Stadt, Mann, Kuss

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So idyllisch Fool’s Gold, die Kleinstadt am Fuße der Sierra Nevada, auch ist. Der hübsche Ort hat ein gewaltiges Problem: Es herrscht akuter Männermangel. Um das zu ändern, wird die erfolgreiche Stadtplanerin Charity Jones engagiert. Ausgerechnet sie, bei der Amor mit seinem Pfeil bisher immer danebengeschossen hat. Nichtsdestotrotz lockt sie die ersten potenziellen Ehekandidaten an. Dabei befinden sich bereits einige Prachtexemplare direkt vor Charitys Nase …

"Das Buch summt nur so vor geistreichen, liebenswerten Charakteren

… die Spannung zwischen den beiden ist beinahe greifbar und ihre

Liebesgeschichte unglaublich mitreißend."

Publishers Weekly


  • Erscheinungstag 07.11.2016
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499531
  • Seitenanzahl 336
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Stadt, Mann, Kuss …

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Maike Müller

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Chasing Perfect

Copyright © 2010 by Susan Macias Redmond

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.á.r.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Robyn Neil / Newdivision

ISBN eBook 978-3-95649-953-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Charity Jones liebte gute Katastrophenfilme – es wäre ihr nur lieber gewesen, jemand anders hätte die Hauptrolle gespielt.

Das scharfe Knacken eines Kurzschlusses, sogleich gefolgt von einem beißenden Geruch, füllte den Konferenzraum im dritten Stock des Rathauses. Eine dünne Rauchfahne stieg von ihrem Laptop auf und bereitete jeglicher Hoffnung auf eine glattlaufende Power-Point-Präsentation ein jähes Ende. Eine Präsentation, an der sie fast die ganze Nacht gefeilt hatte.

Das ist mein erster Tag in diesem Job, dachte Charity, während sie tief einatmete, um die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Die erste offizielle Stunde des ersten offiziellen Tages. War ihr denn nicht mal eine klitzekleine Pause vergönnt? Irgendein kleines Zeichen der Gnade vom Universum?

Offenbar nicht.

Sie schaute von ihrem immer noch qualmenden Computer auf und blickte in die Gesichter des zehnköpfigen Gremiums der California University, Fool’s Gold Campus. Keiner von ihnen sah glücklich aus. Das lag zum Teil daran, dass sie mit dem vorherigen Stadtplaner fast ein Jahr zusammengearbeitet und noch immer keinen Vertrag über die neue Forschungseinrichtung geschlossen hatten. Für diesen Vertrag war sie nun zuständig. Der andere Grund, warum sie unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten, war vermutlich der unangenehme Brandgeruch.

„Vielleicht sollten wir das Meeting vertagen“, schlug Mr. Berman vor. Er war groß, hatte graue Haare und trug eine Brille. „Wenn Sie besser vorbereitet sind.“ Er nickte in Richtung ihres qualmenden Computers.

Charity lächelte warmherzig, obwohl sie am liebsten mit irgendetwas geworfen hätte. Sie war vorbereitet. Sie war jetzt – ein kurzer Blick auf die Wanduhr – ganze acht Minuten in ihrem Job, aber mit den Vorbereitungen hatte sie schon vor knapp zwei Wochen begonnen, als sie die Position als Stadtplanerin angenommen hatte. Sie kannte sowohl die Anforderungen der Universität als auch die Möglichkeiten der Stadt. Sie mochte neu sein, aber sie war trotzdem verdammt gut in dem, was sie tat.

Ihre Vorgesetzte, die Bürgermeisterin, hatte sie im Vorfeld vor dieser Truppe gewarnt und ihr angeboten, das Meeting ein wenig nach hinten zu verschieben, aber Charity hatte sich beweisen wollen. Und sie würde nicht zulassen, dass sich diese Entscheidung am Ende als falsch herausstellte.

„Wo wir schon mal alle hier versammelt sind“, erwiderte sie und lächelte noch immer so souverän wie möglich, „können wir das Ganze doch auch auf die altmodische Art machen.“

Sie trennte ihren Computer vom Stromnetz und brachte ihn in den Flur, von wo aus er ohne Frage auch das restliche Gebäude verpesten würde. Aber das Meeting hatte eben höchste Priorität. Sie war fest entschlossen, ihren neuen Posten mit einem Sieg anzutreten, und das bedeutete, die California University von Fool’s Gold dazu zu bringen, auf der letzten Seite ganz unten zu unterschreiben.

Als sie in den Konferenzraum zurückkam, trat sie ans Whiteboard und nahm einen dicken blauen Stift von der kleinen Ablagefläche.

„So wie ich das sehe“, begann sie, schrieb die Ziffer Eins an die Tafel und kreiste sie ein, „gibt es drei Kernprobleme. Erstens: die Mietdauer.“ Sie schrieb die Ziffer Zwei. „Zweitens: der Rückfall der Wertsteigerungen auf dem Grundstück. Mit anderen Worten: das Gebäude selbst. Und drittens: die Ampel am Ende der Freewayausfahrt.“ Sie drehte sich wieder zu den zehn gut gekleideten Menschen um, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. „Stimmen Sie mir zu?“

Alle sahen zu Mr. Berman, der langsam nickte.

„Gut.“ Charity hatte sämtliche Protokolle der vorangegangenen Meetings durchgearbeitet und am Wochenende mit der Bürgermeisterin von Fool’s Gold gesprochen. Was Charity nicht verstand, war, warum sich die Verhandlungen derart in die Länge zogen. Offenbar war es ihrem Vorgänger wichtiger gewesen, recht zu haben, als das Projekt „Forschungseinrichtung“ voranzubringen. Bürgermeisterin Marsha Tilson hatte sich klar und deutlich ausgedrückt, als sie Charity den Job angeboten hatte. Sie sollte die Wirtschaft nach Fool’s Gold locken, und zwar schnell.

„Und nun zu meinem Lösungsvorschlag“, sagte sie und machte eine zweite Spalte auf. Sie ging alle drei Probleme sorgfältig durch und schrieb ihre Lösungen daneben – darunter eine fünf Sekunden länger dauernde Grünphase für die Linksabbieger am Ende der Ausfahrt.

Die Gremiumsmitglieder hörten ihr aufmerksam zu. Als sie fertig war, richteten sich alle Augen wieder auf Mr. Berman.

„Das hört sich gut an“, fing er an.

Sich gut anhören? Das war besser als gut. Das war ein einzigartiger Deal. Das war genau das, was die Universität verlangt hatte. Das war ein Null-Kalorien-Brownie mit Sahneeis.

„Es gibt trotzdem noch ein Problem“, meinte Mr. Berman.

„Nämlich?“, fragte sie.

„Eins Komma sechs Hektar an der Bezirksgrenze.“ Die Stimme kam von der Tür.

Charity drehte sich um. Ein Mann betrat den Konferenzraum. Er war groß und blond, sah beinahe überirdisch gut aus und bewegte sich mit einer athletischen Anmut, die ihr sogleich ein gewisses Unbehagen einflößte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, und dennoch war sie sich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein.

Er lächelte ihr kurz zu, wobei seine weißen Zähne aufblitzten. Die Millisekunde Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, nahm ihr fast die Luft. Wer war dieser Kerl?

„Bernie“, sagte der Fremde und richtete sein Megawatt-Lächeln auf den Kopf der Gruppe. „Ich habe gehört, dass Sie in der Stadt sind. Sie haben mich gar nicht zum Abendessen eingeladen.“

Mr. Berman sah tatsächlich interessiert aus. „Ich dachte, Sie wären mit Ihrer jüngsten Eroberung beschäftigt.“

Der blonde Typ zuckte bescheiden die Schultern. „Für Vertreter der Universität habe ich immer Zeit. Sharon. Martin.“ Er begrüßte jeden am Tisch, schüttelte ein paar Hände, zwinkerte der älteren Dame am Kopfende zu und wandte sich dann an Charity.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin mir sicher, dass Sie dieses Problem unter normalen Umständen lösen würden, ohne ins Schwitzen zu kommen. Aber der Grund, warum wir uns noch nicht geeinigt haben, ist weder der Rückfall der Pacht noch die Ampel.“ Er kam auf sie zu und nahm ihr den Stift aus der Hand. „Sondern die gut anderthalb Hektar Land, die der Universität von einer sehr wohlhabenden Absolventenfamilie angeboten worden sind. Sie wollen ihren Namen am Gebäude stehen sehen, und sie sind bereit, für dieses Privileg zu zahlen.“

Er schenkte Charity ein weiteres Lächeln, bevor er sich wieder dem Whiteboard zuwandte. „Ich werde mal erklären, warum das eine schlechte Idee ist.“

Und dann fing er an zu reden. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, und vermutlich hätte sie ihn auffordern sollen zu gehen, aber irgendwie konnte sie sich weder bewegen noch sprechen. Es war, als hätte er rings um sich ein außerirdisches Kraftfeld aufgebaut, das sie paralysierte.

Vielleicht sind es seine Augen, dachte sie, während sie in die braungrünen Seen starrte. Oder seine von der Sonne gebleichten Wimpern. Womöglich war es die Art, wie er sich bewegte, oder die Hitze, die sie jedes Mal spürte, wenn er an ihr vorbeiging. Oder vielleicht hatte sie auch irgendein seltsames Gas eingeatmet, als ihr Computer Funken gesprüht hatte und schließlich jämmerlich verschmort war.

Zwar fand sie es, wie jede Frau, aufregend, einem attraktiven Mann zu begegnen. Aber noch nie war sie von einem Typen derart hypnotisiert gewesen. Und schon gar nicht während eines Geschäftstreffens, das eigentlich sie führen sollte.

Doch sie kannte diesen Schlag Mann genau. Sie hatte gesehen, wie viel Zerstörung diese Kerle mit jedem ihrer Schritte anrichteten. Ihr Selbsterhaltungstrieb riet ihr, sich so weit wie möglich zurückzuziehen. Und das würde sie auch tun … sobald das Meeting zu Ende war.

Fest entschlossen, sich die Kontrolle über ihren Körper und über das Meeting zurückzuholen, straffte sie die Schultern. Dann begriff sie, was der rätselhafte Eindringling soeben gesagt hatte. Ein Geschenk abzulehnen, das in Gestalt eines erstklassigen Grundstücks daherkam, wäre für jede Universität schwer. Kein Wunder, dass Mr. Berman an ihrer Lösung nicht interessiert gewesen war. Sie packte das Problem einfach nicht an der Wurzel.

„Die Forschungsarbeit, um die es hier geht, ist für uns alle wichtig“, schloss der Blonde. „Und deshalb ist das Angebot der Stadt das beste auf dem Tisch.“

Charity zwang sich, Mr. Berman anzusehen, der langsam nickte. „Sie haben einige gute Aspekte aufgezeigt, Josh.“

„Ich habe lediglich ein paar Dinge hervorgehoben, die Sie unter Umständen noch nicht bedacht haben“, erwiderte der Blonde bescheiden. Der Blonde, der anscheinend Josh hieß. „Die eigentliche Arbeit hat Charity gemacht.“

Sie hob die Augenbrauen. Er kaperte ihr Nervensystem und ihr Meeting, und er versuchte, ihr Anerkennung zu zollen?

„Keineswegs“, widersprach sie und war erleichtert, dass ihre Stimme ihr gehorchte. „Wie könnte ich mit Ihren exzellenten Ausführungen mithalten?“

Josh zwinkerte ihr doch tatsächlich zu, bevor er nach der Mappe griff, die auf dem Tisch lag. „Das ist der Vorvertrag. Ich denke, die Unterzeichnung wurde lange genug aufgeschoben, finden Sie nicht auch, Bernie?“ Mr. Berman nickte langsam und zog einen Stift aus der Innentasche seines Sakkos. „Sie haben recht, Josh.“ Dann unterzeichnete er mir nichts, dir nichts das Dokument und schenkte Charity damit den Sieg, den sie sich so sehnlich gewünscht hatte.

Irgendwie hatte sie gehofft, er würde ein kleines bisschen süßer schmecken.

Binnen weniger Minuten hatten alle einander die Hände geschüttelt, irgendwas von der Anberaumung eines nächsten Treffens zur konkreten Planung gemurmelt und waren dann gegangen. Nun stand Charity allein im Konferenzraum. Der Geruch verbrannten Plastiks und ein unterzeichnetes Schriftstück waren die einzigen Beweise dafür, dass diese Sitzung tatsächlich stattgefunden hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war 09:17 Uhr. So schnell, wie die Dinge hier abliefen, könnte sie bis zum Mittag diverse Krankheiten heilen und die Hungersnot stoppen. Na ja, im Grunde nicht sie. Bislang beschränkten sich ihre Erfolge auf das Grillen unschuldiger Elektro geräte.

Sie sammelte die Unterlagen ein, ging hinaus auf den Flur und klemmte sich den kalten toten Computer unter den Arm. War das wirklich geschehen? War irgendein blonder Sonnyboy in ihr Meeting geplatzt, hatte ihr den Tag gerettet und war wieder verschwunden? Wie ein ortseigener Superheld? Und wenn er so gut Bescheid wusste, warum hatte er sich dann nicht schon vor Wochen um das Problem gekümmert?

Von der Privatspende hatte sie nichts wissen können – ganz gleich wie viel sie auch recherchiert und wie gut sie sich vorbereitet hatte. Und trotzdem verspürte Charity ein leichtes Gefühl der Unzufriedenheit. Sie gewann lieber durch eigene Taten und nicht, weil jemand zu ihrer Rettung eilte.

Sie ging zu ihrem neuen Büro in der ersten Etage. Der Umzug nach Fool’s Gold am Wochenende und die Vorbereitung der Präsentation hatten ihre kostbare Freizeit verschlungen, weshalb sie noch nicht dazu gekommen war, sich anständig einzurichten. Um kurz vor sechs an diesem Morgen hatte sie einfach eine Kiste mit persönlichen Dingen auf ihren Schreibtisch gestellt. Um eine Minute nach sechs war sie im Konferenzraum gewesen, um ihre Präsentation durchzugehen, die hatte perfekt werden sollen. Tja, das war ja wohl reine Zeitverschwendung, dachte sie, als sie im ersten Stock ankam. Zwischen dem Dahinscheiden ihres Computers und dem Auftauchen des rätselhaften Mannes hätte sie sich gar nicht großartig zu bemühen brauchen.

Am Morgen war das alte Gebäude leer und still gewesen. Jetzt arbeiteten ein halbes Dutzend Frauen an den Tischen. Bürotüren standen offen, und Unterhaltungen vermischten sich zu einem monotonen Hintergrundgemurmel.

Sie ging auf ihr Büro zu. Inzwischen müsste ihre Assistentin da sein, sodass sie sich endlich einmal persönlich sehen würden. Technisch gesehen arbeiteten sie nun schon seit zwei Wochen zusammen, und in dieser Zeit hatte Sheryl unterschiedlichste Informationen zu Charity nach Nevada gefaxt und gemailt.

Charity war für ihr Bewerbungsgespräch nach Fool’s Gold gekommen. Sie hatte sich mit der Bürgermeisterin und einigen Mitgliedern der Stadtverwaltung getroffen und sich die Gegend angesehen. Sie hatte noch nie in einer Kleinstadt gelebt. Am vertrautesten war ihr noch Stars Hollow aus ihrer Zeit am College, als sie keine Folge der Gilmore Girls verpasst hatte. Fool’s Gold hatte ihr durch und durch gefallen, und sie hatte sich gut vorstellen können, in diesem Städtchen am See Wurzeln zu schlagen. Sie war sogar in diesem Gebäude gewesen und hatte sich ein bisschen umgesehen. Aber dabei hatte sie das riesige Poster an der Wand übersehen.

Nun starrte sie auf ein überlebensgroßes Poster ihres geheimnisvollen Fremden. Er lächelte auf sie herunter. Unter dem Arm hielt er einen Fahrradhelm, und das enge Trikot und die Radlerhose ließen nur wenig Raum für Fantasie. Die Bildunterschrift lautete: Josh Golden – Fool’s Golds liebstes Kind.

Sie blinzelte ein Mal, dann noch mal. Josh Golden? Der gefeierte Radfahrer Josh Golden? Der zweitjüngste Gewinner in der Geschichte der Tour de France und vermutlich Sieger Hunderter weiterer Radrennen? Sie hatte die Meldungen im Radsport nie verfolgt. Eigentlich verfolgte sie keinerlei Sportnachrichten. Doch selbst sie hatte von ihm gehört. Er war mit einer bekannten Frau verheiratet gewesen – sie konnte sich nicht erinnern, mit welcher – und lebte jetzt in Scheidung. Er warb für Energydrinks und für eine große Sportmarke. Der lebte hier? Der war in ihr Meeting geplatzt und hatte ihr den Tag gerettet?

Unmöglich, sagte sie sich. Vielleicht hatte sie sich bei einem Sturz den Kopf angeschlagen und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht lag sie irgendwo im Koma und stellte sich das Ganze nur vor.

Sie ging an dem Poster vorbei und auf ihr Büro zu. Vor der offenen Tür sah sie eine Frau in den Dreißigern, die gerade telefonierte. Sie hatte dunkle Haare, war sehr hübsch und schaute jetzt lächelnd auf. „Sie ist hier. Ich muss Schluss machen. Hab dich lieb.“ Die Frau stand auf. „Ich bin Sheryl, Ihre Assistentin. Sie müssen Charity Jones sein. Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Ms. Jones.“

„Finde ich auch, und bitte nennen Sie mich Charity.“

Sheryl grinste. „Ich habe gerade erfahren, dass Sie die Universität zur Unterschrift bewegt haben. Bürgermeisterin Marsha wird einen Freudentanz vollführen. Endlich hat jemand diese glitschigen Aale festgenagelt.“

Aus dem Augenwinkel sah Charity, dass sich etwas bewegte. Sie blickte über die Schulter ihrer Assistentin und sah, dass Sheryls Bildschirmschoner mit einer Diashow begonnen hatte.

Das erste Bild zeigte Josh Golden auf einem Rennrad. Auf dem zweiten war er oben ohne und mit einem strahlenden Lächeln zu sehen. Das dritte Bild zeigte einen splitternackten Mann unter einer Dusche mit dem Rücken zur Kamera. Charity riss die Augen auf.

Sheryl warf einen Blick über ihre Schulter und lachte. „Ich weiß. Er ist umwerfend. Ich habe die Bilder aus dem Internet heruntergeladen. Soll ich sie auf Ihrem Computer installieren?“

„Äh, nein. Danke.“ Charity zögerte. „Ich bezweifle, dass Nacktbilder die angemessene Dekoration für ein Büro sind.“

„Wirklich?“ Sheryl wirkte irritiert. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber ich schätze, Sie haben recht. Ich werde das Duschbild rausnehmen – obwohl es mein Lieblingsbild ist. Haben Sie Josh schon kennengelernt? Meine Großmutter würde ihn einen Traummann nennen. Ich habe meinem Ehemann schon gesagt: ‚Falls Josh jemals bei mir anklingeln sollte, bin ich schneller weg, als du gucken kannst.‘“

Dann reagierte also jede Frau auf diesem Planeten genauso auf Josh wie sie. Fantastisch. Nichts ist so toll wie zu einer sabbernden Menge von Verehrerinnen zu gehören, dachte sie und betrat ihr Büro.

Aber das war kein Problem. Sie würde den Mann einfach meiden, bis sie in der Lage wäre, ihre Reaktion auf ihn zu kontrollieren. Sie wollte einen netten, normalen Mann, dessen sie sich sicher sein konnte. Ihre Mutter hatte sich immer in die Joshs dieser Welt verliebt: in Männer, die zu attraktiv waren und von allen Frauen angehimmelt wurden. Und regelmäßig hatten sie ihr das Herz gebrochen. Charity war fest entschlossen, aus den Fehlern ihrer Mutter zu lernen.

Nachdem sie ihren toten Laptop neben die Kiste mit den persönlichen Dingen gestellt hatte, die immer noch darauf wartete, ausgepackt zu werden, sah Charity durch die offene Tür zu Sheryl hinüber.

„Würden Sie bitte die Bürgermeisterin anrufen und fragen, ob ich heute Morgen noch kurz bei ihr vorbeischauen kann?“

Sheryl schüttelte den Kopf. „Das hier ist nicht die Großstadt, Charity. Sie können jederzeit bei Marsha anklopfen.“

„In Ordnung. Danke.“

Charity nahm den Ordner mit dem unterzeichneten Vorvertrag mit und machte sich auf den Weg zum anderen Ende des Flurs. Das Büro von Bürgermeisterin Marsha Tilson lag hinter einer riesigen, mit Schnitzereien verzierten Doppeltür, die weit offen stand.

In dem Raum stand ein großer Schreibtisch. Zwei Fahnen – die Flagge der Vereinigten Staaten und die des Bundesstaates Kalifornien – hingen an der Wand, und am Fenster hatte ein kleiner Konferenztisch mit sechs Stühlen seinen Platz gefunden.

Marsha saß in einer kleinen Sitzgruppe in der Ecke. Als Charity den Raum betrat, sah sie, dass auch Josh da war. Er saß auf einem Sofa, sah atemberaubend gut aus und wirkte, als fühlte er sich ganz wie zu Hause.

Marsha, eine attraktive, gut gekleidete Frau Mitte sechzig, lächelte und stand auf. „Wir haben gerade von Ihnen gesprochen, Charity. Sie hatten ja einen ereignisreichen Morgen. Meine Glückwünsche. Unser Josh hat mir erzählt, dass Sie Bernie überzeugen konnten, den Vorvertrag zu unterzeichnen.“

Charity ging auf die beiden zu und gab sich alle Mühe, freundlich zu wirken, ohne Josh richtig anzusehen. Als sie den Fehler beging, ihm in die Augen zu schauen, hätte sie schwören können, die Titelmelodie von Vom Winde verweht zu hören.

Josh erhob sich und lächelte sie lässig an. Sie musste sich mit den Zehen in ihren Pumps festkrallen, um nicht die Balance zu verlieren. „Man hat uns einander noch gar nicht offiziell vorgestellt“, begrüßte er sie und hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Josh Golden.“

Sie wollte ihm auf gar keinen Fall die Hand geben. Nicht bei den Symptomen, die sie jetzt schon spürte. Hautkontakt könnte am Ende zu Herzversagen oder etwas noch Peinlicherem führen. Sie schluckte, atmete tief ein und wappnete sich für ihr Schicksal.

Seine große Hand verschlang ihre. Funken, noch größer als jene, die ihren Computer zerstört hatten, sprangen zwischen ihnen hin und her. Ihr Magen schlug einen Purzelbaum, ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie rechnete damit, jeden Moment ein Feuerwerk an der Zimmerdecke zu erblicken.

„Mr. Golden“, murmelte sie. Schnell entzog sie ihm die Hand und ließ sich in den hinter ihr stehenden Sessel sinken. Sie gab sich Mühe, nicht daran zu denken, dass sie dank Sheryls Bildschirmschoner bereits seinen nackten Hintern gesehen hatte.

„Josh, bitte.“

Wie viele Frauen das wohl schon geschrien haben, fragte sie sich und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die bei Weitem ungefährlichere Bürgermeisterin.

„Josh übertreibt, was meine Rolle bei dem Meeting angeht“, erklärte sie und freute sich, dass sie in vollständigen Sätzen sprechen konnte. „Er wusste von dem Grundstücksangebot, das die Universität an der Unterzeichnung gehindert hatte. Als das geklärt war, konnten wir die anderen Probleme schnell lösen.“

„Ich verstehe.“ Marsha sah zu Josh, der bescheiden die Achseln zuckte.

Vor dem Hintergrund, dass Josh offensichtlich ein bekannter Sportler war, der sich nicht scheute, seinen nackten Hintern in irgendwelche Kameras zu halten, hätte sie erwartet, dass er jede Gelegenheit nutzen würde, sich in den Vordergrund zu spielen. Doch seltsamerweise hatte er das nicht getan.

„Wir haben den Vorvertrag“, fuhr Charity fort. „Ich werde Sheryl bitten, ein weiteres Meeting einzuberufen, um die Dinge voranzutreiben. Da uns die Kostenvoranschläge für die Bauarbeiten bereits vorliegen, kann schnell mit dem Bau der Forschungseinrichtung begonnen werden.“

„Ausgezeichnet.“ Marsha lächelte sie an. „Aber kommen Sie doch erst mal richtig an. Die erste Stunde in Ihrem neuen Job war ja schon ziemlich aufregend. Wie wär’s, wollen wir morgen Mittag zusammen essen? Dann können Sie mir erzählen, wie es so läuft.“

„Ja, gern.“ Charity stand auf. „War nett, Sie kennenzulernen, Josh“, sagte sie im Rausgehen, um zu vermeiden, ihm noch einmal die Hand schütteln zu müssen.

Zurück in ihrem sicheren Büro, bestand ihre erste Amtshandlung darin, sich selbst ordentlich die Leviten zu lesen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nicht so auf einen Mann reagiert. Es war mehr als peinlich – es war ein potenzieller Störfaktor in der Ausübung ihres Berufs. Sie konnte akzeptieren, dass irgendein Fehler in ihrem genetischen Code dafür verantwortlich war, dass sie sich immer die falschen Männer aussuchte. Aber sie würde sich nicht erlauben, sich wie ein verrückter Groupie oder wie eine sexuell ausgehungerte Irre aufzuführen, wenn sie in Joshs Nähe war. Fool’s Gold war klein. Sie würden sich ständig über den Weg laufen. Sie musste sich und ihre Hormone unter Kontrolle bringen, und zwar schnell.

Es muss eine vernünftige Erklärung für das Ganze geben, sagte sie sich streng. Ich habe letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen. Oder vielleicht habe ich ja auch irgendeinen Vitamin-B-Mangel, oder ich esse nicht genug Brokkoli oder so. Was auch immer der Grund war, sie würde ihn finden und eliminieren. Sie weigerte sich, flatterhaft und schwach zu sein. Sie war stark. Sie verwirklichte sich selbst. Sie würde nicht zulassen, dass so etwas Unbedeutendes wie ein umwerfender Mann, der einen Hintern hatte wie ein griechischer Gott, ihren Tag auf den Kopf stellte.

„Und?“, fragte Marsha, nachdem Charity gegangen war.

Ein einziges Wort mit tausend Bedeutungen, dachte Josh grimmig. Wie machten die Frauen das bloß? Sie konnten einen Mann ohne große Anstrengung dazu bringen, sich zu drehen und zu winden. Eine Fähigkeit, die er gleichermaßen bewunderte und fürchtete.

„Sie ist klug und fair“, sagte er.

Marsha hob die Augenbrauen. „Du findest sie nicht hübsch?“

Er lehnte sich in dem Sessel zurück und schloss die Augen. „Darum geht es also. Warum verspürst du nur ständig den Drang, deine Mitmenschen zu verkuppeln? Ich war schon mal verheiratet, Marsha. Erinnerst du dich? Es ist nicht gut gegangen.“

„Aber das lag nicht an dir. Sie war eine Hexe.“

Er öffnete ein Auge. „Ich dachte, du mochtest Angelique.“ „Jedes Mal, wenn sie in der Sonne war, hatte ich Angst, dass all das Plastik, das sie sich in den Körper hatte einbauen lassen, schmelzen würde.“

Er lachte. „Das wäre durchaus möglich gewesen.“ Seine Exfrau war von Natur aus hübsch gewesen, hatte jedoch keine Ruhe gegeben, bis sie außergewöhnlich gewesen war.

„Dann magst du sie also?“, hakte Marsha nach.

Irgendetwas sagte ihm, dass es nicht mehr um seine Ex ging. „Warum spielt meine Meinung eine Rolle?“

„Darum.“

„Also gut. Ich mag sie. Bist du jetzt glücklich?“

„Nein, aber es ist ein Anfang.“

Er war die Verkupplungsaktionen gewohnt. Sie gingen immer einher mit nicht gerade subtilen Einladungen. Vermutlich hatte er von all jenen, die mit einem Fluch belegt waren, noch das beste Los gezogen: zu viele Frauen, die bereit waren, ihm alles zu geben, was er sich wünschte. Schade nur, dass das Zusammensein mit ihnen nicht das reparierte, was tatsächlich nicht mit ihm stimmte.

Er stand auf. „Ich habe gesagt, dass ich auf sie aufpassen werde, und das tue ich auch. Aber ich weiß gar nicht, warum du dir Sorgen machst. Wir sind hier in Fool’s Gold. Hier passiert nichts Schlechtes.“ Genau deshalb war er ja auch wieder nach Hause gekommen. Fool’s Gold war der ideale Fluchtort. Gewesen. Denn seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, dass seine Vergangenheit ihn einholte.

„Ich möchte, dass Charity glücklich ist“, sagte Marsha. „Ich möchte, dass sie sich in unsere Gemeinschaft einfügt.“

„Je länger du ihr die Wahrheit verschweigst, desto wütender wird sie sein.“

Marsha zog die Mundwinkel nach unten. „Ich weiß. Ich warte auf den richtigen Moment.“

Er ging zu ihr hinüber, bückte sich und küsste sie auf die weiche, faltige Wange. „Den richtigen Moment gibt es nicht, Kleine. Das hast du mir selbst beigebracht.“

Dann richtete er sich auf und ging in Richtung Tür.

„Du könntest sie doch zum Abendessen ausführen“, rief Marsha ihm nach.

„Ja, das könnte ich“, stimmte er ihr im Gehen zu.

Er könnte Charity ausführen und dann was? Binnen weniger Tage hätte sie genug über ihn gehört, um zu glauben, alles zu wissen. Danach würde sie entweder versuchen, herauszufinden, ob an dem Gerede etwas dran war, oder sie würde ihn für klebrigen Abschaum auf dem Teich des Lebens halten. Nach ihren feinen Schuhen und dem konservativen Kleid zu urteilen, schätzte er, dass sie ihn zum Abschaum stecken würde.

Josh durchquerte die Lobby, ohne den gläsernen Kasten auf der Seite zu beachten, in dem das Gelbe Trikot hing, das er während seiner dritten Tour de France gewonnen hatte. Er trat in den sonnigen Morgen hinaus und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan, als er Ethan Hendrix aus seinem Wagen steigen sah. Ethan, der einst sein bester Freund gewesen war.

Ethan bewegte sich leichtfüßig. Nach der langen Zeit war sein Humpeln fast vollständig verschwunden. Bei jedem anderen hätte man es überhaupt nicht wahrgenommen. Aber Ethan war nicht jeder andere. Er war einmal ein hochrangiger Radsportler gewesen. Zu Collegezeiten hatten er und Josh gemeinsam an der Tour de France teilnehmen sollen. Sie hatten viele Stunden gemeinsam trainiert und einander provoziert, indem jeder von sich behauptete, er allein wäre in der Lage, das Rennen zu gewinnen. Nach dem Unfall hatte nur Josh teilgenommen und war zum zweitjüngsten Gewinner in der Geschichte der Tour geworden. Nur Henri Cornet war im Jahr 1904 jünger gewesen – ganze einundzwanzig Tage.

Ethan sah über die Straße, und ihre Blicke trafen sich. Josh wäre gern zu seinem ehemaligen Freund hinübergegangen, um ihm zu sagen, dass genügend Zeit vergangen war und sie beide darüber hinwegkommen mussten. Aber trotz der Nachrichten, die Josh ihm auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, hatte Ethan ihn nicht ein einziges Mal zurückgerufen. Er hatte ihm nie vergeben. Nicht den Unfall – den hatte Ethan selbst verschuldet. Sondern das, was danach geschehen war.

In gewisser Weise konnte Josh ihm das nicht einmal übel nehmen. Schließlich hatte er sich selbst auch nicht vergeben.

Am nächsten Tag packte Charity die kleine Kiste mit ihren persönlichen Dingen aus und stürzte sich anschließend in den Morgen. In einem Brainstorming waren ihr diverse Einfälle gekommen, wie man die Wirtschaft nach Fool’s Gold bringen könnte, und sie wollte sie unbedingt der Bürgermeisterin vorstellen. Nachdem sie ihre Zwischenberichte ausgedruckt hatte, machte sie sich mit dem verschrobenen E-Mail-System der Stadt vertraut und war überrascht, als sie die Bürgermeisterin in ihrer Tür stehen sah.

„Ist es schon halb zwölf?“, fragte Charity, die nicht glauben konnte, wie schnell die Zeit verflogen war.

„Sie wirken beschäftigt“, bemerkte Marsha. „Sollen wir unser Essen lieber verschieben?“

„Natürlich nicht.“ Charity holte ihre Handtasche aus der untersten Schublade ihres Schreibtischs, stand auf und strich sich den maßgeschneiderten Blazer glatt. „Ich bin fertig.“

Sie gingen die breite Treppe hinab und hinaus auf die sonnige Straße.

Das Rathaus lag im Zentrum der Stadt, wo die Gehwege von antik anmutenden Straßenlaternen gesäumt wurden. Hier gab es alte Bäume, einen Friseursalon und ein kleines Café, das mit Milchshakes nach alten Rezepturen warb. Vor den zahlreichen Geschäften wuchsen Tulpen und Krokusse in Blumenkästen.

„Die Stadt ist wirklich hübsch“, sagte Charity, als sie die Straße überquerten und auf das Restaurant an der Ecke zusteuerten. Sie gingen um einen offenen Gullydeckel herum, an dem zwei weibliche städtische Angestellte ihre Gerätschaften aufbauten.

„Aber ruhig“, erwiderte Marsha. „Zu ruhig.“

„Was ein Grund ist, weshalb Sie mich eingestellt haben.“ Charity lächelte. „Damit ich die Wirtschaft und somit Arbeitsstellen herbringe.“

„Ganz genau.“

„Ich habe auch schon einige Ideen“, erzählte Charity ihr. Sie war sich nicht ganz sicher, ob das hier ein Arbeitsessen oder ein Kennenlernessen war.

„Wie viele der Firmen, die Ihnen vorschweben, werden von Männern geführt? Und in wie vielen werden hauptsächlich Männer gebraucht?“

Charity blieb vor dem Restaurant stehen. Sie hatte die Frage der Bürgermeisterin bestimmt falsch verstanden. „Wie bitte?“

Marshas dunkelblaue Augen funkelten heiter. „Ich habe nach Männern gefragt. Aber jetzt kriegen Sie bloß keine Angst. Die Männer sind nicht für mich, sondern für die Stadt. Haben Sie es noch nicht bemerkt?“

Charity schüttelte langsam den Kopf, während sie sich fragte, ob die normalerweise recht kluge Bürgermeisterin sich womöglich den Kopf gestoßen oder fragwürdige Medikamente genommen hatte. „Was bemerkt?“

„Sehen Sie sich mal um“, forderte die Bürgermeisterin sie auf. „Zeigen Sie mir, wo die Männer sind.“

Charity hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Langsam sah sie sich auf der Straße um. Sie erblickte die beiden weiblichen Angestellten der Stadt, eine Frau in Briefträgeruniform, die die Post austrug, und eine junge Frau, die ein Ladenfenster anstrich.

„Ich sehe keine.“

„Genau. Fool’s Gold leidet an einem ernsthaften Männermangel. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Sie engagiert habe. Damit Sie mehr Männer in unsere Stadt holen.“

2. KAPITEL

Das Restaurant „Fox and Hound“ war wie ein typisch englischer Pub dekoriert. Tiefe Sitzecken, eine lange Bar aus Holz und englische Jagdfotos an der Wand. Es war bestimmt reizend hier, und später, wenn Charity sich besser konzentrieren könnte, würde sie jedes noch so kleine Detail aufsaugen. Aber im Augenblick konnte sie bloß hinter der Bürgermeisterin hergehen, die zu einem ruhigen Tisch am Fenster geführt wurde.

Charity setzte sich der älteren Frau gegenüber und presste die Lippen aufeinander. Sie würde kein Wort sagen, bis Marsha erklärt hätte, was sie meinte.

Marsha ergriff sogleich das Wort. „Das Problem begann schon vor vielen Jahren. Die Männer gingen, um bessere Jobs zu finden, und kamen nie zurück. Das war in meinen besten Jahren, und aus irgendeinem Grund wird es nicht besser. Das Ergebnis der vorläufigen Volkszählung ist eine Katastrophe. Und wenn die tatsächliche Erhebung von 2010 rauskommt, wird das ein Desaster werden – sowohl in der Presse als auch unter der Stadtbevölkerung. Wenn wir nicht anfangen, für unsere jungen Frauen ein paar heiratsfähige Männer herzuschaffen, werden sie ebenfalls gehen, und dann wird die Stadt sterben. Aber das wird nicht passieren, solange ich hier das Sagen habe.“

Die Bürgermeisterin klang kämpferisch und entschlossen.

Charity hatte nach ihrem Wasserglas gegriffen, um Zeit zu gewinnen. Ein Männermangel? War das ein Witz? Teil eines kleinstädtischen Initiationsrituals?

„Es gibt einen Haufen Arbeitsbereiche, die traditionell Männer beschäftigen“, begann sie vorsichtig. „Falls das wirklich Ihr Ernst ist.“

„Mein voller Ernst.“ Marsha beugte sich zu ihr rüber. „Fool’s Gold war eine Goldfieberstadt, die in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. Es wuchs und florierte, doch als kurz nach der Jahrhundertwende die Goldvorräte erschöpft waren, fingen die Probleme an.“

Eine Kellnerin brachte die Speisekarte. Sie nahm die Getränkebestellung auf und ging wieder.

„Geografisch gesehen sind wir gesegnet“, fuhr Marsha fort. „Das hat uns davor bewahrt, vollständig zu verschwinden. Das ursprüngliche Skigebiet wurde in den Fünfzigerjahren gebaut, die Weinberge westlich von hier sind mindestens sechzig Jahre alt. Bislang können wir uns noch über Wasser halten. Es gibt zahlreiche Dienstleistungsunternehmen und ein paar kleine Betriebe. Ethan Hendrix besitzt eine Baufirma, die sich auf Windkraftanlagen spezialisiert hat. Er bringt also ein paar Männer her, aber das reicht nicht.“

Marsha zuckte die Achseln. „Eigentlich sollte ich begeistert sein, dass er so viele Frauen beschäftigt. Von wegen Gleichberechtigung und so. Aber ich bin es nicht. Die Männer verlassen unsere Stadt, und wir wissen nicht, warum. Liegt es an der Topografie? Oder ist es irgendein Fluch der Eingeborenen? Die Situation gerät außer Kontrolle. Die jungen Frauen in der Stadt haben Schwierigkeiten, Ehemänner zu finden. Und zu allem Überfluss suchen sich die wenigen Männer, die hier leben, ihre Ehefrauen offenbar woanders.“

Charity gab sich alle Mühe, zugleich intelligent und interessiert auszusehen. „Ich verstehe, dass das eine schwierige Situation ist.“ Vom Kopf her verstand sie, dass eine wachsende Bevölkerung für das Überleben einer Stadt essenziell war. Aber ein Männermangel? Im Ernst? „Sind Sie der Sache mit dem Eingeborenenfluch nachgegangen?“, fragte sie, als ihr nichts anderes einfiel.

Marsha lachte. „Die einzigen Indianer, die in den Hügeln lebten, waren nicht die Typen für Flüche. Ich hatte folgenden Gedanken: Wenn wir die Wirtschaft ohnehin zu uns holen, was könnte es dann schaden, sich auf die Zweige mit traditionellen Männerberufen zu konzentrieren? Ingenieurswesen, Hightech, ein zweites Krankenhaus. Natürlich beschäftigen Krankenhäuser eher Frauen, aber wir würden damit viele neue Arbeitsplätze schaffen.“

Genau. Weil Charity ja auch einfach ins Internet gehen und ein Krankenhaus bestellen konnte. Sie atmete scharf ein. Sie brauchte etwas mehr Zeit, um die Informationen zu verarbeiten. Ein Männermangel? So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört. Aber sie konnte es der Bürgermeisterin auch nicht verübeln, dass sie in dem Einstellungsgespräch nichts davon gesagt hatte. Damit hätte sie sich nur die Bewerber vergrault.

„Ich möchte, dass Sie in den nächsten Tagen, während Sie die Stadt kennenlernen, in Gedanken mitzählen. Dann werden Sie selbst sehen, dass es erschreckend wenige Männer gibt. Meine größte Befürchtung ist, dass sich die Sache irgendwie herumspricht. Dass irgendein Reporter Wind davon bekommt und anfängt, über die Stadt zu schreiben.“

„Aber würde ein bisschen Aufmerksamkeit nicht helfen?“

„Diese Stadt ist für uns alle etwas ganz Besonderes. Wir haben kein Interesse daran, als Kuriosität betrachtet zu werden. Wir müssen einfach nur ein neues Gleichgewicht in die Bevölkerung bringen.“

Charity dachte an Josh Golden. Er hatte genügend Strahlkraft für drei Männer. Bürgermeisterin Marsha sollte ihn mit einer der alleinstehenden Frauen verheiraten.

„Das Dilemma hat aber auch einen Vorteil für Sie“, erklärte Marsha ihr mit einem Augenzwinkern. „Da Sie diejenige sind, die den Kontakt zu den Unternehmensbossen herstellen wird, werden Sie auch diejenige sein, die bei den Männern eine Vorauswahl trifft.“

„Ich Glückspilz“, murmelte Charity und war dankbar, dass die Kellnerin zurückkam und ihr Gespräch an dieser Stelle unterbrach. Charity hatte nicht vor, mit ihrer neuen Vorgesetzten über die Details ihres (nicht vorhandenen) Privatlebens zu sprechen. Und es gab auch keinen Grund, zu erwähnen, dass sie im Bereich „Männer“ bisher alles andere als ein gutes Händchen bewiesen hatte.

Zwar vermied sie es, die gleiche Vorliebe für viel zu attraktive Männer zu entwickeln wie ihre Mutter. Aber das garantierte noch lange kein Happy End. Bis dato war Charity gewissermaßen das Paradebeispiel für Liebeskatastrophen.

Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, kam eine gut gekleidete Frau mit lockigen Haaren an ihren Tisch. Sie war etwas größer als Charity und strahlte Stil und Sex-Appeal aus.

„Sie sind also die Neue“, sagte die junge Frau, die schätzungsweise Mitte zwanzig war, mit fröhlicher Stimme. „Hi. Ich bin Pia O’Brian, die exklusive Partyplanerin von Fool’s Gold.“

Marsha schüttelte den Kopf. „Eventkoordinatorin. Das klingt viel besser.“

„Für dich vielleicht. Mir gefällt an meinem Job gerade der Partyaspekt.“ Pia grinste Charity an. „Schön, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits.“

„Eigentlich plane ich keine Partys“, gestand Pia. „Ich organisiere das Frühlingsfestival, das Sommerfestival und die Feierlichkeiten um den vierten Juli.“

„Und das Herbstfestival?“, erkundigte sich Charity.

Pia lachte. „Ja, aber das kommt erst nach dem Sommerende-Festival und legt seinen Schwerpunkt auf Bücher. Sie sehen: Wir sind richtige Partylöwen.“

„Offensichtlich.“ Das einzige mit einem Stadtfest vergleichbare Event, an dem Charity je teilgenommen hatte, war ein Basar zu Collegezeiten gewesen. „Ich freue mich schon, bei den Veranstaltungen dabei zu sein.“

„Wenn es nur darum ginge“, erwiderte Pia dramatisch. „Sie und ich müssen unbedingt miteinander sprechen. Ich werde Sie anrufen, um einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.“

„Muss ich nervös sein?“, fragte Charity mit einem Lachen.

„Nein. Keine Sorge. Guten Appetit“, rief sie über ihre Schulter, während sie in Richtung Ausgang davonrauschte.

„Sie ist nett“, meinte Charity. Und sie war fast in ihrem Alter. Vielleicht war Pia eine potenzielle Freundin.

„Nur damit Sie vorgewarnt sind: Pia ist ziemlich vorlaut, und sie vergreift sich gerne mal im Ton.“ Marsha schüttelte den Kopf. „Ach Charity. Sie werden einfach ins kalte Wasser geworfen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“

„Ich war auf der Suche nach einer Herausforderung“, beruhigte Charity sie. Und nach einem Job, der das Gegenteil von dem war, was sie zuvor gemacht hatte. Sie hatte einen unbelasteten Neuanfang gewollt, und der Job in Fool’s Gold hatte genau das versprochen.

„Gut. Ich möchte Sie nämlich nicht schon an Ihrem zweiten Tag vergraulen. Sondern vielleicht erst an Ihrem dritten.“

Charity lachte. „Ich lasse mich nicht so leicht erschrecken. Am Wochenende werde ich mal ein bisschen herumfahren und mir die verschiedenen Wohngegenden ansehen.“

„Haben Sie vor, sich ein Haus zu kaufen?“

„Nicht sofort, aber in ein paar Monaten. Ich möchte sesshaft werden.“ Eine feste Adresse zu haben und an eine Gemeinde gebunden zu sein war schon immer ihr Traum gewesen.

„Es gibt ein paar sehr hübsche Häuser. Auch wenn Sie vielleicht ein bisschen warten sollten, wo doch bald so viele Männer in die Stadt ziehen werden. Sie haben erwähnt, dass Sie alleinstehend sind. Vielleicht begegnen Sie ja Mr. Right?“

„Mhm“, erwiderte Charity und nahm einen Schluck Kaffee. Bürgermeisterin Marsha war wirklich nett, aber nicht gerade besonders feinfühlig.

Und was das Thema „Mr. Right“ betraf – Charity suchte nicht nach dem Perfekten. Sie wollte einfach einen netten Kerl, der sie genauso liebte wie sie ihn. Ach ja, und einen Mann, der Single, ehrlich und treu war. Und das waren leider Charaktereigenschaften, die in der Datingszene nur deprimierend schwer zu finden waren – jedenfalls ihrer Erfahrung nach.

„Falls Ihnen in der Stadt irgendwer ins Auge fällt, fragen Sie mich einfach“, sagte Marsha in dem Moment, als das Essen kam. „Ich kenne hier jeden.“

Wieder rasten Charitys Gedanken zu Josh. Auf fünfzehn Arten umwerfend und auf tausend Arten verheerend, dachte sie grimmig. Vielleicht konnte sie die seltsame Reaktion ihres Körpers nicht ignorieren, die eintrat, wenn sie sich mit ihm im selben Raum aufhielt, aber sie konnte ihr Bestes tun, ihn zu ignorieren. Und das würde sie auch. Selbst in einer so kleinen Stadt wie Fool’s Gold konnte das nicht so schwierig sein.

„Du machst mich wahnsinnig. Das weißt du genau, oder?“

Josh starrte unentwegt auf seinen Monitor, ohne seine Assistentin zu beachten. Darin war er gut. Das kam von der jahrelangen Übung.

Leider war Eddie nicht die Sorte Mensch, die den Hinweis kapierte. „Ich rede mit dir, Josh.“

„Das weiß ich.“ Er löste den Blick von der E-Mail und sah seine knapp über siebzig Jahre alte Assistentin an, die mit in die Hüfte gestemmten Händen neben ihm stand.

Eddie Carberry trug ihre weißen gelockten Haare kurz. Sie legte gern ein kräftiges Make-up auf und bevorzugte Trainingsanzüge aus Velours. Sie besaß für jeden Wochentag einen. Montags war immer der violette dran.

„Die gehen mir auf die Nerven“, verkündete sie. „Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht? Ich weiß, dass du nicht mit ihnen schläfst, also geht es nicht um Sex. Und sag mir nicht, dass du einfach nur nett bist. Du weißt, wie sehr ich das hasse.“ Eddie funkelte ihn an, während sie sprach.

Er wusste, dass er ihren Wutausbruch nicht ernst nehmen musste, genauso wie er wusste, dass sie mit „die“ die drei Mädchen im Collegealter meinte, die ihr im Büro helfen sollten.

„Du hast selbst gesagt, dass du nicht mehr so viel Verantwortung tragen willst“, erwiderte er. „Du hast gesagt, du brauchst Mitarbeiter.“

Eddie verdrehte die Augen. „Ich habe auch gesagt, dass ich wie Demi Moore aussehen will, aber in dieser Richtung unternimmst du nichts. Außerdem sind das keine Mitarbeiterinnen. Sie sind blond und erfüllen jedes Klischee, das mit dieser Haarfarbe einhergeht. Das Einzige, worüber sie reden wollen, bist du.“ Sie verstellte die Stimme. „Josh sieht ja so gut aus“, fuhr sie in einem spöttischen Piepston fort. „Glaubst du, dass er mal mit mir ausgeht?“

Dann sprach sie in ihrer normalen rauen Stimme weiter. „Ich dachte, du hättest alles geklärt, als du sie eingestellt hast.“

Er zuckte zusammen. „Das habe ich auch. In allen Einzelheiten.“

„Dann wirst du es wohl noch einmal tun müssen.“

Anscheinend.

Junge Frauen hatten schon alles gebracht: von nackt und uneingeladen in seinem Bett aufzutauchen bis zu behaupten, schwanger von ihm zu sein – und das alles nur, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er verstand durchaus die Theorie, die dahintersteckte: Wenn sie zu jemandem gehörten, den die Öffentlichkeit als besonders einstufte, waren sie ebenfalls besonders. Ihnen zu sagen, dass ihre Bemühungen reine Zeitverschwendung waren, schien nicht zu fruchten. Deshalb hatte er diesen Sommer Stellen ausgeschrieben. Er hatte gedacht, die Realität des Arbeitsalltags würde ihnen helfen, den Menschen hinter dem Mythos zu sehen. Doch bislang war sein Plan nicht aufgegangen.

„Eine Handvoll Katzen wäre mir eine größere Hilfe“, grummelte Eddie. „Und du weißt, wie ich zu Katzen stehe.“

Allerdings. Sie verachtete jede Kreatur, die es wagte, Haare an einem ihrer geliebten Trainingsanzüge zu hinterlassen.

„Ich werde mit ihnen reden“, versprach er.

„Wenn du klug bist.“ Sie ließ die Arme sinken und ging um seinen Schreibtisch herum. „Der Laden in der Third Street ist vermietet.“

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, als sie sich setzte. „Gut.“ Er hatte seit knapp drei Monaten leer gestanden.

„Der Mietvertrag liegt beim Anwalt. Ich werde ihn später abholen, damit du ihn durchgehen kannst.“ Sie räusperte sich. „Es liegt eine Anfrage für ein Benefizrennen vor.“

„Sag es ab.“

„Es ist für kranke Kinder.“

„So wie meistens.“

„An diesem solltest du teilnehmen.“

Sie versuchte ihn zu provozieren. Aus irgendeinem Grund glaubte Eddie, wenn sie ihn dazu brächte, herumzubrüllen, würde er einlenken.

„Es findet in Florida statt“, fuhr sie fort. „Du könntest Disney World besuchen.“

„Ich war schon mal in Disney World.“

„Du musst hier mal raus, Josh. Wieder aufs Fahrrad. Du kannst nicht …“

„Was gibt es sonst noch?“, schnitt er ihr das Wort ab.

Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Er hielt ihrem Blick stand.

Sie blinzelte als Erste. „Na schön. Dann mach halt weiter so.“ Sie seufzte schwer, als sei ihr Leben eine einzige Qual. „Ich bekomme immerzu Anrufe wegen eines Benefiz-Golfturniers. Der Sponsor hat eine Verbindung zu unserem Skigebiet, und sie ziehen in Erwägung, das Event in unserer Stadt durchzuführen.“

Golfen ginge in Ordnung. Das war nicht sein Spezialgebiet, weshalb man von ihm weder erwartete noch verlangte, zu brillieren. Er könnte einfach charmant in die Kameras lächeln, etwas Geld sammeln und fertig.

„Ein Go fürs Golfen.“

„Wenigstens etwas“, grummelte sie. „Die Verkaufszahlen des Sportladens bekomme ich später. Die vorläufigen Zahlen sehen gut aus. Die Flyer haben auf jeden Fall ein paar Kunden angelockt. Und der Internetverkauf läuft auch. Wenn wir jetzt noch an den Fahrrädern, die wir führen, ein Bild von dir anbringen …“

Er ignorierte sie. Was hieß, dass er zur Seite schaute. In genau dem Augenblick ging eine der Blondinen vorbei und nahm an, dass er zur ihr hin anstatt von Eddie wegsah. Die junge Frau lächelte und verlangsamte den Schritt.

Verdammt.

Eddie drehte sich um und erblickte das Mädchen. „Geh wieder an die Arbeit“, sagte sie kurz angebunden. „Hier geht es nicht um dich.“

Das Mädchen zog eine Schnute, befolgte die Anweisung jedoch.

„Habe ich schon gesagt, dass sie mich wahnsinnig machen?“, fragte Eddie.

„Mehr als einmal.“

„Du brauchst eine Freundin. Wenn sie denken, dass du mit jemandem zusammen bist, werden sie sich zurückziehen.“

„Nein, werden sie nicht.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte sie zu. „Ich schwöre dir, Josh, du hast irgendwas an dir. Überall auf der Welt sehnen sich die Frauen danach, in deinem Bett zu liegen.“

Er zuckte innerlich zusammen. Er wollte diese Unterhaltung nicht mit seiner über siebzigjährigen Assistentin führen.

„Ich schätze, die gute Nachricht ist, dass du schon längst tot wärst, wenn du es so oft getan hättest, wie alle behaupten.“

„Ein erheiternder Gedanke“, erwiderte er trocken.

Eddie stand auf. „Ich komme später mit den Zahlen zurück.“

„Ich zähle schon die Minuten.“

Sie lachte bellend, als sie ging. Josh widmete sich wieder seinem Computer, aber mit den Gedanken war er noch ganz woanders. Die Mädchen in seinem Büro waren sein kleinstes Problem. Was ihn nachts wachhielt, waren nicht die jungen Frauen, die fest davon überzeugt waren, dass er die Antwort auf jedes ihrer Gebete war. Es war das Wissen, dass er ein Schwindler war und es bislang niemand bemerkt zu haben schien.

In den nächsten Tagen arbeitete Charity sich immer besser in ihren Job ein und lernte die restlichen Mitarbeiter kennen. Ihr fiel auf, dass es alles Frauen waren, bis auf Robert Anderson, den Leiter des Finanzressorts.

„Robert ist schon seit fünf Jahren bei uns“, sagte Marsha nach einem Meeting am Mittwoch und entschuldigte sich anschließend, weil sie noch ein Telefonat mit dem Landrat führen musste.

Robert war ein gut aussehender Mann Anfang dreißig. Seine dunklen Augen funkelten amüsiert, als er Charity die Hand schüttelte. „Sie wirken etwas überrascht, mich zu sehen. Liegt das daran, dass ich ein Mann bin? Hat die Bürgermeisterin Ihnen von unserem kleinen Problem erzählt?“

„Ja. Und das muss Sie doch unheimlich beliebt machen.“

Er schmunzelte und bedeutete ihr mit einer Geste, ihm in sein Büro zu folgen, wo sie sich an seinem Schreibtisch gegenübersetzten. „Ich komm damit klar.“

„Wussten Sie um Ihren Vorteil, als Sie den Job angenommen haben?“

Er lachte. „Nein, und ich habe die Lage auch während meiner Einstellungsgespräche nicht erkannt. Ich war auf den Job konzentriert und nicht auf die Umgebung. Nicht besonders aufmerksam, schätze ich. Ungefähr zwei Wochen nach meinem Umzug fiel mir auf, dass viele Frauen vorbeikamen, um mich zu begrüßen.“

Charity hatte nach wie vor Schwierigkeiten, den Männermangel zu fassen. „Dann ist an dem demografischen Problem also wirklich was dran?“

„Das haben Sie sehr feinfühlig ausgedrückt. Ja, es ist was dran. Allerdings habe ich noch nicht den Grund dafür herausgefunden – aber ich denke auch nicht besonders viel darüber nach. Die Männer bleiben nicht. Und es ziehen auch keine her. Der Statistik zufolge kommen in einer durchschnittlichen Bevölkerung mehr Jungs als Mädchen zur Welt. Das Verhältnis ist ungefähr einhundertzehn Jungen zu einhundert Mädchen. Aber es sterben auch mehr Jungen vor ihrem achtzehnten Geburtstag, und in der mittleren Altersklasse gibt es mehr Frauen als Männer. Nur hier ist alles anders. Hier sind die Frauen in jeder Altersklasse in der Überzahl.“

Charity hatte gedacht, der verkokelte Computer und der Anblick von Josh Goldens nacktem Hintern auf dem Bildschirmschoner ihrer Assistentin wären die seltsamsten Vorkommnisse der Woche gewesen.

„Ich bin sprachlos“, gab sie zu. „Und das kommt nicht oft vor.“

Robert lachte. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“

„Für Sie nicht. Sie sind nicht nur eins der wenigen kostbaren Männerexemplare, sondern Sie wurden zudem nicht angewiesen, mehr Branchen in die Stadt zu holen, die vorwiegend Männer beschäftigen.“

Sein Lachen ging in ein Zusammenzucken über. „Das hat Marsha gesagt?“

„Ja. Daran gab es nichts misszuverstehen.“ Sie blickte auf Roberts linke Hand. „Hmm, ich sehe gar keinen Ehering. Warum erfüllen Sie nicht Ihre Pflicht der Stadt gegenüber und heiraten?“

Er hob entschuldigend die Hände. „Ich hab’s versucht. Ich war verlobt. Aber als wir merkten, dass unsere Vorstellungen vom Familienleben stark voneinander abweichen, haben wir die Verlobung gelöst. Ich wollte Kinder, sie nicht. Sie ist nach Sacramento gezogen.“

„Eine Singlefrau weniger, um die wir uns Gedanken machen müssen“, murmelte Charity, während sie sich fragte, ob gleich irgendein Fernsehmoderator aus dem Schrank springen würde, um ihr mitzuteilen, dass sie einem perfekt eingefädelten Streich aufgesessen war. So ungern sie eine solche Demütigung über sich ergehen lassen würde, wäre es ihr doch sehr lieb, wenn die Bürgermeisterin sie mit dieser Männersache nur auf den Arm genommen hätte. Doch so viel Glück war ihr wohl nicht beschieden.

Im nächsten Augenblick wurde ihr klar, dass ihre Reaktion auf Roberts Schilderung mehr als unsensibel gewesen war. „Moment. Das wollte ich so nicht sagen. Tut mir leid, dass es mit Ihrer Verlobten nicht geklappt hat.“

Er zuckte die Achseln. „Es ist schon eine Weile her. Inzwischen treffe ich mich wieder mit anderen Frauen.“

„Die stehen doch sicher jubelnd an der Straße, oder?“

„Letzte Woche gab es sogar eine Parade.“

„Schade, dass ich das verpasst habe. Ich habe vor einigen Tagen Pia O’Brian kennengelernt. Scheint so, als gäbe es in Fool’s Gold eine Menge Paraden.“

„Festivals“, korrigierte er. „Genau unser Ding. Fast jeden Monat findet eines statt. Die Festivals ziehen Touristen an, und die Einheimischen scheinen den Trubel zu lieben. Leben Sie zum ersten Mal in einer Kleinstadt?“

Sie nickte. „Ich bin vor allem in großen Vororten aufgewachsen, was bei Weitem nicht dasselbe ist. Ich freue mich schon auf die Veränderung.“

„Machen Sie sich darauf gefasst, dass jeder alles von jedem weiß. Hier gibt es keine Geheimnisse. Ich bin in einem Ort wie diesem aufgewachsen. Ich möchte gar nicht in einer Großstadt leben.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. „Wir sollten mal zusammen Mittagessen gehen. Dann könnte ich Sie in die Schrullen einer Kleinstadt einweihen.“

Robert ist nett, dachte sie, als sie ihm in die dunklen Augen sah. Und intelligent. Und Humor hat er auch. „Ja, das wäre nett.“

Sie hielt inne. Sie hoffte auf ein leises Gefühl der Vorfreude – ein Zittern oder irgendeine andere körperliche Reaktion. Irgendetwas.

Nichts, dachte sie seufzend und bemühte sich, nicht an ihre erstaunliche Reaktion auf Josh Golden zu denken. Es hatte sich angefühlt, als hätte sie einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel. Oder als hätte sie zu viel Kaffee getrunken und zu wenig geschlafen. Trotzdem, Robert wäre eine wesentlich bessere Wahl.

Sie wollte sich gerade entschuldigen, als ihr ein Plastikspielzeug ins Auge fiel, das auf Roberts Schreibtisch stand. Es war eine Wackelkopffigur, deren übergroßer Kopf ihr seltsam bekannt vorkam.

„Ist das …“

„Josh Golden“, sagte Robert. „Haben Sie ihn schon kennengelernt?“

„Ähm, ja.“ Der Mann hatte seine eigenen Wackelkopffiguren?

„Was halten Sie von ihm?“ Robert sprach in einem beiläufigen Ton, aber Charity konnte sehen, wie es in seinen Augen blitzte.

„Ich hatte noch gar keine Zeit, mir eine Meinung zu bilden“, erwiderte sie und redete sich ein, dass es fast der Wahrheit entsprach. Wenn man nicht atmen konnte, funktionierten die Gehirnzellen schließlich wesentlich schlechter.

„Er ist ziemlich berühmt. Ein Radfahrer. Tour de France und so.“

„Ich bin kein großer Sportfan“, gestand sie. „Warum ist er hier und fährt nicht bei irgendwelchen Rennen mit?“

„Er hat vor einer Weile aufgehört. Die Frauen hier sind verrückt nach ihm. Man sagt, er sei ein echter Ladykiller. Wahrscheinlich werden Sie sich auch noch in ihn vergucken.“

Charity starrte Robert an. „Wie bitte?“

„Es ist unvermeidlich. Keine Frau kann ihm widerstehen.“

Wenn das mal keine Herausforderung ist, dachte sie leicht verärgert. „Es muss doch wenigstens eine geben, die ihm mal einen Korb gegeben hat.“

„Wenn dem so ist, habe ich noch nie von ihr gehört. Aber Josh geht es nur um die Jagd. Mehr nicht.“

Allmählich verlor sie den Spaß an dieser Unterhaltung. „Soll das eine Warnung sein?“

„Nein. Ich … äh …“ Er sah ihr fest in die Augen. „Ich fänd es nur schön, wenn Sie anders wären, Charity.“

Sein Blick war voller Wärme, und das fühlte sich gut an. Sie lächelte.

„Ich werde mein Bestes geben“, sagte sie. „Ich bin wirklich nicht gerade ein Groupietyp.“

„Gut.“

Sie stand auf. „Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Es war schön, Sie kennenzulernen.“

Er erhob sich ebenfalls. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“

Was für ein netter Mann, dachte sie, als sie ging. Oberflächlich betrachtet war er alles, wonach sie suchte. Natürlich hätte man die wenigen Männer, mit denen sie bisher ihr Leben geteilt hatte, mit den gleichen Worten beschreiben können. Aber sie waren allesamt Katastrophen gewesen.

Ich bin nicht nach Fool’s Gold gekommen, um mich zu verlieben, erinnerte sie sich. Sondern wegen des Jobs und um hier sesshaft zu werden. Auch wenn es wirklich schön wäre, sich in den Richtigen zu verlieben und zu heiraten. Eine eigene Familie war immer Teil ihres Traums gewesen.

Ich habe ja noch Zeit, dachte sie auf dem Weg zurück in ihr Büro. Robert verursachte bei ihr vielleicht keine Herzrhythmusstörungen, aber das konnte nur gut sein. Sie hatte ihre Lektion schon mehr als einmal gelernt. Wenn es um ihr Privatleben ging, würde sie extrem vernünftig sein. Vernünftig und besonnen. Alles andere würde ihr nur wieder um die Ohren fliegen – das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Die restliche Woche verlief relativ ruhig. Charity traf noch mehr Mitglieder des Stadtrats – alles Frauen – und machte sich mit den laufenden Entwicklungsprojekten vertraut. Sheryl ging fast jeden Tag um halb fünf, aber Charity arbeitete länger. Am Donnerstag blieb sie bis kurz vor sieben – bis ihr Magen so laut knurrte, dass sie sich nicht länger konzentrieren konnte. Sie sah aus dem Fenster und stellte überrascht fest, dass es dunkel war.

Nachdem sie ihren nagelneuen Computer heruntergefahren hatte, nahm sie ihre Handtasche und eine Aktentasche mit Unterlagen, die sie nach dem Abendessen noch durchgehen wollte, und ging.

In dem Gebäude war es unheimlich still. Schnell ging sie hinaus auf die Straße, wo sie von einer kühlen Brise empfangen wurde, die in ihr den Wunsch nach einem dickeren Mantel weckte. Der kälteste Wintertag in Henderson, einem Vorort von Las Vegas, war wärmer gewesen als dieser Frühlingsabend in den Ausläufern der Sierra Nevada.

Zum Glück lag das Hotel nur wenige Blocks entfernt. Charity ging eilig den Gehweg entlang. Als sie die Ecke erreicht hatte, sah sie einen alten Mann, der die Stufen des Buchladens wischte, den sie in der Mittagspause besucht hatte. Er nickte ihr zu und hielt dann inne.

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