Süße Rache auf Italienisch (Julia 2432)
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Lara Templeton war froh, dass der schwarze Schleier ihre Augen vor neugierigen Blicken verbarg. Die Leute, die um das offene Grab herumstanden, mochten zu Recht vermuten, dass sie nicht wirklich um ihren Ehemann trauerte, den gar nicht Ehrenwerten Henry Winterborne, der ihr in diesem Moment keine Träne wert war. Doch sie würde sich hüten, ihnen den Beweis für die Richtigkeit ihrer Vermutung auf dem Silbertablett zu liefern. Den Triumph gönnte sie ihnen nicht.
Also hielt sie sich vornehm bedeckt, das Gesicht mit einem Schleier verhüllt und von Kopf bis Fuß in tristes Schwarz gekleidet. Ganz wie es sich für eine trauernde Witwe gehörte.
Eine trauernde Witwe, der ihr verstorbener Gatte nichts, aber auch gar nichts hinterlassen hatte. Und die während der letzten drei Monate kaum mehr als eine amtlich besiegelte Sklavin gewesen war. Ein Detail, auf das sich die sensationslüsterne Meute mit Freudengeheul stürzen würde, käme es jemals ans Licht der Öffentlichkeit.
Ihr Ehemann hatte sie nicht ohne Grund leer ausgehen lassen. Doch sie hätte sein Geld ohnehin nicht gewollt. Was immer auch die Leute von ihr dachten, sie hatte Henry Winterborne nicht seines Vermögens wegen geheiratet. Er hatte ihr nichts vererbt, weil er von ihr nicht das bekommen hatte, was er wollte. Sie. Es war ihre Schuld, dass er sich verletzt hatte und im Rollstuhl geendet war.
Nein, es war nicht ihre Schuld! Wenn er nicht versucht hätte …
Sie verdrängte die aufwühlenden Gedanken, als sie merkte, dass die Menge sie erwartungsvoll ansah. Der Pfarrer hüstelte diskret.
Obwohl es das Letzte war, was sie tun wollte, griff Lara nach der bereitliegenden kleinen Schaufel und warf eine Handvoll Erde auf den Sarg. Sie kam sich vor wie eine Betrügerin, als die Erde mit einem dumpfen Geräusch auf dem Sargdeckel landete. Einen irrsinnigen Moment lang glaubte sie, ihr verstorbener Ehemann würde die Hand aus dem Grab nach ihr ausstrecken und sie zu sich hinunterziehen. Sie taumelte, ihr Fuß trat ins Leere …
Ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Der Pfarrer packte Lara am Arm und hielt sie fest.
Unglaublich, dachte der Mann, der die Szene aus einiger Entfernung beobachtete, lässig an einen Baum gelehnt, die Arme vor der breiten Brust gekreuzt. Er ließ die trauernde Witwe keine Sekunde aus den Augen, während sie nicht ein einziges Mal zu ihm hinübersah. Kein Wunder, war sie doch vollauf damit beschäftigt, ihre Schau abzuziehen und sich praktisch ins offene Grab zu werfen.
Der Mann presste die Lippen zusammen. Eins musste er ihr lassen: Sie spielte ihre Rolle wirklich gut. Herzzerreißend, wie sie da stand in ihrem eng anliegenden schwarzen Kleid, das sich an ihren gertenschlanken Körper schmiegte, das leuchtend blonde Haar zu einem Knoten im Nacken geschlungen und einen kleinen runden Hut auf dem Kopf, dessen Schleier ihr Gesicht verhüllte.
Oh, er zweifelte nicht daran, dass sie ernsthaft trauerte. Allerdings nicht um ihren Ehemann, sondern um das Vermögen, das ihr durch die Lappen ging.
Der Mann verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Lara Winterborne, geborene Templeton, hatte es nicht besser verdient.
Lara verspürte ein Prickeln im Nacken. Ein heißes, alarmierendes Prickeln, wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Sie blickte auf und bemerkte zu ihrer Erleichterung, dass die Trauergemeinde sich leise murmelnd zu zerstreuen begann. Es war überstanden.
Eine Bewegung am Rand ihres Blickfelds zog jedoch plötzlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah einen großen, breitschultrigen Mann in einer Art Uniform und mit einer Kappe auf dem Kopf, der zügig auf die parkenden Autos zuging. Ein Fahrer, so wie es aussah.
Doch etwas an ihm, an seiner Größe, seiner Statur, machte sie stutzig. Die Art, wie er kraftvoll und doch geschmeidig ausschritt, erinnerte sie an … Nein, unmöglich!
Abgelenkt von dem allgemeinen Getuschel um sie her, verlor sie den Mann aus den Augen. Obwohl sie versuchte, nicht hinzuhören, schnappte sie doch den einen oder anderen Satz auf.
„Ist es wahr, sie kriegt gar nichts?“
„Er hätte sie niemals heiraten dürfen.“
„Sie hat ihn nur benutzt, um ihren guten Ruf zu retten, nachdem sie um ein Haar diesen verrufenen Playboy geheiratet hätte.“
Diese letzte Bemerkung traf Lara an ihrem wundesten Punkt, aber sie hatte im Lauf der Jahre gelernt, gehässige Kommentare zu ignorieren. Egal, was die Leute sagten, sie war froh, dass sie keinen Penny vom winterborneschen Vermögen geerbt hatte.
Wäre sie nicht durch eine abscheuliche Intrige ihres Onkels dazu gezwungen gewesen, hätte sie Henry Winterborne niemals im Leben geheiratet. Sie war nicht kaltherzig genug, um nicht ein gewisses Bedauern über seinen Tod zu empfinden, aber ihr vorherrschendes Gefühl war Leere. Erschöpfung. Scham über die unglückseligen Umstände, in die sie verwickelt war.
Etwas ganz anderes schmerzte sie wirklich. Etwas, das ihr vor langer Zeit genommen worden war, noch ehe es richtig begonnen hatte. Dabei ging es um einen Mann, den sie geliebt hatte wie keinen anderen. Der ihretwegen furchtbar gelitten hatte und fast gestorben wäre. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als zu tun, was sie tun musste, um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Sie schluckte, wandte sich vom Grab ab und ging langsam auf den Parkplatz zu, auf dem nur noch wenige Autos standen. Nicht sie hatte dieses pompöse Begräbnis arrangiert. Das konnte sie sich gar nicht leisten. In dem Luxusapartment, das sie zusammen mit ihrem Ehemann bewohnt hatte, wartete man vermutlich schon mit ihrem Gepäck auf sie, um sie hinauszubegleiten. Ihr Gatte hatte den schönen Schein aufrechterhalten wollen, bis er unter der Erde lag, aber nun war die Schonzeit vorbei. Von nun an war sie auf sich allein gestellt.
Sie verdrängte die aufsteigende Panik. Mit der Frage, was sie tun und wohin sie gehen sollte, konnte sie sich immer noch beschäftigen, wenn es so weit war.
Also in ungefähr einer halben Stunde.
Einer der Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts hielt ihr die Wagentür auf. Sie sah den Chauffeur nur von hinten, doch bei seinem Anblick überkam sie erneut dieses seltsame prickelnde Gefühl. Was natürlich albern war. Wahrscheinlich spukte er ihr nur deshalb im Kopf herum, weil sie nun von der Bürde befreit war, die ihr Onkel ihr auferlegt hatte. Doch in diese Richtung durfte sie gar nicht erst weiterdenken.
„Danke schön!“, murmelte sie und ließ sich auf die gepolsterte Rückbank der Luxuslimousine sinken. Das war der letzte Rest von Dekadenz, den sie sich noch erlauben konnte. Nicht, dass ihr das etwas ausmachte. Sie hatte schon vor langer Zeit auf die harte Tour lernen müssen, wie wenig materielle Dinge noch zählten, wenn man das Liebste verlor, das man auf der Welt hatte: Als ihre Eltern und ihr großer Bruder durch einen tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren.
Allerdings war die Lektion offenbar nicht nachhaltig genug gewesen, denn sie hatte sich trotzdem verliebt. In ihn.
Nein, sie wollte nicht mehr an ihn denken! Auch wenn der Chauffeur mit den breiten Schultern sie wirklich sehr an ihn erinnerte. Ein Teil seines Gesichts war im Rückspiegel zu sehen, wenn auch halb verborgen unter einer tief in die Stirn gezogenen Schirmmütze und einer dunkler Sonnenbrille. Alles, was Lara erkennen konnte, war die schmale, gerade Nase, der entschlossen wirkende Mund und das markante Kinn.
Ihr Herz schlug schneller. Ihr Verstand sagte, es kann nicht sein, und doch …
Der Mann schien ihren prüfenden Blick zu spüren und ließ die Trennscheibe hochfahren.
Lara fühlte sich ausgesperrt. Gekränkt. Was natürlich lächerlich war. Der Mann war der Chauffeur, sie der Fahrgast. Wahrscheinlich wollte er nur rücksichtsvoll sein.
Doch das beunruhigende Gefühl blieb.
Und es verstärkte sich noch, als ihr auffiel, dass sie zwar in Richtung Kensington fuhren, aber in die falsche Straße einbogen. Sie kannte die von großen, vornehmen Villen gesäumte Allee. Sie war sie in den letzten zwei Jahren oft genug entlanggegangen, wenn es ihr wieder einmal gelungen war, der bedrückenden Enge ihrer Wohnung zu entfliehen.
Als der Wagen vor einer der exklusiven Stadtvillen anhielt, beugte sie sich vor und klopfte an die Trennscheibe. Nichts geschah. Sie klopfte erneut, und die Scheibe fuhr herunter.
Der Fahrer blickte stur geradeaus, eine Hand am Lenkrad.
„Entschuldigung, aber Sie haben sich in der Adresse geirrt“, sagte Lara nervös. „Ich wohne gleich um die Ecke, in der Marley Street.“
Sie sah, wie der Mann die Lippen zusammenpresste. „Irrtum, cara. Wir sind hier richtig.“
Diese Stimme. Seine Stimme!
Lara stockte der Atem. Im selben Moment zog der Mann die Mütze vom Kopf, nahm die Sonnenbrille ab und drehte sich zu ihr um.
Sekundenlang saß sie vor Schreck gelähmt nur da. Seine Worte von vor zwei Jahren schossen ihr durch den Kopf: Das wirst du für den Rest deines Lebens bereuen, Lara. Du gehörst zu mir.
Nun war er hier, um sich an ihrem Unglück zu weiden.
Ciro Sant’Angelo.
Sie erinnerte sich nicht gern daran, was sie damals erwidert hatte: „Ich werde gar nichts bereuen.“ Tatsächlich war seitdem keine einzige Sekunde vergangen, in der sie es nicht bereut hätte. Doch sie war damals völlig verzweifelt gewesen. Ciro war misshandelt, beinahe getötet worden. Und das nur, weil sie es gewagt hatte, ihn zu treffen und sich in ihn zu verlieben. Damit hatte sie allerdings ohne ihr Wissen die Pläne ihres Onkels durchkreuzt, der etwas ganz anderes mit ihr vorgehabt hatte.
Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie immer davon geträumt hatte, dass Ciro eines Tages kommen würde, um sie zu holen. Dennoch traf sie das Wiedersehen mit ihm völlig unvorbereitet. Er verwirrte sie. So, wie er sie immer verwirrt hatte.
Angst machte sich in ihr breit. Sie wollte aussteigen, musste aber feststellen, dass die Wagentüren verriegelt waren. „Lass mich raus, Ciro. Das ist doch verrückt!“
Er rührte sich nicht, meinte nur zynisch lächelnd: „Sollte ich mich geschmeichelt fühlen, weil du dich noch an mich erinnerst, Lara?“
Fast hätte sie laut aufgelacht. Einen Mann wie Ciro Sant’Angelo vergaß man nicht so leicht. Groß, breitschultrig und durchtrainiert, wie er war, strahlte er schon rein äußerlich eine natürliche Autorität aus. Mit seinem markanten Profil, den tief liegenden dunklen Augen und dem festen, aber sinnlichen Mund war er darüber hinaus äußerst attraktiv, wobei seinen Zügen allerdings jede Weichheit fehlte.
Man hätte ihn als ein Bild von einem Mann bezeichnen können, wäre da nicht die helle, gezackte Narbe gewesen, die sich von seinem rechten Auge bis hinunter zum Kinn zog. Die Erkenntnis, dass er sie ihr zu verdanken hatte, erfüllte Lara mit stummem Entsetzen.
Ciro drehte ihr demonstrativ die rechte Gesichtshälfte zu, ein kaltes Glitzern in den Augen. „Na, findest du das abstoßend?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. Die Spuren der Verletzung konnten seiner Attraktivität nichts anhaben, verliehen ihm nur zusätzlich etwas Raues, Gefährliches.
„Ciro …“, begann sie mit schwacher Stimme, als sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, „was willst du von mir?“
Ich will das, was mir zusteht.
Die Worte hallten unablässig in Ciros Kopf wider, in seinem ganzen Körper. Brodelnde Hitze stieg in ihm auf.
Lara Templeton – Winterborne – war hier, direkt vor ihm, in Reichweite. Nach zwei langen Jahren, in denen er vergeblich versucht hatte, ihr hübsches, scheinheiliges Gesicht aus seiner Erinnerung zu verbannen.
Er wollte es sehen, dieses Gesicht. „Nimm den Hut ab.“
Er sah ihre blauen Augen hinter dem Schleier zornig aufblitzen, konnte die zarte Kontur ihrer Wangen erahnen, ihr kleines, rundes Kinn, ihren schönen, verführerischen Mund, den er vom ersten Tag an hatte küssen wollen und der ihn daran erinnerte, dass hinter der Fassade der kühlen, eleganten Blondine ein feuriges Temperament lauerte.
Sie presste kurz die Lippen zusammen, nahm dann mit zittriger Hand – wie rührend! – ihren Hut mit dem Schleier ab.
Obwohl Ciro sich innerlich gewappnet hatte, war er doch überwältigt von ihrem Anblick. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, war immer noch wunderschön: anmutig geschwungene Augenbrauen, große blaue Augen, umrahmt von langen dunklen Wimpern, hohe Wangenknochen und eine schmale, gerade Nase. Und erst ihr Mund, so prall und verlockend wie eine Rosenknospe. Dazu dieser unschuldige Blick …
Damals war er darauf hereingefallen, und es hatte ihn fast das Leben gekostet.
„Wir reden drinnen weiter“, erklärte er kurz angebunden.
Bevor Lara fragen konnte, was er damit meinte, sprang er schon aus dem Wagen und ging zielstrebig auf ein beeindruckend prächtiges Haus zu. Ein livrierter Bediensteter, vermutlich der echte Chauffeur, öffnete ihr den Schlag. Beim Aussteigen wurde sie von drei einschüchternd kräftigen Männern in Anzügen und mit Knopf im Ohr in Empfang genommen.
Wachleute, natürlich. Ciro war nie sonderlich besorgt um seine Sicherheit gewesen, doch das hatte sich seit der Entführung offenbar geändert.
Die Entführung.
Lara überlief es eiskalt. Ciro und sie waren vor zwei Jahren gemeinsam entführt worden. Während sie selbst innerhalb weniger Stunden wieder freigekommen war, ausgesetzt auf einer Landstraße außerhalb von Florenz, war er gefangen gehalten und schwer verletzt worden. Es war furchtbar, was ihnen passiert war. Und alles ihretwegen.
Zögernd verharrte sie am Fuß der Treppe, doch einer der Wachmänner ermahnte sie höflich, aber nachdrücklich: „Mr. Sant’Angelo erwartet Sie.“
In der großen, schwarz-weiß gefliesten Diele wurde sie von einer freundlich lächelnden Frau mittleren Alters begrüßt. „Willkommen, Ms. Templeton. Mr. Sant’Angelo erwartet Sie im Salon. Darf ich Ihnen Ihre Sachen abnehmen?“
Wie benommen überließ Lara der Haushälterin ihren Hut und die Handtasche. Dass die Frau sie bei ihrem Mädchennamen nannte, registrierte sie kaum. Statt eines Mantels trug sie nur eine leichte Stola über ihrem engen schwarzen Kleid, und die behielt sie lieber um, als sie die Höhle des Löwen betrat.
Ciro stand mit dem Rücken zu ihr am anderen Ende des Raums vor einer Anrichte und schenkte sich einen Drink ein. Laras Anspannung wuchs.
Durch die hohen Fenster des großzügigen, in dezenten Farben gehaltenen Salons war der Londoner Großstadtverkehr nur noch als leises Rauschen zu hören. An den Wänden hingen großformatige Kunstwerke, abstrakte Gemälde junger Künstler. Sie erinnerten Lara an einen Galeriebesuch in Florenz, zu dem Ciro sie eingeladen hatte. Außerhalb der Öffnungszeiten, wohlgemerkt.
Damals hatte sie ihn erst seit wenigen Tagen gekannt und nur schlecht verbergen können, wie überrascht sie über die Wahl des Treffpunkts war. Er hatte es ihr wohl angesehen, denn er hatte teils spöttisch, teils amüsiert gefragt: „Traust du einem groben sizilianischen Klotz wie mir etwa keinen Kunstverstand zu?“
Sie hatte sich ertappt gefühlt. Tatsächlich hatte sie bei einem italienischen Alphamann wie ihm einen eher konservativen Geschmack erwartet.
Schüchtern, wie sie war, und weil sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was um alles in der Welt er an einer blassen englischen Kunststudentin fand, hatte sie erwidert: „Du bist kein grober Klotz, Ciro. Ganz im Gegenteil.“
Und das stimmte. Er besaß die elegante Geschmeidigkeit eines Panthers, gewürzt mit einer Prise heißblütiger Sinnlichkeit.
Lara wusste noch, was sie damals in der feierlichen Stille der Ausstellungsräume gedacht hatte, dass es völlig unmöglich war, sich nicht in ihn zu verlieben. In diesen gut aussehenden Mann, der extra für sie eine ganze Galerie reservierte und in dessen Gegenwart sie sich so prickelnd lebendig fühlte wie nie zuvor.
Dabei hatten sie sich noch nicht einmal geküsst!
Ciros Stimme riss sie jetzt aus ihren Erinnerungen. „Wie wär’s mit einem Brandy, Lara, um deinen Kummer hinunterzuspülen?“
Ihre Nerven lagen blank. Ciro hatte sich umgedreht und sah sie an. Er hatte sein Jackett abgelegt und die oberen Hemdknöpfe geöffnet, sodass sein gebräunter Hals zu sehen war.
Lara schluckte trocken. Sie wusste, wie sich seine Haut unter ihren Lippen anfühlte, wie er roch und wie er schmeckte … Halt, das war verbotenes Terrain!
Seine Frage ignorierend, erkundigte sie sich: „Wie lange wohnst du schon hier?“ Hatte er etwa die ganze Zeit über hier gelebt, während sie nur einen Häuserblock entfernt ihr elendes Dasein fristete?
„Ich habe das Haus vor ein paar Monaten gekauft und es umfangreich renovieren lassen. Es ist gerade erst bezugsfertig geworden.“
Obwohl es eigentlich keine Rolle mehr spielte, atmete sie erleichtert auf. Sie wusste, sie hätte es nicht ertragen, mit Winterborne verheiratet zu sein, wenn sie gewusst hätte, dass Ciro gleich um die Ecke wohnte. Allein die Vorstellung, ihn mit einer anderen Frau aus dem Haus kommen zu sehen, verursachte ihr Magenkrämpfe. Warum auch immer. Sie hatte kein Recht auf diesen Mann, damals so wenig wie heute. Sie hatte sich etwas vorgemacht, sich in Fantasien verrannt.
„Ich habe keine Zeit für dieses Spielchen, Ciro“, erklärte sie gereizt. „Was immer du auch damit bezweckst. Ich werde zu Hause erwartet.“
Um mich auf die Straße setzen zu lassen. Angst kroch in ihr hoch.
Ciro schwenkte sein Glas und leerte es in einem Zug. „Genau das ist der Punkt, Lara. Du hast kein Zuhause mehr.“
Sie spürte, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Woher wusste er …?
„Du fragst dich, woher ich das weiß? Nun, die Trauergäste waren ziemlich geschwätzig, aber ich habe auch darüber hinaus gute Kontakte. Mir ist bekannt, dass Winterborne seinen gesamten Besitz einer entfernten Verwandten hinterlassen hat und du die Wohnung umgehend räumen musst. Deinen Treuhandfonds hast du ja offenbar schon verprasst. Arme, mittellose Lara! Du hättest bei mir bleiben sollen. Ich bin drei Mal so reich wie dein toter Ehemann, und du hättest dein Bett nicht zwei Jahre lang mit einem alten Knacker teilen müssen.“
Bei dem Ausdruck alter Knacker zuckte Lara zusammen. Ciro hatte sich sehr wohl dafür interessiert, wie sie die letzten zwei Jahre verbracht hatte. Und er wusste von ihrem leer geräumten Konto. Sie schauderte. Von dem Erbe, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten, hatte sie nie etwas gesehen.
„Es ging nicht ums Geld“, sagte sie leise.
Er musterte sie kalt. „Nein, natürlich nicht. Es ging um Klassendünkel.“
Falsch. Es ging um Erpressung und Nötigung.
Und auch um Klassendünkel, da hatte er recht. Doch nicht für sie. Klassenunterschiede interessierten sie nicht, das aber würde Ciro ihr niemals glauben. Nicht, nachdem sie alles getan hatte, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
Der Mann, der hier vor ihr stand und sie durchdringend ansah, kam ihr vor wie ein Fremder. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie geglaubt, ihn in- und auswendig zu kennen. Von dieser romantischen Vorstellung hatte er sie vor zwei Jahren gründlich kuriert. Und doch verursachte er ihr immer noch Herzklopfen. Ihr Körper erkannte ihn wieder.
Etwas an der Art, wie er das Glas hielt, irritierte sie. Sie sah genauer hin und erschrak. Ihm fehlte der kleine Finger der rechten Hand.
„Kein schöner Anblick, oder?“, fragte er sarkastisch.
Sie sah ihn noch vor sich, wie er damals im Krankenbett lag, den Kopf und das halbe Gesicht in dicke Verbände gehüllt, die Arme eingegipst. Mehr hatte sie in der Aufregung nicht wahrgenommen.
„Waren das die Entführer?“, flüsterte sie entsetzt.
Er nickte. „Kleiner Zeitvertreib, als ihnen das Warten auf weitere Anweisungen zu langweilig wurde.“
Es machte ihr Angst, wie viel härter er geworden war. „Warum bin ich hier, Ciro?“
„Weil du mich betrogen hast.“ Er stellte sein Glas langsam zurück auf das Tablett, drehte sich wieder zu ihr um und sah ihr ungerührt in die Augen. „Ich will meine Schulden eintreiben.“
„Ich schulde dir nichts.“ Lügnerin, flüsterte eine innere Stimme.
„Doch, das tust du. Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich am nötigsten brauchte. Du hast mich den Medien zum Fraß vorgeworfen und zugelassen, dass sie sich wie die Hyänen auf die alten Geschichten über die Verbindung meiner Familie zur Mafia stürzten. Und du hast mich um meine Braut betrogen.“
Die Erinnerung an die abscheulichen Verdächtigungen, die nach der Entführung und ihrer kurz darauf erfolgten Verlobung mit Henry Winterborne die Runde machten, rief auch in ihr kalten Zorn hervor. Und Zorn war immer noch besser als Schuldgefühle.
„Du wolltest mich doch nur heiraten, um in die höheren Kreise aufzusteigen, zu denen Leute wie du keinen Zutritt haben.“
Ciro hatte sie nicht geliebt. Es hatte ihn gereizt, sie zu erobern, aber in erster Linie war es ihm darum gegangen, von ihren Beziehungen und ihrem guten Namen zu profitieren. Im Nachhinein war ihr klar, wie erfrischend naiv sie auf ihn, den gelangweilten Frauenheld, gewirkt haben musste. Sie war so vertrauensselig gewesen. So verliebt.
Die Ehe mit ihm hätte ohnehin nicht lange gehalten, davon war sie überzeugt. Spätestens wenn Ciro ihrer überdrüssig geworden wäre und sie ihren Zweck als Eintrittskarte in die High Society erfüllt hätte, hätte er sich wieder von ihr scheiden lassen.
Er nahm ihr übel, dass sie ihm damals einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte, und wollte sich an ihr rächen.
Voller Verzweiflung überlegte sie, ob sie ihm nicht erzählen sollte, was wirklich passiert war und wie grausam ihr Onkel sie manipuliert hatte. Doch sie zögerte, als ihr einfiel, was Ciro damals bei der Trennung zu ihr gesagt hatte: „Bilde dir nur ja nicht ein, dass ich mehr für dich empfunden hätte als du für mich. Ich wollte dich, das stimmt, aber das ging nicht über sexuelles Verlangen hinaus. Viel wichtiger war mir das gesellschaftliche Ansehen, das mir eine Heirat mit dir verschafft hätte.“
„Du hast mir dein Jawort gegeben“, sagte er, während sie noch ihren Gedanken nachhing, „und das fordere ich jetzt ein. Ich brauche eine Ehefrau. Warum sollte ich mich mit lästigem Gefühlskram herumschlagen, wenn ich auch dich heiraten kann?“
Seine Worte ließen sie frösteln. „Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.“
„Ach, wirklich? Es gibt schlechtere Gründe, um zu heiraten, wie wir alle wissen.“
Sie schwieg, hin- und hergerissen zwischen ihrer Wut, weil er hier unverhofft auftauchte und ihr den Boden unter den Füßen wegzog, und dem dringenden Bedürfnis, die Dinge richtigzustellen. Doch diese Chance hatte sie vor langer Zeit vertan. Damals, als sie ihm damals kühl erklärt hatte, dass sie nie die Absicht gehabt habe, ihn zu heiraten, und sie längst an einen Mann vergeben sei, der weitaus standesgemäßer sei als er.
Sie hatte behauptet, dass sie nur aus Spaß auf seinen spontanen Heiratsantrag eingegangen sei und es amüsant gefunden habe, zu sehen, wie er sich für sie abgestrampelt habe. Für eine Frau, die er nie im Leben haben konnte. Und dass all ihre zärtlich geflüsterten Liebeserklärungen nur leere Worte gewesen seien.
Nie würde sie den Ausdruck glühenden Hasses in seinen Augen vergessen, nachdem sie ihre kleine Rede beendet hatte. In diesem Moment war ihr klar geworden, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hatte. Sie war äußerst froh gewesen, sich hinter ihrer Rolle verstecken zu können, denn immerhin hatte sie nun gewusst, woran sie mit ihm war.
Er ist deinetwegen fast gestorben!
Der Gedanke rüttelte sie auf, und plötzlich fühlte sie sich nur noch elend. Eine so grausame Strafe hatte Ciro nicht verdient, selbst wenn er sie nicht geliebt hatte. Auch ihre Lügerei hatte er nicht verdient. Schließlich hatte er versucht, sie vor den Kidnappern zu beschützen. Er war bereit gewesen, sein Leben für sie zu geben! Völlig umsonst, wie sich später herausgestellt hatte, denn sie war nie ernsthaft in Gefahr gewesen. Was sie ihm allerdings nie erzählt hatte.
Wie sehr würde er sie erst hassen, wenn er es eines Tages herausfand?
Schon jetzt konnte sie es kaum ertragen, in seinen Augen so schlecht dazustehen. Dabei war sie selbst dafür verantwortlich, weil sie ihm etwas vorgespielt hatte. Ihn jetzt wiederzusehen riss die alten Wunden wieder auf, die noch längst nicht verheilt waren.