Sehnsucht, die man nie vergisst

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"Livvy?" So liebevoll nennt er sie bei ihrem Kosenamen, dass Olivia vor Sehnsucht fast vergeht. Nach einem schweren Unfall ist Xander endlich wieder erwacht. Überglücklich küsst sie ihn. Sie kann seine Entlassung kaum erwarten. Doch Olivia lebt eine Riesenlüge! Denn Xander hat sein Gedächtnis verloren. Sechs Jahre fehlen ihm, in denen sie sich geliebt, sich nach einer Katastrophe aber getrennt haben. Dabei hat Olivia nie aufgehört, Xander zu lieben. Jetzt hat sie die Chance, ihm wieder ganz nah zu sein. Zumindest bis seine Erinnerung zurückkehrt …


  • Erscheinungstag 04.10.2016
  • Bandnummer 1945
  • ISBN / Artikelnummer 9783733723132
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sie hasste Krankenhäuser.

Olivia betrat die Eingangshalle und musste schlucken, um den bitteren Geschmack auf der Zunge und die schlimmen Erinnerungen zu vertreiben. Auf der Anzeigetafel suchte sie nach der Station, zu der sie musste.

Musste … Nun, dieser Ausdruck sagte schon alles. Ein Wiedersehen mit ihrem Nochehemann war wirklich das Letzte, was sie brauchte – selbst wenn er nach ihr gefragt hatte. Xander hatte sie vor zwei Jahren verlassen, und seitdem war sie gut allein klargekommen. Sehr gut. Das war allerdings nur eine Umschreibung für ausgeflippt, unsicher, neurotisch und emotional. Ja, das fasste es ziemlich passend zusammen. Sie hätte nicht einmal hier sein müssen, und doch war sie gekommen.

Der Aufzug klingelte, und die Türen öffneten sich vor ihr. Olivia bekämpfte den Impuls, sich umzudrehen und zu flüchten. Stattdessen ging sie entschlossen in die Kabine und drückte auf den Knopf für die Station, zu der sie musste.

Verdammt, da war ja wieder dieses Wort. Musste. Eine Welt von Bedeutung lag darin. Es wog genauso schwer wie wollte. An sich besagte das Wort nichts; aber wenn es im Zusammenhang mit einer Beziehung auftauchte, in der beide Partner in verschiedene Richtungen strebten, stand es stellvertretend für Qual. Diese Qual hatte sie inzwischen überwunden. Den Schmerz des Verlassenwerdens. Den Verlust, der sie um ein Haar total überwältigt hätte. Wenigstens hatte sie das geglaubt, bis heute Morgen der Anruf gekommen war und sie aus dem Schlaf gerissen hatte.

Olivia umklammerte den Griff ihrer Handtasche ein bisschen fester. Sie brauchte Xander nicht gegenüberzutreten, wenn sie nicht wollte – auch wenn er gestern Abend anscheinend aus einem sechswöchigen Koma aufgewacht war und nach ihr verlangt hatte. Er hatte nach ihr verlangt. Ja, das passte zu ihm. Er war nicht der Typ für höflich formulierte Bitten. Sie seufzte, verließ den Lift und lief über den Flur zur Rezeption.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte die Krankenschwester hinter dem Tresen. Sie wirkte sehr beschäftigt und hatte einen Berg von Akten vor sich.

„Kann ich mit Dr. Thomas sprechen? Er erwartet mich.“

„Ach, Sie sind Mrs. Jackson? Natürlich, bitte folgen Sie mir.“

Die Schwester führte sie in ein karg eingerichtetes Wartezimmer für Privatpatienten. Nachdem sie ihr versichert hatte, dass der Doktor bald kommen würde, ließ sie sie allein.

Olivia war viel zu nervös, um sich zu setzen. Unruhig ging sie im Zimmer auf und ab. Drei Schritte vor, drei Schritte zurück. Dann das Ganze von vorn. Irgendwann öffnete sich die Tür, und ein Mann trat ein. Sie nahm an, dass er der Arzt sein musste. Eigentlich war er noch viel zu jung für einen Neurologen.

„Mrs. Jackson, vielen Dank, dass Sie gekommen sind!“

Sie nickte und ergriff die Hand, die er ihr entgegenstreckte. Dabei fiel ihr auf, wie warm und trocken seine Finger waren. Ihre eigenen hingegen waren voller Farbflecken und eiskalt. Offenbar hatte sich die Nachricht über Xander negativ auf ihren Blutkreislauf ausgewirkt.

„Sie sagten, Xander hätte einen Unfall gehabt?“, fragte sie.

„Ja, er hat auf einer nassen Straße die Kontrolle über seinen Wagen verloren und ist gegen einen Strommast geprallt. Seine körperlichen Verletzungen sind wie erwartet mittlerweile fast vollständig verheilt. Nachdem er jetzt aus dem Koma aufgewacht ist, haben wir ihn von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt.“

„Und der Unfall? Man hat mir erzählt, es wäre vor sechs Wochen passiert. Das ist eine lange Zeit, um im Koma zu liegen, oder?“

„Stimmt. In den vergangenen Tagen hat es deutliche Zeichen gegeben, dass er das Bewusstsein wiedererlangt. Auch seine nervlichen Reaktionen waren vielversprechend. Letzte Nacht ist er dann erwacht und hat nach Ihnen gerufen. Die Schwestern waren sehr überrascht, denn es war nur seine Mutter als nächste Verwandte aufgelistet.“

Olivia ließ sich auf einen Stuhl sinken. Xander? Er hatte nach ihr gefragt? Nur zu gut erinnerte sie sich an den Tag, an dem er sie verlassen hatte. Er hatte ihr erklärt, dass er ihr nichts mehr zu sagen habe. Und jetzt das. Sprachen sie und der Arzt überhaupt von demselben Mann?

„Ich … Das verstehe ich nicht“, stieß sie schließlich hervor.

„Abgesehen von den körperlichen Verletzungen leidet Mr. Jackson unter einer posttraumatischen Amnesie. Das ist nichts Ungewöhnliches nach einer Hirnverletzung. Tatsächlich haben Studien bewiesen, dass nur drei Prozent aller Patienten keinen Gedächtnisverlust erleiden.“

„Und zu diesen drei Prozent gehört er nicht?“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Eine posttraumatische Amnesie ist eine Phase, die Menschen nach schweren Gehirnschädigungen durchmachen. Danach sind sie zumeist verwirrt und desorientiert. Sie haben Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern. Häufig ist das Kurzzeitgedächtnis davon betroffen. Der Fall Ihres Mannes liegt allerdings ein wenig anders, denn bei ihm scheint das Langzeitgedächtnis angegriffen zu sein. Stimmt es, dass Sie von seinem Unfall gar nichts gewusst haben?“

„Nun, ich kenne nur wenige Leute, die mit ihm in ständigem Kontakt sind. Und mit seiner Mutter war ich nie sehr eng. Daher wundert es mich nicht, dass mich niemand informiert hat. Ich habe Xander zuletzt vor zwei Jahren gesehen. Wir werden demnächst geschieden und warten nur noch auf den Termin.“ Ein Schauer überlief sie, und selbst jetzt konnte sie die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

„Verstehe. Das macht die Sache natürlich ein wenig problematisch.“

„Problematisch?“

„Was seine Entlassung angeht, meine ich.“

„Das verstehe ich nicht.“ Olivia sah ihn stirnrunzelnd an.

„Er lebt allein, oder?“

„Soweit ich weiß.“

„Er glaubt, dass er zu Ihnen nach Hause kommen wird.“

Vor Entsetzen konnte sie sich nicht rühren. „Er … Wirklich?“

„Ja. Er denkt, dass Sie beide immer noch zusammen sind. Deshalb hat er auch nach Ihnen gefragt. Als er aus dem Koma erwachte, waren seine ersten Worte: ‚Sagen Sie meiner Frau, dass es mir gut geht.‘“

Dr. Thomas erläuterte ihr nun die genaue Art von Xanders Verletzungen und ihre Auswirkungen auf sein Gedächtnis, aber seine Worte drangen kaum zu Olivia durch. Sie konnte nur daran denken, dass ihr Ehemann sie sehen wollte. Ihr Ehemann, von dem sie seit zwei Jahren getrennt lebte.

„Bitte entschuldigen Sie“, unterbrach sie den Arzt. „An wie viel kann Xaver sich denn erinnern?“

„Soweit wir das mit Gewissheit sagen können, ist er auf dem Stand von vor sechs Jahren stehen geblieben.“

„Aber das war ja kurz, nachdem wir geheiratet haben“, erwiderte sie.

Er konnte sich also auch nicht daran erinnern, wie sie gemeinsam ihr Haus am Strand von Cheltenham renoviert hatten. Oder an die Geburt ihres Sohns vor fünf Jahren.

Und schon gar nicht an Parkers Tod kurz nach dessen drittem Geburtstag.

Sie kämpfte mit den nächsten Worten. „Kann er …? Wird er … wird er sein Gedächtnis zurückerlangen?“

Der Arzt zuckte die Schultern. „Vielleicht. Es kann aber genauso gut sein, dass er sich an die letzten Jahre gar nicht mehr oder nur noch teilweise erinnern wird.“

Olivia ließ all diese Informationen einen Moment lang auf sich wirken, dann holte sie tief Luft. Ihr blieb keine andere Wahl. „Kann ich ihn sehen?“

„Selbstverständlich. Kommen Sie mit.“

Der Arzt führte sie in ein großes Krankenzimmer. Es gab vier Betten, doch nur eins davon direkt am Fenster war belegt. Sie wappnete sich innerlich. Gleich würde sie einen Schritt darauf zugehen und den Mann anschauen, dem sie einmal geschworen hatte, mit ihm ihr Leben zu verbringen. Den Mann, den sie über alles geliebt hatte. Den Mann, von dem sie geglaubt hatte, dass er sie ebenfalls lieben würde. Ihr Herz tat einen Sprung, und ihr krampfte sich der Magen zusammen, als sie in sein vertrautes Gesicht sah. Er hatte so viel Ähnlichkeit mit Parker. Geistesabwesend rieb sie sich über die Brust, als könnte sie dadurch das Loch füllen, das darin klaffte.

„Er schläft noch, wird aber bestimmt bald aufwachen“, sagte Dr. Thomas nach einem flüchtigen Blick auf Xanders Krankenakte. „Sie können sich hinsetzen.“

„Danke“, antwortete sie automatisch und nahm auf dem Stuhl neben dem Bett Platz. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster und zum Sonnenschein, der über dem Hafen in der Ferne glitzerte.

Olivia betrachtete die reglose Gestalt unter der Bettdecke. Langsam ließ sie den Blick von Xanders Füßen über seine Beine und die Hüften bis zu seinem Oberkörper und seinem Gesicht schweifen. Er hatte abgenommen, wirkte insgesamt viel schlanker und weicher. Bartstoppeln bedeckten sein Kinn, und sein Haar musste dringend geschnitten werden.

Sie konnte nicht anders, sie hatte Mitleid mit ihm. Ihr war klar, wie sehr er es hassen würde, so verletzlich zu sein. Xander war ein Mann der Tat, ein Mann, der Entscheidungen traf. So hilflos in einem Krankenbett zu liegen hätte ihn normalerweise verrückt gemacht.

Erst jetzt registrierte sie schockiert, dass er die grauen Augen geöffnet hatte und sie anschaute. Langsam schien er sie wiederzuerkennen. Ihr Herz zog sich zusammen, als er sie voller Freude anlächelte. Die Verbindung zwischen ihnen war beinahe greifbar; sie war noch immer so stark, als wäre sie nie unterbrochen worden. Olivia spürte, wie ihre Lippen das Lächeln wie von selbst erwiderten.

Wie lange war es her, dass sie ihn lächeln gesehen hatte? Viel zu lange. Sie hatte es vermisst, hatte ihn vermisst. Zwei schreckliche, einsame Jahre lang hatte sie sich eingeredet, dass sie die Trennung von Xander verwunden hatte. Dass es leicht war, mit dieser Beziehung abzuschließen, wenn sie sich nur genug darum bemühte. Aber Olivia hatte sich etwas vorgemacht. In der Liebe konnte man nicht so einfach einen Schalter umlegen und vergessen, dass jemand mal das Allerwichtigste im Leben gewesen war.

Sie liebte ihn immer noch.

„Livvy?“ Xanders Stimme klang schwach und brüchig.

„Ja, ich bin’s“, antwortete sie leise. „Ich bin hier.“

Tränen stiegen in ihr auf. Sie streckte die Hand aus und ergriff seine. Dann rollten die Tränen über ihre Wangen, als er seine Finger fest um ihre schloss. Xander seufzte tief und schloss wieder die Augen.

Ein paar Minuten verstrichen, bis er ein einziges Wort ausstieß. „Gut.“

Sie hätte fast geschluchzt, konnte den Impuls jedoch im letzten Moment noch unterdrücken. Auf der anderen Seite vom Bett räusperte sich Dr. Thomas.

„Xander?“

„Machen Sie sich keine Sorgen, er ist eingeschlafen“, erklärte der Arzt. „Eine der Schwestern wird bald nach ihm sehen, dann wacht er möglicherweise wieder auf. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …?“

„Oh, ja, natürlich. Vielen Dank!“

Olivia merkte kaum, wie der Arzt das Zimmer verließ. Auch als ein weiterer Patient hereinkam, schenkte sie ihm keine Beachtung. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war auf den Mann vor ihr gerichtet, auf seine gleichmäßigen Atemzüge, bei denen sich seine Brust hob und senkte.

Tausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Xander hätte bei dem Unfall sterben können, und sie hätte nie davon erfahren. Sie hätte nie mehr die Gelegenheit gehabt, ihn um eine zweite Chance zu bitten. Doch das war zum Glück nicht geschehen. Er hatte überlebt. Und vergessen, dass er sie je verlassen hatte.

Noch immer hielt er ihre Finger umklammert, als wäre sie sein Anker. Als ob er wirklich wollte, dass sie bei ihm war. Sie beugte sich vor und hob seine Hand an ihre Wange. Ja, sie wollte ihn auch jetzt noch – so wie sie ihn immer gewollt hatte. Plötzlich keimte Hoffnung in ihr auf. Konnte dieser Gedächtnisverlust ihnen eine zweite Chance geben, die er ihr vorher so strikt verweigert hatte?

Hier und jetzt wusste sie nur eins: Sie würde alles tun, um ihn zurückzugewinnen.

Alles.

Würde sie sogar die Probleme verleugnen, mit denen sie in der Vergangenheit gekämpft hatten? Die klare Antwort darauf hätte Olivia eigentlich schockieren müssen, tat es jedoch nicht.

Ja. Selbst das würde sie tun.

2. KAPITEL

Olivia schloss die Haustür hinter sich und lehnte sich seufzend mit dem Rücken dagegen. Es gelang ihr dennoch nicht, ihre innere Anspannung zu lösen. Ihre Schultern waren steif, und ihre furchtbaren Kopfschmerzen waren auf der Heimfahrt nur schlimmer geworden.

Was zum Teufel hatte sie bloß getan?

Sie hatte Xander in dem Glauben gelassen, dass sie noch glücklich miteinander verheiratet waren. War das eine Lüge gewesen? Aber wie konnte es eine Lüge sein? Schließlich glaubte er das ja, und auch sie selbst wünschte sich, dass es so wäre.

Man konnte die Uhr nicht zurückdrehen, so viel stand fest. Die letzten zwei Jahre ließen sich nicht ungeschehen machen. Doch vielleicht konnten sie einen Neuanfang wagen. Jedenfalls wollte Olivia das versuchen.

Natürlich war das Ganze ein Risiko: Xanders Erinnerung konnte ja jeden Moment zurückkehren. Trotzdem – wenn es wirklich eine Chance gab, wieder miteinander glücklich zu sein, dann musste Olivia sie ergreifen.

Sie stieß sich vom Türblatt ab und ging durch den Flur in die Küche. Nur eine Woche nach ihrer Hochzeit hatten sie dieses Haus aus dem 19. Jahrhundert gekauft. Sie hatten so viel Spaß daran gehabt, es zu renovieren und alles auf den neuesten Stand zu bringen …

Olivia setzte Wasser auf, um sich einen Kamillentee zu kochen. Hoffentlich würde der ihre Kopfschmerzen lindern.

Doch was konnte das nagende Schuldgefühl lindern, das ihr Herz angesichts ihrer Entscheidung beschwerte?

Tat sie das alles, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen? Nach Parkers Tod war sie voller Selbstvorwürfe gewesen. Hatte sie es damals nicht leichter gefunden, Xander gehen zu lassen, anstatt für ihre Ehe zu kämpfen? Anstatt um ihn zu kämpfen? Sie hatte ihm an den Kopf geworfen, dass er sie aus seiner Gefühlswelt ausschließen würde. Aber hatte sie nicht genau dasselbe getan und sich ihm gegenüber total verschlossen?

Und als er gegangen war, hatte sie es einfach geschehen lassen. Viel zu spät war ihr klar geworden, was sie verloren hatte. Xander war für eine Versöhnung oder eine Paartherapie nicht mehr offen gewesen. Es war ihr so vorgekommen, als hätte er nur reinen Tisch machen und mit ihrem gemeinsamen Leben für immer abschließen wollen.

Das hatte sehr wehgetan – und das tat es heute noch. Erst mit der Zeit hatte sie gelernt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Schließlich war sie selbst nicht unschuldig am Ende ihrer Ehe gewesen. Es war ein Fehler, den sie nicht noch einmal machen würde.

Das Pfeifen des Wasserkessels riss Olivia aus ihren Gedanken. Sie goss das Wasser in die Teekanne und holte ihre Lieblingstasse aus dem Glasschrank, in dem sie ihre antike Porzellansammlung aufbewahrte. Sie stellte alles auf ein Tablett, ging damit hinaus auf die Terrasse und ließ sich in einem der Rattanstühle nieder.

Die Abendsonne schien auf ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche in ihrer Umgebung. Neben dem Verkehr konnte sie die Schreie von Kindern hören, die nicht weit entfernt spielten. Dieser bittersüße Klang erinnerte sie daran, dass das Leben der anderen trotz ihrer persönlichen Tragödie weiterging. Als sie die Augen wieder öffnete, spürte sie erneut Tränen in sich aufsteigen. Sie schenkte sich Tee ein, genoss den wohltuenden Duft der Kamille. Die Teezeremonie beruhigte sie jedes Mal; dadurch konnte sie sich sammeln, wann immer sie das Gefühl hatte, alles zu verlieren und vor Schmerz verrückt zu werden.

Sie nahm einen großen Schluck des heißen Getränks, während sie noch einmal an die Entscheidung dachte, die sie im Krankenhaus getroffen hatte. Kein Zweifel, sie war damit ein großes Risiko eingegangen. Es stand eine Menge auf dem Spiel. Doch es würde gewiss noch lange dauern, bis Xander sich von den Folgen seines Unfalls erholt hatte – viele Tage, wenn nicht gar Wochen, bevor er entlassen werden würde. Ohne Hilfe zu gehen würde er ganz neu lernen müssen. Bestimmt würde er auch noch Physiotherapie machen müssen, bevor er nach Hause kommen konnte.

Nach Hause.

Ein Schauer durchlief sie. Es war nicht mehr das Heim, das er vor zwei Jahren verlassen hatte. Dennoch war es dasselbe Haus, das sie gemeinsam gekauft und in den ersten zwei Jahren ihrer Ehe voller Freude renoviert hatten. Jetzt war sie froh, es nicht verkauft zu haben. Dieser Entschluss hatte ihr dabei geholfen, den Kummer über Parkers Tod und den Bruch mit Xander zu überwinden.

Irgendwann hatte sie sich damit abgefunden, dass es mit ihrer Ehe vorbei war. Aber die Liebe zu ihm war nie erkaltet. Plötzlich spürte sie einen Funken Hoffnung. Vielleicht konnten sie ja wirklich noch einmal neu beginnen und zum Anfang ihrer Ehe zurückkehren. Und wenn er eines Tages sein Gedächtnis zurückerlangte, hätten die jüngsten und schöneren Erinnerungen die bitteren ihrer Trennung längst überlagert.

Sollte er allerdings vor der Entlassung aus dem Krankenhaus seine Erinnerung wiedererlangen, wäre diese Chance dahin. Dieses Risiko musste sie jedoch auf sich nehmen. Und mit seiner Realität würde sie sich später befassen müssen. Inzwischen bewegte er sich ja in einer ganz anderen Welt, die nicht mehr die ihre war. Ohne Zweifel würde Olivia es schaffen, seine Freunde und Kollegen auf Distanz zu halten. Immerhin hatte sie in seinem Zimmer nicht viele Blumensträuße gesehen. Sie hatte lediglich eine Karte von dem Team der Investmentbank bemerkt, in der er arbeitete. Natürlich würde er irgendwann wieder in sein Büro gehen. Doch bis dahin … Nun, damit würde sie sich befassen, wenn es so weit war.

Von den Ärzten hatte sie erfahren, dass er frühestens in vier Wochen arbeitsfähig war. Vielleicht würde es sogar länger dauern. Sie beschloss, in den nächsten Tagen einen seiner Kollegen anzurufen und von möglichen Besuchen abzuraten.

Dann meldete sich erneut ihr Schuldgefühl. Seine Freunde hatten ein Recht darauf, zu erfahren, wie es ihm ging. Aber sicherlich würden sie auch Fragen stellen, und das konnte Olivia nicht riskieren.

Mit Xanders Amnesie bot sich ihr eine Chance, die sie unbedingt wahrnehmen wollte. Ja, dieses Mal würde sie um ihn kämpfen und ihre Liebe wieder zum Blühen bringen. Sie konnte nur hoffen, dass es ihr gelingen würde. Bei dem Gedanken an sein Lächeln heute wurde ihr warm ums Herz. Es war offensichtlich, dass er sie noch immer liebte. Hoffentlich würden sie den Rest ihres Lebens damit verbringen können, es diesmal richtig zu machen.

Zum gefühlt hundertsten Mal blickte Xander zur Tür des Krankenzimmers. Olivia hätte längst hier sein müssen. An diesem Morgen hatte er bereits mit Dr. Thomas eine hitzige Debatte darüber geführt, ob er wirklich in das Rehacenter gehen musste oder nicht. Der Arzt hatte schließlich nachgegeben und war bereit gewesen, ihn nach Hause zu entlassen. Danach hatte Xander gleich Olivia angerufen, um sich von ihr ein paar Kleidungsstücke bringen zu lassen. Er vermisste sie sehr, doch leider hatte er nur ihre Mailbox erreicht.

Allerdings würde er notfalls auch im Pyjama gehen. Xander konnte es kaum erwarten, das Krankenhaus zu verlassen und zu ihrem gemeinsamen Zuhause zu fahren.

Seit drei Wochen lag er inzwischen hier. Am meisten war ihm Olivias Anblick in Erinnerung geblieben, als er aus dem Koma aufgewacht war. Die Sorge in ihren Augen hatte ihn tief berührt. Er hatte ihr so gern versichern wollen, dass alles in Ordnung war. Doch dann war er eingeschlafen – alles bloß wegen dieser verdammten Kopfverletzung. Die Verletzung hatte ihm nicht nur die Erinnerung an die letzten sechs Jahre seines Lebens geraubt, sie hatte ihn auch unglaublich geschwächt. Zu Beginn hatte er nicht einmal richtig sprechen können. Alle Ärzte sagten ihm zwar immer wieder, wie erstaunlich seine Fortschritte waren. Doch das reichte ihm nicht. Nichts war genug, bis er sich endlich an alles erinnern konnte. Bis er wieder der Mann war, der er vor dem Unfall gewesen war.

Bestimmt würde es zu Hause in der vertrauten Umgebung schnell besser werden. Xander schaute aus dem Fenster und zog beim Anblick seines Spiegelbilds im Glas ein Gesicht. Eins hatte sich offensichtlich nicht geändert: Er war noch genauso ungeduldig wie früher.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Er wandte den Kopf – und dann sah er sie. Olivia. Wärme durchströmte seinen Körper. Alles fühlte sich richtig an, wenn sie nur da war.

„Du sieht gut aus“, sagte sie, als sie auf ihn zukam und ihn auf die Wange küsste.

Xander strahlte sie an und schwang sich aus dem Bett. „Stell dir vor, vielleicht werde ich heute schon entlassen. Ich habe dich angerufen und …“

„Heute schon? Wirklich?“

Kam ihm das nur so vor, oder wirkte ihr Lächeln etwas gezwungen? Sofort verwarf er diesen Gedanken. Natürlich freute sie sich darüber ebenso wie er. Warum auch nicht?

„Dr. Thomas will heute Morgen bloß noch einige abschließende Tests machen. Wenn das Ergebnis positiv ist, kann ich das Krankenhaus heute Nachmittag verlassen.“

„Wow, das sind ja gute Neuigkeiten“, erwiderte Olivia. „Dann fahr ich mal schnell nach Hause und hole dir ein paar Sachen.“

Xander streckte die Hand aus und ergriff ihre. „Willst du tatsächlich wieder weg? Du bist doch gerade erst gekommen. Bitte bleib noch ein bisschen.“

Ihre Finger schlossen sich um seine. Er zog ihre Hand zu sich, drehte sie um und küsste sie. Deutlich spürte er, wie sie dabei erschauerte. Ihre Wangen glühten.

„Ich vermisse dich, wenn du nicht da bist“, sagte er und betrachtete ihre Hand, die immer noch mit Farbsprenkeln übersät war. Er lächelte. „Schön, du malst also noch. Es ist gut zu wissen, dass manche Dinge sich nicht ändern.“

Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte das Gesicht ab. Doch er hatte das Aufblitzen in ihren Augen gesehen.

„Livvy?“

„Hmm?“

„Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich, mir geht es bestens. Ich mache mir nur Gedanken, ob ich dich in dem da nach Hause bringen muss.“ Sie zeigte auf seinen gestreiften Pyjama. „Und ja, du hast recht: Ich male immer noch. Das liegt mir einfach im Blut. So war es früher, und so wird es wohl immer sein.“

Er lachte, denn das hatte er sie mindestens schon hundertmal sagen hören. Der angespannte Zug um ihre Augen wurde ein bisschen weicher.

„Prima, dann fahr besser los“, meinte er. „Aber komm bitte sofort zurück, ja?“

„Klar. So schnell, wie ich kann“, gab sie zurück, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf die Stirn.

Xander lehnte sich ins Kissen zurück und sah ihr hinterher, als sie durch die Tür verschwand. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, das hatte er deutlich bemerkt. Doch er wusste nicht genau, was es war. Seit Tagen sprachen sie über nichts anderes als über seine Rückkehr nach Hause. Hatte sie vielleicht Angst, nachdem es jetzt so weit war? Er grübelte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es gut möglich war. Bei all seinen Verletzungen fragte Olivia sich wahrscheinlich, ob er den Weg zurück in den Alltag bewältigen würde. Als ältestes von vier Kindern hatte sie sich von Jugend auf um alle kümmern müssen. Aus dieser Gewohnheit heraus stellte sie stets für alle sicher, dass nichts schiefging.

Bei ihrer Hochzeit hatte er sich innerlich geschworen, ihr niemals zur Last zu fallen. Und auch jetzt war er fest entschlossen: Er würde alles tun, um möglichst schnell wieder gesund zu werden und ihr keinen Anlass zur Sorge zu geben.

Olivia eilte zum Parkhaus und stieg in ihr Auto. Ihre Hand zitterte leicht, als sie den Motor startete. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich angeschnallt und den ersten Gang eingelegt hatte.

Xander kommt nach Hause. Genau das hatte sie sich doch sehnlichst gewünscht. Warum war sie dann so erschrocken gewesen, als er es ihr erzählt hatte? Sie kannte den Grund dafür nur allzu gut: Es bedeutete, dass sie sich dem Leben stellen musste, das er sich nach der Trennung von ihr aufgebaut hatte. Im Krankenhaus hatte man ihr neben seinen persönlichen Dingen auch seine Wohnungsschlüssel gegeben. Mit ihnen würde sie nun zu seinem Apartment fahren und ihm ein paar neue Sachen holen müssen.

Autor

Yvonne Lindsay
Die in Neuseeland geborene Schriftstellerin hat sich schon immer für das geschriebene Wort begeistert. Schon als Dreizehnjährige war sie eine echte Leseratte und blätterte zum ersten Mal fasziniert die Seiten eines Liebesromans um, den ihr eine ältere Nachbarin ausgeliehen hatte. Romantische Geschichten inspirierten Yvonne so sehr, dass sie bereits mit...
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