen eine Lücke und ergänzte ihn. Sie war sein Gegenmittel zu der konservativen Schulatmosphäre, ihr Sinn für Spaß bot ihm die nötige Abwechslung von der anstrengenden Lernerei. Er hingegen war ihr sicherer Hafen im Sturm. Die Streitereien in ihrem Elternhaus nahmen mit den Jahren stetig weiter zu, sodass sie immer häufiger zu ihm flüchtete. Dank seiner Vernunft hatte sie sich getraut, an eine Zukunft zu glauben, in der sie nicht länger in einem Kaff mitten im Nirgendwo saß und von ihren Eltern abhängig war. Eines Tages würde sie ihr eigenes Leben führen und frei sein.

Erst als Gabriel einen Studienplatz in Oxford annahm, trennten sich ihre Wege, und ihr wurde klar, wie sehr sie von ihm abhängig war. Sie hatte ihn fürchterlich vermisst und natürlich angenommen, dass es ihm ebenso erging.

Dass sie jetzt, in Gegenwart seiner Mutter, so peinlich berührt war, rührte daher, dass er in ihrer Fantasie eine immer größere Rolle eingenommen hatte. Eine Rolle, die weit über Freundschaft hinausging. Wie oft hatte sie davon geträumt, dass sie sich ineinander verliebten? Dass aus ihnen ein Paar wurde und ihnen eine gemeinsame Zukunft offenstand? Während seiner kurzen Besuche an den Wochenenden hatte ihre Haut unter seinen zufälligen Berührungen verräterisch geprickelt und ihr Herz höher geschlagen.

„Es tut mir leid, meine Liebe“, entschuldigte Elizabeth sich und holte Lucy damit abrupt ins Hier und Jetzt zurück. „Um uns geht es auch gar nicht. Es ist nur … ich kann mich so gut daran erinnern, wie ihr euch das erste Mal begegnet seid. Du warst ungefähr sechs und hast an unsere Küchentür geklopft, weil du dein Kätzchen gesucht hast. Gabriel muss neun gewesen sein.“

„Sooty“, warf Lucy dankbar ein. „So hieß der Kater. Wir waren gerade hergezogen, und Mum hat ihn rausgelassen, bevor er sich mit der Umgebung vertraut machen konnte.“

„Gabriel hat dir den ganzen Nachmittag bei der Suche geholfen. Bis ihr ihn gefunden habt. Erinnerst du dich?“

„Sooty hatte sich in einem der Schuppen versteckt.“ Lucy lächelte. „Ich war ganz außer mir.“

„Seit jenem Tag wollte Gabriel sich um dich kümmern und dich glücklich machen. Und daran hat sich in den Jahren seither nichts geändert. Ihr standet einander immer so nahe, dass ich einfach gehofft habe, eines Tages würde sich mehr aus eurer Freundschaft entwickeln.“

„Wir sind mehr wie Bruder und Schwester“, sagte Lucy mit fester Stimme. „Er war immer für mich da und hat mich nie im Stich gelassen.“

Elizabeth lächelte. „Wie geht es denn deinem Freund?“, fragte sie höflich.

Lucy schluckte. Unvermittelt stiegen heftige Schuldgefühle in ihr auf. Die ganze Zeit hatten sich ihre Gedanken nur um Gabriel gedreht. Sie hätte sich ohrfeigen können, dass die Vorstellung, aus ihnen könnte jemals ein Paar werden, immer noch so verwirrende und mädchenhafte Gefühle weckte.

Und was war mit Ed? Nicht eine Sekunde hatte sie heute an ihn gedacht – an den Mann, den sie unbedingt heiraten wollte! Aber das bedeutete ja nicht, dass sie ihn hinterging, oder? Es lag an diesem Ort, dass bestimmte Gefühle an die Oberfläche kamen. Ihre Vergangenheit hier war so turbulent gewesen, da musste sie doch zwangsläufig starke Emotionen verspüren.

„Ed?“, fragte sie jetzt und nickte. „Danke, es geht ihm gut. Unter uns, ich hatte gehofft, wir würden bald heiraten und eine Familie gründen, aber er ignoriert beharrlich meine Hinweise. Gabriel glaubt, er sei einfach zu faul und würde sich nicht genug um mich kümmern. Aber du weißt ja, wie überfürsorglich er sein kann.“

Elizabeth seufzte. „Meiner Erfahrung nach entstehen gute Beziehungen nicht von selbst. Man muss an ihnen arbeiten. Beide Seiten müssen das. Wenn nur einer etwas tut, reicht das nicht aus. Eine Beziehung sollte eine gleichberechtigte Partnerschaft sein. Auch Gordon und ich hatten unsere Höhen und Tiefen, aber wir haben uns immer wieder zusammengerauft. Manchmal kann er eine richtige Nervensäge sein, aber ich möchte keinen einzigen Tag ohne ihn leben.“

Lucy grinste.

„Nur du kannst beurteilen, ob Ed sich genug anstrengt. Du allein weißt, ob er der Richtige für dich ist. Mit weniger darfst du dich nicht zufriedengeben.“

Kurz darauf kehrten sie zum Haus zurück. Lucy war froh, als Gabriel und sie sich auf den Rückweg nach Bath machten. Das Gespräch mit Elizabeth hatte sie innerlich zu sehr aufgewühlt, als dass sie die Fahrt genießen konnte. Schweigend saß sie neben Gabriel im Wagen und überließ sich den Erinnerungen an damals, als sie Alison das erste Mal begegnet war.

Falls Gabriel damals etwas von ihren Gefühlen für ihn ahnte, ließ er es sich nie anmerken. Er hatte sich wie immer verhalten, begeistert von seinen Kursen, seinen neuen Freunden, seinem neuen Leben erzählt. Trotzdem wuchs das Truggebilde in ihrem Kopf immer weiter, bis sie schließlich glaubte, sich in ihn verliebt zu haben. Die brüderlichen Umarmungen und das seltene Händchenhalten waren für sie deutliche Anzeichen dafür gewesen, dass er ihre Gefühle erwiderte. Wie oft hatte sie wach dagelegen und an ihn gedacht.

Unwillkürlich errötete Lucy, als sie sich jetzt an ihr Verhalten von damals erinnerte. Die Verknalltheit eines Teenagers, das hatte sie erlebt. Wenn sie daran dachte, wie kurz davor Gabe gestanden hatte, alles zu erfahren, wurde ihr immer noch heiß und mulmig.

Mit Beginn des zweiten Semesters waren seine Besuche zu Hause seltener geworden. Daher hatte Lucy ihn fast täglich angerufen, was ihm – wie ihr jetzt bewusst wurde – ziemlich auf die Nerven gegangen sein musste. Ihr fielen die unzähligen Male ein, wenn seine Mitbewohner ihr erklärt hatten, dass er nicht zu Hause sei.

Damals jedoch glaubte sie fest daran, dass er schon dasselbe für sie empfinden würde, wenn sie ihn nur sehen und ihm ihre Gefühle gestehen konnte. Eines Tages, als die Sehnsucht nach ihm kaum noch auszuhalten gewesen war, beschloss sie, zu ihm zu fahren. Sie erinnerte sich, wie sie, aus dem Fenster des Busses schauend, gedacht hatte, was für eine lebendige Stadt Oxford doch war. Und sie erinnerte sich an die Schmetterlinge in ihrem Bauch …

Lächelnd stieg sie die Stufen zur Wohnungstür hinauf. Bestimmt freute Gabriel sich, sie endlich zu sehen. Sie trug ein neues flaschengrünes Top, das hervorragend zur Farbe ihrer Augen passte, und hatte Stunden damit verbracht, ihre widerspenstigen Haare zu bändigen. Doch der glückliche Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand, als ihr die Tür geöffnet wurde. Und zwar nicht von Gabriel, sondern von einem schlanken und unglaublich hübschen blondes Mädchen.

Die Unbekannte lächelte freundlich. „Ja, bitte?“

Lucy verrenkte sich den Hals, um in den Flur hinter ihr zu spähen. Vielleicht stand sie vor dem falschen Haus? Doch bevor sie etwas erwidern konnte, kam Gabriel an die Tür. Plötzlich fühlte sie sich ganz schwindelig. Sie schaute nicht in seine hinreißenden grauen Augen und umarmte ihn auch nicht fest, wie sie es sich die ganze Fahrt über ausgemalt hatte. Stattdessen konnte sie den Blick nicht von seinem Arm abwenden, den er dem anderen Mädchen um die Schulter legte.

„Lucy!“, rief er verwundert aus. Ihr fiel auf, dass er die Blondine nicht losließ, während er die Tür weiter aufzog. Der Anblick versetzte ihr einen Stich mitten ins Herz. Sie schluckte hart, um das brennende Gefühl, das sich tief unten in ihrer Kehle bildete, zu unterdrücken. Sie musste so schnell wie möglich einen Ausweg aus dieser Situation finden.

„Überraschung!“, sagte sie und zuckte leicht mit den Schultern. Plötzlich ahnte sie, wie dumm es auf Gabriel wirken musste, dass sie so unangekündigt hier auftauchte.

„Lucy, es ist wirklich toll, dich zu sehen, aber weiß dein Dad, dass du hier bist?“

„Ich …“ Seine Besorgnis ließ sie vor Scham erröten. Immerhin war sie sechzehn und kein Kind mehr!

Bevor sie antworten konnte, wandte er sich an die Blondine. „Ali, das ist Lucy.“ Wieder fiel ihr Blick auf die nun verschränkten Hände der beiden. „Ich habe dir von ihr erzählt. Sie ist so etwas wie meine kleine Schwester.“

Alison lächelte sie an. „Hi, Lucy“, sagte sie freundlich. „Schön, dich kennenzulernen. Gabriel hat dich ein paar Mal erwähnt. Jetzt kann ich deinem Namen ein Gesicht zuordnen.“

Ein paar Mal also, dachte sie verärgert. Na, wie schön! Und was war mit ihr? In den vergangenen Wochen hatte es kaum mal eine Minute gegeben, in der sie nicht an Gabriel gedacht hatte. Ganz offensichtlich hegte er doch nicht dieselben Gefühle für sie.

Unvermittelt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als Gabriel kurz ihre Hand anstupste. „Du bist so still, Lucy. Alles in Ordnung?“

„Alles gut, ich bin nur müde.“ Ihre Hand prickelte von der kurzen Berührung. Verwundert runzelte Lucy die Stirn. Was passierte hier? Sie spürte, wie ihr das Blut wieder in die Wangen schoss, als sei der Vorfall in Oxford erst gestern passiert. Sie war froh, dass Gabriel seine Aufmerksamkeit auf die Straße richten musste. Keine zwei Stunden hatte sie es in der Gegenwart der beiden Verliebten damals ausgehalten. Zwar war es ihr irgendwie gelungen, sich zusammenzureißen, aber auf der gesamten Fahrt nach Hause hatte sie hemmungslos geweint. Wie aufgeregt sie gewesen war, ihn wiederzusehen, und so felsenfest überzeugt, dass auch er in sie verliebt war … Nun, verliebt war er tatsächlich gewesen … nur leider nicht in sie!

Anfangs hatte sie versucht, im völlig aus dem Weg zu gehen. Keine Anrufe mehr, nichts. Aber bald war ihr klar geworden, dass sie ihn nicht gänzlich aus ihrem Leben verbannen konnte. Dazu brauchte sie ihn zu sehr.

Also hatte sie ihre Zurückhaltung aufgegeben und sich, auch wenn es wehtat, notgedrungen damit abgefunden, dass Allison und er zusammen waren. Und wer die beiden damals zusammen sah, dem wurde schnell klar, dass sich daran so schnell nichts ändern würde.

Aus Angst, ihn gänzlich zu verlieren, hatte sie schließlich eine Entscheidung getroffen und damit begonnen, die Rolle der Freundin aus Kindertagen zu spielen. So lange, bis es sich nicht länger wie ein Spiel anfühlte, sondern zur zweiten Natur geworden war. In den Jahren danach hatte sie sich davon überzeugt, dass ihre Gefühle nur der Schwärmerei eines Teenagers geschuldet gewesen waren – verursacht durch die plötzliche Leere, die sein Weggang an die Universität hinterlassen hatte.

Seit jenem grauenhaften Moment mit sechzehn hatte sie sich nicht mehr erlaubt, in Gabriel mehr zu sehen als einen Freund und Bruder. Eine Einschätzung, die seine Eltern ganz offensichtlich nicht teilten …

Warum bist du dann errötet, als seine Mutter es erwähnt hat? Mit ganzer Kraft kämpfte sie gegen den Gedanken an. Sie konnte sich keinen Grund vorstellen, weshalb sie ihre Freundschaft riskieren sollte. Gabriel taugte nicht für Beziehungen, hielten sie bei ihm doch selten länger als einen Monat. Was, wenn aus ihnen ein Paar wurde, und das Ganze scheiterte? Zum ersten Mal seit damals dachte sie darüber nach, wie ihr Leben ohne Gabriel aussehen würde. Das Ergebnis schockierte sie genauso wie damals, und ihr wurde klar, dass sie alles tun musste, um das zu verhindern.

„Komm hoch“, erklang Lucys Stimme aus der Sprechanlage, als Gabriel einen Tag nach ihrem Ausflug vor ihrem Haus stand.

Im nächsten Moment ertönte der Summer, und Gabriel stürmte ins Haus. Oben angekommen, stellte er überrascht fest, dass die Wohnungstür geschlossen war. Seltsam. Er zog die Brauen zusammen. Normalerweise ließ Lucy sie für ihn sperrangelweit offen. Der Grund wurde ihm klar, nachdem er zweimal angeklopft hatte.

„Du darfst nicht reinkommen!“, rief eine entschlossene, wenn auch ein wenig schrille Stimme. Es folgten rumpelnde Geräusche, der Schlüssel wurde im Schloss gedreht und die Tür einen Spalt breit geöffnet.

„Tut mir leid, Gabe“, verkündete Lucy mit entschuldigender Miene. „Der Kleine denkt, er sei Spiderman. Ich musste die Tür abschließen, sonst hätte er sich draußen auf die Suche nach Dr. Octopus gemacht.“

Sie öffnete die Tür weiter, hinter ihr stand ein kleiner Junge in einem Spidermankostüm, der ganz aufgeregt wirkte. Grinsend ließ Gabriel sich auf ein Knie sinken, sodass er sich auf Augenhöhe mit dem Kind befand. Durch die Maske sah er in zwei wache braue Augen.

„Hallo, Spiderman“, sagte er. „Ich bin Lucys bester Freund, Gabriel.“ Er streckte die Hand aus, die der Junge feierlich schüttelte.

„Sollen wir ins Wohnzimmer gehen?“, meldete Lucy sich ungeduldig. Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie voraus. „Steven, ich mache dir deine „Feuerwehrmann Sam“-DVD an.“ Über die Schulter hinweg flüsterte sie Gabriel zu: „Gott sei Dank, dass du da bist!“

Gabriel lächelte. Während der Rückfahrt gestern hatte er seine Chance genutzt und eine weitere Verabredung mit Lucy organisiert. Wenn es so weiterging, würden Ed und sie sich aufgrund von Kontaktmangel immer weiter voneinander entfernen – ohne dass er anderweitig eingreifen müsste!

Nachdem er Steven mit einem Glas Milch vor dem Fernseher abgesetzt hatte, gesellte er sich zu Lucy in die Küche. Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee und spähte hin und wieder durch die geöffnete Tür in Richtung Fernseher.

Autor

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