Rabentot

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"Sprach der Rabe: Stirb!" New York: Ein Serienmörder hinterlässt bei seinen Opfern eine mysteriöse Botschaft. Genevieve O´Brien ist besorgt: Hat er es auf die Mitglieder der Edgar-Allan-Poe-Gesellschaft abgesehen, die sich "Raben" nennen? Dann wäre auch ihre Mutter in höchster Gefahr. Genevieve engagiert den smarten Privatdetektiv Joe Connolly, ohne sich einzugestehen, dass sie noch etwas anderes von ihm will ... Gemeinsam jagen sie den skrupellosen Killer, nicht ahnend, dass er jeden ihrer Schritte beobachtet. Da bekommt Joe auf einmal schreckliche Albträume - und Hilfe von völlig unerwarteter Seite.


  • Erscheinungstag 10.04.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783862783977
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham

Rabentot

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Carla Altenkirch

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MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Death Dealer

Copyright © 2008 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Steinhage

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München;

pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /

Charles William Bush

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-399-1
ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-397-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

Es ist nicht leicht, ein Geist zu sein.

Man sollte meinen, es sei das Normalste auf der Welt. Auf einmal bist du tot – damit musst du jetzt leben.

Aber es ist viel komplizierter, als man sich vorstellen kann.

Es beginnt schon mit der einfachen Frage: Warum? Warum wird man ein Geist?

Die Theorien dazu kennt man natürlich: ein gewaltsamer Tod, es muss noch etwas zu Ende gebracht werden, jemand muss beschützt oder gewarnt werden – oder es muss Rache geübt werden.

Rache? Als Geist? Tolle Idee.

Bei mir war es anders. Der Mann, der mich umgebracht hatte, starb bereits Sekundenbruchteile, bevor ich meinen letzten Atemzug tat. Und es war nicht so, dass ich das Leben nicht geliebt hätte, im Gegenteil! Ich ließ Menschen zurück, die mir sehr viel bedeutet haben.

Die große Liebe meines Lebens, Matt Connolly, war mir jedoch schon vorausgegangen. Und er begrüßte mich, als ich ankam.

Oder „hinübergegangen war“, wie sie hier sagen. Das Problem ist nur, dass man in Wahrheit gar nicht richtig hinübergeht. Die Welt, in der man von nun an existiert, ist verschwommen und voller Schatten, und nicht selten sieht man, wie etwas Schlimmes passiert – und kann nichts dagegen tun.

Als ich starb, hatte ich bereits eine Ahnung von dem, was kommen würde. Ich wäre schon einmal beinahe gestorben, und ich hatte die Macht des Lichts gespürt, das mich zu sich rief. In den Himmel? Ich weiß es nicht.

Denn damals hatte ich überlebt. Und diesmal blieb ich.

Als Geist.

Und ich weiß, dass das nicht ohne Grund so gekommen ist, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum genau. Aber wenigstens bin ich im Gegensatz zu manch anderen ziemlich sicher, dass es einen Grund gibt.

Ich bin vielen begegnet, die viel schlimmer dran waren als ich. Nach meiner Nahtoderfahrung und bevor ich meinen Körper aus Fleisch und Blut endgültig verlassen habe, hatte ich einen seltsamen Draht zu ihnen.

Da ist zum Beispiel Lawrence Ridgeway, Colonel Lawrence Ridgeway, ein ganz reizender Kerl mit einem perfekt getrimmten Schnauzer und Koteletten. Leider kann er nicht einsehen, dass der amerikanische Bürgerkrieg schon vorbei ist. Er war ein wackerer Soldat, der während der furchtbaren Einberufungskrawalle 1863 nach New York kam. Heute bewacht er immer noch seine längst verstorbenen Gefangenen, obwohl ich ihm schon hundert Mal erklärt habe, dass das sinnlos ist. Auch Matt hat versucht, ihm klarzumachen, dass gar keine Häftlinge mehr da sind, aber der arme Colonel Ridgeway kann das einfach nicht verstehen. Ich fürchte, er ist dazu verdammt, für immer in einem ganz bestimmten Flur von Hastings House in Manhattan herumzuspuken – eine tragische Gestalt, die wohl nie zur Ruhe kommen wird.

Marnie Brubaker hingegen starb im Kindbett. Sie ist eine liebenswerte, bezaubernde Frau und liebt die Kinder, die Hastings House besuchen. Kinder sind meist offener für die Anwesenheit von Geistern als Erwachsene, und Marnie spielt gerne mit ihnen. Wenn sie auf der Schulter ihrer Mutter oder ihres Vaters einschlafen, singt sie ihnen Schlaflieder. Aber immer wieder kommt es vor, dass eins von ihnen Angst bekommt und zu schreien anfängt, woraufhin Marnie dann wochenlang deprimiert ist. Sie will doch nur Liebe und Zuwendung geben; aber manchmal wollen eben nicht einmal Kinder von einem Geist getröstet werden.

Es gibt solche wie Colonel Ridgeway, die einfach ihre letzten Handlungen endlos wiederholen. Aber andere lernen, sich in der physischen Welt zu bewegen. Sie gehen durch Mauern, erscheinen und verschwinden nach Gutdünken und lassen Dinge durch die Luft schweben. Jeder Geist kann lernen, alles Mögliche zu tun, solange er den Willen, die Geduld und das Durchhaltevermögen dazu hat.

Ich wurde zum Opfer eines Killers, der schon andere auf dem Gewissen hatte, bevor er mich ermordete. Aber in meiner Welt gibt es keinen Schmerz, besonders nicht für mich. Denn Matt ist hier bei mir, und das ist alles, was zählt. Er starb in der Nacht meines Beinahetodes, und er blieb, um mich zu warnen. Um mich zu retten. Aber das sollte nicht funktionieren. Ich habe mein Leben schließlich gegeben, um Genevieve O’Brien zu retten. Und wenigstens in der Hinsicht war ich erfolgreich. Aber als ehemalige Sozialarbeiterin kann sie einfach nicht damit aufhören, anderen zu helfen, und das bringt sie immer wieder von Neuem in Gefahr.

Und dann ist da noch Joe Connolly, Matts Cousin. Er ist Privatdetektiv und ein toller Kerl. Ein harter Kerl.

Aber keiner ist so hart im Nehmen, dass er dem Tod Paroli bieten könnte. Das Leben ist kein Kinofilm. Die Bösen schießen mit echter Munition, und so kann Joe unseren Schutz manchmal ganz gut gebrauchen, auch wenn er das gar nicht weiß.

Ich glaube, Matt und ich sind entweder wegen Joe oder Genevieve geblieben. Vielleicht auch wegen beiden. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass ihnen – und vielleicht auch anderen – nichts zustößt.

Nein, es ist nicht leicht, ein Geist zu sein. Es ist vielmehr richtig harte Arbeit, Leute zu beschützen, wenn sie einen die meiste Zeit nicht einmal sehen können und dann auch noch denken, dass sie ohnehin keinen Schutz brauchen.

Joe zum Beispiel. Er besucht gelegentlich die Gräber der Menschen, die er nicht retten konnte – auch Matts und meins. Manchmal bringt er Blumen. Manchmal sitzt er einfach nur da, tief in Gedanken versunken. Und manchmal redet er. Dann sieht er sich um und hofft, dass ihn niemand gehört hat. Schließlich ist es schwer, neue Kunden zu gewinnen, wenn man in dem Ruf steht, geisteskrank zu sein. Aber jeder hat seine eigene Art, mit Verlust umzugehen. Und Joe redet eben mit den Toten in ihren Gräbern.

Auf diese Weise erfuhren wir von den Poe-Morden.

Und über die bekamen auch Joe und Genevieve wieder mehr miteinander zu tun.

Sie stammte aus einem vermögenden Elternhaus und hätte es nicht nötig gehabt, sich mit den Problemen anderer zu beschäftigen. Aber sie konnte es nicht lassen – nicht mal, nachdem sie dabei fast umgekommen wäre.

Und nicht einmal dann, wenn es sich um Mord handelte.

1. KAPITEL

Der Unfall geschah auf dem Franklin D. Roosevelt Drive. Joe fuhr gerade an Manhattans East Side entlang und dachte darüber nach, dass es eigentlich erstaunlich war, dass auf dieser viel befahrenen und veralteten Schnellstraße nicht mehr Unfälle geschahen, als plötzlich direkt vor ihm ein Auto in ein anderes prallte. Reifen quietschten, Glas splitterte, Stahl knirschte, weitere Autos stießen zusammen. Ein nachfolgender Wagen konnte nicht rechtzeitig bremsen und wich auf die nächste Fahrbahn aus. Dort wurde er mit voller Wucht von einem anderen Fahrzeug gerammt, das dann auf die nächste Spur zog. Das Auto, das zunächst ausgewichen war, wurde herumgeschleudert, raste gegen die niedrige Betonmauer in der Mitte des Highways und überschlug sich.

Joe gelang es irgendwie, am Rand zum Stehen zu kommen. Er nahm das Handy und wählte die Notrufnummer. Er berichtete, was er sah und wo er sich befand, und lief dann auf die Straße, um zu helfen.

Das Auto, das als Erstes in den Unfall verwickelt worden war, stand ein ganzes Stück weiter vorne, aber die Reihe der kaputten Wagen reichte fast bis zu ihm.

Den Leuten im ersten Wagen, an dem Joe vorbeikam, ging es gut, denen im nächsten auch, und der Fahrer des dritten hatte sich wohl nur den Arm gebrochen.

Bei dem Auto, das sich überschlagen hatte, roch es stark nach Benzin – ein schlechtes Zeichen.

Überall waren Leute und riefen durcheinander, während der nachfolgende Verkehr versuchte, sich ungeachtet der Vorkommnisse einen Weg durch das Chaos zu bahnen.

„Hey, das fliegt gleich in die Luft!“, hörte Joe jemanden schreien, als er sich dem Fahrzeug näherte. Er hob eine Hand und signalisierte, dass er verstanden hatte, ging aber trotzdem weiter. Er war kein Superheld, aber er hatte eine Menge Unfälle gesehen, als er noch ein Cop gewesen war, und eine innere Stimme sagte ihm, dass er – todesmutig oder nicht – noch genug Zeit haben würde, um zu helfen.

Das Auto lag auf dem Dach. Der Kopf des Fahrers hing in einem seltsamen Winkel herab, Blut tropfte herunter. Die Augen des Mannes waren geschlossen.

„He, wachen Sie auf! Wir müssen Sie hier rauskriegen! Ich helfe Ihnen!“, rief Joe.

„Meine Nichte“, murmelte der Mann. „Sie müssen meiner Nichte helfen.“ Seine Hand griff mit erstaunlicher Kraft nach Joes Arm. „Sie heißt Trish.“

Dann erst sah Joe das kleine Mädchen. Sie lag hinten. Sie war zu klein für den Sicherheitsgurt gewesen. Sie war herausgerutscht und lag auf dem Dach, das nun der Boden war. Sie war ganz still, aber Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Bemüht ruhig sagte Joe: „Komm, meine Kleine! Gib mir deine Hand!“

Sie sah ihn aus großen blauen Augen an. Sie war vielleicht sieben oder acht und etwas klein für ihr Alter. „Trish“, sagte Joe bestimmt, „gib mir deine Hand!“

Erleichtert atmete er aus, als sie es endlich tat. Er bekam sie unversehrt aus dem Wrack heraus, auch wenn sie über Glasscherben krabbeln musste. Sobald er sie in seinen Armen hielt, rannte jemand aus dem Gewusel auf ihn zu.

„Sehen Sie zu, dass Sie hier wegkommen!“, rief der Mann, während er ihm das Mädchen abnahm. „Das Auto explodiert gleich!“

„Da ist noch ein Mann drin“, widersprach Joe.

„Der ist tot.“

„Nein!“, entgegnete Joe. „Er lebt noch. Er hat mit mir gesprochen.“

Am Rande nahm Joe wahr, dass Sirenen heulten, dass die Dämmerung angebrochen war. Ihm war völlig klar, dass er nicht mehr viel Zeit hatte.

Er legte sich wieder auf den Bauch und rief dem Mann mit dem Mädchen zu: „Die Leute müssen weg, viel weiter weg!“

„Trish?“, fragte der Fahrer des Unfallwagens.

„Alles in Ordnung. Sie ist draußen und in Sicherheit. Achtung, ich löse jetzt Ihren Gurt. Versuchen Sie, mir zu helfen.“

Er tat sein Bestes, um den Mann abzustützen, nachdem er den Gurt gelöst hatte, aber es war nicht leicht. Es gab nur wenig Platz, und Joe musste sich beeilen.

Aber er bekam den Mann heraus. Er konnte nur hoffen, dass er seine Schmerzen nicht verschlimmert hatte.

„Helft mir!“, schrie er, als er den Mann ganz herausgezogen hatte.

Derselbe gute Samariter, der das Kind genommen hatte, kam ihm zu Hilfe. Halb zogen, halb trugen sie den Mann von dem Autowrack weg.

Gerade noch rechtzeitig.

Das Fahrzeug explodierte, Flammen schlugen hoch in die Luft. Wahrscheinlich konnte man sie in halb Manhattan sehen.

Die Druckwelle war gewaltig. Sie fühlte sich an wie eine heiße, große Hand, die Joe, seinen Helfer und den Mann aus dem Auto von den Füßen riss und einige Meter durch die Luft schleuderte, bevor sie hart auf dem Asphalt aufschlugen.

Joe nahm der Landung die Wucht, indem er sich abrollte. Ihm war klar, dass er sie viel besser überstanden haben musste als der Fahrer des Unfallautos.

Einen Moment lang konnte er nicht atmen, so heiß war die Luft.

Dann spürte er schmerzhaft seine Gliedmaßen und den rauen Asphalt in seinem Rücken, und schließlich hörte er auch die Schreie um ihn herum – die Explosion hatte sie verschluckt.

„Alles in Ordnung?“, fragte er den Mann, der ihm geholfen hatte.

„Ja. Und bei Ihnen?“

„Auch.“

Im nächsten Augenblick hockte schon ein junger Sanitäter neben ihm. Joe versuchte, sich aufzurappeln.

„Immer mit der Ruhe! Bewegen Sie sich nicht, bis wir sicher sind, dass Sie sich nichts gebrochen haben“, sagte der Sanitäter.

„Es ist nichts gebrochen. Mir geht’s gut“, entgegnete Joe. „Aber der Mann, der mir geholfen hat …“

„Der wird bereits versorgt.“

„Und der aus dem Auto? Ich glaube, er hat ziemlich was abgekriegt.“

„Wir, äh, wir kümmern uns bereits um ihn“, antwortete der Sanitäter. Dann fügte er hinzu: „Das Mädchen hat es übrigens gut überstanden. Alle reden schon davon, wie Sie ihr das Leben gerettet haben.“

„Okay, großartig!“, sagte Joe. „Aber der Mann braucht …“

„Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber er ist tot.“

„Ich hatte gedacht, er könnte es schaffen.“

Der Sanitäter schwieg ein paar Augenblicke. Dann sagte er mit sanfter Stimme: „Sie haben das sehr gut gemacht. Aber der Mann … Er ist bereits während des Unfalls gestorben. Er hat sich das Genick gebrochen.“

„Das kann nicht sein. Er hat mit mir gesprochen.“

„Völlig unmöglich, Sie müssen sich getäuscht haben. Der Mann kann nicht mit Ihnen gesprochen haben. Er war tot seit dem ersten Aufprall. Ganz sicher. Genickbruch. Wenigstens musste er nicht leiden …“ Während er sprach, zog der Sanitäter ein Stethoskop hervor. Offensichtlich glaubte er Joe nicht, dass ihm nichts fehlte.

Joe war mittlerweile wieder zu Atem gekommen. Er schob das Stethoskop beiseite und setzte sich auf. Er starrte den Sanitäter an. Was wusste der schon? Er war schließlich kein Gerichtsmediziner.

„Der Mann war noch am Leben! Er hat mit mir geredet. Ich hätte das Mädchen gar nicht gesehen, wenn er mir nicht gesagt hätte, wo ich es finde.“

„Natürlich. Wenn Sie meinen.“

Joe merkte, dass er nicht ernst genommen wurde. „Und nehmen Sie dieses Ding weg! Ich sagte Ihnen doch, bei mir ist alles in Ordnung.“

Er wusste, dass der Sanitäter nur seine Pflicht tat, aber es ging ihm wirklich gut. Abgesehen davon, dass dieser Junge ihm weismachen wollte, der Mann sei bereits tot gewesen.

„Sir, lassen Sie mich Ihnen doch helfen!“

„Sie wollen mir helfen? Dann bringen Sie mich hier weg, verdammt noch mal!“, erwiderte Joe. „Aber schnell!“

„Ich hole nur rasch eine Tragbahre.“

„Gut.“ Joe war alles recht, solange es nur diesen Kerl aus dem Weg schaffte.

Sobald der Sanitäter verschwunden war, atmete Joe tief ein und stand auf. Verdammt, tat das weh! Es fühlte sich an, als wäre er sandgestrahlt worden, und er war immerhin keine achtzehn mehr.

Er sah, dass es keine Möglichkeit gab, die Unfallstelle in seinem eigenen Auto zu verlassen. Also gab es nur eins: Er musste zu Fuß gehen.

Und das tat er. Es ging leichter, als er gedacht hatte, aber es herrschte ja auch immer noch das reinste Chaos zwischen all den Wracks, und ein einzelner Fußgänger fiel da gar nicht auf. Als er den Schauplatz verließ, nahm er die vielen Stimmen wahr: die meisten beunruhigt oder besorgt, manche auch nur aufgeregt. Immer mehr Polizeiautos und Krankenwagen fuhren an ihm vorüber.

Er ging über den Seitenstreifen in die Richtung, aus der er gekommen war, verließ den Highway über eine Auffahrt und winkte ein Taxi heran. Der Fahrer verzog bei seinem Anblick keine Miene. Das war New York.

Joe nannte ihm eine Route nach Brooklyn, die nicht über den Highway führte.

Als er endlich zu Hause war, duschte er und zog sich um. Dann ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Er wollte die Lokalnachrichten sehen.

Der Unfall war die Hauptmeldung.

„Es gab zwölf Verletzte, die nun in verschiedenen Krankenhäusern in der Umgebung medizinisch versorgt werden“, sagte die gut aussehende Nachrichtensprecherin. Ihre Miene war ernst. „Ein Mensch kam ums Leben. Adam Brookfield starb, als sein Auto auf eine Betonmauer prallte und sich überschlug. Die Ärzte stellten fest, dass Mr Brookfield sofort tot war. Allerdings zog ein Helfer, der den Unfallort später unerkannt verließ, seine Leiche aus dem Auto, nur wenige Augenblicke, bevor es explodierte. Der Mann rettete auch Mr Brookfields sechsjährige Nichte Patricia. Sie liegt im St. Vincent’s Hospital und ist wohlauf. Ihre Eltern sind bei ihr.“

Die Frau drehte sich mit ihrem Stuhl und sah in eine andere Kamera. Der nüchterne Gesichtsausdruck verschwand, und sie lächelte. „An diesem Wochenende trifft sich im Kennedy Center der Amerikanische Chorverband, und außerdem sei daran erinnert, dass im Metropolitan Museum of Art heute Abend eine Sonderführung durch die Altägyptische Sammlung stattfindet. Im Anschluss gibt es auch ein Galadinner, dessen Erlöse archäologischen Ausgrabungen hier in New York zugutekommen. Und jetzt …“

Joe hörte nicht länger zu. Er ärgerte sich.

Dieser Mann, Adam Brookfield, war am Leben gewesen, er hatte sich mit ihm unterhalten. Es war Blödsinn, dass er bei dem Aufprall gestorben sein sollte. Wenn er tot gewesen wäre, hätte er schließlich nicht sprechen können.

Joe warf einen Blick auf die Uhr. Es würde noch Stunden dauern, bis er nach seinem Auto sehen konnte, aber wahrscheinlich würde es ohnehin abgeschleppt werden. Mist!

Er war auf dem Weg zu dem Wohltätigkeitsessen im Museum gewesen, als ihm der Unfall dazwischenkam. Jetzt beschloss er, es sein zu lassen. Er machte sich lieber auf den Weg nach Manhattan, wo es eine Kneipe gab, die er in letzter Zeit sehr gerne besuchte.

„Gratuliere, Senator! Was für ein wundervolles Baby“, sagte Genevieve O’Brien zu Senator James McCray und seiner Frau. Sie hatten ihr Bilder von Jacob gezeigt, ihrem jüngsten Enkel, und Genevieve hatte an den richtigen Stellen „oh“ und „ah“ gemacht.

Eigentlich sah das Baby nicht gerade süß aus. Völlig kahl und verschrumpelt … Ein Neugeborenes eben.

Aber der Senator unterstützte die Historical Society, und er hatte eine Menge gezahlt für den heutigen Rundgang durch das Museum und das Abendessen. Selbstverständlich sagte sie da nur das Beste über seinen Enkel.

Aber wahrscheinlich hätte ich das auch getan, wenn ich ihn einfach so auf der Straße getroffen hätte.

Sie verfluchte die Erfindung der Digitalkamera.

Der Senator hatte nicht nur ein Foto, sondern mindestens hundert.

„Sie sollten auch heiraten und Kinder kriegen, meine Liebe“, sagte James McCray.

Seine Frau stieß ihm den Ellbogen in die Seite. Sie war mit einem Mal blass geworden.

Genevieve seufzte und versuchte, ihre Gefühle zu verbergen. Sie war das so leid. Alles, was nur im Entferntesten auf Sex hinzudeuten schien, wurde in ihrer Gegenwart tabuisiert, seit sie das Opfer eines Verrückten geworden war. Er hatte New Yorks Straßen unsicher gemacht und es auf Prostituierte abgesehen – dieselben Prostituierten, mit denen sie gearbeitet hatte. Alle wussten, was sie durchgemacht hatte und dass es ein Wunder war, dass sie überhaupt noch lebte.

Sie hatte überlebt, weil sie schnell erkannt hatte, dass ihr Angreifer zu Sex gar nicht in der Lage war. Sie hatte mitgespielt, war eingegangen auf das, was er sich vormachte und hatte seinem Ego gegeben, was es brauchte. Und obwohl sie gefangen gehalten und misshandelt worden war, hatte sie das Erlebte nicht so gravierend erschüttert, wie alle um sie herum wohl dachten. Wenn sie innerlich Qualen litt, dann deswegen, weil ein Mensch gestorben war, um den sie sehr trauerte: ihre wunderbare Freundin Leslie MacIntyre.

„Ich hätte eines Tages sehr gerne Kinder, Senator“, sagte sie fröhlich. „Sobald sich ein geeigneter potenzieller Vater findet. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich muss mich um ein paar Dinge kümmern.“

Ja, sie musste sich darum kümmern, einen Ausgang zu finden. Sie ging eilig in einen Seitenflur, der nur für Angehörige der Historical Society geöffnet war, die die Veranstaltung ausrichtete. Dort setzte sie sich auf eine Bank.

Er war nicht gekommen.

Sie seufzte und fragte sich im selben Augenblick, warum sie überhaupt geglaubt hatte, dass Joe heute Abend kommen würde. Er war ein faszinierender Mann, der an fast allem in der Welt interessiert war. Er kam aus keiner reichen Familie, aber wenn jemand wusste, dass Geld wirklich nicht alles war, dann sie. Joe war ein Mann, der das Leben tatsächlich lebte, und er hatte etwas aus sich gemacht. Außerdem sah er großartig aus. Ein toller Typ, keine Frage.

Und mein Freund.

Wenn er ihr nicht aus dem Weg ging.

Sie musste lächeln. Wenn sie in Gefahr geriete, wenn sie gerettet werden müsste, dann würde er sofort zur Stelle sein. Allerdings musste sie jetzt nicht gerettet werden. Und sie wollte auch nicht gerettet werden.

Ihr Lächeln verging.

Doch, sie brauchte Hilfe.

Sie hatte gehofft, dass er kommen würde, weil sie ihn um Rat fragen wollte in einer Sache, die ihr zu schaffen machte.

Ein Mord.

Die Medien hatte ihn den „Poe-Mord“ getauft, weil der Tote, Thorne Bigelow, der Vorsitzende der New Yorker Poe-Gesellschaft gewesen war, einer Vereinigung, die sich dem Studium des Lebens und Werks Edgar Allan Poes widmete. Die Mitglieder bezeichneten sich als „Raben“, nach Poes berühmtem Gedicht, und der Mörder hatte eine Botschaft hinterlassen, die auf den Autor hinwies.

Ihr Blick wanderte durch den Raum. Die meisten Mitglieder der Historical Society hatten in irgendeiner Weise mit Literatur oder anderen kulturellen Bereichen zu tun. Es waren mehrere der Raben anwesend, darunter ihre Mutter. Sie unterstützten auch andere Gruppen, die sich für Geschichte und Archäologie interessierten. Genevieve sah den Zeitungsreporter Larry Levine, der über die Veranstaltung berichten würde. Dann Lila Hawkins, eine Frau, die stets geradeheraus sagte, was sie dachte, dabei manchmal unverschämt und sehr, sehr reich war. Eigentlich war sie unausstehlich, aber sie tat viel für die Kunst in der Stadt. Gerade vorhin hatte Gen sie mit Barbara Hirshorn gesehen, einem anderen Raben und dem genauen Gegenteil von Lila. Barbara war so schüchtern, dass sie kaum sprechen konnte, wenn mehrere Personen anwesend waren.

Sogar Jared Bigelow war kurz erschienen, mit seiner Tante Mary Vincenzo am Arm. Jetzt war er wieder weg, und sie hatte keine Gelegenheit gehabt, sich mit ihm zu unterhalten. Er hatte sich nur gezeigt, um die Sache, um die es heute Abend ging, zu unterstützen; er trauerte noch um seinen Vater.

Sogar auf ihrer Bank konnte sie noch die dröhnende Stimme von Don Tracy vernehmen, dem Raben, der Poe der breiten Masse nahebrachte. Er war Schauspieler, ein sehr guter, auch wenn er nie die ganz große Berühmtheit erlangt hatte. Er liebte die Bühne und hatte bei mehreren Gelegenheiten Werke von Poe dargeboten.

Keinen von ihnen schien die Botschaft, die bei Thornes Leiche gefunden worden war, zu beunruhigen.

Thorne Bigelow war ein sehr wohlhabender Mann gewesen. Ein prominenter Mann. Und obwohl ständig Morde geschahen, war es eine traurige Tatsache, dass sich die Medien für manche wesentlich mehr interessierten als für andere – etwa dann, wenn der Name des Opfers regelmäßig in den Schlagzeilen aufgetaucht war und man eine geheimnisvolle Nachricht gefunden hatte, die auf einen längst verstorbenen Dichter hinwies.

Es war nur Zufall, dass Thorne Bigelow ein sehr vermögender Rabe gewesen war. Man musste nicht reich oder berühmt sein oder über Poes Werk publiziert haben, um zu den Raben zu gehören, auch wenn das auf manche zutraf. Bigelow hatte ein Buch über Poe geschrieben, das als absolutes Standardwerk angesehen wurde. Er war ein anerkannter Experte auf dem Gebiet gewesen.

Und er war vergiftet worden. Vergiftet mit einer Flasche Tausend-Dollar-Wein.

Er hatte Wein geliebt, manchmal vielleicht zu sehr. Und er war daran gestorben.

Wie Poe.

Siehe seine Erzählung „Der schwarze Kater“.

Oder vielleicht auch „Das Fass Amontillado“.

Der Mörder hatte keinen präzisen Hinweis gegeben, welche Geschichte Bigelows Tod nachstellen sollte. Aber er hatte seine Intention auf einem Zettel deutlich gemacht, den er am Tatort hinterließ:

Sprach der Rabe: „Stirb!“

Die Polizei kam mit den Ermittlungen zwar nicht so recht voran, aber Genevieve verstand nicht, warum die Medien sie derart in die Mangel nahmen. Thorne Bigelow war erst seit einer Woche tot. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass es bei schlimmen Ereignissen oft lange dauerte, bis sich eine Lösung fand. Wenn ihre Familie nicht so einflussreich und sie nicht selbst entführt worden wäre, hätte es womöglich sehr viel mehr Zeit gebraucht, das Schicksal einiger anderer aufzuklären, die im Leben nicht so viel Glück gehabt hatten.

Aber Bigelow war ein großes Thema.

„Meine Liebe, da bist du ja!“

Genevieve sah auf. Ihre Mutter – es kam ihr immer noch etwas komisch vor, Eileen „Mutter“ zu nennen, schließlich war sie in dem Glauben aufgewachsen, sie sei ihre Tante – stand vor ihr. Eileen, gerade mal Anfang vierzig, sah umwerfend aus. Ihre Liebe zu Genevieve war so stark, dass es dieser leichtfiel, ihr die Lügen der Vergangenheit zu verzeihen. Zumal sie ohne Eileens Hartnäckigkeit mit Sicherheit nicht mehr am Leben wäre.

Genevieve wusste, welch großen Druck eine Familie ausüben konnte, und als sie auf die Welt gekommen war, war Eileen viel zu jung gewesen, um sich Gehör zu verschaffen.

Aber Eileen Brideswell hatte schließlich doch entschieden, dass ein New York, das „Sex and the City“ feierte, ihr auch vergeben würde, als unverheirateter Teenager eine Tochter bekommen zu haben. Und wofür man sie damals wohl verurteilt hätte, interessierte heute kaum noch jemanden.

Letzten Endes hatte Genevieve Eileen ihr ganzes Leben lang geliebt.

„Ja, hier bin ich“, sagte sie nun fröhlich.

„Er ist nicht gekommen“, stellte Eileen fest.

„Nein.“

Eileen zögerte. Sie war sehr schlank und eine klassische Schönheit, die auch mit achtzig noch so gut aussehen würde wie heute. Aber jetzt waren ihre Züge angespannt.

„Was ist?“, fragte Eileen. Sie sah etwas in den Augen ihrer Mutter, das sie beunruhigte.

„Es gab einen furchtbaren Unfall auf dem FDR.“

Genevieve sprang auf. „Wann? Joe fährt …“

„Vor ungefähr einer Stunde. Über die Details wird jetzt erst berichtet. Es gab einen Toten – keine Angst, es ist nicht Joe. Aber eine Reihe von Menschen wurden verletzt.“

Genevieve setzte sich wieder und griff nach dem Handy in der Tasche ihres schwarzen Seidenrocks. „Wäre besser für den Kerl, wenn er rangehen würde“, murmelte sie.

„Joe Connolly“, antwortete seine Stimme nach dreimaligem Klingeln.

Im Hintergrund hörte sie Musik, eine irische Melodie. Er ist im O’Malley’s.

„Ich bin’s, Genevieve.“

„Hallo! Bist du noch bei deiner großen Soiree?“, fragte er.

„Ja. Ich dachte, du würdest auch kommen.“

„Ich habe es nicht durch den Berufsverkehr geschafft.“

Sie stieß einen Seufzer aus. Alles klar. Das konnte als Entschuldigung durchgehen.

„Aha.“

„Ich bin im O’Malley’s.“

„Ja, so hört es sich an.“

Er schwieg. Die Stille fühlte sich unangenehm an. War sie zu anhänglich? Klang sie am Ende wie eine Ehefrau, die ihm nichts gönnte?

Langsam, rief sie sich zur Ordnung. Sie durfte nicht zu viel von ihm erwarten. Nachdem er sie gerettet hatte, nachdem Leslie … gestorben war, da hatte es so ausgesehen, als hätte sie das Schicksal zusammengeschweißt. Als beste Freunde, die einander brauchten.

Aber dann schien es auf einmal, als habe er um sich herum eine Mauer errichtet.

Sie knirschte mit den Zähnen. Sie brauchte ihn jetzt. Klipp und klar. Sie brauchte seine professionelle Hilfe. Er war Privatdetektiv, spürte Menschen auf, suchte Beweise, fand die Wahrheit heraus. Das war sein Beruf, und sie wollte ihn engagieren. Nicht um einen Gefallen bitten.

„Na ja, viel Spaß dann“, sagte sie und legte auf, bevor er etwas erwidern konnte.

Eileen sah sie an. „Mach dir keine Sorgen, Liebes!“ Ihre Mutter setzte sich neben sie und legte ihr die Hand aufs Knie. „Es wird alles gut werden.“

„Mom …“ Das Wort fühlte sich immer noch ein wenig seltsam an, aber Genevieve sagte es gerne. „Mom, ich mache mir Sorgen um dich. Du gehörst zu den Raben, und …“

Eileen seufzte. „Ach, Kleines, das brauchst du nicht! Ich bin da ja gar nicht richtig aktiv. Der arme Thorne. Ich bin gerne Mitglied bei den Raben, ich mag das Lesen und die Diskussionen, aber … Wirklich, ich fühle mich kein bisschen gefährdet.“

„Mom, er ist ermordet worden.“

„Ja.“

„Von jemandem, der von seinem Buch über Poe anscheinend nicht gerade begeistert war.“

„Na siehst du, ich habe ja noch nie ein Buch geschrieben“, versuchte Eileen sie zu beruhigen.

Genevieve seufzte und stand auf. „Aber du bist Mitglied in der Poe-Gesellschaft.“

„Und bei vielen anderen Gesellschaften und Vereinen.“

„Trotzdem, ich mache mir einfach Sorgen. Henry bringt dich nach Hause, ja?“

Eileen runzelte die Augenbrauen. „Ja, natürlich. Aber was ist mit dir? Gehst du schon?“

„Ich schaue noch im O’Malley’s vorbei.“

„Oh.“ Eileen machte ein sorgenvolles Gesicht.

„Mir wird nichts passieren“, versicherte Genevieve ihr. „Ich fahre zwar selbst, aber ich weiß, wo ich sicher parken kann. Ein Wachmann wird mich nach draußen begleiten, und wenn ich das O’Malley’s wieder verlasse, suche ich mir jemanden, der mich zu meinem Auto bringt. In Ordnung? Ich bin vorsichtig, versprochen. Und das O’Malley’s kennst du doch. Da fragen sie dich wahrscheinlich noch um Erlaubnis, bevor sie jemand Neues einstellen.“

Eileen lachte, aber es klang nicht ganz unbeschwert. „Ich habe denen noch nie gesagt, wen sie einstellen sollen und wen nicht. Ich bin da einfach nur ganz gerne, außerdem ist der Eigentümer ein Freund von mir.“

„Und mir wird dort nichts passieren“, sagte Genevieve mit sanfter Stimme. Eileen sieht immer noch besorgt aus. Aber andererseits machte sie sich zurzeit ständig Sorgen, sobald sie ihre Tochter aus den Augen verloren hatte.

Trotzdem war Genevieve in ihr eigenes Apartment gezogen. Nicht, dass sie Eileen nicht gemocht hätte oder die Villa. Sie hatte es nur gern ein wenig schlichter – und sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben.

Es war eine traurige Ironie, dass sie sich beide um die jeweils andere solche Sorgen machten, wo sie sich gerade erst so nahegekommen waren.

Trotzdem, angesichts des Mordes an Thorne konnte sie nicht anders. Eileen war bei den Raben, und obwohl die Polizei es für unglaubwürdig hielt, war sie der Meinung, dass Thorne genau deshalb umgebracht worden war und nicht, weil er ein renommierter Poe-Experte war.

Zugegebenermaßen war es wahrscheinlich, dass der Mörder durch sein Buch auf ihn aufmerksam geworden war, und Eileen hatte nie ein Buch geschrieben. Sie hatte viel zu viel mit Wohltätigkeitsveranstaltungen und Frauenvereinen zu tun, um viel Zeit für die Beschäftigung mit Poes Werk aufzubringen.

Trotzdem, dieser Zusammenhang beunruhigte Genevieve, und sie wollte, dass Joe sich darum kümmerte.

Das war alles, ganz einfach.

Oder war da doch noch mehr?

Vielleicht machte sie sich auch selbst etwas vor, vielleicht gab es noch andere Gründe, warum sie Joe sehen wollte. Und es gab weiß Gott genug an ihm zu sehen. Er war intelligent, humorvoll, großzügig und ein wenig kantig und rau. Sexy und einfühlsam. Eine Kombination, der sie nur schwer widerstehen konnte.

Und er war verliebt in eine Tote.

Sie versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen. Joe und sie waren nur durch das, was geschehen war, Freunde geworden. Sie hatten die schweren Zeiten gemeinsam durchgestanden und waren als gute Freunde daraus hervorgegangen.

Okay, wenn es um Joe ging, waren bei ihr eine Menge verschiedener Gefühle involviert. Aber jetzt gab die wachsende Sorge um ihre Mutter den Ausschlag dafür, dass sie ihn sehen wollte.

Sie küsste Eileen auf die Wange. „Ich rufe dich an, wenn ich das O’Malley’s verlasse, und ich rufe noch mal an, wenn ich zu Hause bin, okay?“

Eileen nickte. „Hat dir der Abend gefallen?“

„Ja, ich glaube, wir haben eine Menge Geld zusammenbekommen. Leslie hätte sich gefreut.“ Leslie, deren außergewöhnliche Fähigkeiten ihr Segen und Fluch zugleich gewesen waren, hatte als Archäologin gearbeitet. Sie hatte die historische Forschung geliebt, sie hatte sie verehrt. Der heutige Abend war ihrem Andenken gewidmet worden, und ein Teil der Spenden würde verwendet werden, um menschliche Überreste respektvoll wieder zu bestatten, die Leslie bei ihrer letzten Ausgrabung entdeckt hatte. Der Ausgrabung, die sie das Leben gekostet hatte.

Genevieve küsste ihre Mutter noch einmal schnell auf die Wange und eilte hinaus.

Die Nacht war ein wenig kühl, und sie war froh, dass sie eine Jacke mitgenommen hatte und nicht die elegantere Stola. Gar nicht mal, weil sie wärmer war, sondern weil sie so viel besser ins O’Malley’s hineinpassen würde.

Ihr Auto wurde vorgefahren, und sie machte sich auf den Weg in Richtung Downtown Manhattan. Sie schaltete das Radio an.

Es kamen gerade die Nachrichten, und es wurde über den Unfall auf dem FDR berichtet. Man war immer noch dabei, den Hergang zu rekonstruieren. Einige der Überlebenden kamen kurz zu Wort. Plötzlich fuhr Genevieve in ihrem Sitz hoch. Einen der Namen kannte sie: Sam Latham.

2. KAPITEL

Sam Latham.

Wieder einer der Raben.

Ein Zufall?

Wie viele Millionen Menschen lebten in dieser Stadt?

Gen runzelte die Brauen, als der Nachrichtensprecher von dem Autofahrer berichtete, der ums Leben gekommen war. Sie war erleichtert, dass wenigstens seine kleine Nichte überlebt hatte. Sie war gerettet worden von einem Mann, der den Schauplatz verlassen hatte, nachdem er zuerst das Mädchen und dann die Leiche seines Onkels aus dem Wrack gezogen hatte, nur Sekunden, bevor es in die Luft geflogen war.

Joe?

Wie viele Millionen Menschen gibt es hier?, wies sie sich zurecht.

Unmöglich! Das wäre ein zu großer Zufall.

Aber es war gut möglich, dass Joe zu dieser Zeit auf dem FDR unterwegs gewesen war, unterwegs zum Museum.

Als sie sich dem O’Malley’s näherte, sah sie Passanten auf den Bürgersteigen und war froh, dass die Straßen hier hell erleuchtet waren. Vielleicht hatte ihr das Erlebte doch mehr zugesetzt, als sie wahrhaben wollte. Sie fand einen Parkplatz direkt vor der Bar.

Vor der Tür hielt sie inne.

Sie kam schon ihr ganzes Leben lang hierher. Es war ein echter irischer Pub, und ihre Familie waren echte amerikanische Iren. Dies hier war so ziemlich der erste Ort gewesen, den sie besucht hatte, nachdem sie gerettet worden war, und es war einer der wenigen Orte gewesen, wo sie sich richtig wohlgefühlt hatte, wo sie nicht angestarrt worden war und sie nicht den Eindruck gehabt hatte, ihren ganzen Leidensweg ausführlich schildern zu müssen, damit ihre Zuhörer sich ihr Mitleid für die Tote aufhoben und nicht an sie verschwendeten.

Sie hatte kein Problem damit, das O’Malley’s zu betreten.

Aber sie hatte ein Problem damit, Joe zu begegnen.

Was, wenn er mit einer Frau zusammen war? Vielleicht hatte er den Abend im Museum nicht nur wegen des Verkehrs sausen lassen.

Dann würde sie eben am Tresen sitzen, eine Limo trinken und mit dem Barkeeper plaudern. Sie wusste nicht, wer gerade Dienst hatte, aber wer es auch war, sie würde ihn kennen. So wie ein Dutzend der älteren Herren, die sich hier regelmäßig trafen. Männer, die längst im Ruhestand waren. Vielleicht waren ihre Frauen bereits verstorben, vielleicht waren sie auch nie verheiratet gewesen, jedenfalls trafen sie sich immer im O’Malley’s. Es war gemütlich, das Bier war gut, das Essen schmeckte, und die Preise waren in Ordnung.

Egal, was mit Joe Connolly war – ihr würde es hier gut gehen.

Sie öffnete die Tür.

Joe hatte keine Verabredung. Zumindest sah es nicht danach aus. Er lehnte an einem Barhocker, die Krawatte gelockert, die Hemdärmel umgekrempelt.

„Hallo, Joe.“ Sie ging auf ihn zu.

Joe kam auch regelmäßig hierher. Sie wusste, dass er hier viel Zeit verbrachte, weil er den Pub mochte. Weil das Bier gut war, weil das Essen schmeckte und die Preise in Ordnung waren. Aber es ist trotzdem immer noch mehr mein Ort als seiner, dachte sie. Auch wenn er hier gut reinpasste.

Er spielte Darts mit Paddy O’Leary und Angus MacHenry, zwei Stammgästen. Sie waren beide in den Achtzigern und tranken nicht viel, meist nur Limonade, Wasser oder Tee – heißen Irish Breakfast Tea, stets mit Milch und Zucker.

Sie begrüßte die beiden, und sie unterbrachen ihr Spiel, um sie anzulächeln und auf die Wange zu küssen.

„Geht’s dir gut?“, fragte Angus.

„Bestens“, versicherte sie ihm.

„Sicher, Mädchen?“, fragte Paddy und sah ihr in die Augen.

„Es ist alles in Ordnung.“

Sie sagte schon seit über einem Jahr immer das Gleiche, aber bei Angus und Paddy macht es ihr nichts aus. Sie fragten sie jedes Mal, wenn sie sich sahen, glaubten ihr, dass es ihr gut ging, und kümmerten sich dann wieder um ihre eigenen Angelegenheiten.

Joe warf seinen Dartpfeil. Er traf fast in die Mitte. Nun kam auch er herüber, umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Es fühlte sich trotzdem komisch an, so als würde er einfach die Bewegungen machen, die von ihm erwartet wurden.

Wir sind nur Freunde. So, wie ich mit Paddy und Angus befreundet bin.

Nur dass Paddy und Angus ihre Großväter hätten sein können, während Joe jung und nicht gebeugt und so ziemlich der perfekte Mann war.

Zu perfekt, verdammt.

„Solltest du nicht eigentlich in dem Museum sein, Mädchen?“, fragte Paddy.

„Ich war im Museum“, sagte sie. „Und jetzt bin ich hier.“ Sie lächelte, um ihren Worten jede Schärfe zu nehmen.

„Und, war es ein guter Abend?“, fragte Angus und rieb sich die weißen Bartstoppeln am Kinn.

„Sehr gut“, nickte sie. Dann zögerte sie. „Ich muss eigentlich mit Joe sprechen. Aber spielt ihr ruhig erst mal fertig.“

„Ach, Blödsinn, Kleines“, erwiderte Paddy.

„Kümmer du dich mal um das Mädchen, Joseph Connolly!“, sagte Angus heiter. „Uns alte Knacker kannst du auch später noch fertigmachen.“

Joe zog eine Augenbraue hoch, aber er entgegnete nichts. Er griff nach seiner Jacke und sagte nur: „Selbstverständlich. Ich unterhalte mich gerne mit Genevieve. Jederzeit.“

Seine Worte waren höflich, beinahe galant, aber so war Joe immer. Es entsprach seiner Wesensart. Und dennoch wirkte er distanziert. Er zeigte auf eine leere Nische, und sie ließen sich nieder. Er saß ihr gegenüber. Als die Kellnerin kam, wollte er „noch ein Bier“. Gen bestellte eine Limonade und runzelte die Stirn. Joe hatte anscheinend schon einiges intus.

„Fährst du noch?“, fragte sie ihn.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, keine Angst. Ich bin mit der U-Bahn gekommen. Du kennst mich doch.“

Tue ich das?

„Und, wie war die Party?“

„Toll. Hätte dir bestimmt gefallen.“

Er zuckte die Schultern. „Tut mir leid. Ich wäre wirklich gerne gekommen.“

Sie nickte. „Meine Mutter hätte sich auch gefreut.“ Oh, das war nicht gut. Ihm Schuldgefühle zu machen, wissend, wie sehr er Eileen mochte.

„Wie geht es ihr?“

„Gut. Allerdings ist sie nicht so beunruhigt, wie sie meiner Meinung nach sein sollte.“

Er hob eine Braue. „Ah, der Poe-Mord?“

„Du scheinst dir ja auch keine großen Sorgen zu machen.“ Wieder zuckte er die Schultern. Es gefiel ihr nicht, dass er so unkonzentriert wirkte.

„Ich wünschte, jede schreckliche Sache, die passiert, würde mich um den Schlaf bringen, aber so ist das nicht. Man muss sich einen gewissen Abstand bewahren. Sonst wird man verrückt.“

„Ich will, dass du den Fall übernimmst.“

Er trommelte kurz mit seinen Fingern auf den Tisch. Endlich hatte sie seine Aufmerksamkeit.

„Gen“, sagte er dann sanft. „Deine Mutter ist nur ein Mitglied von vielen. Sie schreibt nicht über Poe. Und außerdem gehört sie einer Unmenge verschiedener Clubs an, die alle die Welt verbessern wollen. Ich kann sie mir als Ziel eines Mörders einfach nicht vorstellen.“

Es klang vernünftig; Eileen hatte dasselbe gesagt.

„Das kannst du nicht wissen“, sagte Gen dennoch.

Er atmete tief ein, sein Blick ging in die Ferne. „Gen, ich habe darüber nachgedacht, nach Las Vegas zu gehen.“

Sie war wie betäubt und gleichzeitig wütend, dass sie seine plötzliche Ankündigung so sehr traf. Gut, er war groß, hatte markante Gesichtszüge, sah gut aus. Und er war auch noch verdammt charmant.

Sie hatte bisher nicht viele Beziehungen und Affären gehabt, und das war Absicht. Wenn sie gewollt hätte … Die Männer standen Schlange, und wenn es nur ihres Geldes wegen war. Aber sie hatte gedacht, dass …

Sie schüttelte ihren Kopf. „Gut, dann zieh nach Las Vegas“, sagte sie achselzuckend. „Aber kümmere dich vorher um den Fall.“

„Gen, ich wette darauf, dass der Mord von jemandem begangen worden ist, der nichts anderes wollte, als Thorne um die Ecke zu bringen. Dieser Zettel mit dem Hinweis auf Poe ist nur eine falsche Fährte.“

„Dann beweise das.“

Er sah einen Moment lang weg.

Sie lehnte sich vor. „Joe, hast du gewusst, dass Sam Latham in dem ersten Auto saß, das heute in den Unfall auf dem FDR verwickelt war?“

„Was?“ Er sah sie stirnrunzelnd an.

„Sam Latham. Er ist Mitglied in der New Yorker Poe-Gesellschaft. Bei den Raben.“

„Und ich wette, dass mindestens zwei Drittel der Leute, die in den Unfall verwickelt waren, in dem einen oder anderen Verein sind. Wir sind soziale Lebewesen. Die meisten jedenfalls“, fügte er hinzu.

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. „Joe, die New Yorker Poe-Gesellschaft ist kein großer Club. Sie hat nur relativ wenige Mitglieder. Und sowohl Thorne Bigelow als auch Sam Latham sind … waren im Vorstand. Genau wie meine Mutter.“

Damit schien sein Interesse wenigstens einen Augenblick lang geweckt worden zu sein.

„Joe, es gibt nur noch neun weitere Vorstandsmitglieder. Zwei davon gehören zu Bigelows Familie, sein Sohn Jared und Mary Vincenzo, seine Schwägerin. Dann Brook Avery, Don Tracy, Nat Halloway, Lila Hawkins, Larry Levine, Lou Sayles und Barbara Hirshorn. Insgesamt waren es zwölf, aber Thorne ist tot. Und Sam ist jetzt im Krankenhaus.“

„Genevieve … Es war ein Unfall. Ich kenne Poes Erzählungen nicht so gut wie die Raben, aber er ist bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gestorben, und ich glaube nicht, dass eine seiner Figuren mit einem Auto umgebracht worden ist. Wahrscheinlich ist jemand rücksichtslos gefahren, vielleicht auch betrunken, vielleicht war es auch einfach ein Arschloch, aber es war trotzdem immer noch ein Unfall.“

„Oder der Fahrer hat so getan, als würde er rücksichtslos fahren, und hatte es in Wahrheit auf Sam abgesehen.“

„Nein“, sagte er fest. „Ich habe es selbst gesehen. Es war ein Unfall.“

„Du hast es gesehen?!“

Er zögerte. „Ich habe einiges davon gesehen.“

„Einiges?“

Er antwortete nicht. Es war, als hätte er sie nicht einmal gehört. Seine Stirn war gerunzelt, als wäre er tief in Gedanken versunken.

„Joe?“

„Wie gesagt, ich habe das meiste davon gesehen. Und davor …

Davor sah ich den Kerl, der das alles wahrscheinlich verursacht hat. Er hätte auch jedes andere Auto auf dem Highway rammen können. Er fuhr wie ein Wahnsinniger.“

„Würdest du ihn wiedererkennen?“

„Ich habe ein Auto gesehen, das sich durch den Verkehr schlängelte, und mein erster Impuls war, mich davon fernzuhalten. Ich bin kein Verkehrspolizist, Genevieve.“

Erstaunt sah sie, dass er gereizt war.

„Und wie sah das Auto aus?“, fragte sie.

Er schüttelte unwillig den Kopf, schien immer noch verärgert. „Irgendein ganz normales Auto eben. Dunkel. Dunkelblau, vielleicht auch dunkelgrün.“

Sie war sich sicher, dass er auf sich selber wütend war, nicht auf sie. Vielleicht, weil er dachte, er hätte sich das Auto besser merken sollen? Weil er dachte, er sollte in der Lage sein, die genaue Farbe zu nennen, das Modell und die Bauart und vor allem das Kennzeichen? Er war ein Excop, und es wurmte ihn wohl, dass er das versäumte hatte, zumal durch den Fahrer schließlich jemand ums Leben gekommen war.

„Du warst das!“, rief Genevieve plötzlich.

„Was?“

„Du warst das.“ Sie war sich vollkommen sicher. Oh ja. Es war ganz Joes Art, jemandem das Leben zu retten und dann einfach wegzulaufen. Er hasste das Rampenlicht.

„Ich bin nicht betrunken gefahren!“, erwiderte er entrüstet. „Ich rede nicht von dem Fahrer“, sagte sie.

Da schien der Groschen zu fallen.

„Was soll ich dann gewesen sein?“, fragte er vorsichtig.

„Der verschwundene Held.“

Er fuhr mit der Hand durch die Luft, seine graugrünen Augen waren ausdruckslos. „Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit? Lass uns das mal kurz ausrechnen. In der Stadt leben acht Millionen Menschen. Viele zusätzliche Millionen pendeln jeden Tag. Während des Berufsverkehrs …“

„Du warst es“, wiederholte sie. „Es gab Augenzeugen, und sie werden dich erkennen.“ Sie sah seine Hand auf dem Tisch liegen und nahm sie. Er zuckte zusammen. Sie drehte sie um. Auf seiner Handfläche war eine große Abschürfung.

„Schau mal, ich habe wirklich keine Lust auf den ganzen Medienzirkus. Das wirst du doch verstehen.“

„Ja, das verstehe ich“, sagte sie leise. Das Leben konnte so sonderbar sein. Sie war Joe zum ersten Mal begegnet, als Leslie MacIntyre und er den furchtbaren Schacht in dem U-Bahn-Tunnel entdeckt hatten, in dem sie festgehalten wurde, nachdem sie von dem Monster entführt worden war, das die Straßen von Downtown unsicher gemacht hatte. Seine anderen Opfer waren als Leichen wieder aufgetaucht. Leslie war bei dem Zusammentreffen getötet worden.

Joe war am Boden zerstört gewesen.

Aber seit diesem Tag gab es eine besondere Verbindung zwischen Joe und Genevieve. Vielleicht, weil sie beide auf ihre Weise verletzt worden waren.

Genevieve war sich nicht sicher, ob sie überlebt hatte, weil sie so clever gewesen war, das Ego des Killers zu bestärken, oder weil ihr Überlebensinstinkt so verzweifelt und stark war. In jenen schrecklichen Tagen der Entführung hatte sie nur auf sich selbst zählen können, und in der Zeit danach hatte sie die Erinnerungen erst einmal verdrängt.

Der Umgang mit der Presse war hingegen schwieriger gewesen. Immer zur rechten Zeit die rechten Worte zu finden. Ihr Onkel, der sie aufgezogen hatte wie sein eigenes Kind, war ein strenger Zuchtmeister gewesen. Sie kam aus einer reichen Familie, war von Geburt an bessergestellt, und er hatte ihr beigebracht, dass darin eine Verantwortung lag. Er hatte eine zähe Frau aus ihr gemacht, hatte von ihr erwartet, dass sie hart arbeitete und dann noch härter.

Nach ihrer Rettung war man mit ihr umgegangen, als wäre sie so zerbrechlich wie ein rohes Ei. Sie hatte wahrheitsgemäß erzählt, was ihr widerfahren war, trotzdem waren Gerüchte in die Presse gelangt, die viel Schrecklicheres besagten als das, was ihr tatsächlich zugestoßen war. Für eine viel zu lange Zeit war sie das Objekt öffentlichen Mitleids gewesen. Zwar befürwortete sie grundsätzlich die Anteilnahme der Menschen, aber sie verabscheute es, bemitleidet zu werden, und sie verabscheute die Vorstellung, jemals wieder in den Zeitungen zu landen.

Sie sah Joe an. „Aber du warst derjenige, der dem Kind das Leben gerettet hat, stimmt’s?“

„Nicht so laut!“

„Joe, ich spreche nicht laut.“

„Wenn das rauskommt und ich in den Medien durchgehechelt werde, muss ich meinen Beruf aufgeben. Also erzähle es nicht weiter, ich bitte dich.“

Sie senkte den Kopf und lächelte. Joe wollte immer, dass man ihm alles überließ. Und klar, es ging ihm nur um seine Arbeit. Sie bemühte sich, das Lächeln zu unterdrücken. „Übernimm den Fall, Joe.“

Er stöhnte. „Willst du mich etwa erpressen?“

Ihr Lächeln wurde breiter. Daran hatte sie nicht gedacht, aber es war keine schlechte Idee. „Vielleicht. So, und jetzt komm, ich fahre dich heim. Es ist schon spät.“

„Nein, danke. Ich bringe dich nach Hause.“

„Joe, du hast schon etwas getrunken.“

„Ich meinte, dass ich mit dir zu dir nach Hause fahre und mir dann ein Taxi nehme.“

„Nicht nötig, Joe. Ich habe Pfefferspray dabei, und ich kann auf mich aufpassen“, erwiderte sie etwas zu bestimmt.

Hmm. Sie reagierte empfindlich. Es war doch ganz normal, dass Freunde sich gegenseitig nach Hause brachten.

Aber vielleicht war es auch gar nicht so schlecht, ein wenig defensiv zu sein, wenn er dachte, er müsse sich um sie kümmern. Sein Mitleid wollte sie definitiv nicht, und sie wollte ihn auch nicht als Beschützer. Sie konnte selbst auf sich achtgeben, das hatte sie bewiesen. Sie hatte überlebt. Und das würde sie auch weiterhin. Sie hatte Selbstverteidigung gelernt und hatte Ewigkeiten auf dem Laufband verbracht, um fit zu werden.

Laufen.

Als könnte sie der Vergangenheit davonlaufen.

„Ich weiß, dass du selbst auf dich aufpassen kannst, aber ich würde dich trotzdem gerne heimbringen. Und ich will dein Versprechen, dass du die Klappe hältst und nicht weitererzählst, dass ich bei dem Unfall geholfen habe“, entgegnete er.

„Joe, ich werde niemandem etwas sagen. Und du kannst mich gerne begleiten“, sagte sie ernst, „wenn du mir versprichst, dass du den Fall übernimmst.“

„Ich weiß nicht, warum du dir solche Sorgen machst, Gen. Wirklich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass deine Mutter im Visier eines Mörders sein könnte.“

„Joe …“ Sie zögerte. Sie war sich ja selber nicht ganz im Klaren darüber, warum sie so beunruhigt war. Ihre Mutter war mit dem Toten nicht enger befreundet gewesen. Eileen und Thorne waren bestenfalls Bekannte, die sich durch ihre Mitgliedschaft bei den Raben kennengelernt hatten.

Aber sie machte sich nun einmal Sorgen. Hatte richtiggehend Angst. Es war einfach über sie gekommen und würde nicht eher weggehen, bis der Mörder gefasst war.

„Bitte. Die Cops kommen nicht weiter.“

„Lass ihnen Zeit.“

„In dieser Zeit“, entgegnete sie, obwohl sie vorher selber gedacht hatte, dass die Presse der Polizei gegenüber etwas nachsichtiger sein sollte, „könnte wieder jemand sterben.“

Er hob die Hände, starrte sie an und schüttelte seinen Kopf.

„Ist Eileen irgendwie bedroht worden?“

„Nein.“

„Genevieve …“ Er senkte einen Augenblick lang seinen Kopf und schüttelte ihn dann wieder. „Gen, es ist erst eine Woche her. Das ist überhaupt keine Zeit. Du hast zu viel ferngesehen. Ein Mord wie der an Thorne Bigelow wird nicht innerhalb von neunzig Minuten aufgeklärt.“

„Das weiß ich“, entgegnete sie patzig.

„Na dann …“

„Joe, es ist dein Beruf, und ich will dich engagieren.“

Er seufzte. „Ich würde in etwas einsteigen, an dem andere Leute schon lange arbeiten. Ich weiß wirklich nicht, was ich da noch Neues herausfinden sollte.“

„Na eben, du kannst es nicht wissen. Und vielleicht würdest du doch etwas erreichen. Bevor noch jemand umgebracht wird. Darum geht’s mir, Joe. Dass noch jemand sterben könnte.“

Es war grotesk, aber just in diesem Moment kam Kathryn, die Kellnerin, mit weit aufgerissenen Augen an ihren Tisch. „Mann, was für ein schräger Abend!“

„Warum? Was ist denn passiert?“, fragte Genevieve.

Joe sah Kathryn düster an. Er hegte wohl den Verdacht, dass man ihm auf die Spur gekommen war.

Sie schüttelte den Kopf. „Ach, so einer taucht doch jedes Mal auf. So jemand, der seine Nase reinstecken muss und eine Tragödie dadurch noch schlimmer macht.“

„Wovon redest du?“, fragte Joe.

„Na, von der Hellseherin!“

„Was denn für eine Hellseherin?“

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