Schritt für Schritt ins große Glück?

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Auch Väter dürfen weinen - vor Glück: Dr. Alex Vavunis ist so erleichtert, dass seine Tochter nach ihrer schweren Krankheit wieder laufen kann. Das ist der Verdienst der schönen Physiotherapeutin Susie. Wenn er es nur wagen würde, einen winzigen Schritt auf sie zuzumachen …


  • Erscheinungstag 17.08.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734664
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dies war absolut seltsam.

Als wäre sie in einem Traum gelandet. Natürlich hatte Wallaby Island diese Wirkung immer auf Neuankömmlinge. Die größte Insel des tropischen Archipels vor der Küste Westaustraliens bot mit ihren üppig grünen Regenwäldern, den feinen, weißen Sandstränden, dem warmen, türkisblauen Meer und der alles golden überglänzenden Sonne einen bildschönen Anblick.

Susie Jackson war allerdings kein Neuankömmling. Diese Umgebung war ihre vertraute Realität, und die nervöse Spannung, die sich in ihr aufgebaut hatte, während sie das privat gecharterte Wasserflugzeug bei der Landung und dem sanften Anlegen am Steg beobachtete, lag einzig an ihrem Mitgefühl für das junge Mädchen an ihrer Seite. Es stand so eng an sie gedrückt, dass sein Zittern sich auf ihren Körper übertrug. Sie legte ihren Arm enger um die Schultern des Mädchens und zog es beruhigend an sich.

Hinten am Steg lösten sich Gestalten aus dem kleinen Flugzeug. Der Pilot blieb am Flugzeug, um es festzumachen, und eine einzelne Person machte sich auf den Weg über die Holzplanken des schmalen Steges.

Da passierte es. Die Realität begann zu verschwimmen. Das war nicht die gesichtslose Elternfigur, die sie erwartet hatte. Die ermutigenden Worte, die sie dem Mädchen an ihrer Seite eben noch zuraunen wollte, erstarben auf Susies Lippen, und sie konnte den Mann, der auf sie zustrebte und dabei den Landesteg in einen Laufsteg verwandelte, nur unverwandt anstarren.

Er war in Armani gekleidet, mit der passenden Ausstrahlung von Macht und Eleganz. Wundervoll geschnittene dunkle Hosen. Eine dunkle Krawatte, die gelockert, und ein makelloses weißes Hemd, dessen oberer Knopf geöffnet worden war. Das Jackett lässig über einen Arm geworfen, in der Hand eine schmale, schwarze Aktentasche. Mit der anderen Hand hielt er ein Mobiltelefon ans Ohr.

War es sein Gang? Natürliche Anmut, gepaart mit dem selbstbewussten Auftreten eines Menschen, der es absolut gewohnt ist, im Scheinwerferlicht zu stehen. Der es beinahe erwartet. Gut, vielleicht war der Mann tatsächlich ein hochdotierter Neurochirurg aus Sydney und eine Schlüsselfigur in der morgigen Eröffnungszeremonie. Immerhin hatte er genügend Geld gespendet, um die großartige neue medizinische Ausstattung zu ermöglichen, nachdem der Zyklon Wille sechs Monate zuvor das gesamte Areal verwüstet hatte.

Aber hier ging es schließlich nicht um ihn. Es ging um Stella. Das Mädchen, das nervös an ihrer Seite stand. Ohne die Hilfe ihrer Krücken. Stella, die darauf wartete, dass der wichtigste Mensch in ihrem Leben freudig zur Kenntnis nehmen würde, welch riesige Fortschritte sie gemacht hatte.

Die Aufregung des Mädchens war ansteckend, oder vielleicht war es ein Anflug von Sorge, der dazu führte, dass sich ein Klumpen in Susies Magen bildete und ihr Mund trocken wurde, als Alex Vavunis näher kam.

Er klappte das Telefon in seiner Hand zu, und nun war er nahe genug, dass Susie seine klar geschnittenen Gesichtszüge erkennen konnte. Sein markanter Kiefer wurde leicht durch einen Bartschatten gemildert, aber weit mehr durch ein charmantes Lächeln, das sein Gesicht erhellte. Dunkles Haar, dunkle Augen, olivfarbene Haut, angedeutete Linien auf der Stirn, die nahelegten, dass dieser Mann häufig die Stirn runzelte.

Momentan allerdings runzelte er keineswegs die Stirn. Susie war unsichtbar, sie stand außerhalb des Kraftfeldes, das sich zwischen Vater und Tochter aufgebaut hatte. Wie würde es sich wohl anfühlen, fragte sie sich ein wenig wehmütig, im Leben so eines Mannes eine Rolle zu spielen? Aber dann vertieften sich die Linien doch, und das freudig stolze Lächeln verblasste, als er seiner Tochter näher ins Gesicht schaute. Für einen kurzen Augenblick wirkte er verwirrt, als erkenne er die Person nicht, die vor ihm stand, beinahe, als sähe er einen Geist.

„Stella! Was um alles in der Welt …?“

Stellas zaghaftes Lächeln wich einem erwartungsvollen Strahlen. Schau mich an, Dad, sagte es. Sag mir, dass es in Ordnung ist, dass ich so stolz auf mich bin. Auch Susies Lächeln vertiefte sich. Sie hat das ganz allein geschafft; ist das nicht wunderbar?

Alex Vavunis jedoch schien das Fehlen der Krücken nicht einmal zu bemerken. Er starrte auf Stellas Gesicht. Susie beobachte ihn gebannt, sah den Wandel in seinen Zügen und konnte nicht fassen, was da passierte. Die Freude in seinem Gesicht erstarb, als er seine Tochter prüfend fixierte, Stolz wandelte sich in Enttäuschung.

Bitte nicht. Wie niederschmetternd würde das sein?

„Du bist …“, Alex hielt inne, und die Verwandlung vom liebenden Vater zum gestrengen Vormund war perfekt. „Hast du dich geschminkt?“

Stellas Lächeln wurde unsicher. „Ich … Heute ist Disconacht. Ich hatte es dir erzählt …“

„Und was hast du da an? Wessen Sachen sind das?“

„Meine.“

Ihr Vater schnaubte verärgert, als würde er den Inhalt des Kleiderschranks seiner halbwüchsigen Tochter genau kennen und wüsste, dass die Stücke, die sie jetzt trug, nicht dazugehörten. Was ihn in Susies Augen eher als Kontrollfreak denn als besorgten Vater auswies. Andererseits unterschied sich Stellas heutige Aufmachung tatsächlich grundlegend von allem, was sie mit ins Camp gebracht hatte – aber welches Mädchen würde denn auch bei ihrem ersten Discobesuch in Jeans und weitem T-Shirt auftauchen wollen?

„Es gibt einen Laden im Camp“, fuhr Stella tapfer fort. „Du hast gesagt, ich könnte alles kaufen, was ich brauche, und auf deine Rechnung setzen lassen.“

„Ja, aber …“, Alex warf einen weiteren Blick auf seine Tochter und seufzte.

Er war ein Mann, der problemlos mit jeder Art von Stress umgehen konnte, der jede Minute Entscheidungen auf Leben und Tod treffen musste und der sichtlich verstimmt war, sich mit diesem Thema auseinandersetzen zu müssen. Stella klang nun nicht mehr so zuversichtlich. Mit unsicherer Stimme fragte sie: „Was ist falsch an dem, was ich trage?“

„Nichts“, murmelte Susie. Der Rock war wunderhübsch und fiel in mehreren luftigen Lagen bis halb über die Waden. Das würde Stella den ersten öffentlichen Auftritt mit ihrer Beinprothese etwas erleichtern. Das weiße Spitzentop war ebenfalls perfekt – genau, was die meisten Mädchen heute trugen, und Susie wusste, dass Stella insgeheim entzückt war über den hebenden Effekt des leicht gepolsterten und verstärkten Bikinioberteils.

„Es sieht aus wie Unterwäsche“, urteilte Alex Vavunis. Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Anständige griechische Mädchen gehen nicht in Unterwäsche in die Öffentlichkeit, Stella.“

„Aber …“ Susie fühlte, dass Stellas Zuversicht schwand. Die Aufregung und freudige Erwartung, mit der sie darauf gewartet hatte, ihren Fortschritt und ihren erwachsenen Look zu präsentieren, verpufften wie Luft aus einem angestochenen Ballon. Sie funkelte Stellas Vater an. Wie konnte er das tun? Hatte er irgendeine Vorstellung, wie schwer es gewesen war, diesen Punkt zu erreichen? Wie zerbrechlich das Selbstvertrauen seiner Tochter war?

Ein gewisses Maß an Missfallen wäre verständlich gewesen, sogar akzeptabel; sie war darauf vorbereitet gewesen, nachdem Stella mehr als einmal erwähnt hatte, wie streng ihr Vater sein konnte, aber sie hatte die Warnungen beiseitegewischt. Sie hatte gesehen, wie stolz Stella auf ihren berühmten Vater war und wie sehr sie ihn liebte; er musste doch etwas Gutes an sich haben, wenn er so intensive Gefühle hervorrufen konnte. Es war leicht gewesen, sich einzureden, dass er von Stellas außerordentlichen Fortschritten der letzten Woche ebenso begeistert sein würde wie sie.

Oh Gott! Dies war alles ihre Schuld. Susies Arm lag noch immer auf Stellas Schultern, und sie fühlte, wie das Mädchen sich versteifte. Jede Sekunde würde ihr Arm abgeschüttelt werden, wenn Stella erkannte, wer hierfür verantwortlich war. Es würde Tränen geben, keine Frage. Was ein glückliches Wiedersehen hätte werden sollen, würde für alle Beteiligten eine elende Enttäuschung sein.

„Charles Wetherby wartet auf mich, um alles Weitere zu arrangieren“, sagte Alex. „Wir werden direkt zum Hotel gehen, und du kannst dich umziehen.“ Er warf stirnrunzelnd einen Blick auf sein Telefon und sah dann über Stellas Schulter. Susie folgte seinem Blick. Dort, auf dem Weg, der zum medizinischen Zentrum führte, saß Charles in seinem Rollstuhl. Wie lange wartete er da schon? Wie viel hatte er gehört? Genug, nahm sie an, und spürte eine Woge der Erleichterung.

Der ärztliche Direktor des Crocodile Creek Hospital war das Herz dieser Gemeinschaft. Er führte nicht nur eine Versorgungsklinik, die einen Rettungsdienst für ganz Nord Queensland bereithielt, sondern auch alle zugehörigen Einrichtungen auf Wallaby Island. Diese waren deutlich modernisiert und vergrößert worden waren, was sie in die Lage versetzte, ihre Camps für kranke Kinder und deren Familien erheblich auszuweiten. Er hatte stets den Finger am Puls des Geschehens und schien außerdem alles mitzubekommen, was sich in der Belegschaft abspielte.

Susie lächelte ihn an, eine wahrscheinlich unnötige Bitte um Unterstützung, diese Situation zu entschärfen. Charles war vor zwei Jahren der Ansprechpartner für Alex Vavunis gewesen, als der Neurochirurg nach einer Erholungsmöglichkeit für seine Tochter gesucht hatte, die wegen Knochenkrebses einer intensiven Chemotherapie unterzogen worden war. Er wusste mehr über die Persönlichkeit des Griechen als Susie, und er würde die richtigen Worte finden.

Alle hatten gesehen, wie sehr sich Susie von Beginn an um das mürrische junge Mädchen gekümmert hatte. Erst gestern hatte Charles erwähnt, wie viele Überstunden Susie diesmal machte, aber sein Augenzwinkern war voller Anerkennung gewesen. Ihm war nicht entgangen, wie nahe sich die junge Physiotherapeutin und ihre neue Patientin standen.

Charles rollte auf den Steg und näherte sich ihrer kleinen Gruppe von hinten, während von der anderen Seite der Pilot des Wasserflugzeugs, der seine Sicherheitsvorkehrungen beendet hatte, mit einem Koffer in der Hand auf sie zukam. Bei so viel männlicher Energie, die sie von allen Seiten umgab, war es kein Wunder, dass Stella an ihrer Seite unsicher wurde und das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Alleine zu stehen, war schon unter günstigeren Bedingungen nicht leicht für sie. Darum hielt Susie die Krücken vorsichtshalber in der freien Hand hinter ihrem Rücken versteckt. Zu ihrem Erstaunen fing sich das Mädchen jedoch wieder und straffte sich.

Entschlossen hob sie das Kinn. „Nein“, erwiderte sie ihrem Vater.

„Nein?“, fragte er ungläubig. „Was soll das heißen?“

„Ich komme nicht mit ins Hotel.“

„Es ist alles arrangiert.“ Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. „Wir haben eine Suite. Du wolltest nicht mit den anderen Kindern im Schlaftrakt bleiben, weißt du nicht mehr?“

Natürlich wollte sie das nicht, dachte Susie ungehalten. Sie muss schließlich zum Schlafen ihre Prothese abnehmen und hat sich dabei bestimmt kein Publikum gewünscht.

„Du wolltest dieses Jahr überhaupt nicht hierherkommen“, fuhr Alex fort. „Du hast nur eingewilligt, weil ich schon so viel Mühe darauf verwendet hatte, ein Zeitfenster zu schaffen, um an der Eröffnung des medizinischen Zentrums teilnehmen zu können.“

Charles zog eine Augenbraue hoch. Unsere Einladung war eine Geste der Freundlichkeit, sagte seine Miene, keine Unannehmlichkeit, die man irgendwie bewältigen muss.

„Du warst begeistert von der Aussicht, in einer Luxussuite zu wohnen“, erinnerte er seine Tochter. „Und davon, am Samstag mit mir zurückzufliegen und die zweite Woche ausfallen zu lassen. Es ist alles arrangiert. Und nun komm!“

„Ich will aber nicht“, sagte Stella. Sie holte tief Luft. „Der Schlafsaal gefällt mir jetzt gut. Und ich liebe meine neuen Sachen … und … ich darf mich schminken, wenn ich das will. Ich bin beinahe vierzehn, und Susie hat gesagt …“

„Susie?“, schnappte er. „Wer zum Teufel ist Susie?“

„Ich“, sagte Susie und war entsetzt, wie leise ihre Stimme klang. Alex schaute sie zum ersten Mal direkt an und bedachte sie mit einem so bohrenden Blick, dass sie sich fühlte wie ein Insekt im Schaukasten. Sie stand wie festgenagelt, unfähig, ihren Blick abzuwenden … nicht, dass sie das überhaupt wollte. Stella brauchte eine Verbündete, und sie würde sie nicht im Stich lassen. Sie würde das Hämmern ihres Herzens und die aufsteigende Furcht einfach ignorieren müssen.

„Susie Jackson.“ Charles’ Stimme war bestimmt und klar und beruhigte Susie sofort. „Unsere geschätzte Physiotherapeutin, Alex. Sie und Stella haben diese Woche wunderbar zusammengearbeitet.“

„Charles!“ Alex steckte sein Handy in die Hosentasche und ging mit ausgestreckter Hand auf den Mann an Susies Seite zu. „Schön, Sie zu sehen.“

„Sie auch, Alex. Wir sind froh, dass Sie kommen konnten.“

„Es trifft sich gut, dass die Eröffnung stattfindet, während Stella hier ist. Es ist höchste Zeit, dass ich den Ort kennenlerne, der ihr Leben so entscheidend verändert hat.“

„Von den Menschen hier gar nicht zu sprechen.“ Charles lächelte Susie an und bezog sie so in die Unterhaltung mit ein. „Wir haben großes Glück, dass Sie dieses Mal nicht von einem dringenden Notfall in Sydney festgehalten worden sind.“

Alex klopfte auf das Telefon in seiner Tasche. „Es gibt immer einen Notfall, Charles, wie Sie selbst sicher am besten wissen.“ War er noch mit den Problemen auf seiner Station befasst gewesen, während er den Steg entlanggekommen war? „Dieses Mal habe ich ihnen gesagt, dass sie alleine klarkommen müssen.“

Er hatte sein charmantes Lächeln wieder aufgesetzt, aber Susie war unbeeindruckt. Seine beruflichen Anforderungen entschuldigten seinen Auftritt nicht. Sie hatte begonnen, sich ein Bild von ihm zu machen, und sah einen Mann, der sich selbst und seine Karriere ungeheuer wichtig nahm. Wo blieb Stella auf seiner Liste? Es war ganz einfach nicht in Ordnung.

„Vielleicht schalte ich sogar mein Telefon aus“, bemerkte Alex. Susie unterdrückte ein Schnauben.

„Eine gute Idee“, antwortete Charles freundlich. Er warf einen Blick über die Schulter. „Gleich kommt ein Wagen, der Sie zum Hotel bringen wird, aber wenn Ihnen nicht zu warm ist, könnte ich Sie rasch durch das Zentrum führen.“

Susie nickte zustimmend. Verschwinde für eine Weile, ermutigte sie ihn in Gedanken. Dann kann ich hier die Scherben auflesen. Aber sie hatte kein Glück.

„Wir gehen zuerst ins Hotel“, beharrte Alex. „Ich kann meine Tochter hier nicht herumlaufen lassen wie eine …“

„Wie eine was?“, unterbrach Stella ihn empört und den Tränen nahe. „Was stimmt nicht mit meinem Aussehen, Papa? Susie hat gesagt, ich bin …“ Sie verstummte. Sie schien das Wort „wunderhübsch“ nicht über die Lippen zu bringen.

„Was hat Susie gesagt?“ Alex warf der Physiotherapeutin seiner Tochter einen weiteren Blick zu. Von ihrem offenen, schulterlangen Haar, das sich durch Sonne und Salzwasser immer etwas zu sehr lockte, hinunter auf ihr weiches Trägertop, über dem sie ein offenes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln trug, und weiter auf ausgefranste Jeansshorts, die ihre langen, gebräunten Beine nicht verbargen.

Susie wurde rot. Sie war nicht sonderlich professionell gekleidet, aber in Crocodile Creek wurde auf Formalitäten kein großer Wert gelegt. Außerdem befand sie sich mit einer Horde von Ferienkindern auf einer Urlaubsinsel, die ihnen eine Pause vom Alltag bescheren sollte, der von schwerer, manchmal unheilbarer Krankheit geprägt war.

Sie waren hier, um Spaß zu haben, und ihre Aufgabe war es, ihnen nur so weit zu helfen, wie es nötig war. Atemübungen für Kinder, die an Asthma litten, Erhaltungstherapie für ihre kleinen Patienten mit Mukoviszidose oder zerebraler Kinderlähmung. Und ja, ihr Kontakt mit Stella war über die reine Erhaltungstherapie hinausgegangen, aber das war nötig gewesen. Hätte sie sich nicht so intensiv mit ihr beschäftigt, wäre Stella in ihrem Schneckenhaus geblieben und hätte sich weiterhin vor den anderen Kindern und vor ihrem eigenen Leben versteckt.

Wollte ihr Vater sie in diese Dunkelheit zurückschicken? Susie hob ebenso kämpferisch das Kinn wie vorher Stella. Sie räusperte sich, und ihre Stimme war fest, als sie sprach. „Ich habe gesagt, dass sie absolut entzückend aussieht.“

Dass sie sich ihm widersetzte, machte Alex noch wütender. „Sie sieht aus wie ein Flittchen!“, stieß er hervor.

Stella schnappte nach Luft. „Das ist schrecklich. Wie kannst du so etwas sagen?“

Alex schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, wirkte er ruhiger. Er hob entschuldigend die Hand. „Es tut mir leid, mein Herz, aber du bist dreizehn Jahre alt, und ich finde dich hier, wie du in Unterwäsche herumläufst und dein Gesicht mit Make-up zukleisterst. Was hast du denn erwartet?“

Es war nicht zugekleistert. Das Make-up war dezent und natürlich. Sie hatten ziemlich viel Zeit darauf verwendet und viel Spaß dabei gehabt. Susie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Stella kam ihr zuvor.

„Wärst du bloß niemals hergekommen!“ Das Mädchen drehte sich unter Susies Arm, um ihre Krücken zu greifen. Sollte Susie ihr die Gehhilfen verweigern? Sie zwingen, ihrem Vater zu zeigen, dass sie mit ihrer Prothese laufen konnte – etwas, das sie bis zu dieser Woche nicht einmal hatte versuchen wollen?

Nein. Stella war viel zu aufgebracht, um ihr Gleichgewicht zu halten. Jetzt hinzufallen, würde ihre Demütigung unerträglich machen. Susie half ihr, die Krücken anzulegen, was nur einige Sekunden in Anspruch nahm.

Tränen strömten über Stellas Gesicht, als sie ihren Vater ansah. „Geh nach Hause“, rief sie. „Ich hasse dich!“ Sie drehte sich weg, drückte sich an Charles vorbei und lief den Steg herunter.

„Stella!“ Das war ein Befehl, den sie geflissentlich ignorierte. Sie hatte jetzt den Weg erreicht und wurde schneller. Sie rannte so schnell, wie es mit einem Paar Krücken und einer Wadenamputation nur möglich war. Ihre hochmoderne, technisch ausgefeilte Prothese berührte nicht den Boden. Sie war wieder, was sie von Anfang an gewesen war: nur ein ästhetisches Accessoire. Susie drehte sich zu Alex um. „Wie konnten Sie nur?“

Hatte er eben noch entgeistert seiner Tochter nachgeblickt, so wurde sein Ausdruck völlig neutral, als er sich Susie zuwandte. „Wie bitte?“

„Ihre Tochter ist noch heute Morgen beinahe fünfzig Meter ohne diese Krücken gelaufen. Vor einer Woche konnte sie ohne ihre Krücken nicht einmal stehen, und wir haben unglaublich hart gearbeitet, um so weit zu kommen“, sagte sie vorwurfsvoll. „Das hätten Sie bemerken und kommentieren sollen, statt sie zu beschimpfen, nur weil sie sich ein bisschen geschminkt hat!“ Sie funkelte ihn an. „Wie konnten Sie nur!“, wiederholte sie.

Alex schwieg. Susie hatte ihn zusammenzucken sehen, sie wusste, dass ihre Worte ihn getroffen hatten. Offensichtlich überlegte er, wie er auf diesen persönlichen Angriff reagieren sollte.

Der Pilot war in einiger Entfernung stehen geblieben und schaute mit gespieltem Interesse auf irgendetwas im Wasser, er musste ihren gereizten Wortwechsel mitbekommen haben und zog es vor, sich diskret im Hintergrund zu halten.

In der plötzlichen Stille wurden all die kleinen Geräusche um sie herum überdeutlich. Das sanfte Brechen der Wellen am nahe gelegenen Strand. Der Schrei exotischer Vögel im Regenwald. Ein entfernter Ruf, gefolgt von Kinderlachen.

Die Hitze war unerträglich.

Es war aber nicht die tropische Sonne, die Susie zu verbrennen drohte. Die Hitze ging von dem Mann vor ihr aus. Seine Energie war überwältigend. Kein schlichter Ärger – jeder konnte ärgerlich werden, besonders ein Vater, der gerade in der Öffentlichkeit zurückgewiesen und dann kritisiert worden war, nein, das hier war Wut, gepaart mit einem betäubenden Cocktail aus Intelligenz, Lebenserfahrung und … der stärksten männlichen Ausstrahlung, der Susie Jackson je begegnet war.

In ihrem ganzen Leben hatte sie so jemanden noch nicht getroffen. Was in aller tat sie hier eigentlich?

Seine Stimme beendete ihre Überlegungen. Ein tiefes, mühsam beherrschtes Grollen. „Stella ist meine Tochter, Miss Jackson. Ich habe sie allein großgezogen, seit sie drei Monate alt war. Ich glaube kaum, dass mir irgendjemand sagen muss, was ich zu tun habe.“

Ganz offensichtlich musste ihm das sehr wohl jemand sagen, aber Susie brachte die trotzige Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag, nicht heraus. Ihr Mund war zu trocken, und sie fühlte sich den Tränen nahe. Sie war versucht, wie Stella einfach wegzulaufen, aber das würde sie nicht. Auf keinen Fall!

Ein schnurrendes Geräusch unterbrach die neuerliche Stille. Es kam von dem kleinen Elektroauto, das in diesem Moment vorfuhr. Diese umweltfreundlichen Inselfahrzeuge fuhren Schrittgeschwindigkeit, hatten zwei Sitzplätze und konnten einen kleinen Gepäckanhänger ziehen.

„Ah … mein Wagen.“ Alex wandte sich ab und ließ Susie mit dem Gefühl zurück, ein Ärgernis zu sein, das erfolgreich beseitigt worden war. Seine Selbstsicherheit schwand allerdings etwas, als er den Wagen genauer ansah.

„Was zum Teufel ist das?“

„Garf“, antwortete Charles knapp. „Unser Maskottchen.“ Wie so oft, hatte der große, wuschelige Hund einen freien Platz in einem Wagen erspäht und sich freudig hineingesetzt.

„Aber was ist er? Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

„Labradoodle, eine Kreuzung aus Labrador und Pudel. Hypoallergen. Wir müssen vorsichtig mit Haustieren sein und alles vermeiden, was Asthmaanfälle hervorrufen könnte. Was den engen Kontakt mit einigen Kindern angeht, ist er immer noch auf Bewährung.“

Garf war das egal. Er hatte offensichtlich darauf gewartet, dass der Wagen anhielt, und sprang nun vom Sitz und rannte in die Richtung, in der Stella verschwunden war. Susie lächelte. Garf hatte eine eingebaute Antenne für unglückliche Kinder und war jetzt wahrscheinlich die beste Medizin für Stella.

Alex nickte zufrieden, als der Hund den Pfad hinauf verschwand. „Ich treffe Sie hier in einer halben Stunde, wenn Ihnen das recht ist“, sagte er an Charles gewandt. „Also, wo ist Stellas Schlafsaal?“

Susie öffnete den Mund und schloss ihn nach einem Blick auf Charles wieder.

„Erlauben Sie mir, Sie zu einem schönen kalten Drink einzuladen“, schlug er Alex vor. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich könnte einen gebrauchen.“ Er lächelte. „Vergessen Sie nicht, dass wir auf einer Insel sind. Niemand geht irgendwohin, und nichts muss übereilt werden.“

Diplomatisch, befand Susie. Viel besser, als wenn sie vorgeschlagen hätte, Stella ein bisschen Zeit zu lassen, ehe sie ihrem Vater wieder begegnete. Und Charles war niemand, dessen Einladung man ausschlug. Er mochte im Rollstuhl sitzen, aber das schmälerte seine Präsenz keineswegs, und er hatte ohnehin Oberhand – dies war sein Reich.

Alex hatte die Güte, zumindest einen Aufschub zu bewilligen. Er nickte. „Ein kaltes Bier würde ich nicht ausschlagen. Ich muss zugeben, dass der Tag eher lang und anstrengend war.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Charles. „Lassen Sie uns Ihr Gepäck ins Hotel schicken, und wir schauen mal, was der Kühlschrank in meinem Büro hergibt.“

„Ich folge Ihnen.“

„Wir gehen zuerst kurz in die Klinik, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich möchte nach Lily sehen.“

„Lily? Ihre Tochter?“

„Es geht ihr nicht gut.“

„Das tut mir sehr leid.“

„Es ist nichts Ernstes, aber Sie wissen, wie ein Virus ein Kind umwerfen kann. Ich behalte sie den Nachmittag über in der Klinik, sodass wir ein Auge auf sie haben können.“

Die Stimmen der beiden Männer verklangen, als sie sich entfernten. Der Pilot hörte auf, ins Wasser zu starren, und gesellte sich zu Susie. „Idiot“, murmelte er. „Hält sich für ein Gottesgeschenk. Alles in Ordnung, Susie?“

„Es geht mir gut, danke, Wayne.“

„Das arme Kind.“

„Hmm. Ich sollte sie suchen und sehen, wie es ihr geht.“

„Mach das.“ Wayne stellte den eleganten schwarzen Koffer auf den Rücksitz des Elektrokarrens und begrüßte den Fahrer. „Unter dem Steg treiben ein paar tote Vögel. Diese lauten Sturmtaucherdinger. Irgendjemand sollte sie beseitigen, bevor sie an den Strand gespült werden oder die Kinder zum Schwimmen kommen.“

Der Fahrer nahm ein Funkgerät vom Armaturenbrett. „Ich gebe es weiter, aber ich glaube, die Ranger sind noch mit ein paar Kindern im Wald unterwegs.“

Die Kutschfahrt durch den Regenwald war gerade zu Ende gegangen, wie Susie bemerkte, als sie ins Camp zurückging. Gruppen von Kindern mit ihren Eltern und Betreuern waren bereits zum Strand unterwegs, um den Spätnachmittag im Wasser zu verbringen. Sie winkte Benita Green zu, einer Krankenschwester, die mit ihren Schützlingen zum Strand zog, und strahlte den kleinen Danny an, der von seiner Chemo noch völlig kahl war und sie breit angrinste.

Es war schwierig, in dieser Umgebung an seiner Wut festzuhalten. Hoffentlich hatte Stella einen ruhigen Platz gefunden, wo der Zauber der Insel auf sie wirken und sie beruhigen konnte. Oder würde sie böse auf Susie sein und ihr die Schuld am Zusammenstoß mit ihrem Vater geben? Wahrscheinlich fühlte sie sich einfach elend. Unverstanden und nicht liebenswert.

Wo würde sie sie finden? Sicher nicht im Schlafraum, wo ein fröhliches Chaos herrschte und die älteren Kinder sich voller Vorfreude für die Disco fertigmachten, das wäre Salz in Stellas Wunden.

War sie vielleicht sie zu der Hütte gegangen, die Susie zugeteilt worden war, damit sie zur morgigen Eröffnungszeremonie und dem anschließenden Galadinner auf der Insel bleiben konnte? Stella kannte die Hütte, denn genau da hatten sie ihr an diesem Nachmittag die neuen Sachen angezogen und sie geschminkt. Aber Stella wusste, dass Susie sich die Hütte mit Kollegen teilen würde, und hatte bestimmt keine Lust, sich irgendwelchen Fremden zu erklären.

Susie verließ den breiten Weg, der sich vor ihr gabelte. In einer Richtung führte er zu den Schlafsälen, dem Speisesaal und den Gemeinschaftsräumen, in der anderen zu den neuen Holzbungalows im Regenwald. Sie kam zu einem schmalen, ausgetretenen Pfad, der zurück zum Strand führte, und folgte ihm. Ihr war eingefallen, wo sich der beste Ort zum Nachdenken befand.

Da war sie. Versteckt zwischen mehreren umgedreht auf dem Sand liegenden Ruderbooten kauerte sie im Sand. Neben ihr saß Garf, der mit großen Augen aufs Meer hinaussah, nahe genug, um sofort zum Kuscheln heranzukommen, aber mit dem nötigen Abstand, um Stella Raum zu geben.

Susie hockte sich neben einen der Bootsrümpfe. „Bist du okay, Süße?“

Die einzige Antwort war ein verstocktes Schniefen. Susie nahm eine Handvoll weißen Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln.

„Ich glaube, dein Vater hatte einen sehr anstrengenden Tag“, begann Susie. „Er war nicht darauf gefasst, dich so schick angezogen zu sehen, das ist alles. Er wird darüber hinwegkommen.“

„Nein, das wird er nicht.“

„Er kann dich nicht davon abhalten, in die Disco zu gehen.“

„Ich will gar nicht hin.“

Sie erwartete doch wohl nicht, dass Susie das glaubte? Vielleicht war ihr nicht klar, dass Susie sie am Morgen mit dem vierzehnjährigen Jamie hatte reden hören.

Autor

Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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