Rausch der Lust in den Armen des Ritters
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Troyes, Champagne, im August 1174 – ein Lager vor den Toren der Stadt
Troyes platzte aus allen Nähten – der Sommermarkt befand sich auf seinem Höhepunkt. Jedes Gasthaus, jede Taverne war bis zum Dach gefüllt mit Händlern, und Hausfrauen, Jongleure und Sänger kämpften um die besten Plätze auf den Marktplätzen. Söldner und Taschendiebe streiften durch die engen Gassen, suchten nach dem einfachsten Weg, schnelles Geld zu machen. Tatsächlich waren so viele Menschen nach Troyes gekommen, dass man auf einem Feld vor den Stadtmauern vorübergehend ein Lager errichtet hatte, das als „Stadt der Fremden“ bekannt war. Reihe um Reihe staubiger Zelte bedeckten jeden Zentimeter des Bodens.
Ein Zelt hob sich ab von allen anderen. Es war etwas größer als die übrigen, mehr ein Pavillon als ein Zelt, aus purpurfarbener Leinwand und mit silbernen Sternen bemalt.
In dem purpurfarbenen Pavillon saß Elise auf einem Hocker neben Pearls Wiege und wedelte mit einem Tuch sanft vor dem Gesicht ihrer Tochter. Es war Mittag und selbst für August ungewöhnlich heiß. Elise rollte ihre Schultern. Das Kleid klebte ihr am Körper, und sie hatte das Gefühl, schon seit Stunden hier zu sitzen. Zum Glück wurden endlich Pearls Lider schwer.
Als sie von draußen Stimmen hörte, blickte sie zum Eingang. André war zurückgekehrt, sie hörte, wie er mit Vivienne sprach, die im Schatten ihren kleinen Bruno stillte.
Elise wartete, während sie weiter Pearl Kühlung zufächelte. Wenn André Neuigkeiten mitbrachte, würde er sie ihr bald berichten. Tatsächlich schob er sich gleich darauf durch den Zelteingang.
Seine Augen leuchteten. „Elise, ich habe es geschafft!“ Er legte die Laute auf seine Matratze. „Blanchefleur le Fay hat den Auftrag bekommen, im Palast zu singen. Beim Erntefestmahl.“
„Im Palast? Du hast schon einen Auftrag vom Palast bekommen? Himmel, das ging schnell.“ Elise biss sich auf die Lippe. „Ich hoffe nur, dass ich bereit bin.“
„Natürlich bist du bereit. Ich habe dich noch nie besser bei Stimme erlebt. Comte Henris Verwalter war begeistert, als er hörte, dass Blanchefleur in der Stadt ist. Der Hof hier wird dich lieben.“
„Es ist eine Weile her, seit ich das letzte Mal etwas vorgetragen habe – ich fürchtete schon, man hätte mich bereits vergessen.“
„Vergessen? Blanchefleur le Fay? Das ist wenig wahrscheinlich. Elise, das ist der Auftritt deines Lebens. Ich kann mir keinen besseren Ort für Blanchefleur vorstellen, um auf die Bühne zurückzukehren.“
Elise warf einen Blick auf Pearl. Sie war eingeschlafen. Behutsam faltete sie das Tuch zusammen, das sie zum Fächeln benutzt hatte, und lächelte, um ihre Unruhe zu verbergen. „Das hast du gut gemacht, André. Danke.“
„Du könntest etwas glücklicher aussehen“, bemerkte André und musterte sie aufmerksam. „Du hast Angst davor, in der Champagne zu singen.“
„Unsinn!“, wehrte Elise ab, obwohl in Andrés Bemerkung ein Fünkchen Wahrheit lag. „Aber ich darf sie nicht enttäuschen.“
„Du hast Angst, ihn zu treffen.“
Sie hob den Kopf. „Ihn?“
„Pearls Vater natürlich. Elise, mach dir keine Sorgen. Gawain hält sich nicht in Troyes auf. Er ist fort, um sein Erbe zu beanspruchen.“
„Du hast den Klatschmäulern zugehört.“
„Du etwa nicht?“
Elise verzog das Gesicht, aber es wäre sinnlos zu leugnen. Vielleicht hätte sie nicht hinhören sollen, doch wenn es Gawain Steward betraf, schien das unmöglich zu sein. Sie hatte seine stolze Erscheinung nie vergessen, sah ihn selbst jetzt klar und deutlich vor sich: ein starker Ritter mit dichtem blonden Haar und durchdringenden dunklen Augen. „Es ist seltsam, sich ihn als den Comte de Meaux vorzustellen“, murmelte sie. „Er hatte nicht damit gerechnet, der Erbe zu sein.“
„Oh?“
„Ich glaube, es gab böses Blut zwischen ihm und seinem Onkel. Mehr weiß ich auch nicht.“
André zuckte mit den Achseln. „Nun, jetzt ist er der Comte, also müssen sie ihren Streit wohl beigelegt haben.“
„So scheint es.“
Elise freute sich für Gawain über sein Glück. Tatsächlich freute sie sich für sich selbst. Gawains Erbe war auch für sie ein Glücksfall. Blanchefleur le Fay hatte schon seit Jahren an dem berühmten Hof der Champagne singen wollen. Nicht einmal die Probleme während ihres letzten Aufenthalts hier hatten diesen Traum zerstört.
Gleich nach Pearls Geburt war Elise bewusst geworden, dass Blanchefleur auf spektakuläre Weise zurückkehren musste, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Und sie hatte sich ausgemalt, ihre Rückkehr im Palas von Troyes zu inszenieren. Es wäre ein Coup, vor Comtesse Marie persönlich zu singen. Die war immerhin die Tochter des Königs von Frankreich!
Sie hatte ein paar persönliche Geister bekämpfen müssen, ehe sie in die Champagne zurückgekehrt war. Nie würde sie vergessen können, dass ihre Schwester Morwenna in der Nähe von Troyes gestorben war. Aber wäre Morwenna noch am Leben, so hätte sie als Erste zugestimmt, dass der Hof in Troyes der ideale Ort für Blanchefleur le Fayes triumphale Rückkehr war.
Und dann waren da noch Gawain und ihre Furcht, ihm zufällig zu begegnen. Was sollte sie ihm sagen? Er ist der Vater meines Kindes, und er weiß es nicht …
Aber dann hatte Elise gehört, dass Gawain der Comte de Meaux geworden war, und zumindest dieses Hindernis war damit aus dem Weg geräumt. Gawain war meilenweit weg, beanspruchte sein Erbe auf der Ile-de-France. Die Luft war rein.
„Wie ist er so?“, fragte André.
„Hm?“
„Gawain.“
Gawain. „Als ich ihn traf, war er ein einfacher Ritter. Ein Krieger. Aber er war auch sehr freundlich. Ein Beschützer.“
Im vergangenen Jahr war Elise gleichermaßen überrascht und geschmeichelt gewesen, dass sie Gawains Interesse geweckt hatte. Eine Tatsache, die umso erstaunlicher war, weil sie ihm gegenüber niemals die Rolle der Blanchefleur le Fay gespielt hatte. Nein, sie war nur Elise gewesen, das scheue und zurückhaltende Hausmädchen.
„Und doch fürchtest du ihn. Du willst ihm nicht begegnen.“
Elise warf einen Blick auf Pearl und biss sich erneut auf die Lippe. „Ich habe keine Angst vor Monsieur Gawain. Ich möchte nur Komplikationen vermeiden.“
„Komplikationen?“
„André, Pearls Vater ist ein Comte. Ich weiß nicht, wie er reagieren würde, wenn er erfährt, dass er eine Tochter hat.“
„Dir ist es lieber, wenn er es nicht erfährt.“
„Ehrlich gesagt, ja. Die Tatsache, dass Gawain nun ein Comte ist, wird seinen Charakter nicht verändern. Er ist ein pflichtbewusster Mann mit Ehrgefühl. Ich habe mich mit ihm angefreundet, um Zugang zu Ravenshold zu erlangen.“
André runzelte die Stirn. „Was ist mit Isobel? Ich dachte, du wärst ihre Zofe geworden, um nach Ravenshold zu kommen.“
„Das stimmt, aber meine Beziehung zu Madame Isobel war völlig unerprobt. Es gab durchaus die Möglichkeit, dass sie zu nichts führen würde.“
„Daher hieltest du dir Lord Gawain in Reserve.“ André blickte einigermaßen schockiert zu Pearl. „Ich dachte – da ich dich kenne –, es wäre mehr als das.“
„Ich mag diesen Mann natürlich“, betonte Elise hastig. In Wahrheit hatte sie ihn nicht einfach nur gemocht. Ja, zunächst hatte sie sich Gawain vielleicht aus Verzweiflung genähert, aber die Anziehung hatte sie nicht vortäuschen müssen. Die Leidenschaft zwischen ihnen war da, ohne dass sie sich bemühen musste, die Glut hatte von Anfang an gelodert. „Ich bin nicht sicher, ob er mir verzeihen wird. Immerhin habe ich ihn hintergangen.“
Elise biss sich wieder auf die Lippe. Gawain zu hintergehen, war das Leichteste und gleichzeitig das Schwerste gewesen, was sie jemals getan hatte. Das fing schon damit an, dass sie mit jemandem flirten musste, und es war ihr nie leicht gefallen zu flirten. Doch mit Gawain war das anders gewesen als ihre früheren Erfahrungen. Es hatte vor allem Spaß gemacht, auch wenn sie ihm anfangs nur deshalb Avancen machte, weil sie hoffte herauszufinden, wie ihre Schwester gestorben war. Ehe sie Gawain richtig kannte, hatte sie sich eingeredet, dass es einzig und allein darum ging, die Wahrheit über Morwennas Tod zu erfahren. Aber schnell war ihr klar geworden, dass sie sich selbst ebenso belog wie Gawain. Die Zuneigung zwischen ihnen war stark gewesen. Sie waren ein leidenschaftliches Liebespaar geworden, obwohl sie nicht umhin konnte, ihren Gefühlen für ihn zu misstrauen. War es denn wirklich möglich, so viel für einen Mann zu empfinden, und so schnell?
„Es ist eine Erleichterung für mich zu wissen, dass ich ihn nicht sehen werde“, fuhr sie fort. „Vor allem, da er nun der Comte de Meaux ist. André, er lebt in einer anderen Welt.“
„Der Welt des Hofes.“
„Genau. Wir mögen dort auftreten, doch es ist nicht unsere Welt. Aber dass du so schnell ein Engagement vereinbaren konntest! Das ist großartig!“ Sie verzog das Gesicht. „Abgesehen von einer Sache.“
„Oh?“
„Blanchefleurs Kleider.“ Elise deutete auf ihren Bauch und versuchte, nicht länger an Pearls Vater zu denken. „Als ich sie das letzte Mal anprobierte, saßen sie noch immer ein wenig eng.“
„Unsinn! Du bist genauso schlank wie in der Zeit vor Pearls Geburt.“
„Du bist ein Schmeichler. So, wie die Kleider jetzt sitzen, sind sie nicht anständig, und Blanchefleur würde nicht im Traum daran denken, in einem offenherzig geschnürten Kleid zu erscheinen. Denk daran, in den Augen der Welt ist sie völlig unschuldig. Die Leute glauben, dass sie sich in ein Kloster zurückgezogen hatte. Die Kleider …“
„Probier sie noch einmal an, Elise, ich bin sicher, sie werden dir wieder passen. Wie wäre es mit ein paar neuen Bändern?“
Elise spürte Schmetterlinge im Bauch. Aufgeregte Schmetterlinge. Sie holte tief Luft. Jahrelang hatte sie davon geträumt, am Hof der Champagne aufzutreten, und es wäre Irrsinn, sich diese Gelegenheit wegen ein paar Ängsten entgehen zu lassen. Sie drückte Andrés Hand. „Also gut“, sagte sie heiter. „Neue Bänder sollen es sein. Würdest du ein Auge auf Pearl haben, während ich auf den Markt gehe?“
André sah sie bedauernd an. „Es tut mir leid, Elise, du musst Vivienne bitten. Ich treffe mich gleich mit ein paar Freunden am Bierzelt, wir wollen zurück in die Stadt.“
„Kein Problem, ist schon in Ordnung“, versicherte Elise.
Vivienne war Pearls Amme. Sie darum zu bitten, Pearl zu stillen, war eine der schwersten Entscheidungen gewesen, die Elise je hatte treffen müssen. Aber es war unvermeidlich, wenn sie weiterhin singen wollte, denn Elises Alter Ego, Blanchefleur le Fay, konnte unmöglich eine stillende Mutter sein. Sie war die personifizierte Unschuld und hielt andere Menschen auf Distanz. Blanchefleur war unerreichbar und rein. Unberührbar. Sie besaß kein Herz, sie brach Herzen.
Elise hatte Blanchefleur le Fay nicht als Bühnennamen gewählt. Der Name war von selbst entstanden, vielleicht begünstigt durch die Tatsache, dass sie einen weißen emaillierten Anhänger in Form eines Gänseblümchens trug. Blanchefleur war geheimnisvoll. Sie war nicht von dieser Welt, sie war fremdartig. Im ganzen Land bekannt, wurde Blanchefleur in den großen Häusern des Südens wie eine Prinzessin gefeiert. Blanchefleur würde eher sterben, als etwas so Weltliches zu tun, etwas so Sündhaftes, wie ein uneheliches Kind zu bekommen.
Ganz kurz hatte Elise erwogen, einen anderen Namen anzunehmen, einen, der es ihr erlauben würde, offen Mutter zu sein, aber Blanchefleur war gut für sie gewesen, und es widerstrebte Elise, sie in der Versenkung verschwinden zu lassen. Echte Damen – Edelfrauen – engagierten Ammen. Warum sollte sie keine haben?
Aber es ließ sich nicht leugnen, dass es sie geschmerzt hatte, Pearl nicht mehr selbst zu stillen. Es fühlte sich wie Verrat an, und es tat ihr in der Seele weh – selbst jetzt noch, Wochen nach der Geburt. Sie hatte nicht erwartet, sich deswegen so schlecht zu fühlen.
Vivienne war als Amme die naheliegende Wahl gewesen. Sie hatte schon zu ihnen gehört, als Ronan, Elises Vater, noch am Leben gewesen war. Vivienne war keine Sängerin, und sie hasste Auftritte, daher kochte sie, machte sauber und half ihnen beim Packen, wenn sie von Stadt zu Stadt zogen. Sie war Blanchefleurs Zofe.
Elise, André und Vivienne hatten jahrelang miteinander gelebt, und im vergangenen Winter, als Elise in der Champagne gewesen war, fanden die beiden dann als Liebespaar zusammen. Auch sie hatten ein Neugeborenes; Bruno war nur ein paar Tage älter als Pearl. Elise hatte Glück, dass Vivienne ihre Amme war. Ohne sie würde es ihr doppelt so schwerfallen, Geld für sich und Pearl zu verdienen.
Elise wickelte sich das kirschrote Band fest um die Finger und steckte es dann in ihre Tasche. Sie lächelte den Händler an. „Vielen Dank, ich liebe diese Farbe.“
„Das ist Seide, Mademoiselle.“
„Das sehe ich.“
Das Band war perfekt. Es war fest genug, um für die Schnürung verwendet zu werden, und es war nur ein wenig länger als das alte. Wie es schien, hatte André recht gehabt, als er sagte, sie hätte ihre frühere Figur zurück. Elise konnte beide Gewänder Blanchefleurs wieder tragen, und das kirschrote Band würde ideal zu der silbrigen Seide ihres Lieblingskleides passen.
Sie warf den Schleier über ihre Schulter zurück und verzog das Gesicht, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Die Hitze auf dem Marktplatz war unerträglich. Es war wie in einem Ofen, weitaus heißer als draußen in der Stadt der Fremden. Zwischen den Reihen der eng stehenden Holzhäuser staute sich die Wärme. Elise hatte das Gefühl zu schmelzen. Sie konnte es kaum erwarten, in ihren Pavillon zurückkehren und den Schleier abnehmen zu können.
Sie drängte sich durch die Menschenmassen rund um die Marktstände und hatte fast schon den Schatten unterhalb des Madeleinetores erreicht, als sie Hufschläge hörte.
„Zurück!“, sagte ein Mann vor ihr. „Reiter kommen.“
Es waren ein Ritter und sein Knappe. Der Ritter trug kein Kettenhemd, sondern eine cremefarbene Tunika mit einer Borte in Gold und Rot. Dennoch war sein Status nicht zu verkennen. Nur ein Ritter würde so selbstbewusst im Sattel sitzen. Er blickte in die andere Richtung und lachte über etwas, das sein Knappe zu ihm sagte.
Elise stockte der Atem. Der Ritter war blond, so wie Gawain. Sein Pferd – ein hässlicher Brauner mit schwarzen Fesseln – kam ihr bekannt vor. Und der Knappe des Ritters – ihr Herz schien stillzustehen –, diese rote Tunika, der goldene Greif darauf, irgendwas war anders an dem Greifen, aber dennoch …
Der Ritter drehte den Kopf. Gawain. Ihr Herz schlug wie rasend. Es konnte nicht sein, und doch … Elise wich in die Menge zurück und spähte zwischen den Menschen hindurch. Gawain.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Gawain sollte gar nicht in Troyes sein! Niemals hätte Elise erwogen zurückzukommen, wenn sie gewusst hätte, dass er in der Stadt war. Warum war er hier?
Jeder wusste, dass Gawains Onkel, der vorherige Comte de Meaux, gestorben war, und dass Gawain ihn beerbte. Nach Fug und Recht müsste er sich gerade auf der Ile-de-France aufhalten und mit seinen neuen Ländereien beschäftigen. Das könnte unangenehm werden. Dieser Mann hat mir eine Tochter gezeugt, und ich habe es ihm nie gesagt. Herr, was soll ich nur tun?
Elise beobachtete, wie er durch das Tor ritt, und in ihrem Magen breitete sich ein mulmiges Gefühl aus. Gawains Haar war heller als im vergangenen Winter. Von der Sonne gebleicht. Sein Gesicht war gebräunt und schöner, als sie es in Erinnerung hatte. Das flaue Gefühl wurde stärker. Sie hatte ihn nicht sehen wollen.
Er sollte jetzt in Meaux sein.
Wie konnte Blanchefleur le Fay hier auftreten, wenn er in der Stadt war? Wenn er zum Palast kam, während sie sang, würde er sie erkennen. Und dann würden die Fragen kommen. Und die Beschuldigungen. Er würde von Pearl erfahren, und dann …
Ganz kurz schloss Elise die Augen. Sie wollte ihn wirklich nicht treffen. Und nicht nur, weil sie im vergangenen Jahr den meisten seiner Fragen über ihr Leben als Sängerin ausgewichen war und ihm so wenig wie möglich über sich erzählt hatte. Sondern vor allem, weil sie nicht sicher war, wie er reagiren würde, wenn er erfuhr, dass Pearl sein Kind war. Was, wenn er sie ihr wegnehmen wollte? Das würde er doch nicht tun, oder?
Der neue Comte de Meaux und sein Knappe schauten in die andere Richtung, die Menge wich zurück, damit die Pferde Platz hatten. Elise starrte auf Gawains Rücken, seine breiten Schultern, und sie fragte sich, ob er zu der Sorte von Männern gehörte, die ihre Kinder selbst aufziehen wollten. Wenn sie ihn nur besser kennen würde. Die meisten Ritter würden sich mit Vergnügen von jeder Verantwortung für ihre illegitimen Kinder lossagen. Sie blickte durch die Menge auf sein blondes Haupt, und ihr Herz schlug wie rasend. Ein Comte konnte alles tun, was er wollte.
Himmel, Gawain – hier in Troyes! Das änderte alles.
Jetzt blickte er über seine Schulter zurück. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Er sah sie direkt an. Sie wich zurück und trat jemandem auf den Fuß.
Eine Frau warf ihr einen finsteren Blick zu. „Passt auf!“
„Verzeihung“, murmelte Elise.
Dann wandte sie sich ab und taumelte in die Rue du Bois.
In ihren Gedanken herrschte Chaos, aber ein Gedanke blendete alles andere aus. Gawain Steward, Comte de Meaux, war in Troyes, und er hatte sie gesehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich gesenkten Hauptes durch die Gruppe der Händler drängte, die vor dem Eingang zu einer der Stoffhallen standen und plauderten.
„Verzeihung. Entschuldigt, messieurs.“
„Elise? Elise!“
Gawain befand sich ungefähr zwanzig Schritte hinter ihr, und überall herrschte Lärm – ein Maultier schrie, eine Gans schnatterte –, doch sie hörte das Klirren von Pferdegeschirr. Hufschläge. Sie blieb wie angewurzelt stehen, den Blick auf ein kleines Mädchen gerichtet, das sich an die Röcke ihrer Mutter klammerte. Jeder Fluchtversuch war sinnlos. Sie konnte ihm nicht davonlaufen. Ja, die Straße war voller Menschen, und sie könnte in eine Gasse laufen, aber hier waren überall Kinder, und dieses gewaltige Pferd war dazu ausgebildet, sich seinen Weg durch alle Hindernisse zu bahnen. Jemand könnte verletzt werden.
Sie holte tief Luft und drehte sich um. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere. Sie wusste nicht, wie sie ihn begrüßen sollte. Gawain, was für eine angenehme Überraschung. Ich hoffe, Ihr seid bei guter Gesundheit. Nebenbei bemerkt, ich habe ein Baby. Ich hoffe, sie hat Eure Augen. Himmel, das konnte sie nicht sagen. Sie wollte ihm nicht von Pearl erzählen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken, aber es sah nicht so aus, als würde sie die bekommen.
„Elise? Elise Chantier?“
Elise stand ganz still, während er näher kam, und konzentrierte sich darauf, nicht vor dem großen Braunen zurückzuweichen. Das Tier mochte wild aussehen, aber Gawain beherrschte es. Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn ansehen zu können.
„Monsieur Gawain.“ Sie sank in einen Knicks. „Welch angenehme Überraschung.“
Leder knarrte, als er absaß und seinem Knappen bedeutete, die Zügel zu nehmen. Er bot Elise den Arm. „Geh ein Stück mit mir.“
Elise legte den Kopf schräg und brachte ein Lächeln zustande. „Ist das ein Befehl, Monsieur?“
Er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Breiter. Die Geräusche und die Farben der Straße verblassten, als sie ihn ansah. Diese dunkelbraunen Augen – wie hatte sie die Flecken darin vergessen können? Oder diese langen Wimpern? Und seine Nase – die Adlerform war so leicht zu erkennen. Elise hatte diese Nase geliebt. Sie hatte gern mit einem Finger darüber gestrichen, um ihn danach zu küssen. Sein Mund – als ihr Blick zu seinem Mund wanderte, spürte sie, wie ihr Lächeln gefror. Er hatte die Lippen zusammengepresst. Er sah – nicht direkt zornig aus. Er wirkte erschöpf. Wie seltsam. Er sah nicht aus wie ein Mann, der gerade ein großes Anwesen geerbt hatte.
„Geh ein Stück mit mir, Elise.“
„Jawohl, Monsieur.“
Gawain warf einen Blick zu seinem Knappen. „Wir treffen uns in einer halben Stunde, Aubin. Vor dem Torhaus des Schlosses.“
„Ja, Monseigneur.“
Als Elise leicht die Hand auf seinen Arm legte, stieß Gawain, Comte de Meaux, einen erleichterten Seufzer aus. Gawain hatte nach Elise gesucht und war froh – weitaus froher, als er sein sollte –, sie gefunden zu haben. Er schlug die Richtung zum Preizetor ein. „Es wird ruhiger werden, wenn wir erst die Straßen um den Marktplatz herum hinter uns gelassen haben“, sagte er.
Elise lächelte und nickte und schob den Schleier über die Schultern zurück. Ihre Wangen waren gerötet. Es war zu warm für einen Umhang, und Gawain konnte sehen, wie ihre Brüste sich unter dem Kleid hoben und senkten. Er runzelte die Stirn. Etwas an ihr war anders. Ihre Augen waren noch dieselben, und ihr Gesicht so, wie er es erinnerte – aber etwas war anders.
„Ich habe nicht erwartet, euch zu sehen, Monsieur. Ich dachte, Ihr wärt auf der Ile-de-France.“
„Du hast von meinem Onkel gehört?“
Sie nickte und wandte den Blick ab. „Ich nehme an, Ihr werdet bald wieder abreisen.“
Etwas an ihrem Tonfall irritierte ihn. Gawain betrachtete nachdenklich ihr Profil. „Das würde dir gefallen?“
Ihr Gesicht wurde scharlachrot, und er hatte das Gefühl, einen Anflug von Schuldbewusstsein zu sehen. Weswegen könnte sie sich schuldig fühlen? Im vergangenen Winter hatte sie ihre gemeinsame Zeit genauso sehr genossen wie er. Das stand außer Frage. Er konnte sie nicht derartig missverstanden haben. Sie verheimlicht etwas.
„Ganz und gar nicht, Monsieur“, murmelte sie. „Es freut mich, Euch zu sehen.“
Gawain beschloss, sie nicht zu bedrängen. Wenn sie etwas vor ihm verheimlichen wollte, dann war das ihre Angelegenheit. Schließlich bestand keine echte Beziehung zwischen ihnen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass mit ihr alles in Ordnung war, konnte er sie vergessen. Er hatte sein eigenes Leben. Er stand im Begriff, seine Verlobte zu treffen, Rowena de Sainte-Colombe. „Hast du das Band gefunden, nach dem du gesucht hast?“
Sie sah ihn erstaunt an. „Du warst im Pavillon?“
Elise ging diskret neben ihm her. Zwischen ihnen bestand ein Abstand von mehreren Zoll, und das gefiel Gawain nicht. Er hätte ihr gern den Arm um die Taille gelegt und sie näher zu sich herangezogen. Stattdessen nickte er ihr nur kurz zu. „Ein Freund hat erwähnt, dass er dich in der Stadt der Fremden gesehen hat.“
Einen Moment lang schwieg sie. „Einer der Wachsoldaten, nehme ich an. Ich habe gesehen, dass sie Patrouille gingen.“
Er nickte. „Als ich dein Zelt gefunden hatte, hat mir die Frau, die bei dir lebt, erzählt, dass du dir ein Band kaufen wolltest.“ Gawain legte eine Hand auf ihren Arm. „Elise, wie ist es dir ergangen? Geht es dir gut?“
„Es geht mir sehr gut, Monsieur.“
„Das freut mich zu hören. Hast du den Erfolg gefunden, den du gesucht hast?“
„Monsieur?“
„Ich meine deinen Ehrgeiz als chanteuse.“
Sie erbleichte. „Ich – ich habe nicht so viel gesungen, wie ich es mir vorgestellt hatte.“
Gawain beobachtete sie, während er auf ihre Antwort wartete. Ihm fiel auf, dass sie miteinander sprachen, als hätten sie sich eben erst kennengelernt. Ein Töpfer eilte vorbei. Er führte einen Esel, der mit Tonwaren beladen war. Dieser Mann würde nie vermuten, dass sie beide einmal ein Liebespaar gewesen waren. Elise hatte nicht geantwortet, und Gawain beugte sich zu ihr. Ihr Duft – eine Mischung aus Moschus, Amber und warmer Haut – traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Beinahe hätte er laut aufgestöhnt. Elise. Sie war die perfekte Geliebte gewesen.
„Du bist ohne Vorwarnung gegangen“, hörte Gawain sich sagen. Die Worte waren heraus, ehe er es verhindern konnte.
Sie sah ihn aus dunklen Augen an. Große, unergründliche Augen. Sie war nie leicht zu durchschauen gewesen. Außer, wenn sie zusammen im Bett waren. Dort war sie die reinste Freude. Und nicht nur das – sie besaß genug Erfahrung, um zu wissen, welche Kräuter sie benutzen musste, um kein Kind zu empfangen. Ja, eine seltene Freude. Aber die Frau, die ihn jetzt ansah, war unergründlich. „Ich musste gehen.“ Sie hob die schmalen Schultern. „Meine Zeit in der Champagne war vorüber.“
„Weil du alles, was du wissen musstest, über deine Schwester herausgefunden hattest?“
„Ja, Monsieur. Als klar wurde, dass Morwennas Tod ein Unfall war, gab es keinen Grund mehr für mich zu bleiben.“ Sie lächelte. „Ich musste zu meinem Gesang zurückkehren. Und meine Freunde erwarteten das von mir. Mein Leben ist bei ihnen.“
„Du hattest also keinen Grund zu bleiben.“
Sie blinzelte nicht einmal mit ihren unergründlichen Augen. „Monsieur – was meint Ihr damit?“
Gawain umfasste Elises schmales Handgelenk und zog sie von der Straße unter das Vordach eines der Häuser. Er spürte ein beklemmendes Gefühl in der Brust, das er sich nicht erklären konnte, obwohl er vermutete, dass es etwas mit Elise zu tun hatte.
„Es war nichts Dauerhaftes zwischen uns“, murmelte er.
„Gawain, warum siehst du mich so an?“
„Gott verzeih mir“, sagte er und zog sie an sich. Er legte einen Arm um ihre Taille, und in dem Moment, in dem ihre Körper sich berührten, ließ Gawains Anspannung nach. Besser. Er umfasste ihr Kinn und hob ihr Gesicht an – ihr Mund war nur ein winziges Stück von seinem entfernt. Ihr Duft stieg ihm in die Nase. Schmeckte sie noch so wie im letzten Winter? Sie war so süß gewesen wie Honig. Er starrte auf ihre Lippen.
„Gawain?“
Hauchzart berührte er ihre Lippen mit seinen. Es war nichts Ernstes zwischen ihnen gewesen, aber er hatte nicht gewollt, dass sie ging. Und bis zu diesem Augenblick war ihm nicht bewusst gewesen, wie sehr er sie vermisst hatte. Wie sehr er die Zeit mit ihr genossen hatte.
„Elise“, murmelte Gawain, als er kurz den Kopf hob, um Luft zu holen. Sie schmeckte noch genauso süß. Betörend. Und dann küsste er sie wieder. Hungrig. Gierig. Sie war etwas voller – weiblicher – als im letzten Winter. Ihm gefiel diese Veränderung. Ein Blitz schien ihn zu durchzucken, als ihre Zungen sich trafen. Es fühlte sich so an, wie es immer mit ihr gewesen war, als wäre sie für ihn gemacht.
Er ließ eine Hand über ihre Hüfte gleiten und hob dann widerstrebend den Kopf. „Mon Dieu, Elise. Ich weiß, dass wir einander nichts versprochen haben, aber du hast dich nicht einmal verabschiedet. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
Sie war atemlos, und es freute ihn, dass ihre Wangen wieder Farbe bekommen hatten. Seine Liebkosung hatte sie nicht kaltgelassen. Der Gedanke, dass es ihr leicht gefallen war, wegzugehen, einfach so, ohne einen Blick zurück, hatte ihm nicht behagt.
„Ich – es tut mir leid, Monsieur.“ Sie wich zurück und legte die Finger an ihre Lippen, die gerötet waren von seinem Kuss. „War – war das ein Abschiedskuss?“
Als Gawain sie losließ, stellte er überrascht fest, wie unerwartet schwer es ihm fiel. Elise war eine Herausforderung für ihn. Das war sie von Anfang an gewesen. Eine stille, scheue Frau, die ihn sofort gefangen genommen hatte, ohne sich darum bemüht zu haben. Er hätte sie gern weitergeküsst, aber natürlich hätte er sie gar nicht küssen dürfen. Es hatte nicht geholfen, nur seine Sehnsucht nach mehr geweckt, was unmöglich war. Er musste an seine Zukunft denken. Er würde Rowena de Sainte-Colombe heiraten. Doch es war schwer, an eine Frau zu denken, die er noch nie getroffen hatte, wenn Elise zu ihm aufsah mit diesem dunklen, so schwer zu deutenden Blick. Sie faszinierte ihn.
Er lehnte sich mit der Hüfte gegen die Hausecke. „Du kannst es einen Abschiedskuss nennen, wenn du willst. Elise, ich habe dich gesucht, weil ich wissen muss, ob es dir gut geht. Die Frau, mit der du lebst …“
„Vivienne. Sie ist eine gute Freundin.“
„Kennst du sie schon lange? Ist sie eine chanteuse?“
„Ich kenne Vivienne lange genug, und nein, sie ist keine chanteuse.“
„Was ist mit ihrem Ehemann? Ist er ein guter Mann?“
„Vivienne ist nicht verheiratet.“
Gawains Kehle war wie zugeschnürt. „Du willst mir doch nicht erzählen, dass ihr beide, du und Vivienne, ungeschützt in einem Zelt in der Stadt der Fremden lebt?“
„Natürlich nicht. André lebt bei uns.“
„Wer zum Teufel ist André?“
„Viviennes Geliebter.“
„Der Vater der Zwillinge?“
„Zwillinge?“ Einen Moment lang wurde ihr Gesicht völlig ausdruckslos. Dann lächelte sie strahlend. „Oh ja. Die Zwillinge.“
„Ist André ein guter Mann?“, fragte Gawain. Bildete er sich das nur ein, oder war ihr Lächeln ein wenig zu strahlend? Und warum mied sie seinen Blick? „Erzähl mir von ihm.“
Ihre Züge wurden weicher. „Ich mag ihn sehr gern.“
„Ist er ein Sänger?“
„André spielt die Laute. Wir treten gemeinsam auf.“
Gawain unterdrückte ein Seufzen. Ihre Antworten waren sehr kurz. Sie wich ihm aus, und was sie ihm über ihre Lebensumstände erzählt hatte, war nicht sehr beruhigend.
Hatte ihr Ehrgeiz als Sängerin sie in schlechte Gesellschaft geführt? Vivienne hatte freundlich gewirkt, aber er würde diesen André kennenlernen müssen, ehe er zufrieden damit sein konnte, dass Elise das Zelt des Mannes mit dessen Frau und Kindern teilte. Und selbst wenn André eine ehrliche Haut war, hieß das noch lange nicht, dass er in der Lage wäre, Elise in einer Notlage zu verteidigen. Wäre er, falls es zu einem Überfall oder Schlimmerem kam, stark genug, um sie zu beschützen? Gawain hatte keine Ahnung, da kein Lautenspieler zu seinem Freundeskreis zählte. Doch selbst wenn André kräftig genug wäre, würde er sich zuerst um seine Frau und seine Kinder kümmern. Konnte er auch noch auf Elise aufpassen? Wenn Gawain die Möglichkeit hätte, ihn zu treffen, könnte er sich selbst ein Urteil bilden. Offenbar besaß Elise die Willenskraft, ihre Ziele als Sängerin zu verwirklichen, aber sie brauchte einen starken Mann an ihrer Seite.
„Du bist also glücklich mit deinem Leben als Sängerin?“
„Singen ist sehr erfüllend.“
„Ich bin froh, dass du so denkst.“ Er stieß sich von der Hauswand ab. „Du bist auf dem Weg zurück ins Lager?“
„Ja.“
„Gestatte mir, dich zu begleiten.“ Mit etwas Glück war André, der Lautenspieler, inzwischen zurückgekehrt. Er würde einiges über einen Mann erfahren, wenn er Gelegenheit hätte, ihm in die Augen zu schauen.
Sie wich hastig zurück. „Monsieur, ich brauche keine Eskorte.“
Elise starrte ihn vollkommen entsetzt an. Wie konnte das sein? Als er sie gerade eben küsste, hatten sich ihre Zungen berührt. „Elise, was ist los?“
„Nichts ist los, Monsieur. Ich finde den Weg zurück zum Pavillon ohne Eure Hilfe.“
Gawains Stimmung verdüsterte sich. Sie versuchte, ihn loszuwerden. Warum? Was verheimlichte sie ihm?
Erst kürzlich, bei einem Besuch im Schwarzen Eber, hatte Gawains Freund Raphael, der Hauptmann der Wachtruppe, seiner Besorgnis Ausdruck verliehen, dass Fälscher nach Troyes gekommen sein könnten. Raphael war davon überzeugt, dass sie sich in der Stadt der Fremden versteckten. Gawain konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Elise etwas mit Fälschern zu tun hatte, aber es wäre möglich. Sie benahm sich sehr seltsam, und er war entschlossen, den Grund dafür herauszufinden. „Elise, ich komme mit dir.“
Elises Verstand schien wie eingefroren, während sie gemeinsam zum Torhaus gingen, um Gawains Knappen zu treffen. Gawain konnte unmöglich zum Pavillon mitkommen! Sie wusste nicht, was Vivienne ihm gesagt hatte, aber zum Glück schien sie nichts verraten zu haben. Gawain hatte Zwillinge erwähnt – er musste beide Babys gesehen haben und davon ausgegangen sein, dass sie beide Vivienne gehörten.
Er ahnte nicht, dass er ein Kind gezeugt hatte. So weit es Elise betraf, war das auch gut so. Was hätte es für einen Sinn, ihn darüber zu informieren?
„Du hattest seit unserer letzten Begegnung also Auftritte, Elise?“
„Ja, Monsieur.“ Das stimmte. Elise hatte gesungen. Ein wenig. Sie hatte gesungen, bis sie sich nicht länger in Blanchefleur le Fays Kleider zwängen konnte und gezwungen war, sich ins Kloster Fontevraud zurückzuziehen.
„Wo hast du gesungen – in Poitiers?“
Elise gab ihm die unverbindliche Antwort, die er offenbar hören wollte. Als sie das Schloss erreicht hatten, konnte sie ihre Panik kaum mehr unterdrücken. Was, wenn er die Wahrheit über Pearl herausfand? Wie würde er reagieren?
Gawains Knappe wartete am Torhaus.
„Meinen Dank, Aubin“, sagte Gawain, nahm die Zügel und saß mühelos auf. Er reichte ihr seine Hand.
Elise wich zurück. „Monsieur? Ihr erwartet, dass ich mit Euch reite?“
Gawain zog eine Braue hoch. „Du hast mich schon länger zu Fuß gehen lassen, als ich das tun sollte. Ich bin ein Comte, von mir wird erwartet, dass ich überallhin reite. Was wird aus meinem Ruf, wenn du mich nötigst, den ganzen Weg bis zur Stadt der Fremden zu laufen?“
Seit wann interessierte es Gawain, was die Leute über ihn dachten? Es war nicht weit bis zur Stadt der Fremden. Wahrscheinlich sollte das ein Scherz sein, oder? Bei diesem Gedanken spürte sie einen Stich im Herzen. Bei Gawain konnte man nie ganz sicher sein, aber sie hatten einander häufig geneckt. Das hatte sie vermisst. Sie legte eine Hand auf die Hüfte. „Und was ist mit meinem Ruf, Monsieur?“ Ihr fiel wieder der Spitzname des großen Pferdes ein. „Was glaubt Ihr, was es meinem Ruf antut, wenn ich auf dem Hinterteil des Untiers den Pavillon erreiche?“
Er grinste. „Nicht auf dem Hinterteil des Untiers, meine Liebe. Du würdest vor mir sitzen.“
Ehe Elise auch nur blinzeln konnte, beugte sich Gawain gefährlich weit aus dem Sattel und umfasste ihre Taille. Sie hörte sich selbst aufschreien, als ihr Körper gegen die Schulter des Pferdes stieß. Es gehörte sich nicht, auf ein Schlachtross gehoben zu werden. Blanchefleur le Fay würde so etwas nie passieren. Niemand würde es wagen, sie so zu behandeln.
„Du machst es dir nur schwerer, wenn du dich wehrst“, sagte er, und um seine Mundwinkel zuckte es. „Gib nach, Elise.“
Etwas zerrte an ihrem Schleier, die Röcke flogen ihr um die Knie, und ihr Arm verfing sich in den Zügeln des Schlachtrosses, ehe sie Halt fand, und nach einem weiteren despektierlichen Stoß saß sie seitlich vor Gawain und rang nach Atem.
Er sah sie aus seinen dunklen Augen an und lächelte.
„Lasst mich hinunter, Monsieur, alle starren uns an. Das gehört sich nicht.“ Sie zupfte hastig an ihren Röcken. Ihre Wangen glühten.
Er hielt sie fest, einen Arm um ihre Taille gelegt. „Keine Angst. Ich werde dich nicht fallen lassen.“
„Ich fühle mich nicht wohl, und ich bin sicher, Eurem Pferd behagt es auch nicht. Ich sitze praktisch auf seinem Hals!“
„Das Untier hat schon schlimmere Lasten getragen.“
„Monsieur, bitte, lasst mich hinunter. Wenn Ihr mich unbedingt zum Pavillon zurückbegleiten müsst, dann kann ich sehr gut neben Euch her gehen.“
Er strich mit dem Daumen über ihre Seite, vielleicht eine Liebkosung. „Später.“
Seine Sporen klirrten, als er sie dem Schlachtross in die Flanken stieß, und das Tier setzte sich in Bewegung.
Heilige Mutter, betete Elise, bitte lass ihn nicht herausfinden, dass er Pearls Vater ist.
„Entspann dich“, murmelte Gawain, während sie durchs Preizetor ritten.
Die Wächter lächelten und zogen die Brauen hoch, als sie vorüberkamen, aber zu Elises Erstaunen gab es keine Bemerkungen. Jedenfalls keine, die sie mitbekommen hätte. Die Wächter waren vermutlich zu klug, um in Gegenwart des Comte de Meaux etwas Ungebührliches zu äußern. Elise sah zu ihm auf und fragte sich, was die Männer wohl sagen würden, sobald sie außer Hörweite waren.
Das Pferd ging weiter. Elise legte einen Arm um Gawains Taille und klammerte sich an seinem Gürtel fest. Er schob ihren Schleier zurück.
„Schuft“, zischte sie. Aber sie war immerhin dankbar, dass das Pferd im Schritt ging. Es wäre noch peinlicher, wenn sie versuchen müsste, das Gleichgewicht auf einem trabenden Untier zu halten. Gawain hielt sie fest im Arm. Sicher. Auch dafür war sie dankbar. Sein Arm fühlte sich stark an. Vergangenes Jahr hatte sie in seiner Kraft Trost gefunden. Wie hatte sie das vergessen können?
Erschrocken stellte sie fest, dass sie es genoss, in seinen Armen zu sein und zu ihm aufsehen zu können. Was nicht gut war, denn seine Nähe lenkte sie von ihren Überlegungen ab, was sie ihm sagen sollte, wenn sie den Pavillon erreichten. Sie hielt den Blick starr nach vorn gerichtet, auf den Wald aus Zelten, der in der Ferne vor ihnen aufragte.
Wieder spürte sie seinen Daumen. Es war eine Liebkosung, jetzt war sie ganz sicher. Eine Liebkosung.
Seine weiße Leinentunika stand am Hals offen. Seine Haut war gebräunt, die Brust breit. Der Wunsch, den Kopf wieder an diese Brust zu legen, war überwältigend.
Sie runzelte die Stirn.
„Elise?“
„Das ist eine schlechte Idee. Eine ganz schlechte Idee.“
Er musterte sie. „Wenn es dir tatsächlich so sehr missfällt, dann darfst du neben mir gehen.“
Sie umklammerte seinen Gürtel fester. Dann zuckte sie mit den Achseln und seufzte tragisch. „Es ist zu spät. Monsieur, wir haben das Lager beinahe erreicht. Mein Ruf ist bereits ruiniert.“
Es gab ein paar unbehagliche Momente, als sie den Pavillon erreichten.
Die Babys schliefen unter dem Vordach, und Vivienne fächelte ihnen Kühlung zu. Sie sah auf, als sie die Hufe hörte, und erhob sich langsam.
„Alles in Ordnung, Vivienne“, sagte Elise, als Gawain ihr beim Absitzen half. „Gawain hast du schon kennengelernt, glaube ich.“
Vivienne nickte.
Gawain ging zu den Babys und betrachtete sie. „Zwillinge“, murmelte er und zog eine Braue hoch. „Ich nehme an, sie machen ziemlich viel Arbeit.“
Vivienne warf Elise einen hilflosen Blick zu. Ganz offensichtlich wusste sie nicht, was sie sagen sollte.
Elise spürte ihren Herzschlag bis hinauf in ihre Kehle. Sie könnte es nicht ertragen, wenn Gawain herausfand, dass Pearl seine Tochter war. Das war viel zu kompliziert. Sie musste ihn von den Babys fortbringen, ehe sie oder Vivienne etwas sagten, das alles verriet. Und sie musste es schnell tun. Sie handelte instinktiv, nahm seine Hand und zog ihn ins Zelt.
Gawain war so groß, dass sein helles Haar das Zeltdach berührte. Interessiert sah er sich um, ließ den Blick über die drei Schlafsäcke gleiten, die Betten der Babys, die Reisetruhen. „So lebst du also.“ Er lächelte. War ihm bewusst, dass er noch immer ihre Hand hielt? Wahrscheinlich nicht. „Viel Platz gibt es nicht.“
„Das stimmt.“
„Wie ist das im Winter?“
„Wenn es friert, mieten wir uns oft irgendwo ein.“
In diesem Moment hustete Vivienne und steckte den Kopf durch den Eingang. „Verzeiht die Unterbrechung. Es wird nur einen Moment dauern, und dann lasse ich Euch in Ruhe.“ Sie zog eine Grimasse und deutete auf die Reisetruhen. „Es ist dringend. Bruno braucht frische Windeln.“
Vivienne ging zu ihrer Truhe, hob den Deckel und suchte darin herum. Sie warf ein paar Sachen auf ihre Schlafmatte, nahm einen Armvoll Windeln und ging wieder zur Zeltöffnung. Als sie die Leinwand zurückschlug, wurde es hell im Innern. „Danke. Ich lasse Euch jetzt in Ruhe.“
Elise sah ihr nach und biss sich auf die Lippe. Verzweifelt suchte sie nach etwas, das sie sagen konnte – irgendetwas, das ihn davon ablenken würde, über die Babys nachzudenken.
Gedankenverloren strich Gawain über Elises Handrücken. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. Irgendetwas beunruhigte Elise, und das lag nicht nur daran, dass sie nicht damit gerechnet hatte, ihn in Troyes zu treffen. Ging es tatsächlich um die Fälscher, die sein Freund Raphael erwähnt hatte? Er konnte sich nichts anderes vorstellen.
„Wann kommt André zurück?“, fragte er.
„Ich habe keine Ahnung. Wir werden Vivienne fragen müssen. Manchmal …“ Elise verstummte und runzelte die Stirn.
Gawain folgte ihrem Blick, und dann runzelte auch er die Stirn. Auf dem Bett lag ein Schwert, halb verdeckt von Kleidern und Windeln. Ein Schwert? Vivienne musste es aus den Tiefen ihrer Truhe zutage gefördert haben, und in ihrer Eile hatte sie es nicht wieder weggeräumt.
„Was hat das hier zu suchen?“ Elise löste ihre Hand aus seiner und nahm das Schwert auf.
Es hatte eine lederne Scheide, die vom Alter geschwärzt war. Als sie es herauszog, gab es ein schabendes Geräusch. Es sah alt aus. Antik. Die Klinge war stumpf, aber am Griff funkelte ein großer roter Stein.
„Es ist sehr schwer“, fügte sie hinzu und sah ihn an. „Schwerer als deines.“
Gawain spürte ein flaues Gefühl im Magen. Nach dem Turnier an Allerheiligen hatte sie sich für seine Waffen interessiert, und er erinnerte sich, ihr erklärt zu haben, wie ein Damaszenerschwert angefertigt wurde. Dass auch sie sich daran erinnerte, sollte ihm eigentlich keine Freude bereiten, aber das tat es. Doch leider wurde seine Befriedigung von einem wachsenden Unbehagen verdrängt. Was um alles in der Welt hatte dieses Schwert in Elises Pavillon zu suchen?
Sie schob die Waffe – wieder mit diesem leisen Schaben – zurück in die Hülle und ließ sie achtlos auf die Schlafmatte fallen. „André erwähnte, dass er sich mit ein paar Spielleuten getroffen hat“, sagte sie. „Offenbar alte Freunde. Sie müssen es hier vergessen haben.“
Gawain murmelte etwas, während er überlegte. Er versuchte, sich zu erinnern, was genau Raphael ihm im Schwarzen Eber erzählt hatte. Ein Mann war verhaftet worden, weil er versucht hatte, eine gefälschte Reliquie zu verkaufen. Nein, keine Reliquie, eine Krone. Raphael sagte auch, dass jemand eine Replik von Excalibur gefertigt hatte. Man ging davon aus, dass dieser jemand versuchen würde, es als Besitz des legendären König Artus auszugeben. Allein die Vorstellung war so unglaublich, dass Gawain kaum zugehört hatte.
Konnte es sich dabei um dieses Schwert handeln?
Falls jemand im Begriff war, irgendeinem Narren für viel Geld ein gefälschtes Schwert unterzujubeln, dann musste Raphael das erfahren. So etwas konnte Gawain dem Capitaine der Wachtruppe auf keinen Fall vorenthalten, schon gar nicht, seit er wusste, dass Comte Henri die Wachleute gebeten hatte, auf verdächtige Vorgänge in der Stadt der Fremden zu achten.
„Ich würde mir das gern einmal ansehen.“ Er streckte die rechte Hand aus.
Achselzuckend nahm Elise das Schwert wieder auf und reichte es ihm.
Gawain zog es aus der Scheide und hob die Brauen. „Du hast recht, es ist schwer. Behäbig.“ Er strich mit dem Daumen über die Schneide – sie war erstaunlich glatt. „Es hat eine überraschend gute Klinge.“
Sie sah ihn an. „Gawain, was bereitet dir Sorgen?“
Er untersuchte das Schwert weiter, testete das Gewicht, trat zurück, um damit auszuholen. Dann schaute er sich den Griff näher an. Das gelbe Metall sah aus wie Gold. Und der Stein …
„Das ist ein Granat“, sagte er. Er hörte selbst, wie überrascht er klang. „Ein echter Granat.“
Sie runzelte die Stirn. „Er kann nicht echt sein, Gawain. Unmöglich.“
„Es gehört Spielleuten, sagtest du?“
„André sagte, er hätte sie nach unserer Ankunft in Troyes getroffen. Ich kann mir nur denken, dass es von denen stammt.“
Mit schwerem Herzen begutachtete Gawain den Granat am Knauf. Je länger er das Schwert ansah, desto unbehaglicher fühlte er sich. Er konnte das nicht für sich behalten. Es könnte tatsächlich einer Truppe von Schauspielern gehören, aber Raphael würde davon wissen wollen. Er wollte nicht glauben, dass Elise sich mit den Fälschern eingelassen hatte, aber langsam begann es so auszusehen, als hätten ihre Freunde etwas damit zu tun. „Dieses Schwert fühlt sich falsch an“, erklärte er. „Es ist schlecht ausbalanciert, und die Klinge ist schrecklich, aber wegen des Knaufs und des Steins ist es einiges wert.“
Sie sah ihn aus großen Augen an. „Das kann nicht sein. Es ist ein Theaterschwert – nur ein Requisit.“
Er sah sie durchdringend an. „Allein für den Stein könnte ein Mann töten. Und wenn der Knauf aus Gold sein sollte …“ Gawain ließ zu, dass die Stille sich ausdehnte, wohl wissend, dass das, was er gleich tun würde, ihn in ihren Augen verdammte. Was schade war. Er mochte Elise, und er wollte, dass sie gut von ihm dachte, wenn sie sich trennten. Es schob das Schwert mit Schwung zurück in die Scheide. „Würdest du Vivienne bitten hereinzukommen? Ich muss mit ihr reden.“
Elise blinzelte. Gawains Tonfall hatte sich verändert. Er sprach knapp und kurz. Militärisch. Zum Glück war er abgelenkt von Pearl, aber er schien plötzlich so ernst. „Gawain, was ist los?“
„Ich muss mit Vivienne sprechen.“
Prüfend musterte Elise sein Gesicht. Seine Miene war verschlossen. Verriet nichts. „Vivienne, würdest du kurz hereinkommen?“
Vivienne trat mit den Babys ins Zelt. Pearl wimmerte, daher nahm Elise sie und legte sie an ihre Schulter. Gawain wirkte so streng, dass sie erschauderte, trotz des heißen Tages.
Vivienne warf einen Blick auf das Schwert in Gawains Hand. Sie knickste, legte Bruno in seine Wiege und trat mit ausgestreckter Hand vor. „Ich werde das wegräumen, wenn ich darf, Monsieur.“
Langsam schüttelte Gawain den Kopf. „Ich behalte es, danke“, erwiderte er kühl.
„Aber, Monsieur …“
Elise rieb Pearl den Rücken.
Gawain holte tief Luft. Er hielt den Blick weiterhin auf Vivienne gerichtet. „Ich möchte, dass Ihr mir sagt, was ein solches Schwert zwischen Euren Sachen macht. Ein Schwert, dessen Knauf, wenn mich nicht alles täuscht, aus purem Gold ist.“ Er berührte den Granat und zog eine Braue hoch. „Und dieser Edelstein ist echt. Er ist sogar sehr gut gefasst.“
„Ich weiß nicht viel darüber, Monseigneur. Es gehört einem Freund von André. Ich glaube, er will es verkauefn.“
„Und wie lautet der Name dieses Freundes, bitte?“
Vivienne stand da, öffnete und schloss den Mund. Elise legte eine Hand auf Gawains Arm. „Gawain, es ist nicht nötig, Vivienne anzufahren. Du machst ihr Angst.“
Er sah sie an. „Ich stelle nur Fragen.“
„Du machst ihr Angst.“
„Wenn sie nichts falsch gemacht hat, hat sie nichts zu befürchten.“ Er wandte sich wieder an Vivienne. „Der Name des Freundes, Madame?“
„Ich – ich habe ihn vergessen.“
„Wie praktisch. Glaubt Ihr, André könnte ihn wissen?“
Vivienne gab einen leisen Klagelaut von sich. Oder vielleicht war es auch Bruno. Elise war nicht sicher. Bruno war definitiv wach. Seine kleine Faust bewegte sich oberhalb der Wiege.
Zwischen Gawains Brauen hatten sich tiefe Falten gebildet. „Wie nennt André sich bei seinen Auftritten?“
„André de Poitiers.“
„Meint Ihr, er wird sich an den Namen des Freundes erinnern, dem dies hier gehört?“
„Höchstwahrscheinlich, Monsieur.“ Bruno begann zu weinen. Vivienne sah ihn verwirrt an.
„Bitte fahrt fort, Madame.“
Vivienne machte eine hilflose Handbewegung. „Monseigneur, niemand hier trägt Waffen, daher glaube ich nicht, dass wir ein Gesetz gebrochen haben. Ich denke, Andrés Freund hofft, das Schwert verkaufen zu können.“