The Master Vintners - Eine Winzerfamilie zwischen Geheimissen und Leidenschaft (6-teilige Serie)

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Erleben Sie in dieser sechsteiligen Serie, wie eine Winzerfamilie aus Australien sich ihren Geheimnissen stellt und aus Skandalen Leidenschaft erwächst.

SO SINNLICH WIE DEIN KUSS

Was für ein Kusss! Wie flüssiges Feuer rinnt er durch Annas Körper und macht sie schwach. Dabei ist Judd Wilsons Sexappeal das Schlimmste, was ihr passieren konnte. Denn Judds Vater ist ihr Boss. In seinem Auftrag ist sie nach Australien geflogen, um Judd zu überzeugen, nach Hause zurückzukehren und endlich das Millionenunternehmen zu leiten. Dumm nur, dass Judd seinen Vater hasst und jede Gelegenheit nutzen will, um sein Imperium zu vernichten. Ist seine Leidenschaft womöglich nur vorgetäuscht und die zärtliche Verführung Teil seines Racheplans?

LIEBESLIST UND LEIDENSCHAFT

So eine Gemeinheit! Von klein auf hat Nicole sich für das Weingut ihres Vaters aufgeopfert, und trotzdem soll nun ihr Bruder Wilson Wines übernehmen. In einem
Nachtclub will sie ihren Frust vergessen - und der Flirt mit einem sexy Fremden kommt ihr dabei gerade recht. Nates Küsse sind berauschend, und Nicole erkennt sich
selbst kaum wieder, als sie ihn für ein wildes Wochenende in seine Villa begleitet. Sie dreht mit ihm sogar ein heißes Video! Leider stellt sich am Montag heraus: Nate
ist der Sohn vom Erzrivalen ihres Vaters - und er hat eine erotische Erpressung im Sinn …

DIESE NACHT IST UNSER GEHEIMNIS

Manchmal ist auch der stärkste Mann ganz schwach: In einer solchen Nacht sucht Ethan in den verlockenden Armen einer Fremden Trost. Und dann öffnet er ihr auch noch sein Herz und beichtet ihr das große Familiengeheimnis. Wie gut, dass er diese Frau nie wiedersieht. Ein Riesenirrtum! Denn am nächsten Tag lernt er die junge Fotografin Isobel Fyfe kennen, die auf seinem Weingut PR-Fotos machen soll - es ist die Geliebte der letzten Nacht! Plötzlich hat Ethan nichts mehr unter Kontrolle: weder, wem Isobel sein Geheimnis verrät - noch sein unbezähmbares Verlangen nach ihr …

HEIßES DINNER MIT DEM MILLIONÄR

"Mehr?" Finn betrachtet die bezaubernde Tamlyn gebannt. Ihre Lippen hatten seine Finger zart berührt, als sie einen Leckerbissen kostete - und heiße Wellen durch seinen Körper gejagt. Ganz klar: Dieses Dinner konnte ihn in Teufels Küche bringen! Denn Tamlyn ist den weiten Weg nach Neuseeland gekommen, um ihre totgeglaubte Mutter zu finden - und der Selfmade-Millionär ist derjenige, der deren Spuren heimlich verwischt. Wird Tamlyn ihm verzeihen, wenn sie die Wahrheit erfährt? Für eine Nacht will Finn die quälenden Fragen fortschieben, denn die Schöne flüstert: "Mehr …"

VERBOTENES VERLANGEN NACH DEM MILLIARDÄR

Leidenschaft auf den ersten Blick: Lichterloh brennt die schöne Alexis für Raoul Benoit. Aber sie muss von dem attraktiven Milliardär die Finger lassen, denn Raoul hat Alexis als Nanny für seine kleine Tochter eingestellt und ist ihr Boss. Jeden Tag ist sie in Raouls Nähe, teilt sein elegantes Anwesen in den Weinbergen, sieht ihn morgens sexy zerstrubbelt aus dem Schlafzimmer kommen - und verzweifelt fast! Denn heißer denn je glüht ihre Sehnsucht nach dem Mann, der sie völlig ignoriert und der nur eine zu lieben scheint: seine verstorbene Frau …

BERAUSCHT VON DEINEN WILDEN KÜSSEN

Ein Blick in Shanals grüne Augen genügt, um Raif Masters vor Verlangen erbeben zu lassen. Sofort ist ihm klar: die oder keine! Nie zuvor hat er eine Frau getroffen, die eine derart brennende Sehnsucht in ihm weckt. Die dunkelhaarige Schönheit ist die pure Versuchung! Und als sie gemeinsam auf einem Hausboot übernachten, hat Raif den leidenschaftlichsten Sex seines Lebens! Noch immer berauscht von Shanals betörenden Küssen, erkennt Raif, dass er sein Herz an sie verloren hat. Doch dann erreicht ihn eine schockierende Nachricht: Shanal will heiraten - seinen Erzfeind!


  • Erscheinungstag 25.10.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738143
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Yvonne Lindsay

The Master Vintners - Eine Winzerfamilie zwischen Geheimissen und Leidenschaft (6-teilige Serie)

YVONNE LINDSAY

So sinnlich wie dein Kuss

IMPRESSUM

BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2012 by Dolce Vita Trust
Originaltitel: The Wayward Son
erschienen bei: Harlequin Books, Toronto
in der Reihe: DESIRE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 1747 - 2012 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Sabine Bauer

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-95446-171-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY, STURM DER LIEBE

 

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1. KAPITEL

Gebannt von so viel Schönheit hielt Anna den Atem an. Die farbenprächtige herbstliche Landschaft der Adelaide Hills in Südaustralien lag im warmen Sonnenschein, und vor ihr in der Ferne sah sie einen Mann Holz hacken. Einen umwerfend gut aussehenden Mann mit nacktem Oberkörper, der ihre Aufmerksamkeit magisch auf sich zog.

Anna traf sich privat nur selten mit Männern, denn ihr voller Terminkalender ließ ihr nur wenig Spielraum, um sich zu verabreden.

Wie hypnotisiert schritt sie auf den Fremden zu. Sie spürte ein Prickeln und bekam eine Gänsehaut, die nichts mit dem frischen Wind zu tun hatte, der aufgekommen war.

Dann erkannte sie blitzartig, wen sie vor sich hatte: Judd Wilson!

Nur seinetwegen war sie hier.

Obwohl sie ihm nie begegnet war, musste er einfach der Sohn von Charles Wilson sein: Groß, dunkelhaarig und braun gebrannt, verkörperte er das Urbild eines Mannes, von dem Frauen träumten. Die scharf geschnittenen Gesichtszüge glichen unverkennbar denen seines Vaters. Vermutlich waren auch die Augen genauso strahlend blau …

Anna wunderte sich, dass Judd sie so aus dem Konzept brachte, denn damit hatte sie nicht im Entferntesten gerechnet. Schließlich war er der Sohn des Mannes, für den sie nicht nur arbeitete, sondern der sie von klein auf fast wie sein eigenes Kind behandelt hatte.

Sie zwang sich, ihre Gefühle zu verdrängen, die offenbar verrücktspielten. Immerhin war sie geschäftlich hier. Sie hatte Charles ein Versprechen gegeben, und das würde sie halten.

Ihre Anweisungen waren schmerzlich klar. Irgendwie musste sie Judd Wilson überreden, nach Hause zu kommen, nach Neuseeland. Bevor sein Vater starb, den er über zwei Jahrzehnte lang nicht gesehen hatte.

Zögernd ging sie den Weg weiter, der zwischen schier endlosen Reihen von Weinstöcken hindurchführte. Aber sie hatte nur Augen für den halb nackten Mann, der nicht ahnte, was ihm bevorstand … Schließlich blieb sie stehen. Mittlerweile fühlte sie sich längst nicht mehr so entschlossen wie zu Beginn ihrer Reise.

Bei der Scheidung seiner Eltern war Judd sechs gewesen und seine Schwester Nicole erst ein Jahr. Während er und seine Mutter Neuseeland verlassen hatten, waren Charles und Nicole geblieben – die Familienmitglieder hatten sich nie wiedergesehen.

Erinnerte sich Judd überhaupt noch an seinen Vater? Würde er sich über eine Versöhnung freuen – oder fühlte er nur Enttäuschung wegen der verlorenen Jahre?

Einerseits hatte sie Angst, wie er reagieren würde, andererseits stand sie voll auf Charles’ Seite. Hätte Cynthia Masters-Wilson ihn damals nicht hintergangen, hätte er sich sicher nie von seinem Sohn getrennt.

Anna kannte Cynthia nicht, aber diese Frau hatte die Familie zerstört, deshalb freute sie sich nicht auf die Begegnung mit ihr.

Zunächst einmal aber kam es darauf an, Charles’ Sohn kennenzulernen, damit sie einschätzen konnte, wie er auf das Angebot seines Vaters reagieren würde.

Dass sie Judd so überaus attraktiv fand, erschwerte ihren Auftrag noch mehr.

Während sie fasziniert das Spiel seiner Muskeln unter der sonnengebräunten Haut beobachtete, versuchte sie, sich nicht von ihrer Mission ablenken zu lassen.

Sie musste den Zeitpunkt gut wählen und geschickt vorgehen, um Erfolg zu haben. Das schuldete sie Charles, dem sie so viel verdankte. All die Jahre hatte er sie und ihre inzwischen verstorbene Mutter unterstützt. Nein, sie durfte nicht durch unbedachtes Vorgehen die Hoffnung des alten Mannes zunichtemachen. Sie musste es schaffen, dass Judd Wilson mit ihr kam.

Sie folgte einer Abzweigung, um ihm fürs Erste aus dem Weg zu gehen. Fünf Stunden war sie seinetwegen geflogen! Während ihres Aufenthaltes hier auf The Masters – einem Weingut mit Ferienappartements – würde sie noch genug Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen. Gut Ding will Weile haben …

Doch sie kam nicht weit.

„Hallo“, rief eine Stimme hinter ihr – dunkel und samtig wie Rotwein. „Ein schöner Nachmittag, nicht wahr?“

Anna nahm einen tiefen Atemzug, drehte sich um und sah in das Gesicht von Charles’ Sohn.

Als Judd die Spaziergängerin im blauen Kleid bemerkte, hielt er sie für einen Feriengast. Seine Cousine Tamsyn schickte zu Anfang der Woche immer einen Newsletter an alle Familienangehörigen und das Personal, welche Gäste erwartet wurden. Nur hatte sie darin nicht erwähnt, wie atemberaubend schön diese Frau war.

Er kniff die Augen zusammen, um jeder ihrer Bewegungen zu folgen. Mit unbeschreiblicher Anmut und Grazie schritt sie über den steinigen Weg. Ihr Gang, ihre weibliche Figur und besonders ihr Hüftschwung weckten seine männlichen Urinstinkte.

„Ich bin Judd Wilson. Willkommen auf The Masters.“

Er legte die Axt weg und streckte der unbekannten Schönen die Hand hin.

Etwas zögerlich lächelte sie – ein Lächeln, das ihn so stark ansprach, dass es ihm schon fast wehtat.

Als sie seine Hand nahm, durchströmte ihn heiße Begierde.

Interessant. Sehr interessant.

Vielleicht lag hier die Lösung seines Problems, das ihm seit einiger Zeit zu schaffen machte: Er langweilte sich.

Er lächelte und drückte ihr die Hand.

„Hallo. Ich bin Anna Garrick“, sagte sie mit rauer Stimme.

Aufmerksam sah sie ihn an. Kannten sie sich etwa? Aber nein, das konnte nicht sein. Wenn er ihr je früher begegnet wäre, würde er sich unter Garantie daran erinnern.

Denn sie entsprach in allen Einzelheiten seiner Vorstellung von einer Traumfrau. Angefangen beim kastanienbraunen Haar über die perfekte Figur bis hin zu den sorgfältig pedikürten Zehen. Selbst die Stimme, die sanft und ein bisschen spröde klang, schien seine Sinne zu streicheln. Sie war so eine beeindruckende Erscheinung, dass er sie mit Sicherheit nie vergessen hätte.

„Freut mich, Sie zu sehen, Anna. Sind Sie heute angekommen?“

Plötzlich wirkte sie nervös, als wollte sie etwas verbergen. Nur konnte er sich nicht vorstellen, was das sein könnte.

„Ja. Es ist wunderschön hier. Sie können sich glücklich schätzen, in dieser Gegend zu leben … Arbeiten Sie schon lange hier?“

Die Frage lag nahe, aber ihm war ihr Zögern nicht entgangen. Hatte sie sich ursprünglich anders ausdrücken wollen?

„Kann man so sagen. The Masters ist eine Art Familienbetrieb. Ich bin hier aufgewachsen.“

„Aber Ihr Name …?“

Ja, der Name. Der ihn immer wieder an seinen Vater erinnerte, von dem er als Kind verstoßen worden war. Und selbst jetzt, da er das weitverzweigte Familienunternehmen leitete, behandelten ihn manchmal sogar seine Cousins so, als ob er nicht wirklich dazugehören würde.

„Meine Mutter ist Cynthia Masters-Wilson“, antwortete er, ohne ins Detail zu gehen. Es gab nun wirklich angenehmere Themen.

„Hacken denn alle Masters Holz für die Kamine der Cottages?“, scherzte sie.

„Na klar. Für das Wohl unserer Gäste tun wir alles.“ Das klang bedeutend besser als die schlichte Wahrheit: Dass er sich nach einem frustrierenden Arbeitstag abreagieren musste.

Vor allem hatte er sich über seinen Cousin Ethan geärgert, der zwar vom Wein etwas verstand und ein hervorragender Kellermeister war – seine vielen preisgekrönten Weine bewiesen das –, dessen Sturheit aber unendlich nervte.

Ethan sollte unbedingt neue Wege gehen und nicht nur an den traditionellen Weinsorten der Masters festhalten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Seit es vor ein paar Jahren zu den ersten Überschussproduktionen gekommen war, hatte er ihn immer wieder darauf hingewiesen. Aber Ethan war ein unbelehrbarer Sturkopf.

Judd seufzte leise. Ja, er konnte die Abwechslung, die Annas Gesellschaft versprach, gut gebrauchen.

„Und ich hoffe, Sie lassen es mich wissen, wenn ich etwas für Sie tun kann.“

„Danke für das Angebot, ich komme drauf zurück. Im Augenblick möchte ich mir einfach nur die wunderbare Landschaft ansehen, bevor es dunkel wird.“

„Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Sehen wir uns beim Abendessen?“

„Beim Abendessen?“, fragte sie.

„Ja, neu angekommene Gäste laden wir immer zu unserem Familiendinner ein. Den Gutschein dafür müssten Sie in Ihren Reiseunterlagen haben. Es beginnt um sieben Uhr mit Aperitifs im großen Salon.“ Er nahm ihre Hand. „Sie kommen doch, oder?“

„Ja, gern.“

„Sehr schön. Ich freue mich. Bis dann also.“ Er führte ihre Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss darauf.

Einen Moment wirkte sie erschrocken, aber dann blitzte ihr Lächeln wieder auf, das ihn so stark ansprach.

Er sah ihr nach, wie sie in der Dämmerung davonging. Dann blickte er zur Ruine des neugotischen Herrenhauses in den Hügeln auf.

Mehr war vom ursprünglichen Heim der Masters nicht mehr erhalten, ein Buschfeuer hatte es vor langer Zeit zerstört. Bis zum heutigen Tag kündete die Ruine vom einstigen Glanz der Familie. Und von ihrem Kampf, sich nach diesem vernichtenden Rückschlag wieder emporzuarbeiten. Aber die Mühe hatte sich gelohnt!

Judd war stolz, zu dieser Dynastie zu gehören, auch wenn sein Name anders lautete. Er war ebenso Teil der Familie wie seine Cousins. Trotzdem fühlte er sich manchmal als Außenseiter. Vielleicht hatte er darum härter gearbeitet als alle anderen. Und das hatte The Masters unter seiner Führung zu einem Weltunternehmen gemacht. Damit hatte er die Erwartungen seiner Familie bei Weitem übertroffen.

Abwechslung hatte er sich schon lange nicht mehr gegönnt. Seit Monaten fraßen ihn seine Verpflichtungen schier auf. Und gerade an diesem Tag war ihm klar geworden, dass er sich bei allem Engagement im Grunde seines Herzens langweilte.

Ihm fehlte eine positive Herausforderung. Ein Flirt mit der zauberhaften Anna Garrick kam ihm da wie gerufen.

Er stapelte die Holzscheite auf und räumte das Werkzeug weg. Dann ging er zum Duschen in seine Suite.

Vor ihm lag die positive Herausforderung, die er dringend brauchte.

Frisch geduscht betrat er den Salon, in dessen Kamin ein Feuer brannte. Von draußen drang kühle Nachtluft herein.

Das gemeinsame abendliche Dinner mit den Aperitifs davor war eine altmodische Familiensitte, die weit in die Vergangenheit zurückreichte. Bis in die Zeit der Ruine auf den Hügeln. Judd empfand diese Einrichtung als charmante Reminiszenz an alte Zeiten, die außerdem den Zusammenhalt förderte.

Er sah sich um, nickte grimmig in Ethans Richtung und lächelte dann seiner Mutter zu, die elegant gekleidet in ihrem Sessel beim Kamin saß.

Von Anna noch keine Spur.

Er ging zum Sideboard und goss sich ein Glas Spätburgunder, einen Pinot Noir, ein. In diesem Moment sah er Anna hereinkommen. Sofort setzte er sich in Bewegung, aber seine Mutter war schneller.

Als er hinzukam, hörte er, wie sie Anna fragte: „Entschuldigen Sie, aber Sie kommen mir so bekannt vor. Waren Sie schon einmal hier?“

Zu seiner Überraschung wirkte Anna ziemlich erschrocken.

„N…nein“, antwortete sie. „Das ist mein erster Aufenthalt in Südaustralien.“

Sie lächelte, aber weniger natürlich als sonst. Was steckte hinter diesem merkwürdigen Verhalten? Die Sache mit Anna Garrick versprach, interessant zu werden.

„Vielleicht haben Sie eine Doppelgängerin. Angeblich haben wir das alle.“ Geschickt überspielte Cynthia die Situation. „Sagen Sie, meine Liebe, was darf Ihnen Judd zu trinken holen?“

„Ein Glas Sauvignon Blanc, bitte. Ich habe gehört, zwei ihrer Sauvignon-Weine wurden vor Kurzem prämiert.“

„Ja“, bestätigte Cynthia. „Wir sind sehr stolz auf unseren Kellermeister Ethan und seine Arbeit.“ Dabei warf sie Judd einen vorwurfsvollen Blick zu, der ihm sagte, dass sein Cousin ihr offenbar bereits von ihrem Streit berichtet hatte.

„Ja, sind wir“, bestätigte er grollend. Dann holte er Anna ein Glas Wein und stellte sie Cynthias zwei älteren Brüdern und schließlich Ethan vor.

Als der sich erhob und sie willkommen hieß, sträubten sich Judds Nackenhaare.

Irgendwie musste ihn seine Miene verraten haben, denn Ethan sah ihn aufmerksam an und wandte sich dann wieder Anna zu. Er sagte etwas zu ihr, was sie zum Lachen brachte.

Ausgerechnet Ethan!

Judd presste die Zähne zusammen. Auf keinem Fall wollte er seinem Cousin eine Angriffsfläche bieten. Daher wandte er sich Tamsyn, Ethans Schwester, zu, die gerade hereinkam.

„Wie ich sehe, hat sich unser neuer Gast schon eingelebt“, sagte sie, nahm ihm das Weinglas aus der Hand, aus dem er noch nicht getrunken hatte, und nippte daran. An ihrem Finger funkelte ihr neuer Verlobungsring. „Mmh, ein guter Wein. Schenkst du mir ein Glas ein?“

„Behalte meins.“

„Danke.“ Tamsyn lächelte ihm zu.

„Kommt dein Verlobter heute nicht?“

„Nein, er ist noch in der Stadt. Er hat viel zu tun.“ Mit ihren warmen braunen Augen sah sie ihn aufmerksam an. „Du wirkst angespannt. Alles in Ordnung?“

Er zwang sich zu einem Lächeln. Tamsyn merkte immer, was mit ihm los war.

„Ja, alles klar. Aber noch besser wäre es, wenn dein Bruder sich so um Markttrends kümmern würde wie um unsere Gäste.“

Tamsyn lachte. „Du weißt doch, wie er ist! Die Marktsituation interessiert ihn herzlich wenig. – Aber was unseren Gast angeht …“ Sie wies mit dem Kinn auf Anna. „… brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ethan steht auf Blond, und seine schöne brünette Gesprächspartnerin schaut ständig in deine Richtung. Kennt ihr euch schon?“

Er nickte und betrachtete wohlgefällig Anna. Als sie tatsächlich zu ihm hersah, lächelte er zufrieden. „Weißt du, was sie in Adelaide macht?“, fragte er Tamsyn.

„Nein, aber sie ist nur vier Tage hier. Du musst dich also beeilen“, antwortete sie und lächelte vielsagend.

Er lachte. „Dann darf ich keine Zeit verlieren. Entschuldige mich bitte.“

Ohne Tamsyns Erwiderung abzuwarten, durchquerte er den Raum und stellte sich neben Anna.

Sie sah ihn an und lächelte.

„Es muss Spaß machen, in einer so großen Familie zu arbeiten“, sagte sie. „Ethan hat mir erklärt, wer hier welche Aufgaben hat.“

„Klar, es hat seine Vorteile … Aber sagen Sie, was haben Sie denn die nächsten Tage so vor? Zufällig habe ich zurzeit nur wenig zu tun. Ich würde mich freuen, Ihnen die Gegend zu zeigen.“

Anna zwang sich, gelassen zu bleiben. Genau auf eine solche Gelegenheit hatte sie gewartet. Wenn sie Zeit mit Judd Wilson verbrachte, ließ sich am besten mehr über ihn herausfinden.

Zwar hatte Charles ihr geraten, einfach einen Termin zu vereinbaren, um ihm den Brief zu übergeben. Den brisanten Brief, von dem sie das Gefühl hatte, dass er ein Loch in ihre Handtasche brannte.

Aber es erschien ihr weiser, Judd erst näher kennenzulernen. Denn nur so würde sie seine Reaktion einigermaßen einschätzen können. Charles hatte in seinem Leben schon genug Enttäuschungen erlebt. Wenn es nach ihr ging, sollte er einen ruhigen Lebensabend verbringen und nicht unnötig belastet werden.

Dem alten Mann bedeutete es alles, Kontakt zu Judd aufzunehmen und sich mit ihm zu versöhnen. Eine Ablehnung würde er nicht verkraften.

Sie war die Einzige, der er unter dem Siegel der Verschwiegenheit alles erzählt hatte. Nicht einmal seiner Tochter Nicole durfte sie etwas davon sagen.

Als Charles krank geworden war, hatte Nicole schrittweise die Leitung der Firma übernommen. Sie war Annas beste Freundin. Sie arbeiteten nicht nur zusammen, sie wohnten auch unter demselben Dach. Es tat weh, die Freundin nicht einweihen zu dürfen. Anna kam sich deshalb wie eine Verräterin vor.

Aber sie tat es für Charles. Er verdiente es, dass sein verlorener Sohn zu ihm kam. Nur war sie sich noch nicht im Klaren, wie sie das am besten anstellen sollte.

Das Vorhaben etwas hinauszuzögern erschien ihr als eine gute Lösung. Nur würde es sicherlich schwierig werden, Judds Anziehungskraft dauerhaft zu widerstehen …

Sorgfältig wählte sie ihre Worte. „Sie möchten mich wirklich herumführen? Das wäre toll! Ich möchte Sie aber nicht stören. Aber ich bin zum ersten Mal hier und habe schon jetzt das Gefühl, mir reicht die Zeit nicht, um alles zu sehen.“

Judd beugte sich näher zu ihr. „Wer weiß, vielleicht können wir Sie ja verführen, öfter wiederzukommen.“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Noch mehr Verführung von diesem Mann und sie würde eine kalte Dusche brauchen, um schlafen zu können.

In diesem Moment ertönte eine Glocke, die alle in den Speisesaal rief – und eine Erwiderung zum Glück überflüssig machte.

Höflich bot Judd ihr den Arm an. „Darf ich Sie zu Tisch führen?“

Anna zögerte einen Moment, dann legte sie die Hand in seine Armbeuge. „Sind Sie immer so förmlich?“

Er sah sie mit seinen leuchtenden blauen Augen durchdringend an. Der Blick ließ keine Zweifel, dass es gewisse Situationen gab, in denen er alle Förmlichkeit vergaß.

Ohne dass sie es verhindern konnte, reagierte Anna heftig auf diesen Gedanken. Ihre Brustwarzen richteten sich auf, ihr ganzer Körper schmerzte vor heißem Verlangen … dem Verlangen, von ihm berührt zu werden.

„Nur wenn es nötig ist“, antwortete er mit einem verführerischen Lächeln.

Anna zwang sich, wegzusehen, um seinem Charme nicht völlig zu erliegen. Vielleicht war das mit dem Kennenlernen doch keine so gute Idee?

Als Charles’ Sekretärin war sie den Umgang mit einflussreichen Geschäftsleuten gewohnt, aber nie war sie einem Mann mit einer solchen Ausstrahlung begegnet.

Worauf hatte sie sich da nur eingelassen!

Die lange Tafel im Speisezimmer war mit feinem Porzellan, Kristallgläsern und Silberbesteck prunkvoll gedeckt. Zum Glück ließ Anna sich, dank ihrer Kindheit im Haus von Charles Wilson, von derartiger Pracht nicht einschüchtern. Denn Charles hatte Wert darauf gelegt, ihr die gleichen Vorteile zu gewähren wie seiner Tochter Nicole. Annas Mutter mit ihrem Gehalt als Haushälterin hätte ihr das niemals ermöglichen können.

Beim Essen versuchte sie, sich ein Bild von der Familie zu machen, deren weibliches Oberhaupt offenbar Cynthia war. Während Judd seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, glich seine Schwester Nicole, von der er schon so lange getrennt war, eindeutig der Mutter.

Unauffällig betrachtete Anna Cynthia Masters-Wilson. So könnte ihre Freundin in fünfundzwanzig Jahren aussehen – nur hoffentlich ohne die feinen Fältchen um den Mund, die von Bitterkeit verursacht worden waren. Abgesehen davon wirkte die Frau mit den ersten Silberfäden im dichten dunklen Haar noch immer umwerfend attraktiv.

Ihr Auftreten hatte etwas Würdevolles, und sie erwartete selbstverständlich, dass andere sich nach ihren Wünschen richteten.

Anna fragte sich, wie sie sich wohl als Charles’ junge Ehefrau gefühlt hatte – bis Cynthia bemerkte, dass sie sie anstarrte.

Schnell sah Anna zur Seite, denn sie wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen.

Zwischen Cynthia und ihrem Sohn Judd bestand offenbar eine starke Bindung. Immer wieder gelang es ihm, der stolzen Frau ein Lächeln zu entlocken.

Aber wenn ihr Sohn ihr so viel bedeutete, warum hatte sie bei ihrer Rückkehr nach Australien ihre damals einjährige Tochter nicht mitgenommen? Hatte sie sich denn keine Sorgen um die Kleine gemacht? War es ihr egal gewesen, sie nicht heranwachsen zu sehen?

„Sie sehen ernst aus“, flüsterte Judd, der neben ihr saß, ihr ins Ohr. „Alles okay mit dem Essen?“

Wie sanft sich sein Atem anfühlte! Ein wohliges Prickeln durchrieselte sie. Sie zwang sich, das Gefühl zu ignorieren und unbefangen zu antworten. „Alles bestens, danke.“

„Beschäftigt Sie etwas?“, fragte er und füllte ihr Weinglas nach.

Allerdings: Du beschäftigst mich!

„Ich bin nur etwas müde“, wich sie aus.

„Wir können ganz schön anstrengend sein, stimmt’s?“

„Nein, durchaus nicht. Ich beneide Sie sogar um die große Familie. Ich selbst bin ein Einzelkind, und meine Eltern hatten auch keine Geschwister. Bestimmt sind Sie alle sehr glücklich.“

„Einerseits ja – und andererseits auch nicht.“ Er lachte gewinnend und entschärfte damit den letzten Teil seiner Aussage.

Zum wiederholten Mal fragte sie sich, was Charles und Cynthia – und somit auch ihre Kinder – auseinandergebracht hatte. Das Einzige, was sie von Charles wusste, war, dass sie ihn hintergangen hatte. Und dass er ein solches Verhalten unverzeihlich fand.

Was auch immer der genaue Grund gewesen sein mochte … Jedenfalls war damals nicht nur die Ehe entzweigegangen, es war auch zum Bruch mit Charles’ Geschäftspartner gekommen. So viele Schicksale hatten damals eine traurige Wendung erfahren.

Anna seufzte leise. Und nun sollte sie die Schäden ausbügeln!

Nach dem Dessert entschuldigte sie sich. Als sie aufstand, erhoben sich alle Männer am Tisch. Überwältigt von so guten Umgangsformen sagte sie: „Danke Ihnen allen für die angenehme Gesellschaft an diesem Abend. Und für das Abendessen.“

„Keine Ursache, Anna“, sagte Cynthia freundlich. „Sagen Sie bitte der Haushälterin Bescheid, ob Sie sich uns während ihres Aufenthaltes öfter anschließen möchten. Haben Sie morgen schon etwas Bestimmtes vor?“

„Wir wollen uns ein bisschen die Gegend ansehen und dann in Hahndorf Mittag essen“, schaltete Judd sich ein.

„Oh!“ Cynthia warf ihrem Sohn einen prüfenden Blick zu. Aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle und lächelte. „Dann wünsche ich euch einen schönen Tag. Gute Nacht.“

Als Anna den Raum verließ, stellte sie überrascht fest, dass Judd ihr folgte. „Warum haben Sie Ihrer Mutter gesagt, dass wir einen Ausflug machen?“

„Weil es so ist“, sagte er zuversichtlich. „Wer die Adelaide Hills besucht, muss unbedingt einen Abstecher nach Hahndorf machen. Alles andere wäre in kultureller Hinsicht ein Armutszeugnis.“

„Armutszeugnis hin oder her – Ihre Mutter war nicht sehr begeistert.“

„Sie denkt, ich arbeite zu wenig. Aber lassen Sie das mein Problem sein.“

Sie verließen das Haus und gingen den Weg entlang, der zu dem modernisierten Cottage führte, in dem sie wohnte. An den Schultern spürte sie die kühle Nachtluft und wünschte, sie hätte ihren warmen Pashmina-Schal mitgenommen.

„Trotz der Gefahr, dass es klischeehaft wirkt …“ Judd zog seine Jacke aus und hängte sie ihr über die Schultern.

„Danke“, sagte sie sanft.

Das Seidenfutter der Smoking-Jacke war noch so warm, dass sie sofort aufhörte zu frösteln. Judds ansprechender Geruch mit einem Hauch von Holz und Vanille umhüllte sie. Sie liebte diesen Duft und spürte, wie sie dahinschmolz.

„Die Nächte sind jetzt schon ziemlich kalt“, sagte er. „Ich muss das Personal beauftragen, im Cottage Feuer zu machen, damit Sie es warm und behaglich haben.“

Sofort fiel ihr ein, wie sie ihn beim Holzhacken beobachtet hatte. Packte er alles mit so viel Energie an?

„Trotzdem ist es eine sehr schöne Nacht.“ Sie blickte zu den Sternen auf. Nur jetzt nicht auf die Gefühle achten, die er in mir auslöst!

„Allerdings. Das finde ich auch.“

Etwas in seiner Stimme veranlasste sie, ihn ansehen. Er betrachtete sie eingehend von Kopf bis Fuß. Obwohl er ein Stück von ihr entfernt stand, erschien es ihr, als würde er sie mit diesem bewundernden Blick liebkosen.

Plötzlich fühlte sich ihr Hals trocken an, sie versuchte zu schlucken. Welche Sinnlichkeit dieser Mann in ihr weckte! Ohne dass er sie überhaupt berührte, verging sie fast vor Sehnsucht nach ihm.

Dabei kannte sie ihn kaum! Und doch stand sie kurz davor, all ihre selbst auferlegte Zurückhaltung aufzugeben. Wie schön musste es sein, mit ihm zusammen auszuprobieren, wozu sie die magische Anziehungskraft zwischen ihnen inspirierte …

Und er fühlte genau wie sie! Sie spürte die Energie, die er ausstrahlte, und seine erwartungsvolle Anspannung. Wie es wohl war, wenn er seine Selbstbeherrschung aufgab und die Begierde ihn übermannte? Einen Moment lang hing sie genussvoll dieser Fantasie nach, dann versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Leider vergebens.

Bevor sie etwas Unüberlegtes tun konnte, brach sie den Augenkontakt ab und ging eiliger als zuvor den Weg weiter.

Schweigend passte sich Judd ihrem Tempo an. Vor dem Cottage sah er zu, wie sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

Sie zog das Jackett aus und gab es ihm. „Danke.“

„Keine Ursache.“

Warum drehte er sich nicht einfach um und ging? Sie spürte, wie sie rot wurde. Erwartete er etwa, dass sie ihn hereinbat? Im Cottage gab es eine kleine Küche und eine gut bestückte Bar. Aber wie würde er es auffassen, wenn sie ihn auf eine Tasse Kaffee oder einen Drink einlud? Sie war sich sicher, wohin das führen würde: Sie würden eine Nacht voll wilder Leidenschaft verbringen, wie sie sie noch nie erlebt hatte.

Der Gedanke entsetzte und erregte sie zugleich. Sie war keine Frau für einen One Night Stand, außerdem trennte sie Geschäftliches und Privates strikt. Wenn sie Judd jetzt nachgab – was würde passieren, wenn sie ihm eröffnete, warum sie wirklich hier war?

„Sie sehen schon wieder ernst aus“, stellte er lächelnd fest.

„Kann sein, ich denke viel nach“, gestand sie.

„Wenn es so ist … Dann denken Sie doch mal hierüber nach.“

Irgendwie war er näher getreten, ohne dass sie es bemerkt hatte. Er legte den Arm um sie, sie spürte die Wärme seiner Hand in ihrem Nacken.

Fast gleichzeitig hob sie den Kopf und öffnete leicht die Lippen, um zu protestieren. Aber schnell begriff sich, dass Protest nichts nützen würde. Sie wollte es so sehr wie er und schaffte es nicht, der Versuchung zu widerstehen.

Er küsste sie, und sein Mund fühlte sich so weich und sanft an, dass ihr ein wohlig-warmer Schauer den Rücken hinablief. Wäre der Kuss enttäuschend gewesen, hätte sie leichter die Kraft gefunden, Nein zu sagen. Aber tief im Herzen hatte sie schon vorher gewusst, welcher Zauber darin liegen würde …

Absichtlich ließ sie die Arme hängen und ballte die Fäuste, um Judd auf keinen Fall zu berühren. Aber seine fordernden Küsse erregten sie so sehr, dass sie einfach die Hände ausstrecken und seine breite Brust streicheln musste.

Durch den feinen Stoff des teuren Hemdes spürte sie die Hitze seines muskulösen Körpers und wusste plötzlich, dass dieser Mann sie unbeschreiblich glücklich machen könnte – vorausgesetzt, sie ließe es zu.

Er legte ihr den anderen Arm um die Taille und zog sie an sich. So gegen ihn gedrückt spürte sie, dass er genauso erregt wie sie war, und ihre Zungen fanden sich zu einem wilden Tanz.

Er schmeckte nach Wein und unausgesprochenen Verheißungen von etwas Köstlichem, Verbotenem. Alles um sie herum schien zu versinken, und Annas Zurückhaltung schmolz endgültig dahin. Sie presste sich an ihn, in dem vergeblichen Versuch, das brennende, unkontrollierbare Verlangen in ihr zu befriedigen. Stattdessen loderte es nur noch stärker.

Mit einer Leidenschaft, die sie in dieser Intensität noch nie gespürt hatte, erwiderte sie den Kuss. Sie fuhr mit den Fingern durch sein dunkles Haar und hielt seinen Kopf fest, während ihr Atem immer schneller wurde. Sie spürte, wie sich ihre Brustwarzen hart gegen den Spitzenstoff ihres BHs drückten, sehnte sich danach, dass er ihre Brüste berührte, sie liebkoste, mit seinen warmen Lippen immer tiefer glitt …

Da durchschnitt der Ruf einer Eule die Luft und brachte Anna auf den Boden der Tatsachen zurück. Plötzlich dachte sie wieder an den Auftrag, der sie hierhergeführt hatte.

Sie löste ihre Finger, die sie in seine Haare gekrallt hatte, und ließ die Arme sinken. Dass der Kuss zu Ende war, hinterließ ein bittersüßes Gefühl, der Verlust seiner Berührungen schmerzte beinahe körperlich.

Judd lehnte seine Stirn an ihre. Die Augen hatte er geschlossen, die Lippen waren ganz nah vor ihren. Es wäre so leicht gewesen, ihn noch einmal zu küssen!

Aber sie wusste, dass es dabei ganz sicher nicht bleiben würde. Was wahrscheinlich als harmloser Gutenachtkuss gedacht war, hatte sich blitzschnell in ein heißes Vorspiel verwandelt. Aber sie durfte sich nicht auf die Verlockung einlassen, ohne dass sie ihm die Wahrheit sagte. Und dazu war sie noch nicht bereit.

Die erotisch aufgeladene Atmosphäre zwischen ihnen bot eine Fülle von Möglichkeiten, aber es gab nur eine richtige Entscheidung: Sie musste sich schnellstmöglich von ihm verabschieden.

„Sagst du allen euren Besucherinnen auf diese Art gute Nacht?“, fragte sie scherzhaft.

Er lächelte. „Nein. Nur dir.“

Nur drei Worte. Einfach so ausgesprochen. Dabei sah er sie so aufrichtig an, dass es ihr tief ins Herz drang. Sie kämpfte mit sich, um diesem Blick und den Gefühlen, die er auslöste, nicht zu erliegen.

Sie schluckte schwer. Wie sollte sie es ihm sagen, ohne lieblos zu wirken?

„Schon okay, Anna.“ Offenbar ahnte er, was in ihr vorging. „Lassen wir es beim Gutenachtkuss. Es sei denn, du willst mehr.“

„Ich … kann nicht. Ich …“

„Schon gut. Ich habe Geduld. Und du bist es wert, dass man auf dich wartet. Aber ich verspreche dir, früher oder später schlafen wir miteinander. Und das wird unvergesslich.“

Sprachlos sah sie ihn an. Oh ja, kein Zweifel, Sex mit diesem heißen Traummann wäre sicherlich ein unvergessliches Abenteuer!

Aber er ist doch Charles’ Sohn!

Er küsste sie auf die Wange, ganz nah an ihrem Mundwinkel.

Sie hätte nur ihrem Instinkt nachgeben und den Kopf ein klein wenig drehen müssen, schon wäre sie verloren gewesen. Aber sie bewegte sich nicht, und Judd verstand.

„Ich hole dich morgen früh um neun ab“, sagte er. „Schlaf gut.“

Sie sah ihm nach, wie er mit großen Schritten zurück Richtung Haupthaus ging. Als er außer Sicht war, ließ sie sich gegen den Türrahmen sinken.

Erst vor wenigen Stunden war sie hier in Australien eingetroffen – mit der Absicht, Judd zu überreden, dass er mit ihr nach Neuseeland kam, um sich mit seinem Vater zu versöhnen. Das war noch immer ihr Ziel, aber jetzt wollte sie noch etwas anderes: Zeit mit Judd verbringen, ihn küssen, berühren … und sehen, wohin die Anziehungskraft zwischen ihnen noch führte …

Aber diesem Wunsch durfte sie nicht nachgeben. Zu viel hing davon ab, wie Judd auf ihren Auftrag reagierte. Wenn etwas schiefging und er zu früh herausfand, dass sie keine harmlose Urlauberin war, würde sich Charles’ Hoffnung auf eine Versöhnung vielleicht für immer zerschlagen. So weit durfte es auf keinen Fall kommen! Lieber verzichtete sie auf die vielversprechende Beziehung zu Judd – auch wenn es unendlich schwerfiel.

Vorsichtig berührte sie mit den Fingern ihre Lippen. Sie spürte und schmeckte ihn noch. Und, oh ja, sie begehrte ihn, so sehr. Wie sollte sie unter diesen Umständen bloß einen ganzen Tag mit ihm verbringen?

2. KAPITEL

Judd lauschte dem satten Motorengeräusch seines Aston Martin, als er langsam die Privatstraße zu Annas Cottage entlangfuhr.

Er lächelte zufrieden – obwohl seine Muskeln hart und angespannt vor Erwartung waren. So sehr hatte er sich schon lange zu keiner Frau mehr hingezogen gefühlt. Genau genommen … Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass er bisher noch nie so intensiv für jemanden empfunden hatte.

Der Tag versprach, interessant zu werden, sehr interessant sogar. Und was wohl in der Nacht passieren würde …

Das dezente Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Träumen. Auf dem Display erschien die Nummer seiner Mutter. Er fuhr an den Straßenrand und nahm das Gespräch an.

„Guten Morgen, Mutter! So früh rufst du schon an?“

Cynthia hielt sich nicht mit Höflichkeiten auf. „Ich weiß, wer sie ist.“

„Wer? Anna?“

„Wer denn sonst? Sie ist mir gleich so bekannt vorgekommen, und jetzt weiß ich auch, warum. Ich habe ihre Mutter gekannt. Sie hat bei Wilson Wines im Büro gearbeitet und immer mit den Verkäufern geflirtet. Einen von ihnen hat sie geheiratet – natürlich, weil sie schwanger war – und dann in der Firma aufgehört. Ich glaube, dein Vater hatte auch ein Auge auf sie geworfen. Als wir drei Jahre hier waren, ist ihr Mann ums Leben gekommen, und Charles hat sie zu sich genommen. Angeblich als seine Haushälterin … Als ob das irgendjemand glauben würde!“

Judd atmete tief durch. Jedes Mal, wenn Cynthia in diesem Ton von seinem Vater sprach, ging es ihm durch Mark und Bein.

„Hörst du mir noch zu, Judd?“

„Ja. Was erwartest du jetzt von mir?“

„Sprich sie darauf an. Ihre Mutter hat mit Charles zusammengelebt – und Anna auch. Finde raus, was sie hier will. Ich wette, sie macht keinen Urlaub. Ihr Aufenthalt hat irgendetwas mit deinem Vater zu tun.“

Auch wenn er es nicht gerne zugab – mit dieser Vermutung konnte sie recht haben. Vom ersten Moment an hatte er den Eindruck gehabt, dass Anna etwas vor ihm verbarg. Und wie sie ihn angesehen hatte! Um nach einer Ähnlichkeit mit seinem Vater zu suchen? Er verdrängte seine Verärgerung darüber, dass Charles vielleicht etwas im Schilde führte, und sagte ruhig: „Ich komm schon damit klar. Mach dir keine Sorgen.“

„Ich wusste gleich, dass es mit ihr Ärger gibt“, fuhr Cynthia fort. „Sie arbeitet für ihn. Würde mich nicht wundern, wenn sie etwas mit ihm hätte. Er stand schon immer auf jüngere Frauen.“

Wieder nahm Judd einen tiefen Atemzug. Auch nach all den Jahren klang seine Mutter noch so verbittert, wenn es um den Mann ging, der sie aus Neuseeland fortgeschickt hatte.

Er wusste noch zu gut, wie sie damals auf The Masters angekommen waren und sie ihm die Ruine des Hauses in den Hügeln gezeigt hatte.

Originalgetreu nach diesem ursprünglichen Heim der Masters hatte Charles für seine junge Braut das Haus in Neuseeland erbauen lassen.

Damals, als Sechsjährigen, entsetzte ihn der Anblick der Ruine, vor allem, weil ihm seine Mutter erklärte, dass sie sie symbolisch immer an das erinnern sollte, was sie durch Charles’ Schuld verloren hatten. Und tatsächlich hatte der Anblick ihn immer wieder daran gemahnt, eines Tages das Verlorene zurückzugewinnen.

Obwohl er als kleiner Junge nicht alles von dem verstand, was Cynthia ihm erklärt hatte, so begriff er doch, wie sehr es sie verletzte, von Charles aus ihrem Heim verstoßen worden zu sein.

Von da an führte ihm jeder Tag auf The Masters unmissverständlich vor Augen, was die Zurückweisung durch den eigenen Vater bedeutete. Viele Kleinigkeiten hatten ihn immer wieder daran erinnert: mitleidige Blicke von Verwandten, übereifrige Versuche seiner Onkel, ihm den Vater zu ersetzen, getuschelte Bemerkungen des Personals …

Er zwang sich, mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurückzukehren. „Wie gesagt, Mutter, ich komme schon klar. Spätestens heute Abend wissen wir mehr.“

„Gut. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Judd. Und sei vorsichtig.“

Er legte auf und fuhr zum Cottage. Oh ja, er würde so vorsichtig sein, dass Anna Garrick gar nicht merkte, wie ihr geschah.

Sie stand auf der Veranda vor dem Haus, trug legere Kleidung und wirkte frisch und trügerisch unschuldig. Denn in Wahrheit war sie alles andere als unschuldig, das wusste er inzwischen. Vor allem, wenn er an vergangene Nacht dachte. Hoffentlich ließ sich an diesem Abend etwas Ähnliches wiederholen, denn der Tag würde heiß werden, in jeder Hinsicht …

Als sie auf ihn zukam, stieg er aus und öffnete ihr die Beifahrertür.

„Schicker Wagen“, sagte sie.

„Ich war schon als Kind James-Bond-Fan.“ Er lächelte. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Sie lachte und setzte sich in den roten Ledersitz, dessen Farbton wunderbar mit ihren kastanienbraunen Haaren harmonierte.

Während er sich hinters Steuer des Sportwagens setzte, band sie sich das Haar zu einem Knoten zusammen.

„Ich kann das Verdeck auch schließen, wenn du willst“, bot er an und betrachtete ihren schönen Nacken.

„Nein, es ist so schön heute. Genießen wir den Tag.“ Sie strahlte ihn an – ein zauberhaftes, umwerfendes Lächeln, das ihn daran erinnerte, wie schrecklich es gewesen war, die Nacht alleine im Haupthaus zu verbringen statt bei ihr.

„Gute Idee!“, stimmte er zu und fuhr los. „Du hast erzählt, dass du zum ersten Mal in Adelaide bist. Wie bist du darauf gekommen, hier Urlaub zu machen?“

Sie schwieg einen Moment. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie die Lippen zusammenpresste und überlegte.

„Es wurde mir empfohlen“, antwortete sie schließlich und sah dabei aus dem Seitenfenster.

Oh ja, und er konnte sich auch lebhaft vorstellen, von wem. Ihr ausweichendes Verhalten sprach Bände. Ganz eindeutig hatte sie etwas zu verbergen. Und da dies offenbar mit seinem Vater zusammenhing, war er fest entschlossen, Licht ins Dunkel zu bringen, bevor es zu spät war. Und bis dahin konnte ihn nichts und niemand davon abhalten, die Zeit mit ihr in vollen Zügen auszukosten.

Als sie zwischen Weinstöcken in die öffentliche Straße einbogen, sah Anna zu der Ruine in den Hügeln hoch.

Judd wartete, dass sie fragte, was damals passiert war. So wie es jeder tat, der zum ersten Mal hierherkam. Aber sie schwieg und machte nur ein nachdenkliches Gesicht.

Er konnte nicht anders und erzählte von sich aus: „Masters’ Rise, das Haus dort oben … Zu seiner Zeit war es wunderschön.“

„Hat es deiner Familie gehört?“

Wusste sie es wirklich nicht, oder stellte sie sich nur ahnungslos? „Dieses nicht, obwohl ich als Kind in einem detailgetreuen Nachbau in Neuseeland gewohnt habe.“ Da sie noch immer schwieg, fuhr er fort: „Zu meiner Zeit war Masters’ Rise schon zerstört, aber meine Mutter und meine Onkel haben als Kinder dort gelebt. Ich glaube, der Familienstolz hat sich von diesem Verlust nie ganz erholt; meine Mutter jedenfalls leidet sehr darunter. Ein Teil des Weingartens wurde damals auch zerstört.“

„Und das Buschfeuer ließ sich nicht stoppen?“, fragte sie.

„Das Buschfeuer?“, fragte er und sah sie durchdringend an.

„Ja, ich glaube, ich habe irgendwo gelesen, dass es der Grund war“, sagte sie hastig.

Gut reagiert, dachte er anerkennend und nickte langsam. „Damals waren die Menschen froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Aber leider ist ihnen sonst nicht viel geblieben – nur das typische Durchhaltevermögen der Masters. Das Haus im alten Stil wieder aufzubauen kam nicht infrage, dazu fehlten ihnen die Mittel. Für sie war es wichtiger, die Weingärten wieder instand zu setzen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.“

„Eine schwierige Zeit“, sagte Anna.

Judd nickte und schwieg. Wie schon oft fragte er sich, wie es seiner Familie ohne dieses Unglück ergangen wäre. Zu wissen, dass die guten Zeiten unwiderruflich dahin waren, musste für seine Mutter und ihre Brüder sehr traurig gewesen sein.

Hatte Cynthia deshalb so schnell Charles’ Antrag angenommen? Für ein Mädchen in ihrer Situation musste die Aussicht auf Reichtum und Luxus unwiderstehlich gewesen sein.

„So, was unternehmen wir denn jetzt?“, fragte Anna übertrieben heiter. „Gestern hast du Hahndorf erwähnt. Was ist das genau?“

Judd lächelte ihr zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete. „Es wurde im frühen neunzehnten Jahrhundert von deutschen Siedlern gegründet. Von der ursprünglichen Architektur ist noch vieles erhalten. Ich schlage vor, wir sehen uns ein wenig die Gegend an und essen dann dort zu Mittag.“

„Klingt gut. Danke, dass du dir die Zeit für mich nimmst.“

Judd drückte sanft ihre Hand. „Ich möchte dich unbedingt kennenlernen, Anna. Wie sollte ich da ruhig im Büro sitzen bleiben?“

Zu seiner Überraschung errötete sie bei diesen Worten. Die Unschuld, die darin zum Ausdruck kam, stand in reizvollem Kontrast zu ihrem verführerischen Verhalten in der Nacht. Kein Zweifel, Anna Garrick interessierte sich für ihn, und das mochte er. Selbst wenn sie sehr wahrscheinlich etwas vorhatte, von dem er noch nichts Genaues wusste.

Annas Finger prickelten unter Judds Berührung. Sie spürte deutlich, wie sie rot wurde. Dass sie so heftig auf ihn reagierte, würde noch zu vielen Problemen führen … Vorsichtig zog sie die Hand weg und lenkte sich ab, indem sie in ihrer Handtasche kramte.

Als sie dabei Charles’ Brief berührte, den sie Judd übergeben sollte, zuckte sie unwillkürlich zurück.

Betont fröhlich fragte sie: „So, wohin fahren wir jetzt?“

Er wies auf den höchsten Berg der Umgebung. „Zum Mount Lofty. Von dort aus überblickt man ganz Adelaide.“

Judd erwies sich als brillanter Fremdenführer. Nicht nur, dass er die Gegend sehr gut kannte, man merkte auch deutlich, wie sehr er sie liebte. Nachdem sie das herrliche Panorama genossen hatten, gingen sie in dem botanischen Garten am Fuß des Berges spazieren. Immer wieder musste Anna sich daran erinnern, dass sie nicht zum Vergnügen hier war.

Judd hatte die Finger lose mit ihren verschränkt, als sie den Weg entlangschlenderten. Diese leichte Berührung genügte schon, um ihren Körper in Alarmbereitschaft zu setzen. Mit jeder Faser sehnte sie sich danach, ihm wieder näher zu kommen.

Sie zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Eine Beziehung mit Judd Wilson war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Sie musste verrückt sein! Völlig verrückt! Aber egal, wie sehr sie ihren Verstand bemühte – ihr Körper gehorchte nur seinen eigenen Wünschen.

Ihr Handy klingelte leise in ihrer Tasche. Das war sicher Charles! Ihr Magen zog sich zusammen. Sie ließ Judds Hand los und griff nach dem Telefon. „Entschuldige bitte, ich muss rangehen.“

Charles nahm sich nicht die Zeit für einleitende Worte. „Hast du ihn schon getroffen?“, wollte er wissen.

„Ja, habe ich“, antwortete sie vorsichtig. Hätte sie doch das Gespräch nicht in Judds Gegenwart angenommen!

„Und, wie ist er so? Hast du ihm den Brief schon gegeben? Was hat er gesagt?“

Anna wusste nicht, was sie auf dieses Bombardement von Fragen erwidern sollte, ohne dass Judd Verdacht schöpfte.

„Ist im Moment schwierig … Nein, noch nicht …“

„Du kannst wegen ihm nicht sprechen, stimmt’s?“

„Ja genau. Kann ich dich später anrufen?“

„Ja sicher. Aber mach das auch wirklich!“

„Versprochen. Bis dann.“

„Anna leg noch nicht auf!“

Sie seufzte.

„Ich zähle auf dich“, sagte Charles. „Ich muss meinen Sohn wiederhaben!“

„Ich tue mein Bestes.“

„Danke. Du bist ein gutes Mädchen.“

Sie steckte das Telefon wieder in die Tasche und seufzte.

„Schlechte Nachrichten?“, fragte Judd.

„Nein, nicht direkt.“

„Kann ich irgendwie helfen?“

Beinahe hätte sie bei dieser Frage aufgelacht. Wenn er wüsste …!

Sie schüttelte den Kopf. „Nur die Arbeit. Da kümmere ich mich später drum. Jetzt habe ich erst mal Hunger. Wollen wir Mittagessen?“

„Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagte Judd und führte verführerisch ihre Hand an seine Lippen.

Das Funkeln seiner blauen Augen verriet ihr, dass es, was ihn betraf, nicht beim Essen bleiben musste. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln vor Erwartung anspannten. Sie zwang sich zu einem charmanten Lächeln. So schwierig hatte sie sich ihren Auftrag nicht vorgestellt!

Auf der Fahrt nach Hahndorf gingen ihr Charles’ Worte nicht aus dem Kopf. Ich muss meinen Sohn wiederhaben. Unerwartete Wut stieg in ihr auf. Vor lauter Besessenheit, was seinen verlorenen Sohn anging, vergaß er völlig, dass er auch eine Tochter hatte! Eine Tochter, die von Wein und Vertrieb fast noch mehr verstand als er selbst. Eine Tochter, die sich schon ihr ganzes Leben lang darum bemühte, die Leere auszufüllen, die Cynthia und Judd in seinem Herzen hinterlassen hatten.

Zum wiederholten Male fragte sich Anna, was genau in dem Brief stand. Sie wusste, dass Charles seinem Sohn darin einen Anreiz bot, damit er zurückkam – aber was das im Einzelnen war, konnte sie nur ahnen. Was bedeutete das für die Schwester, die sich an Judd nicht einmal erinnerte? Die hart arbeitete, um es ihrem Vater recht zu machen? Die sich nach seiner Anerkennung und Liebe sehnte?

Anna ließ nichts auf Charles kommen, schließlich war er die einzige Vaterfigur in ihrem Leben. Aber jetzt hatte sie Angst, dass er den Bogen überspannte und womöglich die Beziehung zu Nicole für immer zerstörte.

„Was arbeitest du, wenn man dich sogar im Urlaub anruft?“ Judds Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Vor dieser Frage hatte sie schon die ganze Zeit Angst gehabt.

„Oh, ich bin Sekretärin“, antwortete sie unverbindlich.

„Aber eine ziemlich wichtige, ohne die der Chef nicht klarkommt“, mutmaßte er.

Anna gelang ein Lächeln. „Ich arbeite für ihn, seit ich mit der Schule fertig bin. Wir stehen uns näher als es sonst üblich ist.“

Einen Moment sah Judd sie durchdringend an, dann achtete er wieder auf den Straßenverkehr. Als sie Hahndorf erreichten, fuhr er langsamer, und Anna konnte einen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken.

Entlang der Hauptstraße standen mächtige alte Bäume und altmodische Häuschen aus längst vergangenen Tagen. Nur die moderne Kleidung der Menschen und die Autos verrieten, dass sie sich nicht auf einer Zeitreise befanden.

Judd parkte den Aston Martin und ging zur Beifahrerseite, um ihr die Tür zu öffnen.

„Wenn ihr euch so nahesteht, wundert es mich, dass er dich überhaupt aus den Augen gelassen hat.“

„Ich kann doch tun und lassen, was ich will!“

„Freut mich, das zu hören“, sagte Judd, nahm ihre Hand und legte sie fest in seine Armbeuge. „Ich teile nämlich nicht gern.“

„Ich dachte immer, nur Einzelkinder sind so.“ Sie lachte und versuchte, die plötzliche Wärme zu ignorieren, die seine Worte in ihr ausgelöst hatten.

„Wie kommst du darauf, dass ich keines bin?“

Sie erschrak bis ins Mark. Verzweifelt überlegte sie, ob nicht irgendjemand in Adelaide ihr gegenüber seine Familienverhältnisse erwähnt hatte – aber das war nicht der Fall.

„Oh, keine Ahnung. Ich habe nur angenommen, dass du mit deinen vielen Cousins das Teilen gelernt hast.“

Sie hielt den Atem an, während sie auf seine Reaktion wartete.

Glücklicherweise lachte er. „Ja, eine naheliegende Schlussfolgerung.“

„Also, bist du ein Einzelkind?“, fragte sie. Wie fühlte er sich – mit einer Schwester, die er seit vielen Jahren nicht gesehen hatte?

Er zuckte die Achseln. „Das ist kompliziert. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs war und meine Schwester erst ein Jahr. Wir wurden aufgeteilt …“

„Seltsam, dass dein Vater nur deine Schwester behalten hat.“

„Er wollte mich nicht.“

Diese einfachen Worte verrieten so viel Schmerz, dass es ihr tief ins Herz schnitt. Sie wollte widersprechen, ihm versichern, dass Charles ihn durchaus wollte – aber das ging ja nicht.

„Hast du je versucht, Kontakt zu deiner Schwester aufzunehmen?“

„Wieso fragst du?“

„Ach, nur so. Vielleicht weil ich gern Geschwister hätte.“

„Ja, so sind wir Menschen. Immer will man das, was man nicht hat.“

Sie nickte nur. Schade, dass er ihrer Frage ausgewichen war …

Zusammen gingen sie über den schattigen Gehsteig und sahen sich die Geschäfte und Galerien an. Dann überquerten sie die Straße und setzten sich in einem gut besuchten Restaurant unter einen der Sonnenschirme an einen Tisch. Anna löste ihren Knoten und schüttelte ihr Haar. Als sie Judds bewundernden Blick bemerkte, schlug ihr Herz unwillkürlich schneller.

„Möchtest du eine Speisekarte?“, fragte er. „Oder soll ich dir etwas aussuchen?“

„Bitte bestell etwas für mich mit. Ich esse eigentlich alles.“

„Und was willst du trinken? Ein Glas Wein?“

Sie betrachtete einen Gast, der ein Bier mit großer Schaumkrone vor sich hatte. „Nein, lieber ein Bier.“

„Wirklich?“

„Ja klar! Gehörst du etwa zu den Leuten, die finden, dass Bier kein Getränk für Frauen ist?“

„Ganz und gar nicht!“ Er lachte. „Ich nehme auch eins.“

Kaum hatte er die Bestellung aufgegeben, als auch schon das Essen serviert wurde. Anna stöhnte, als sie die großen Portionen sah.

„Hier wird gekocht wie in ‚Good Old Germany‘. Das muss man einfach mal probiert haben“, sagte Judd.

Anna nahm einen Schluck von ihrem angenehm kalten Bier. „Mmh, gut!“

Während sie aß, achtete sie nicht darauf, dass ein paar Kinder um die Tische sausten. Eines davon blieb aus Versehen am Schultergurt ihrer Tasche hängen, die sie neben ihren Stuhl gestellt hatte.

Während Anna die Gläser festhielt, weil auch der Tisch wackelte, wurde die Tasche ein Stück weit mitgeschleift, und der Inhalt fiel heraus.

„Bitte entschuldigen Sie!“ Die Mutter des Kleinen beeilte sich, die verstreuten Habseligkeiten einzusammeln.

„Halb so schlimm“, sagte Anna und stopfte die Sachen wieder in die Tasche zurück. „Meine Schuld. Ich hätte sie nicht dahinstellen sollen.“

Judd war aufgesprungen und half beim Aufsammeln. Zu spät sah Anna, dass auch der Brief herausgefallen war. Als Judd danach griff und seinen Namen las, blieb ihr schier das Herz stehen.

Er setzte sich wieder und gab ihr ihre Sachen, aber den Umschlag behielt er. Er drehte ihn zwischen den Fingern, als wäre der Inhalt hochexplosiv. Was ja auch stimmte.

Der Junge und seine Mutter gingen wieder, aber Anna achtete nicht darauf. Mit angehaltenem Atem starrte sie Judd an.

„Würdest du dir bitte die Mühe machen, mir das zu erklären?“, fragte er in einem Tonfall, der keinerlei Wärme mehr enthielt.

Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Das ist ein Brief …“

„Das sehe ich. Und offenbar ist er für mich.“

Anna hielt die Spannung nicht mehr aus und sah auf ihre im Schoß verkrampften Hände. Sie hatte ihm den Brief geben wollen, wenn die Zeit dazu reif war. Wenn sie ihn gut genug kannte, um seine Reaktion einschätzen zu können. Jedenfalls nicht hier, vor all den vielen Leuten. Ohne Vorwarnung …

„Ja“, sagte sie nur.

Sie zuckte zusammen, als er den Umschlag aufriss. Sie hörte nur noch das leise Knistern des Papiers beim Auseinanderfalten. Von den Geräuschen der Umgebung, dem Tellerklappern und den Gesprächen der Gäste nahm sie nichts mehr wahr.

Endlich gab sie sich einen Ruck und blickte wieder auf: Judd las, was sein Vater ihm geschrieben hatte … Ein Brief wie dieser konnte ihr aller Leben von Grund auf verändern.

Als er fertig war, faltete er das Blatt wieder zusammen und steckte es zurück in den Umschlag. Noch immer sagte er kein Wort.

Ein seltsames Angstgefühl beschlich sie. Er war ruhig. Zu ruhig. Sie kannte dieses Verhalten von Charles und wusste, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war. Welches Unheil bahnte sich hier an?

Über den Tisch hinweg berührte sie seinen Arm. Aber er schüttelte ihre Hand ab wie ein lästiges Insekt.

„Judd“, setzte sie an. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie die Wut in seinen blauen Augen sah.

„Wer zum Teufel bist du, und was willst du wirklich hier?“

3. KAPITEL

Über den Tisch hinweg starrte Anna Judd an. Sie spürte förmlich, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Jetzt hatte sie alles verdorben! Wäre sie doch Charles’ Anweisung gefolgt! Sie hätte einen Termin vereinbaren und ohne Umschweife den Brief übergeben sollen.

Nach einem tiefen Atemzug sagte sie: „Ich habe dir gesagt, wer ich bin. Ich bin Anna Garrick. Und …“ Sie schluckte, „… ich bin hier, weil dein Vater verzweifelt seine Fehler wiedergutmachen will.“

„Wenn das so ist – warum kommt er dann nicht selbst?“ Seine Gesichtszüge wirkten hart und angespannt, und die blauen Augen funkelten aufgebracht. „Schämt er sich? Weil er mit seinem Stolz und seinen dummen Anschuldigungen unsere Familie auseinandergerissen hat?“

Anna gab ein leises Protestgeräusch von sich. Das stimmte nicht. Soviel sie von ihrer Mutter wusste, hatte Charles bei seiner Trennung von Cynthia zwar auch einiges falsch gemacht, aber wer hätte das unter einem solchen Druck nicht? Laut ihrer Mom traf aber Cynthia die Hauptschuld.

„Und? Ich höre.“

„Ihm geht es nicht gut. Der Arzt hat ihm die Reise nicht erlaubt.“ Der Diabetes, an dem er schon seit Jahren litt, war schlimmer geworden. Zum Teil lag es daran, dass die Diagnose so spät gestellt worden war, zum anderen an Charles’ Weigerung, ärztliche Ratschläge zu befolgen. Inzwischen machten sich die ersten Anzeichen eines drohenden Nierenversagens bemerkbar.

„Wie praktisch.“ Judd hob sein Glas und nahm einen großen Schluck.

Anna spürte, dass sie wütend wurde. „Ganz und gar nicht! Hör zu, ich bin nicht eingeweiht, was genau in dem Brief steht, aber ich kann es mir vorstellen. Charles bittet dich, zu kommen. Er möchte dich wiedersehen, bevor er …“ Sie brach ab.

„Bevor er was?“

„Bevor er stirbt.“

„Dir liegt wohl viel an ihm?“, fragte er emotionslos.

„Mehr als du dir vorstellen kannst“, antwortete sie. „Judd, er ist nicht gesund! Bitte, das ist vielleicht die letzte Chance. Du bist es ihm schuldig, schließlich ist er dein Vater.“

„Schuldig bin ich ihm gar nichts!“ Er lachte freudlos. „Ich bin bisher ganz gut ohne ihn zurechtgekommen und sehe nicht ein, warum sich daran etwas ändern sollte. Wobei ich zugeben muss, dass er sich einige Mühe gibt, mich zu ködern.“

„Zu ködern?“, fragte sie unbehaglich. Welche Anreize hatte Charles sich für Judd ausgedacht?

„Du weißt es wirklich noch nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Komisch, obwohl er dich als Mitarbeiterin so schätzt und obwohl du ihm, wie du selbst gesagt hast, auch persönlich sehr nahestehst, hat er es nicht für nötig befunden, dich zu informieren. Und das, trotzdem er dir so viel bedeutet?“

Anna hörte sehr wohl die versteckte Andeutung heraus, sie und Charles könnten ein Verhältnis haben. Ja, sie liebte ihn – wie einen Vater. Aber wie sollte sie das Judd erklären? Er würde ihr ja doch nicht glauben.

Er lehnte sich zurück und fixierte sie mit seinen leuchtend blauen Augen. „So wie es aussieht, will mir dein geschätzter Arbeitgeber den Hauptanteil an seinem Familienunternehmen übertragen.“

„Was?“

Den Hauptanteil? Einfach so? Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen. Sie schluckte. Wie konnte er Nicole das antun? Und sie selbst war ja nun leider auch in die Sache verstrickt!

Sie kannte ihre Freundin gut genug, um zu wissen, dass sie in puncto Loyalität und Ehrlichkeit ebenso hohe Anforderungen stellte wie ihr Vater.

Wenn Nicole erfuhr, dass sie hinter ihrem Rücken die Botin gespielt hatte, damit Charles die Firma Judd übergeben konnte – würde sie je wieder mit ihr reden?

„Und das ist noch nicht alles. Offensichtlich soll ich das Haus auch bekommen.“ Er wedelte mit dem Brief in der Luft herum.

Anna glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „So etwas würde er niemals machen. Du fühlst dich doch ihm oder Wilson Wines gegenüber überhaupt nicht verpflichtet! Vielleicht verkaufst du deinen Anteil an wer weiß wen? Nein, so unbedacht ist Charles nicht.“

Wirklich nicht? Wenn das stimmte, musste der alte Mann verzweifelt bemüht sein, die Kluft zwischen ihm und Judd zu überwinden. Aber auf Nicole würde sich das vernichtend auswirken. Sie war in Neuseeland aufgewachsen, in ebendiesem Haus. Sie engagierte sich mit Leib und Seele für die Firma. Und jetzt sollte sie zusehen, wie ihrem Bruder alles einfach so zuflog? Nein, so grausam konnte Charles nicht sein!

Oder doch? Sie kannte seine Zielstrebigkeit. Die Ärzte gaben ihm nicht mehr lang, und bevor er starb, wollte er seinen Sohn zurückhaben. Und das versuchte er mit allen Mitteln – ohne Rücksicht auf die Gefühle seiner Tochter, die ihn so sehr liebte.

Er hatte postum einen Brief von seinem früheren Geschäftspartner und größten Konkurrenten bekommen, von Thomas Jackson.

Seitdem war der Wunsch, den Kontakt zu Judd wiederherzustellen, fast zur Besessenheit geworden.

Anna kannte den genauen Inhalt dieses Briefes nicht, aber sie konnte sich denken, worum es darin ging: um das damalige Zerwürfnis der beiden Männer und um Cynthias und Judds Auswanderung kurz darauf.

Hatten Thomas Jackson und Cynthia ein Verhältnis gehabt?

Judd hielt ihr den Brief hin. „Lies selbst.“

Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, sodass sie blinzeln musste. Es stimmte. In seiner krakeligen Handschrift bat ihr Chef Judd flehentlich, zu ihm zurückzukommen. Wie schwer musste es dem alten Mann gefallen sein, seinem Sohn, von dem er sich vor fünfundzwanzig Jahren abgewendet hatte, seine Gefühle zu offenbaren? Immerhin sicherte er sich dadurch ab, dass er auf einem DNA-Test bestand, der jeden Zweifel an seiner Vaterschaft ausräumen sollte.

Aha, jetzt ergab alles einen Sinn!

Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen und gab ihn Judd zurück.

„Davon hatte ich keine Ahnung. Nimmst du sein Angebot an?“

„Er kränkt meine Mutter – nach all den Jahren. Und da glaubst du, ich werfe mich in seine Arme?“

„Wie meinst du das, er kränkt deine Mutter?“

„Mit dem DNA-Test. Er traut ihr zu, dass sie ihn betrogen hat! Egal, was sonst noch in dem Brief steht, er hat sich kein bisschen geändert. Es ist offensichtlich, dass er noch immer das Sagen haben will. Und dann du …“

„Ich?“

„Welche Rolle spielst du bei alldem? Sollst du auch dabei helfen, mir die Rückkehr zu versüßen?“

Anna spürte, wie sie knallrot wurde. „Es gefällt mir nicht, was du da sagst …“

„Aber der Schluss liegt doch nahe! Überleg doch mal: Du kommst ins Haus meiner Familie. Du sagst nicht, wer du bist und was du wirklich willst. Und du gehst bereitwillig auf meine Annäherungsversuche ein. Jedenfalls hattest du nichts dagegen, als ich dich letzte Nacht geküsst habe.“

„Das war …“ Sie brach ab.

„Was war das, Anna?“, hakte er nach. „Doch wohl kaum reine Pflichterfüllung.“

Anna verbiss sich eine Erwiderung und sagte so ruhig wie möglich: „Ich habe meinen Auftrag erfüllt, du hast den Brief. Jetzt bist du am Zug.“

Nur leider hatte sie Charles damit enttäuscht. Sie schluckte. Nie hatte er sie um etwas Wichtigeres gebeten – und sie hatte versagt. Ein bitteres Eingeständnis!

„Bitte lass nicht zu, dass mein Verhalten deine Entscheidung beeinflusst! Dein Vater wollte nämlich, dass ich mich dir gegenüber völlig ehrlich verhalte. Es war meine eigene Idee, dich im Unklaren zu lassen.“

„Wieso das denn?“

„Ich wusste, dass er sich mit dir versöhnen will, und ich habe mir Sorgen gemacht, wie du es aufnimmst und ob du ihn vielleicht ausnützen willst. Er ist ein alter und kranker Mann, der keine Rückschläge mehr verkraften kann.“

„So denkst du über ihn?“

Sie nickte. „Du kennst ihn nicht. Schieb doch den Gedanken an die Vergangenheit beiseite. Vorbei ist vorbei. Vielleicht kannst du dann dir vorstellen, was es bedeutet, dass er alles wiedergutmachen will.“

Judd starrte sie an, ohne dass sie seine Miene deuten konnte.

Sie fühlte sich immer unwohler.

Annas Worte erschienen Judd wie eine Zumutung.

Was schlug sie da vor? Den Gedanken an die Vergangenheit beiseitezuschieben? Hatte sie überhaupt die leiseste Ahnung, was sie da von ihm verlangte?

Natürlich nicht. Woher sollte sie wissen, wie es sich anfühlte, von einem Moment auf den anderen vom geliebten Vater verstoßen zu werden? In eine neue Familie, eine völlig andere Welt versetzt zu werden? Stark sein zu müssen, weil die Mutter es erwartete?

Wie oft hatte er auf The Masters aus dem Fenster gesehen und die ankommenden Fahrzeuge beobachtet! Und dabei sehnlichst und wider alle Vernunft gehofft, sein Vater würde kommen …

Aber was er sich als Sechsjähriger so sehr gewünscht hatte, war nie geschehen. Bei Schulaufführungen hatte er es sich schnell abgewöhnt, Ausschau nach dem Mann zu halten, dem er angeblich wie aus dem Gesicht geschnitten war. Irgendwann begriff er, dass sein Leben nie wieder so werden würde wie früher.

Dadurch war er hart geworden. Er verließ sich grundsätzlich nur auf einen einzigen Menschen: Auf sich selbst.

Sein erster Impuls war gewesen, Charles’ flehentlichen Brief zusammenzuknüllen und Anna ausrichten zu lassen, er könne ihn sich sonst wohin stecken. Aber die Vernunft siegte über diese Gefühlsaufwallung.

Denn ohne es zu ahnen, bot ihm sein lange entfremdeter Vater damit die Gelegenheit zu der Rache, nach der er sich immer gesehnt hatte. Endlich konnte er ihm heimzahlen, was er ihnen angetan hatte.

Cynthia hatte ihm die Geschichte oft genug erzählt: Direkt nach der Hochzeit hatte er das Interesse verloren und sich nicht mehr um sie gekümmert. Alles andere war ihm wichtiger gewesen als seine junge Frau. Als sich Cynthia in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung einen eigenen Freundeskreis und eigene Hobbys hatte aufbauen wollen, war sein ausgeprägter Besitzanspruch zutage getreten. Rasend vor Eifersucht kam er letztendlich zu der Überzeugung, dass sie ihn betrogen habe.

Dann eskalierte die ganze Situation in dem Streit, bei dem er Frau und Sohn des Hauses verwies.

Seitdem hatte Judd seinen Vater nicht wiedergesehen. Und nicht nur das: Auch jeder andere Kontakt zu ihm war abgebrochen. Keine Anrufe. Keine Briefe. Charles hatte ihn und Cynthia konsequent aus seinem Leben verbannt.

Und nun bekam er die Chance, sich zu rächen. Mit dem Hauptanteil an der Firma gab ihm Charles selbst die Mittel dazu in die Hand.

Nach allem, was er von seiner Mutter gehört hatte, war Charles ein Mann, dem geschäftliche Belange weitaus wichtiger waren als die Familie.

Also würde er da zuschlagen, wo es ihn am meisten schmerzte. Er musste nur noch in Ruhe über seine Pläne nachdenken, aber dann, dessen war er sich sicher, würde er Charles’ Angebot annehmen.

Er betrachtete Anna. Mit ihren seidig schimmernden langen Haaren und ihrer attraktiven Figur war sie eine wunderschöne Frau, wie man sie sich anziehender nicht vorstellen konnte. Sie weckte unweigerlich den Wunsch in ihm, sie in jeder Bedeutung des Wortes zu besitzen.

Plötzlich kamen ihm wieder Bedenken wegen Anna. Denn der Brief warf auch ein völlig neues Licht auf ihre Rolle.

Hatte sie aus einem Grund gezögert, den sie nicht zugeben wollte? Fürchtete sie bei seiner Rückkehr um ihre eigene Position in Charles’ Haus, vielleicht um ihr Erbe?

Charles hatte sie als Botin für sein Versöhnungsangebot ausgewählt, also vertraute er ihr völlig. Außerdem hatte sie selbst betont, wie nah er ihr stand. Aber wie nah? Hatte Cynthia recht? War sie tatsächlich Charles’ Geliebte?

Wenn das stimmte, würde es ihm eine doppelte Befriedigung bereiten, sie zu verführen.

Aber damit würde er warten, bis die Zeit reif war. Im Augenblick genügte es ihm, sie von The Masters wegzubekommen, damit sie keinen weiteren Schaden anrichtete.

Er wies auf das Essen, das vor ihnen stand.

„Isst du das noch?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kann nicht.“

„Dann gehen wir.“

„Zurück zum Weingut?“

„Ja, um deine Sachen zu holen. Und dann bring ich dich in die Stadt.“

„In die Stadt?“

„Ja, in ein Hotel. Auch wenn es dich überrascht, ich möchte dich jetzt nicht in der Nähe meiner Familie haben. Meine Mutter hat schon genug mitgemacht, jetzt muss sie nicht auch noch durch deine Anwesenheit gekränkt werden.“

Sie zuckte zusammen und wurde blass.

„Gut“, sagte sie gepresst. „Wann lässt du mich deine Entscheidung wissen?“

„Du fliegst am Freitag nach Auckland zurück, oder?“

Sie nickte.

„Bis dahin sage ich dir Bescheid.“

Anna telefonierte auf der Terrasse ihres Hotelzimmers und ging dabei unruhig auf und ab.

„Tut mir leid, Charles, dass ich es verdorben habe. Ich hätte es so machen sollen, wie du mir gesagt hast.“

Aber überraschenderweise reagierte Charles gelassen.

„Jetzt lässt es sich nicht mehr ändern. Keine Ahnung, ob es gut oder schlecht war. Hoffen wir einfach, dass er Vernunft annimmt und heimkommt, bevor es zu spät ist.“

Bei diesen Worten krampfte sich ihr Herz zusammen. Charles neigte nicht zu Übertreibungen, das wusste sie. Ging es ihm vielleicht schlechter, als er zugab?

Trotz ihrer Sorge um ihn wandte sie ein: „Ich kann noch immer nicht glauben, wie viel du dir seine Rückkehr kosten lässt.“

„Er bekommt nur, was ihm von Geburt an zusteht, Anna. Das weißt du so gut wie ich.“

„Aber was ist mit Nicole? Hast du mit ihr darüber gesprochen?“

„Das mach ich erst, wenn feststeht, dass er mein Sohn ist. Und du verrätst kein Wort, das hast du mir versprochen.“

Sie seufzte. „Ja, ich weiß. Ich sage ihr nichts. Aber trotzdem finde ich es nicht richtig.“

„Lass das meine Sorge sein.“

„Aber warum willst du ihm auch das Haus geben, Charles? Nicole muss ja das Gefühl haben, du ziehst ihr den Boden unter den Füßen weg. Schließlich ist es ihr Zuhause.“

„Deines auch“, erinnerte er sie. „Judd wird schon dafür sorgen, dass ihr beide wieder ein Dach über dem Kopf habt. Ich will ihm mein Vertrauen beweisen, damit er sich von mir voll und ganz als Sohn akzeptiert fühlt. Außerdem ist er bei den Masters aufgewachsen. Ich weiß, was das Haus ihnen bedeutet. Ihr Geschäft führt er schon, deswegen wäre es nichts Besonderes für ihn, auch unser Unternehmen zu leiten. Aber das Haus kann ihm niemand sonst geben.“

„Aber wieso glaubst du, dass du ihm so viel bieten musst?“

„Weil ich mich sehr gut in ihn hineinversetzen kann.“

Anna spürte, wie ihr ein kalter Schauer den Rücken hinablief. Nach alledem würde Nicole vermutlich nie wieder mit ihr sprechen!

Sie ging ins Zimmer und schloss die Glastür, fror aber noch immer. Was Charles vorhatte, war falsch, das spürte sie mit jeder Faser ihres Herzens. Aber es war zu spät, daran noch etwas zu ändern. Sie konnte nur hoffen, dass Judd das Angebot aus Anstandsgefühl ablehnte. Dass er seinem Vater die Hand zur Versöhnung reichte, ohne etwas dafür anzunehmen.

„Das heißt also, du willst sie nicht vorwarnen“, begann sie aufs Neue. „Du willst sie einfach mit ihrem Bruder konfrontieren und sie vor vollendete Tatsachen stellen.“

„Es sind meine Kinder, es ist meine Firma und mein Haus. Ich entscheide. Geh nicht zu weit, Anna.“

Diese Worte taten weh. „Natürlich nicht“, lenkte sie ein, obwohl sie viel lieber aufbegehrt hätte.

„Also, bis Freitag will er dir Bescheid sagen?“

„Ja.“

„Dann ruf mich bitte sofort an.“

„Mach ich.“

„Gut. Bis dann.“ Er legte auf.

Anna blieb allein zurück und blickte zu den Bergen in der Abenddämmerung. Wie sollte das nur enden?

4. KAPITEL

„Ich hatte recht!“, sagte Cynthia triumphierend.

Judd nickte nur. Er hatte den Großteil des Nachmittags hier im Büro verbracht und seine Aufgaben auf geeignete Stellvertreter verteilt. Dabei hatte er festgestellt, dass es durchaus von Vorteil war, wenn gleich mehrere Cousins im selben Familienunternehmen arbeiteten. So würde der Laden auch ohne ihn problemlos weiterlaufen.

Cynthias Freude über Charles’ Angebot kannte keine Grenzen. So lebhaft hatte er sie lange nicht gesehen.

„Wann teilst du ihm deine Entscheidung mit?“, wollte sie wissen.

„Am Freitagmorgen. Morgen habe ich genug damit zu tun, meine Vertreter einzuweisen und mit Anna Garrick zu reden.“

Schon die Erwähnung ihres Namens löste das ihm inzwischen vertraute sehnsüchtige Gefühl aus. Er hatte Erkundigungen eingezogen. Sie lebte bei Charles Wilson, was bewies, dass sie tatsächlich mehr war als seine Assistentin. Viel mehr! Die Aussicht, sie ihm auszuspannen, hatte etwas sehr Verlockendes, nur musste er behutsam vorgehen, damit sie keinen Verdacht schöpfte.

„Wie lange wird das mit dem DNA-Test dauern?“, fragte Cynthia.

„So ein Vaterschaftsnachweis ist keine komplizierte Sache. Heutzutage bekommt man in ein paar Tagen das Ergebnis.“

„Ich kann noch immer nicht glauben, dass er das verlangt! Er braucht dich doch nur anzusehen, um zu wissen, dass ich ihn nicht betrogen habe.“

Ihre Stimme klang dramatisch, aber Judd schwieg. All das hatte er schon zu oft gehört.

Als seine Mutter nicht die erwünschte Antwort erhielt, wechselte sie das Thema. „Endlich bekommen wir wieder, was uns gehört“, sagte sie und zeigte damit, worum es ihr in Wahrheit ging.

„Du meinst das Haus?“

Eigentlich hätte er sich denken können, dass es ihr in erster Linie darauf ankam. Er war auch neugierig darauf, den Ort seiner Kindheit wiederzusehen. Aber im Unterschied zu Cynthia wollte er das Haus am liebsten dem Erdboden gleichmachen. Und Wilson Wines gleich mit dazu …

Er würde das Imperium seines Vaters in seine Einzelteile zerlegen, Stück für Stück. Und danach würde er nach The Masters und in seine bisherige Position zurückkehren. Dann konnte Cynthia mit dem Haus machen, was sie wollte.

„Ich muss es erst modernisieren, damit es in neuem Glanz erstrahlt.“

„Woher willst du wissen, dass es nicht auf dem neuesten Stand ist?“

Sie verdrehte die Augen. „Judd, Darling, ich war fünfundzwanzig Jahre nicht mehr dort! Da gibt es mit Sicherheit einiges zu tun. Ich habe mein Herzblut für das Haus gegeben. Glaub mir, niemand liebt es so wie ich.“

„Langsam, langsam. Eins nach dem anderen.“

„Natürlich. Zuerst müssen wir die lachhaften Forderungen deines Vaters erfüllen. Was denkst du, wie lange wirst du weg sein?“

„Nicht länger als einen Monat.“

„So lang?“

Er dachte an seine Pläne mit der zauberhaften Anna Garrick, und plötzlich erschien ihm ein Monat ziemlich kurz. Schließlich wollte er seinen Sieg auskosten.

„Vielleicht auch länger. Mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.“

Als Cynthia das Büro verlassen hatte, lehnte er sich in seinem Chefsessel zurück und sah aus dem Fenster auf die Weingärten und die Kellerei.

Er liebte seine Arbeit hier, und er verstand etwas davon. Aber in den letzten Monaten waren seine Aufgaben eintönig geworden, ihm gefiel es besser, etwas zu verändern und sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen. Und jetzt bot sich ihm, wenn auch nur vorübergehend, die Chance dazu. Um seinen Plan in die Tat umzusetzen, musste er sich mächtig anstrengen. Aber er würde es schaffen.

Er würde das Lebenswerk seines Vaters vernichten und ihm die Geliebte vor der Nase wegschnappen.

Als Anna am Freitagmorgen aufwachte, griff sie sofort nervös nach ihrem Handy, wie schon nachts einige Male. Immer noch nichts von Judd Wilson!

Als sie auf dem Display sah, wie spät es bereits war, sprang sie auf und ging unter die Dusche. Die schlaflose Nacht hatte ihren Tribut gefordert, denn eigentlich hatte sie viel früher aufstehen wollen.

Schon in einer halben Stunde würde der Wagen kommen, der sie zum Flughafen bringen sollte. Zum Glück hatte sie bereits gepackt. Auch die Kleidung für den Heimflug lag schon bereit.

Eilig zog sie sich an und verließ ihr Zimmer. Als sie an der Hotelrezeption auscheckte, spürte sie plötzlich ein eigenartiges Prickeln. Er war hier! Hieß das, dass er mit nach Neuseeland kam? Oder wollte er nur persönlich absagen?

Sie wusste, dass sie sich jetzt umdrehen und ihm ins Gesicht sehen musste. Dabei brachte sie sogar ein Lächeln zustande!

Bei seinem Anblick spürte sie sofort wieder die qualvolle Sehnsucht.

Wieso nur fühlte sie sich so stark zu ihm hingezogen, obwohl er sie so schlecht behandelt hatte? In den beiden letzten Nächten hatte sie sich diese Frage wieder und wieder gestellt. Vor allem, wenn sie von ihm geträumt hatte und mit dem Gefühl hochgeschreckt war, er würde direkt vor ihr stehen.

Welch ein Pokerface, dachte sie, denn sein Gesicht verriet nicht die kleinste Gefühlsregung. Unmöglich, ihm anzusehen, wie er sich entschieden hatte.

„Und? Fertig?“, fragte er lässig.

„Wie wäre es erst mal mit Guten Morgen?“

Doch er zog nur eine Augenbraue hoch.

Anna griff nach ihrem Trolley und ging Richtung Ausgang.

„Das nehme ich“, sagte Judd, klappte den langen Griff ein und trug den Koffer mühelos. Dabei hatte sie für dreieinhalb Tage gepackt – und das nicht besonders sparsam.

Sie sah, dass er auf die dunkle Limousine zusteuerte, die vor der Tür parkte, und beeilte sich, ihm zu folgen.

„Warte, ich habe ein Taxi bestellt.“

„Und ich habe es abbestellt“, sagte er. „Wir können doch zusammen zum Flughafen fahren.“

„Und dann?“ Sie hielt die Spannung nicht mehr aus! Kam er jetzt mit ihr nach Auckland oder nicht?

„Dann checken wir ein.“

„Heißt das, du nimmst Charles’ Angebot an?“

Er gab dem Fahrer den Koffer und wollte ihr behilflich sein, auf der bequem gepolsterten Rücksitzbank Platz zu nehmen.

Aber Anna zögerte. Erst wollte sie eine Antwort.

„Ich habe dem Test zugestimmt, und wenn mein Vater mit dem Ergebnis zufrieden ist, nehme ich sein Angebot an.“

Anna wusste nicht, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Sie empfand nur ein Gefühl der Leere. Wortlos nickte sie und stieg ein. Glücklicherweise setzte sich Judd auf den Beifahrersitz und nicht zu ihr auf die Rückbank. So konnte sie wenigstens Ordnung in ihre Gedanken bringen.

Schon nach kurzer Fahrt erreichten sie den Flughafen, und Anna wollte Charles anrufen.

„Nicht nötig“, sagte Judd ruhig. Er bot ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen.

„Warum nicht?“, fragte sie. Langsam streckte sie die Hand aus – und wusste im Voraus, dass es sie wie ein Stromschlag durchzucken würde.

Und genau das passierte: Schon bei der leichtesten Berührung ihrer Finger schlug ihr Herz schneller, und ihr wurde ganz schwindelig vor Lust.

Mit anderen Männern hatte sie bisher bestenfalls gegenseitige Sympathie verbunden, mehr nicht. Aber nun ging es um etwas völlig anderes. Um intensive ursprüngliche Gefühle, die sich mit aller Macht Bahn brachen und gegen die sie machtlos war. Dass sie die Hand schnell wieder wegzog, änderte daran auch nichts mehr.

„Weil ich schon mit ihm gesprochen habe.“

„Du hast was?“, fragte sie ungläubig.

„Ist das so ungewöhnlich?“

„Ja – nach deiner Reaktion auf seinen Brief.“

„Wie du am Mittwoch gesagt hast: Vorbei ist vorbei.“

Skeptisch sah sie ihn an. Meinte er das wirklich so, wie er es sagte? Ein Mann wie Judd Wilson war zu ernsthaft, zu getrieben, um einfach zur Tagesordnung überzugehen, als wäre nichts geschehen. Er musste versteckte Motive haben …

„Und? Du schweigst?“, fragte er.

„Wie hat er darauf reagiert?“

„Vorsichtig optimistisch würde ich sagen.“

So standen die Dinge jetzt also.

Als der Fahrer die Koffer ausgeladen hatte, ging er, um einen Gepäckwagen zu holen. Anna wartete seine Rückkehr nicht ab, sondern machte sich mit ihrem Trolley auf den Weg zum Einchecken.

Aber schon nach wenigen Metern holte Judd sie ein. Sie begriff, dass sie von jetzt an keinen Einfluss mehr auf das hatte, was geschah. Hoffentlich würde Nicole ihr je verzeihen, dass sie sich von Charles in die Sache hatte hineinziehen lassen. Aber etwas sagte ihr schon jetzt, dass das nicht einfach werden würde.

Patrick Evans, Charles’ Fahrer, holte sie und Judd vom Auckland International Airport ab. Anna sah aus dem Fenster: Sie waren fast zu Hause. Das Licht der Scheinwerfer glitt über die Beete mit Kamelien, welche die Straße im vornehmen Stadtteil Remuera säumten.

Als das neugotische Gebäude, nach den Originalplänen des Hauses der Masters, vor ihnen auftauchte, atmete Anna erleichtert auf.

Sie erinnerte sich noch gut an den Schock, den ihr der Anblick der Ruine über den Weinbergen Australiens versetzt hatte. So schnell konnte ein Zuhause zerstört werden. Natürlich gab es hier in der Stadt keine Buschfeuer, aber ein Haus und eine Familie waren vielerlei Bedrohungen von außen ausgesetzt.

Durch die Zeitverschiebung zwischen Adelaide und Auckland war es bereits dunkel, als sie auf das Grundstück fuhren. Aber die geschickte Beleuchtung brachte das Haus und den Garten sehr schön zur Geltung.

Anna sah Judd an, der neben ihr auf dem Rücksitz der Limousine saß, und wartete auf seine Reaktion.

„So sieht es also aus“, sagte er fast feierlich, während er das zweistöckige Gebäude aus rotem Ziegelstein betrachtete. „Meine Erinnerungen an damals sind … lückenhaft.“

„Es kommt dem Original sehr nahe, aber ist natürlich technisch auf dem neuesten Stand. Und trotz seiner Größe ist es richtig gemütlich“, erklärte Anna.

Vor dem von Säulen eingerahmten Eingangsportal hielt der Wagen an. Der besondere Baustil des Hauses wurde durch einen efeubewachsenen Turm betont, dessen Kupferdach von der Witterung grün geworden war.

„Das ist also dein Zuhause“, sagte Judd.

Anna zog es vor, auf diese Bemerkung nicht einzugehen. Stattdessen half sie Patrick beim Ausladen.

Als die Haustür geöffnet wurde, rechnete sie mit Charles, aber stattdessen stand Nicole vor ihnen.

Sie trug einen eleganten schwarzen Anzug und hatte die langen dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht wirkte blass, als sie den Mann betrachtete, der ihr Bruder war.

„Ich konnte es nicht glauben, als Charles mir gesagt hat, dass du kommst“, sagte sie steif.

Anna erschrak. Sie kannte ihre Freundin als überschwänglich, spontan und liebenswürdig. So … förmlich, so zurückhaltend, hatte sie Nicole noch nie erlebt.

Sie kam die Stufen herunter auf Anna zu und fragte: „Warum hast du mir nichts davon erzählt?“

Oh nein! Was wusste sie bereits? Hatte Charles ihr nur angekündigt, dass Judd zurückkam – oder ihr auch gesagt, was er ihm alles versprochen hatte?

Wie auch immer, die Antwort war dieselbe: „Weil Charles es so wollte.“

„Und ihm gegenüber fühlst du dich mehr verpflichtet als mir?“, fragte Nicole traurig.

„Das ist nicht fair!“

„Stimmt, ist es nicht. Aber hier ist einiges unfair …“ Mit ihren braunen Augen sah Nicole sie schmerzerfüllt an.

Anna legte ihr tröstend die Hand auf den Arm.

„Ich hätte es dir so gerne gesagt, aber ich durfte nicht. Bitte glaub mir.“

Nicole nickte und wandte sich wieder Judd zu. „So, Bruderherz, jetzt wird es Zeit, dich willkommen zu heißen.“

Sie breitete die Arme aus, und zu Annas Überraschung ging Judd auf sie zu und ließ sich umarmen. Die Geschwister hielten sich lange in den Armen, ehe sie einander wieder losließen.

Judd war überrascht, dass er so tiefe Gefühle beim Anblick seiner Schwester empfand. Sie war bei seinem Abschied erst ein Jahr gewesen, und er hatte sie sich nie erwachsen vorgestellt. Durch Charles’ Schuld waren sie getrennt worden und hatten damit viele gemeinsame Jahre verloren.

„Ich glaube, wir müssen einiges nachholen“, sagte er.

Nicole lachte. „Ja, allerdings! Was für eine Untertreibung! Jetzt komm erst mal rein. Dad wartet auf dich.“

„Kommst du mit?“, fragte er Anna.

„Ich finde, ihr solltet erst mal ungestört sein. Wir sehen uns dann beim Abendessen.“

„Jetzt sei doch nicht so!“, protestierte Nicole. „Dad will dich bestimmt auch dabeihaben.“

Ihre Aufforderung klang gekünstelt. Lag das vielleicht daran, dass sie nicht mit dem Verhältnis zwischen Anna und Charles einverstanden war?

Nicole hängte sich bei ihm ein. Mit ihren High Heels war sie fast so groß wie er. Gemeinsam schritten sie die Stufen zu dem Haus hoch, das schon bald ihm gehören würde.

Eines zeigte sich bereits deutlich: Charles ging noch immer unverändert rücksichtslos mit den Frauen in seiner Umgebung um. Nicoles freundliches Verhalten ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht wusste, was ihr Vater vorhatte.

Jetzt galt es, dem Mann gegenüberzutreten, der ihn vor fünfundzwanzig Jahren aus seinem Zuhause vertrieben hatte – und dabei ganz ruhig zu bleiben.

In seiner Erinnerung war sein Vater ein energiegeladener Mann in der Blüte seiner Jahre. Doch dieses Bild änderte sich schlagartig, als er den großen Salon betrat und Charles erblickte, der nur noch ein Schatten seiner selbst war.

Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel und kam auf ihn zu. Aber trotz der Gebrechlichkeit des alten Mannes verrauchte Judds Wut nicht so einfach.

„Judd …“

„Sir“, sagte Judd und hielt ihm die Hand hin. Er betrachtete seinen Vater, der längst nicht mehr die faszinierende Ausstrahlung von damals besaß. Sein schwarzes Haar war grau geworden, die Haltung weniger aufrecht, die Figur beleibter. Aber auch wenn es Charles offensichtlich nicht gut ging, seine blauen Augen funkelten so lebendig wie immer.

Die Augen – wie sehr sie doch seinen eigenen glichen!

Beide Männer schwiegen, bis Charles zufrieden nickte und seinem Sohn bedeutete, sich zu setzen.

Auch die Frauen setzten sich – Anna auf das Sofa neben Charles. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Judd wurde schlagartig eifersüchtig.

Der vertraute Umgang von Charles und Anna sprach eine deutliche Sprache. Aber dieses Verhältnis würde er zerstören, das nahm er sich fest vor.

„Schon gut, Anna. Mir fehlt nichts“, wehrte Charles ab und hielt ihre Hand einen Moment fest. „Also gut, reden wir nicht um den heißen Brei herum: Judd, du weißt, dass ich einen Vaterschaftstest will.“

Judd spürte, wie sich ihm die Nackenhärchen aufrichteten. „Ich bin dein Sohn. Es kann gar nicht anders sein.“

„Klar, dass deine Mutter das sagt. Aber ich will es hundertprozentig wissen.“

Judd musste all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um ruhig zu antworten. „Wie schon gesagt, bin ich einverstanden.“

Auch wenn ich genau weiß, dass meine Mutter mich bei einem so wichtigen Thema nie belügen würde!

„Gut. Dann gehen wir das gleich am Montag an. Wir können die Proben ins Labor hier in Auckland schicken. Dort wird ein Eilservice angeboten, mit dem man innerhalb von achtundvierzig Stunden das Ergebnis bekommt. Schade, dass Anna dich nicht früher hergebracht hat. Jetzt müssen wir das ganze Wochenende warten …“

„Warum die plötzliche Eile?“ Diese Frage konnte Judd sich nicht verkneifen. „Fünfundzwanzig Jahre hast du gewartet, da kommt es auf zwei Tage mehr auch nicht an.“

Charles sah ihn an und lächelte stolz. „Du hörst dich ja an wie ich! Du kommst auch immer direkt zur Sache, stimmt’s?“

„Weil alles andere nichts bringt.“

„Sehe ich auch so.“

Judd schwieg und wartete auf die Antwort seines Vaters, aber nichts geschah. Bis Nicole es schließlich nicht mehr aushielt. „Das wüsste ich auch gern!“, sagte sie mit bebender Stimme. „Warum ausgerechnet jetzt, Dad?“

Stirnrunzelnd sah Charles seine Tochter an. „Jetzt reg dich doch nicht auf! Schließlich ist es kein Geheimnis, dass ich nicht jünger werde. Für mich wird es langsam Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen.“

„Aber warum hast du Anna geschickt? Es war doch ganz unnötig, sie da mit hineinzuziehen.“

„Es reicht, junge Lady! Noch bin ich das Familienoberhaupt. Hör auf, meine Entscheidungen zu hinterfragen.“

Judd tat seine Schwester leid. Ganz sicher hatte sie es nicht immer leicht mit Charles. Und er selbst hatte ihr all die Jahre nicht zur Seite stehen können. Sobald es ging, würde er das wiedergutmachen!

In diesem Moment klopfte es an der Tür und Mrs Evans, die Haushälterin, trat ein. „Sie können jetzt zu Tisch gehen, das Abendessen ist fertig“, meldete sie.

„Wir essen immer pünktlich“, erklärte Charles. „Das ist wichtig bei Diabetes.“ Er erhob sich, wobei er Annas Hilfe ablehnte, und ging voraus in den Speisesaal.

Judd sah sich um. Trotz seiner nur bruchstückhaften Erinnerungen erschien ihm vieles vertraut. Von Freunden hatte er Bilder von Masters’ Rise aus der Zeit vor dem Brand bekommen. Und dieses Haus hier war tatsächlich ein detailgetreuer Nachbau des Zuhauses seiner Mutter. Kein Wunder, dass sie es so ungern verlassen hatte.

Aber sie würde triumphierend hierher zurückkehren, dafür würde er sorgen!

Sie waren nun schon fast eine Woche da. An diesem Tag verhandelten Judd und Charles schon seit Stunden hinter verschlossenen Türen. Ab und zu kam Nicole aus ihrem Büro, um zu sehen, ob sich etwas getan hatte. Die Spannung in der Luft ließ sich kaum noch ertragen.

Als die Post gebracht wurde, empfand Anna es als willkommene Abwechslung. Routiniert ging sie die Briefe und Päckchen durch – bis ihr ein Umschlag besonders auffiel. Sie las die Adresse und hielt gebannt den Atem an: Vom Labor!

Obwohl sie üblicherweise auf Charles’ Wunsch auch seine persönlichen Briefe öffnete – in diesem besonderen Fall zog sie es vor, das nicht zu tun.

Während sie den Brief in den Händen drehte und wendete, ging plötzlich die Tür auf. Sie fühlte sich ertappt, denn Judd starrte sie an und zog fragend eine Braue hoch.

Wie so oft in den letzten Tagen, versuchte sie vergebens, ihn zu ignorieren. In Australien hatte sie Angst davor gehabt, was er tun würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Aber sie hätte nie damit gerechnet, dass Charles ihr auch etwas verschweigen könnte … bis sie erfuhr, dass er tatsächlich plante, Judd die Firma zu übergeben! Sobald der DNA-Test die Vaterschaft bestätigte, war er hier der Boss!

Schon allein deshalb sollte er für sie eigentlich tabu sein. Rational betrachtet wusste sie das. Aber dennoch sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Körper nach seinen Berührungen.

Sobald sie auch nur an ihn dachte, wurde ihr schon heiß. Sich mit ihm in einem Zimmer aufzuhalten bedeutete eine absolute Qual für sie, weil sie sich die ganze Zeit zurückhalten musste. Bisher hatte sie sich mit der Arbeit einigermaßen ablenken können, aber so wie es aussah, war es damit nun auch vorbei.

Charles kam jetzt ebenfalls aus dem Büro. „Anna, ich möchte, dass du mit Judd zu unseren wichtigsten Vertriebspartnern fährst. Zeig ihm alles, was er wissen muss. Und macht die Besuche ohne Vorankündigung, dann könnt ihr euch ein ehrliches Bild machen.“

„Möchtest du nicht selbst mit ihm fahren?“ Sie konnte sich nichts Schwierigeres vorstellen, als den ganzen Tag in seiner Gesellschaft zu verbringen. Zwischen ihnen herrschte eine Anziehungskraft, die sie so nervös machte, dass sie schon mit dem Gedanken spielte, eine Zeit lang Urlaub zu nehmen. Nur um wieder frei atmen zu können und nicht ständig an ihn denken zu müssen.

„Wie du weißt, kann ich nicht selbst fahren, und von Judd kann man noch nicht erwarten, dass er sich allein zurechtfindet.“

„Ich finde mich schon zurecht“, sagte Judd ruhig. „Mit meinem Navigationssystem ist das gar kein Problem.“

„Kommt nicht infrage“, beharrte Charles, während seine Gesichtsfarbe etwas dunkler wurde. „Ich habe Anna gebeten, dich zu begleiten, also macht sie es auch. Die Geschäftspartner kennen sie, und das macht es doch leichter für dich. Findest du nicht auch, Anna?“

Anna stand auf und nahm ihre Handtasche. „Natürlich, Charles. Ganz wie du willst.“

„Also gut, dann bleibt es dabei.“ Sein Blick fiel auf die Post. „Ist das für mich?“

„Ja. Ich wollte es dir gerade reinbringen.“

Er bemerkte den Brief des Labors, und sein gerötetes Gesicht wurde auf der Stelle blasser.

„Charles? Geht es dir gut?“, fragte Anna besorgt.

„Natürlich!“, herrschte er sie an. „Mir fehlt nichts. Jetzt fahrt schon! Und esst in einem schönen Lokal. Heute will ich euch hier im Büro nicht mehr sehen. Ihr habt einen ziemlichen Weg vor euch.“

Anna gab sich geschlagen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Tag mit Judd zu verbringen. Sie nahm die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche. Dabei sah sie noch, wie Charles mit der Post in seinem Büro verschwand und die Tür hinter sich zumachte.

„Du musst mich nicht herumfahren, wenn du nicht willst“, hörte sie Judd neben sich sagen.

„Nein, schon gut. Charles möchte, dass ich dich vorstelle. Ich verstehe das.“ Auch wenn sie sich lieber davor gedrückt hätte …

„Machst du immer, was er will?“

Worauf wollte er mit dieser Frage hinaus? „Natürlich, wieso auch nicht?“

„Ach, nur so. Vielleicht könnte es nicht schaden, auch mal Nein zu sagen.“

„Er hat mich nie um etwas gebeten, was mir unangenehm war.“

„Dann ist ja gut. Für mich heißt das, dass es dir nicht unangenehm ist, mich zu begleiten … Wollen wir los?“

Er legte ihr sanft den Arm um die Taille und führte sie zur Tür.

Anna spürte die Berührung so intensiv, als würde er ihre nackte Haut liebkosen, und beeilte sich, etwas Abstand zu schaffen.

Aber als er sie wieder losließ, empfand sie ein seltsames Gefühl des Verlustes und bereute ihr Verhalten sofort.

Judd sprach erst wieder, als sie die Tiefgarage in Annas dunkelrotem Lexus verließen.

„Schönes Auto“, sagte er anerkennend.

„Ein Geschäftswagen. Er hat vier Räder und bringt mich schnell von A nach B.“

„Ein edles Gefährt für eine Sekretärin. Du musst sehr gut in deinem Job sein.“

Anna verstand seine Anspielung nur zu gut, aber sie wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen, darauf einzugehen. „Charles zeigt all seinen Mitarbeitern seine Wertschätzung“, sagte sie nur.

„Einigen etwas mehr als anderen.“

Wieder der Hinweis auf ihr Leben mit Charles. Viele Leute verstanden das nicht, und im Laufe der Zeit hatte sie gelernt, sich vor Klatsch und Tratsch zu schützen. Wie oft hatte sie das Gerede der Leute über die Beziehung ihrer Mutter zu Charles mitbekommen!

Die Sticheleien hatten sie härter gemacht, als man es ihr ansah. Nicht dass sie nicht wehtaten, aber sie beherrschte es, sich nichts anmerken zu lassen. Nie gab sie mehr von sich preis als unbedingt nötig. Und niemals, absolut niemals würde sie etwas mit ihrem Boss anfangen!

Um sich abzulenken, begann sie, Judd die Hauptvertriebsketten für Importwein zu erläutern.

Aber er unterbrach sie. „Wer ist der wichtigste Konkurrent von Wilson Wines?“, wollte er wissen.

„Jackson Importers. Warum fragst du?“

„Es ist immer gut, seinen Gegner zu kennen. Was weißt du über die Firma?“

„Sie wurde vor fünfundzwanzig Jahren von Thomas Jackson gegründet. Seit seinem Tod vor einem Jahr wird sie von Nate Hunter geleitet. Er müsste so etwa in deinem Alter sein und ist gleich, nachdem er sein Studium an der Auckland Universität abgeschlossen hatte, in die Firma eingetreten. Viel mehr wissen wir nicht über ihn. Nur dass er viele Jahre in Übersee gearbeitet hat und erst vor Kurzem nach Neuseeland zurückgekommen ist. Und dass ihn sein Geschäftssinn zu einem unserer härtesten Konkurrenten macht.“

„Thomas Jackson … ich glaube, den Namen habe ich als Kind schon gehört …“

„Das kann sein. Er und dein Vater waren gute Freunde und Geschäftspartner. Sie haben sich überworfen, und Charles hat ihn ausbezahlt.“

„Muss ja ein großer Streit gewesen sein.“

„Ja, vermutlich.“ Anna gab sich Mühe, möglichst emotionslos weiterzusprechen. „Das war vor meiner Zeit, und meine Mutter hat nie viel darüber erzählt.“ Aber sie hatte ihre eigenen Schlüsse gezogen. Charles’ Scheidung und sein Zerwürfnis mit Thomas waren zur gleichen Zeit passiert. Und die Tatsache, dass Charles nun auf einen Vaterschaftstest bestanden hatte, ließ tief blicken …

Sie sah Judd an. Er wirkte sehr zufrieden. Was wohl in seinem Kopf vorging?

„Und Charles hat nie darüber gesprochen?“, fragte er.

„Kein Wort. Und ich lege auch keinen Wert darauf. Wenn es dich interessiert, frag ihn doch selbst“, sagte sie schärfer als beabsichtigt.

Judd lächelte. „Und schon hast du mich zurechtgewiesen.“

„So habe ich es nicht …“

„Schon gut, Anna. Du hast ja recht. Es gibt Dinge, die ich selbst herausfinden muss. Und das werde ich. Verlass dich drauf.“

Seine Worte machten sie nervös. Warum wollte er unbedingt in der Vergangenheit herumwühlen? Reichte es ihm nicht, dass sein Vater wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte?

Sie wusste, dass Thomas Jacksons Tod Charles sehr mitgenommen hatte. Bis dahin hatte sie immer geglaubt, er sah ihre Rivalität als Herausforderung an. Aber inzwischen hatte sie den Eindruck, er litt sehr darunter, dass die Freundschaft zerbrochen war.

Wie auch immer, darauf konnte sie ohnehin keinen Einfluss nehmen. Sie parkte den Wagen auf dem Parkplatz eines wichtigen Großkunden und war froh, aus dem Auto herauszukommen.

Denn egal, wie Judd von ihr dachte – seine Nähe reichte aus, um sie völlig um den Verstand zu bringen. Er roch so gut und weckte damit süße, verbotene Wünsche in ihr! So hatte sie noch nie für einen Mann empfunden …

Sie bemühte sich, diese Gedanken abzuschütteln und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was Charles von ihr erwartete. Sie musste sich ihm zuliebe zusammenreißen, auch wenn es ihr noch so schwerfiel …

5. KAPITEL

Als Anna das Haus betrat, spürte sie sofort, dass etwas in der Luft lag. Es herrschte eine Geschäftigkeit, von der am Morgen noch nichts zu spüren gewesen war.

Als sie in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser zu holen, waren die Köchin und die Haushälterin mit den Vorbereitungen eines exklusiven Dinners beschäftigt.

„Habe ich da etwas versäumt?“, wandte sie sich an die Köchin, die gerade einen großen Topf auf den Herd stellte.

„Charles will, das wir ein ganz besonders Abendessen machen, weil er etwas zu verkünden hat. Ihr sollt euch festlich anziehen. Sagst du Nicole Bescheid?“

Offenbar hatte Charles mit der Post die Bestätigung bekommen, auf die er gewartet hatte.

Anna sah die Situation mit sehr gemischten Gefühlen. Jetzt würde es so werden, wie er es wollte – nur ahnte Nicole offenbar noch immer nichts davon.

Denn ganz sicher hätte die Freundin mit ihr darüber gesprochen – oder war sie noch sauer auf sie, weil sie ihr nicht erzählt hatte, warum sie nach Adelaide geflogen war?

Womöglich kam sie heute gar nicht!

Anna beschloss, ihr eine SMS zu schicken.

Komm nicht zu spät zum Abendessen. Dein Dad will, dass wir uns hübsch machen. Es gibt Neuigkeiten. A.

Nicole antwortete fast sofort: Mit einer Reihe voll Fragezeichen.

Anna schrieb mit schlechtem Gewissen zurück:

Keine Ahnung, worum es geht.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer kam sie an Charles’ Suite vorbei. Sie klopfte an und ging hinein. In seinem Wohnzimmer war er nicht. Also ruhte er sich vermutlich aus. Er verbrachte nicht mehr den ganzen Tag im Büro, sondern fing immer ziemlich spät an, gönnte sich zwischendurch Pausen und ging dann früher heim.

Sie wollte ihn bei seinem Schläfchen nicht stören, aber sie musste unbedingt wegen Nicole mit ihm reden. Daher beschloss sie zu warten. Sie setzte sich in eine Sofaecke und zog die Füße hoch.

Nach einiger Zeit schreckte sie hoch. Zu ihrer Überraschung dämmerte es bereits, sie musste eingeschlafen sein. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es schon fast Zeit fürs Dinner war. Und sie wollte doch noch duschen und sich zurechtmachen!

Jetzt war Eile geboten. Noch auf dem Weg zur Tür streifte sie das Jackett ab. Sie knöpfte die Bluse auf und verließ das Zimmer. Im Flur traf sie auf Judd, der offenbar geduscht hatte, denn er roch sehr frisch.

„Entschuldige mich bitte“, sagte sie und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängeln. „Ich bin spät dran.“

Judd wirkte verblüfft. „Das sehe ich.“ Er trat einen Schritt zur Seite, um den Weg freizugeben.

Schlagartig begriff Anna, was er dachte, und setzte an: „Es ist nicht …“

„Hast du nicht gesagt, du bist spät dran?“, erinnerte er sie und zog dabei auf seine typische unwiderstehliche Art eine Augenbraue hoch.

Ohne ein weiteres Wort ging sie an ihm vorbei in ihr Zimmer. Sie schloss die schwere Holztür und lehnte sich dagegen. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.

Sie zwang sich, in ihr Bad zu gehen, wo sie die restlichen Kleider auszog. Pah! Welche Rolle spielte es schon, wenn Judd Wilson dachte, sie hätte eine Affäre mit seinem Vater? Hauptsache sie selbst wusste, dass es nicht stimmte! Trotzdem musste sie, noch während sie duschte, ständig an seinen enttäuschten Gesichtsausdruck denken.

Sie zog sich an, schminkte sich und steckte die Haare zu einer eleganten Frisur hoch. Als sie das Speisezimmer betrat, hatte sie den Aperitif versäumt.

Charles, Judd und Nicole standen noch. Offensichtlich hatte Nicole darauf verzichtet, sich umzuziehen, denn sie trug noch ihre alltägliche Kleidung. Oder wollte sie ihren Vater ärgern, indem sie sich absichtlich über seine Wünsche hinwegsetzte?

Anna schloss sich den anderen an. „Sorry, dass ich so spät dran bin.“

„Macht nichts, du hast noch nichts versäumt. Die wichtigen Neuigkeiten kommen erst noch“, sagte Charles mit bedeutungsvoller Stimme.

Anna setzte sich. Judd saß ihr gegenüber und sah sie mit seinen strahlend blauen Augen prüfend an.

„Und was sind das für Neuigkeiten?“, wollte Nicole wissen.

Anna spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Das konnte nicht gut gehen! Sie kannte Nicole als absolut zuverlässig in Geschäftsdingen, aber was private Angelegenheiten betraf, war sie alles andere als bedächtig. Mit ihrem ungestümen Temperament würde sie kaum zurückhalten können, wenn ihr Vater die Neuigkeiten verkündigte.

Kein Wunder, denn Nicole hatte jahrelang hart an Charles’ Seite gearbeitet, damit die Geschäfte so liefen, wie er sich das vorstellte.

Vor lauter Stolz bekam Charles offenbar gar nicht mit, welcher Sturm sich hier zusammenbraute. So lebhaft wie an diesem Abend hatte er sich lange nicht gezeigt.

Er hob sein Glas in Judds Richtung.

„Trinken wir auf dich, mein Sohn. Willkommen zu Hause. Hier gehörst du her.“

Gespannt wartete Anna, wie Judd diesen Trinkspruch aufnahm, aber sie wurde enttäuscht. Er nickte nur kurz und erhob ebenfalls sein Glas.

„Wiederholst du dich nicht, Dad?“, fragte Nicole. „Das hatten wir doch schon letzten Freitag.“

„Durchaus nicht. Für einen alten Mann wie mich ist es eine Freude, die Familie, und zwar endlich die ganze Familie, um sich zu wissen. Und weil das so ist, muss ich euch allen etwas sagen.“

Auf dem Tisch, neben seinem Teller, lag ein Umschlag. Charles nahm ihn und gab ihn Judd.

„Hier drin findest du alles, mein Sohn. Wie versprochen.“

Obwohl Judd sich sicher gewesen war, Charles’ Sohn zu sein, empfand er bei seinen Worten fast so etwas wie Heiterkeit. Seit Jahren hatten er und seine Mutter auf diesen Moment gewartet.

Nun hatte ihm sein Vater selbst den Schlüssel dazu gegeben, ihm alles heimzuzahlen.

Gleich am nächsten Tag würde er seinen Anwalt beauftragen, ein Angebot für Nate Hunter auszuarbeiten, zu dem dieser nicht Nein sagen konnte. Und dann lag der Hauptanteil von Wilson Wines in den Händen von Charles’ größtem Rivalen…

Judd nahm den Umschlag. „Danke, Sir.“

„Oh, du musst mich doch nicht Sir nennen. Wenn es dir schwerfällt, Dad zu mir zu sagen, dann nenn mich einfach Charles.“

„Danke, Charles.“

Er sah, wie Charles’ hoffnungsvolle Miene sich etwas verdüsterte. Nach allem, was geschehen war – wie sollte er diesen Mann jemals Dad nennen!

Nachdenklich betrachtete er die beiden Frauen am Tisch. Anna saß wie erstarrt da. Offenbar rechnete sie mit dem Schlimmsten. Ein Blick ins Gesicht seiner Schwester sagte ihm, warum. Denn Nicole wirkte auf Höchste irritiert und verwirrt. Ihr war deutlich anzumerken, dass sie wissen wollte, was der Briefumschlag enthielt.

„Was hast du ihm versprochen, Dad?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Nur was ihm ohnehin zusteht, Nicole.“

„Und das wäre?“

„Die Hausurkunde und der Hauptanteil an Wilson Wines. Den Rest bekommst du, nach meinem Tod … So, stoßen wir noch mal an! Und dann wollen wir uns das wundervolle Dinner schmecken lassen, das Mrs Evans für uns zubereitet hat.“

„Den Hauptanteil an unserer Firma? Ich hab mich wohl verhört! Dad, weißt du überhaupt, was du da tust? Judd hat doch gar keine Ahnung vom Geschäft!“

„Doch. Er kennt sich mit australischem Wein aus. Und jetzt, wo er wieder da ist, wird er lernen, wie die Dinge hier bei uns laufen“, sagte Charles, und es klang, als wäre die Angelegenheit damit für ihn erledigt.

„Das ist ungerecht!“, beschwerte sich Nicole. „Nach allem, was ich für Wilson Wines – und für dich – getan habe, gibst du den Hauptanteil der Firma einem Fremden?“

„Er ist dein Bruder!“ Charles’ Gesichtsfarbe war inzwischen dunkelrot.

„Trotzdem ist er ein Fremder.“

Judd spürte, dass er jetzt etwas sagen sollte, aber er hielt sich zurück. Wenn sein Plan aufging, würde Nicole wahrscheinlich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Die Erkenntnis stimmte ihn traurig, denn im Grunde waren sie beide Opfer der selbstherrlichen Entscheidungen ihres Vaters. Vielleicht würde er auf The Masters für sie einen Job finden, wenn sie das wollte.

Nicole lachte bitter auf. Als Anna sie trösten wollte, wies sie sie brüsk zurück. „Du bist auch nicht besser! Du hast es die ganze Zeit gewusst!“

Anna schwieg betroffen.

„Ich kann es nicht glauben! Die zwei Menschen, die ich am meisten liebe, hintergehen mich auf diese Art und Weise!“ Wütend sprang sie auf. „Ich halte es hier nicht mehr aus!“

„Nicole, jetzt beruhige dich und setz dich wieder“, sagte Charles. „So wie es jetzt geregelt ist, hätte es schon längst sein sollen. Das weißt du so gut wie ich. Ich habe dir nie irgendwelche Versprechungen gemacht. Und eines Tages findest du einen netten Mann, der dich heiratet und mit dir eine Familie gründet. Dann ist Wilson Wines sowieso nur noch ein Hobby für dich.“

Auch wenn Judd seine Schwester noch nicht sehr gut kannte – er wusste sofort, dass diese Argumentation sie nur noch mehr provozieren würde.

„Ein Hobby?“ Nicoles Stimme wurde immer lauter. „Ich fass es nicht! Wie kannst du so etwas sagen! Die Firma bedeutet mir alles! Ich liebe das Geschäft. Alles habe ich im Hinblick darauf gelernt, eines Tages die Leitung zu übernehmen. Ich lebe mit dir unter einem Dach und arbeite mit dir zusammen, und du kennst mich so schlecht? Was habe ich alles getan, damit du mich akzeptierst – und nun das!“ Abrupt wandte sie sich zum Gehen.

Anna wollte ihr nach, aber mit Tränen in den Augen wehrte Nicole ab. „Lass mich!“

Judd sah, dass Anna sich mitschuldig fühlte, weil sie ihre Freundin nicht vorgewarnt hatte. Er war wütend, dass sein Vater Nicoles Engagement für den Familienbetrieb so gering schätzte. Ein Punkt mehr auf der Liste von Charles’ unverzeihlichen Fehlern …

„Sie war schon immer etwas nervös“, sagte Charles, als Nicole die Tür hinter sich zuschlug. „Das wird schon wieder. Ihr werdet sehen, sie kommt zurück. Sie kann nicht lange böse sein.“

„Charles“, wandte Anna ein, „das ist mehr als ein vorübergehender Wutanfall. Merkst du denn nicht, wie sehr du sie verletzt hast?“

„Glaubst du?“, fragte Charles überrascht. „Ach was! Sie ist überempfindlich, das ist alles. Es wird nicht lang dauern, und sie beruhigt sich. Ich wollte ja immer nur ihr Bestes.“

„Ach wirklich?“, fragte Anna gepresst. „Sie hat doch jetzt das Gefühl, dass ihr geschäftlich und privat der Boden unter den Füßen weggezogen wird!“

Judd horchte auf. Es gefiel ihm, wie sie sich für Nicole einsetzte.

„Unsinn! Sie wird immer meine Tochter bleiben. Ich habe sie nur den letzten Jahren etwas verwöhnt. Sie muss sich erst an den Gedanken gewöhnen, mit Judd zu teilen. So, und jetzt essen wir. Mrs Evans wartet schon und möchte servieren.“

„Sorry, erst will ich Nicole anrufen, wie es ihr geht“, entschuldigte sich Anna.

„Na dann tu, was du nicht lassen kannst.“

Als sie zurückkam, läutete Charles die kleine silberne Glocke, die neben seinem Glas stand.

Judd sah zu, wie Anna sich setzte. Sie bebte vor Anspannung. Offenbar war das Telefonat nicht gut gelaufen.

Gleich nach dem Essen entschuldigte sie sich, und bald darauf wurde auch Charles müde und ging schlafen.

Allein? fragte sich Judd. Er dachte an die Szene von vorhin, als Anna nur halb angezogen aus seinem Zimmer gekommen war. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, gesehen zu werden. Aber er hatte sie gesehen! Er schloss die Hand fester um das Rotweinglas, aus dem er fast nichts getrunken hatte.

Nun, die Frage ließ sich ziemlich leicht klären.

Ohne recht zu merken, was er tat, ging er zu ihrem Zimmer. Er klopfte vorsichtig an und lehnte sich gegen den Türrahmen. Zu seiner Überraschung wurde die Tür geöffnet.

„Was willst du hier?“, fragte Anna. „Dich mit deinem Erfolg brüsten?“

Bei ihrem Anblick hielt er den Atem an. Aber gleich darauf fand er seine übliche Beherrschung wieder. Eingehend betrachtete er Anna, die in einem zarten Morgenmantel aus Satin vor ihm stand. Die Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern. Im sanften Licht, das aus dem Zimmer drang, ließ sich erkennen, dass sie wenig oder vielleicht sogar nichts unter dem dünnen, glatten Stoff trug. Bei diesem Gedanken wurde er sofort hart … er wollte sie so sehr, wollte sie spüren, sie besitzen …

Er begehrte diese Frau, das stand fest. Doch er konnte nicht verdrängen, dass sie wenige Stunden zuvor mit Charles zusammen gewesen war. Der Gedanke daran hatte sich ihm eingebrannt – da half nur, ihn durch eine neue, heiße Erinnerung zu ersetzen.

Er riss sich zusammen und antwortete: „Ganz und gar nicht. So hätte es nicht ablaufen dürfen.“

Sie lachte bitter. „Wie wahr! Aber du hattest es in der Hand. Hättest du ihm früher gesagt, dass er auf Nicole Rücksicht nehmen soll, wäre es nicht so weit gekommen.“

„Das stimmt, es ist meine Schuld. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass er es ihr vorher unter vier Augen sagt.“

„Tja, das nützt jetzt auch nichts mehr. Ich hoffe, dass wir das morgen im Büro wieder ausbügeln können … Aber warum bist du gekommen?“

„Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht. Du hast beim Dinner so mitgenommen ausgesehen.“

„Kein Wunder! Aus Loyalität gegenüber Charles habe ich meine beste Freundin verraten. Natürlich nimmt das mit!“

„Wieso hast du es dann gemacht? Warum hat Charles so viel Macht über dich?“

„Das verstehst du nicht“, antwortete sie und wollte die Tür schließen.

Er drückte mit der Hand dagegen. „Vielleicht doch. Versuch doch wenigstens, es mir zu erklären.“

„Es ist schon spät. Ich will darüber jetzt nicht reden.“ Auffordernd sah sie auf seine Hand. „Gute Nacht.“

Er verstand und nahm die Hand weg. „Schlaf gut, Anna“, sagte er, aber die Tür war schon zu. Er ging zurück in sein Zimmer. So, sie wollte nicht über ihre Beziehung zu Charles reden, kein Wunder. Im Moment war das ja auch verständlich. Aber früher oder später würde er die Wahrheit aus ihr herausbekommen und bis dahin jede Gelegenheit nutzen, um sie zu verführen. Denn die Anziehung zwischen ihnen beruhte auf Gegenseitigkeit, daran bestand kein Zweifel.

Rache kann so süß sein …

Am nächsten Morgen wartete Anna geduldig darauf, dass Nicole ins Büro kam. Aber sie tauchte nicht auf und ging auch nicht an ihr Handy. Auch Charles war nirgends zu sehen, und laut dem Hauspersonal kümmerte sich Judd um ihn.

Diese Entwicklung der Dinge gefiel Anna gar nicht, aber sie war vollkommen machtlos. Sie beschloss, früher als sonst eine kleine Pause einzulegen. Im Aufenthaltsraum nahm sie ihre Lieblingstasse aus dem Regal und ging zur Kaffeemaschine.

An einem der Tische saß eine Büroangestellte, die ebenfalls Kaffee trank und etwas auf dem Bildschirm ihres Notebooks betrachtete.

Als Anna im Vorbeigehen sah, dass sie eine viel besuchte Klatschseite betrachtete, lächelte sie. Der Stil dieser Seite war immer sehr locker, humorvoll und unterhaltsam. „Und, gibt es was Interessantes?“, fragte sie.

„Na ja, das Übliche. Ach, warte mal … Schau dir das an!“

Sie drehte den Computer ein Stück, und Anna sah sofort, dass es um Nicole ging. Sie war in einer der angesagtesten Diskotheken gesehen worden, wo sie die halbe Nacht durchgetanzt hatte – mit einem überaus begehrten, reichen Geschäftsmann aus Auckland, der offenbar gekommen war, um die Mehrheit einer großen Firma zu übernehmen. Obwohl sein Name nicht erwähnt wurde, wusste Anna, dass diese Beschreibung nur auf einen passte: Nate Hunter.

Irgendwie schaffte sie es, etwas Belangloses zu sagen. Sie nahm die Kaffeetasse mit in ihr Büro und überlegte fieberhaft.

Was sollte sie denn jetzt tun? Was hatte Nicole nur vor? Sie musste sie unbedingt finden – aber wie? Über das Internet bekam sie die Telefonnummer von Jackson Importers heraus. Vielleicht wusste Nate Hunter, wo sie steckte.

Nach einem kurzen Telefonat legte Anna enttäuscht auf. Nate Hunter war bis auf Weiteres nicht zu erreichen, was auch immer das bedeutete.

Aber je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien es, dass Nicole mit ihm zusammen war. Und wenn man das Ausmaß ihrer Enttäuschung und ihr Temperament betrachtete, lag der Schluss nahe, dass das nichts Gutes verhieß.

Ich hätte verhindern können, dass der Streit eskaliert. Es ist alles meine Schuld!

Wütend ballte Anna die Fäuste. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien. Sie zwang sich, langsam ein- und auszuatmen, um sich zu beruhigen.

Jetzt galt es, den Schaden zu begrenzen, bevor alles noch schlimmer wurde. Sie wählte Judds Nummer. Er würde wissen, was zu tun war.

„Unglaublich! Was in aller Welt denkt sie sich dabei?“

Anna betrachtete Charles, der wütend im Büro auf und ab ging. Sie wusste, dass der Ärger und die Aufregung nicht gut für ihn waren, schaffte es aber nicht, ihn zu beruhigen.

Das ganze Wochenende hatte er vergebens auf seine Tochter gewartet, und erst jetzt, am Montagnachmittag endlich etwas von Nicole gehört. Leider nichts Erfreuliches: Die Neuigkeit, dass sie jetzt für Jackson Importers arbeitete, hatte wie eine Bombe eingeschlagen.

Charles war nicht zu bremsen. „Gar nichts denkt sie, das ist es! Und da wundert sie sich, warum ich Judd die Hauptanteile an unserer Firma übertragen habe!“

„Lass ihr doch etwas Zeit, Charles. Bestimmt kommt sie bald wieder“, versuchte Anna ihn zu beschwichtigen. Aber es nützte nichts.

„Das kann sie sich sparen! Jetzt, wo sie für diesen Widerling arbeitet! Ich hätte gute Lust, sie ganz aus meinem Testament zu streichen.“

Anna wusste, wie viel Wert Charles auf Loyalität und Vertrauen legte. Daher glaubte sie nicht, dass seine Wut so schnell verrauchen würde.

„Und was machen wir jetzt?“, schimpfte er weiter. „Sie sollte Judd einarbeiten. Jetzt steht er allein da!“

„Ich komme schon klar“, schaltete Judd sich ein. „Ich bin ja nicht völlig unerfahren, was Geschäftsführung und Weine betrifft.“

Anna sah ihn an und empfand wieder die unglaubliche Anziehung, gegen die sie völlig machtlos war. Gerade am Wochenende, als ihre Welt völlig aus den Fugen geraten war, hatte sie deutlich gespürt, welche Sicherheit ihr seine Nähe gab.

Während sie sich um Charles kümmerte und aufpasste, dass er seine Medikamente nicht vergaß, kümmerte Judd sich um den Rest: Er wickelte die Gespräche mit den Reportern ab, erteilte der Werbeabteilung Anweisungen und stellte sicher, dass die Angestellten Stillschweigen bewahrten. Damit hatte er souverän verhindert, dass die Situation außer Kontrolle geriet.

Dafür war Anna ihm dankbar – aber musste er dabei auch noch so umwerfend gut aussehen?

Jetzt war er ganz der weltgewandte Geschäftsmann. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer dezent gemusterten Krawatte.

Damit wirkte er wie ein Model aus einem Magazin für Männermode. Doch bei aller Eleganz strahlte er noch etwas anderes aus: etwas Raues, Ungezähmtes, ursprünglich Männliches, dem sie nicht widerstehen konnte.

„Anna?“, fragte Charles. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Sorry“, entschuldigte sie. „Ich habe vor mich hingeträumt.“

„Du wirst jetzt gebraucht, weil du Wilson Wines von Grund auf kennst. Ab jetzt bist du Judds persönliche Assistentin.“

„Seine persönliche Assistentin?“, wiederholte sie erschrocken. „Und was wird aus dir?“

„Ich denke, ich komme mit deiner Urlaubsvertretung zurecht, der Rothaarigen aus der Marketingabteilung. Ich bin ja keine ganzen Tage mehr hier. Wobei sich das vielleicht wieder ändern wird, jetzt wo Nicole nicht mehr da ist …“

Plötzlich wirkte er sehr grau im Gesicht und musste sich setzen.

„Geht es dir nicht gut? Soll ich den Arzt rufen?“, fragte Anna sofort.

Aber Charles schüttelte den Kopf. „Nein, mach dir keine Sorgen. Ich bin nicht krank, jedenfalls nicht körperlich. Ich finde es nur … so seltsam: Ich habe meinen Sohn wieder für mich gewonnen, aber meine Tochter verloren.“

Anna verbiss sich die Bemerkung, dass er selbst schuld daran war, und tröstete ihn. „Hast du nicht. Glaub mir, sie kommt wieder.“

„Und bis dahin hast du ja uns“, sagte Judd. „Und jetzt finde ich, solltest du nach Hause fahren und dich etwas ausruhen. Anna und ich, wir kümmern uns hier um alles. Im Zweifelsfall können wir dich ja anrufen.“

Bei dem Gedanken, mit Judd allein zu sein, wurde sie ganz nervös. Aber Charles zuliebe blieb ihr wohl nichts anderes übrig.

Charles ließ sich von seiner neuen Assistentin heimfahren, und Anna zeigte Judd sein neues Büro. Anna hatte sich ursprünglich gegen die Vorstellung gewehrt, sah aber ein, dass es für Charles am praktischsten war.

Nach einiger Zeit kam Judd wieder heraus, trat an ihren Schreibtisch und sagte: „Gerade habe ich gesehen, dass Nicole am Donnerstag nach Nelson fliegen wollte. Ich habe gedacht, Wilson Wines verkauft hauptsächlich Importweine.“

„Das stimmt auch, aber Nicole hatte eine neue Idee. Sie wollte einige ausgewählte neuseeländische Weine ins Programm aufnehmen, für Kunden, die das Besondere schätzen. Damit würden wir verhindern, dass Jackson Importers übers Internet die Preise verdirbt. Die einheimischen Weine sind von ausgezeichneter Qualität und lassen sich vergleichsweise günstig anbieten, weil die hohen Transportkosten wegfallen.“

Judd nickte. „Klingt einleuchtend. Aber das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, oder?“

„Ja. Bisher hat sie ein paar Weingüter im Norden besucht, und in dieser Woche wollte sie in den Süden.“

„Dann buch bitte ihre Flüge auf meinen Namen um und besorg dir selbst auch Tickets.“

Sie runzelte die Stirn. „Normalerweise komme ich bei solchen Gelegenheiten nicht mit. Ich halte immer hier die Stellung.“

„Anna, ich brauche dich.“

„Aber …“

„Du kommst mit. Wir fliegen am Donnerstagabend, und am Dienstagmorgen sind wir wieder zurück hier in Auckland. Die paar Tage läuft der Laden auch ohne dich.“

„Und Charles?“

„Er hat jetzt eine neue Assistentin. Schon vergessen?“

Judd betrachtete Anna möglichst unauffällig. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich so schnell eine Möglichkeit ergeben würde, mit ihr alleine zu sein. Diese Chance wollte er nutzen! Er genoss die Vorstellung, sie endlich aus den Armen seines Vaters und in sein eigenes Bett zu locken!

Dadurch, dass seine Schwester die Firma verlassen hatte, konnte er nun ungestört tun, was er wollte. Dafür würde er sich eines Tages bei ihr bedanken. Vielleicht nachdem er seine Anteile Nate Hunter verkauft hatte?

Um seinen ursprünglichen Plan würde er sich später kümmern. Natürlich wollte er Wilson Wines noch immer ruinieren, aber zuerst musste Charles sich nach der Sache mit Nicole wieder beruhigen. Er sollte sich in Sicherheit wiegen, dann würde er zuschlagen.

Jetzt würde er ihm erst mal nur die Geliebte ausspannen …

Im Moment waren die Geschäfte das Wenigste, was ihn interessierte. Jetzt hatte er nur ein Ziel vor Augen: Anna. Schon ihr Duft reichte, um sein Verlangen zu wecken. Die Vorstellung von ihr und seinem Vater als Paar machte ihn völlig verrückt. Zwar gab es keine Beweise für eine Liebesbeziehung zwischen ihnen, aber sie bemühte sich auffällig um den alten Mann. Und außerdem hatte er sie am Donnerstagabend halb nackt und verwirrt aus seinem Zimmer kommen sehen.

Sooft wie möglich hatte er sie am Wochenende von Charles abgelenkt.

Ja, er war sogar so weit gegangen, sie einige Male wie zufällig zu berühren. Sie war dann jedes Mal leicht errötet, ein untrügliches Zeichen, dass diese Gesten sie durcheinanderbrachten. Aber bedauerlicherweise hatte sie sich immer zurückgezogen – und ihn mit seiner brennenden Sehnsucht allein gelassen.

Der Trip auf die Südinsel war ein wunderbarer Glücksfall. Anna würde seine willige Geliebte werden, und das erste Etappenziel seines Planes, Charles zu schaden, war erreicht!

Am Donnerstagmorgen hielt er es vor Erwartung kaum noch aus. Er hatte zu den Weingütern Kontakt aufgenommen und angekündigt, dass er seine Schwester vertrat. Die Winzer wirkten freundlich und kompetent, und die Weine, die sie im Vorfeld geschickt hatten, waren wirklich vielversprechend. Seine Schwester schien ein Händchen für das Geschäft zu haben und eine ausgezeichnete Weinkennerin zu sein.

Aber abgesehen von der geschäftlichen Seite freute er sich auf die Zeit mit Anna Garrick. Durch sie wurde die Reise noch interessanter, die Herausforderung noch reizvoller.

Nur zu gut erinnerte er sich an den Kuss in der ersten Nacht. Wenn er an ihren Körper dachte, ihre vollen Brüste, die schönen Rundungen, ihren Geschmack, wurde er schon bei dem Gedanken daran wieder hart. Er wollte sie so sehr.

Er ging ins Esszimmer des Hauses, in dem er sich jetzt schon wie zu Hause fühlte, und sah, wie Anna sich am Büfett ein Müsli machte.

„Guten Morgen“, sagte er. „Na, reisefertig?“

Sie setzte sich mit ihrer Schale an den Tisch. „Guten Morgen.“

Ihre Stimme klang rau und noch müde, aber sie hatte sich schon perfekt zurechtgemacht. Sie roch gut und war makellos geschminkt. Sie war sehr elegant gekleidet, mit einer cremefarbenen Bluse, einer dunkelgrauen Hose und einem breiten schwarzen Gürtel. Es musste also schon eine Weile her sein, dass sie aus dem Bett aufgestanden war.

Der fließende, leicht transparente Stoff der Bluse betonte ihre herrliche Figur und ließ den Hauch eines Spitzenunterhemdchens durchscheinen.

Judd zog es vor, wegzuschauen, weil ihn Annas erotische Ausstrahlung, ihre geschmeidigen Bewegungen und ihre zarte, schimmernde Haut so unglaublich anmachte, dass er fürchten musste, schon am frühen Morgen die Kontrolle über sich zu verlieren.

Während sie appetitlos in ihrem Müsli stocherte – anscheinend hatte sie keinen Appetit – nahm er sich Rührei mit Bacon.

„Muss ich wirklich unbedingt mitkommen?“, fragte sie, als er sich setzte und Kaffee einschenkte.

„Ja. Sonst hätte ich dich nicht darum gebeten.“

Sie atmete tief ein, wobei sich ihre Brüste unter dem zarten Stoff ihrer Bluse hoben und senkten.

Judd fiel es immer schwerer, seine Hände bei sich zu behalten.

„Ich finde es nicht richtig, dass ich Charles allein lasse“, sagte sie.

„Aber er ist nicht allein. Das Hauspersonal ist doch da.“

„Aber das ist nicht dasselbe“, beharrte Anna.

Sehr richtig, und es würde auch nicht wieder dasselbe werden. Wenn Anna jemals wieder einem Mann einen Besuch in seinem Zimmer abstattete, dann ihm. Und nur ihm!

„Er kommt schon zurecht. Mrs Evans bleibt im Haus, und sie hat alle Telefonnummern. Sie kann sich also jederzeit Hilfe holen.“ Er betrachtete Annas Schüssel mit den völlig durchweichten Getreideflocken. „Isst du das noch?“

Erst jetzt fiel ihr Blick auf die Schüssel, und sie lächelte.

„Äh, nein. Ich habe keinen Hunger.“

„Sicher? Du weißt, dass wir einen Flug ohne Bordservice haben.“

„Macht nichts.“

„Irgendwie siehst du nicht gut aus.“

Sie seufzte. „Also gut. Ich gebe es zu: Ich habe ein Problem mit kleinen Flugzeugen.“

„Unsere Maschine fasst fünfzig Passagiere. So klein ist das nicht. Und wenn es dir hilft, kann ich ja deine Hand halten. Ich pass schon auf dich auf.“ Dabei sah er sie mit einem Blick an, der mehr versprach als bloßes Händchenhalten.

„Danke, ich schaff das schon. Vielleicht sind es auch mehr die Tage mit dir, die mir Angst machen.“

Sie stand auf und stellte ihre Schale auf ein leeres Tablett am Ende des Büfetts.

Judd erhob sich ebenfalls und stellte sich ihr in den Weg.

„Aber warum denn?“ Er strich ihr mit dem Finger über die Unterlippe. „Glaubst du vielleicht, dass wir uns wieder küssen? So wie in Adelaide?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Wirklich nicht?“, fragte er sanft und beugte er sich näher zu ihr. „Ich schon. Und ich freue mich schon sehr auf das nächste Mal.“

„Es wird kein nächstes Mal geben“, sagte sie eisig und drängte sich an ihm vorbei.

Zufrieden lächelnd sah er ihr nach. Oh ja, die nächsten Tage versprachen, interessant zu werden.

Anna rannte die Treppe hoch in ihr Zimmer. Sie verschloss die Tür hinter sich, als würde sie das vor den Gefühlen schützen, die Judd Wilson in ihr auslöste. Sie presste die Hand an die Brust und spürte ihr Herz rasen.

Er meint es nicht ernst! sagte sie sich. Er spielt nur mit mir!

Nein, sie wollte nicht, dass dieser Kuss sich wiederholte.

Aber eine leise innere Stimme sagte ihr, dass das nicht stimmte.

Sie seufzte und schüttelte den Kopf, um auf andere Gedanken zu kommen. Dann schaute sie nochmals den Inhalt ihres Koffers durch. Ja, sie hatte alles, was sie brauchte. Lauter unaufdringliche und praktische Sachen, kein einziges weit ausgeschnittenes T-Shirt und keinen kurzen Rock …

Damit wollte sie ausschließen, dass äußere Reize Judd Wilson anstachelten. Allerdings würde das gar nichts nützen, das musste sie sich eingestehen. Obwohl sie sich schon seit Tagen ausgesprochen dezent kleidete, waren ihr mehr als einmal seine bewundernden Blicke aufgefallen, die ihre weiblichen Rundungen streiften, wie damals seine rauen Hände in der ersten Nacht in Adelaide …

Beim Gedanken daran stöhnte sie unwillkürlich auf. Sie ließ die Hand über ihre Brüste gleiten und spürte die aufgerichteten Spitzen.

Da begriff sie: Leugnen war zwecklos. Dieser Mann hatte eine ganz unglaubliche Wirkung auf sie.

Sex. Es konnte nur um Sex gehen. Schließlich war Judd ein attraktiver Mann. Sie musste sich aus seinem Bann befreien, sich mit neuen Leuten treffen. Vielleicht sollte sie mit dem Kollegen ausgehen, der sich das schon lange wünschte. Vielleicht wurde sie auf diese Art die fast schon schmerzhafte Sehnsucht nach Judd Wilson los. Sobald sie von diesem Trip wieder zurück waren, würde sie sofort ein Date vereinbaren.

6. KAPITEL

Am Donnerstagabend betrat Anna mit Judd das Hotel in Nelson. Sie fühlte sich ziemlich erschöpft. Um zwei Uhr nachmittags waren sie gelandet und sofort mit ihrem Mietwagen zu den ersten beiden Weingütern gefahren.

Die Verhandlungen waren gut gelaufen, und Nicoles Traum stand kurz vor der Verwirklichung. Anna verdrängte den Gedanken, dass die Freundin die Früchte ihrer Arbeit nun nicht mitbekam. Das ließ sich leider nicht ändern, denn Nicole hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie mit dem Familienbetrieb und ihrem Vater nichts mehr zu tun haben wollte.

Das tat weh, aber sie respektierte Nicoles Entscheidung.

Müde rieb sie sich die Augen. Zurzeit schienen sich alle Konstanten in ihrem Leben aufzulösen.

Da spürte sie Judds Hand auf ihrem Arm. „Geht es dir gut?“

Judd. Er war überall. Immer in ihrer Nähe. Zu nah und gleichzeitig zu fern. Er beherrschte ihre Gedanken, ihre Träume …

Irgendwann im Lauf der Woche hatte sie angefangen, sich auf ihn zu verlassen. Er war ein Mann, der die Dinge im Griff hatte. Selbst Charles war inzwischen von seiner Kompetenz beeindruckt.

Sie musste es schaffen, sich von dem Zauber zu befreien, den er auf sie ausübte. Wütend betrachtete sie seine Hand, die sich so wunderbar warm anfühlte. „Du kannst mich loslassen. Ich kippe schon nicht um.“

„Natürlich nicht. Hier ist dein Schlüssel. Unsere Zimmer liegen nebeneinander. Wir können hier oben essen und danach Johns und Peters Vorschläge durchgehen.“

„Muss das heute noch sein?“

„Es kann nicht schaden, mögliche Knackpunkte gleich zu entdecken.“

„Na gut.“ Sie seufzte. „Aber ich will mich wenigstens etwas frisch machen.“

„Kein Problem. Ich bestelle schon mal das Essen auf mein Zimmer. Komm einfach durch die Verbindungstür, wenn du so weit bist.“

Und wenn ich nie so weit bin? dachte sie trotzig. Aber das würde ihr nichts nützen, es würde genauso laufen, wie er sagte. Schließlich war sie es Charles schuldig, mit Judd so gut wie möglich zusammenzuarbeiten.

Diese Woche hatten Gerüchte die Runde gemacht, wonach Jackson Importers mindestens mit drei ihrer europäischen Hauptlieferanten in Verhandlungen stand. Zwar hatte Wilson Wines Exklusivverträge mit ihnen, aber die Vereinbarungen liefen aus und mussten erneuert werden.

Auch Nicole wusste das. Steckte sie vielleicht dahinter? Versuchte sie, ihrem Vater zu schaden?

„Also gut. In einer Stunde bin ich bei dir.“

Allein in ihrem Zimmer sah sie sich um. Die Einrichtung war einfach und bequem, aber das weiß geflieste luxuriöse Bad mit dem großen Whirlpool verschlug ihr den Atem. Voll freudiger Erwartung ließ sie Wasser ein und zog sich aus.

Während sie das Bad in vollen Zügen genoss, vergaß sie die Zeit. Irgendwann hörte sie ein Klopfen an der Verbindungstür.

Sie stieg aus der Wanne, schlang sich ein Badetuch um und ging ins Zimmer. Ein Blick auf die Nachttischuhr sagte ihr, dass schon über eine Stunde vergangen war.

„Ich komme gleich“, rief sie durch die geschlossene Tür.

Aus ihrem Koffer nahm sie rosa Spitzenunterwäsche und zog sie an. Der dünne Stoff klebte etwas auf der noch feuchten Haut.

Barfuß ging sie zurück ins Bad, um sich einzucremen und die Haare zu bürsten. Sie machte sich nicht die Mühe, sich zu schminken, da sie den Abend ohnehin nur im Bett verbringen würde – allein.

Wieder im Zimmer packte sie einen leichten grauen Pulli und eine schwarze Caprihose aus. Dazu zog sie silberfarbene Sandalen an. Als einzigen Schmuck trug sie eine lange silberne Kette.

Als es zum zweiten Mal klopfte, öffnete sie die Tür – und wünschte sogleich, es nicht getan zu haben.

Judd stand vor ihr, frisch geduscht, rasiert und umgezogen. Sie roch den angenehmen Duft seines Rasierwassers. Seine noch nassen Haare wirkten dunkler als sonst. Er trug Jeans und ein schwarzes T-Shirt, das seine breiten Schultern schön zur Geltung brachte.

Es passte so gut, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob es vielleicht maßgefertigt war? Sie hatte ihn nie anders gesehen als in gut sitzender Kleidung.

„Du siehst toll aus“, sagte er. „Da hat sich das Warten ja gelohnt.“

„Was gibt es zum Dinner?“, fragte sie und schlüpfte an ihm vorbei in sein Zimmer. Es sah aus wie ihres, hatte nur ein breiteres Bett.

Sie schluckte, als sie bemerkte, dass die Decke einladend zurückgeschlagen war.

„Erst zwei verschiedene Vorspeisen und dann einen Hauptgang, der zu den Weinen passt, die wir heute probiert haben. Wollen wir uns die Vorspeisen teilen?“

Bei der Vorstellung, was sie noch so alles mit ihm teilen könnte, wurde ihr ganz schwindelig. Sie atmete tief ein und sagte sich, dass es sich nur um ein reines Arbeitsessen handelte.

„Ja, gut“, sagte sie so beiläufig wie möglich.

Der Herbstabend war überraschend warm. Auf einem Rollwagen neben der Balkontür standen die noch zugedeckten Teller. Auf dem Balkon war ein Tisch für zwei gedeckt, mit einem Windlicht in der Mitte.

Anna setzte sich. Von hier aus hatte man einen herrlichen Ausblick über den Fluss, an dem das Hotel lag. Alles wirkte so romantisch, dass sie bei sich dachte, sie hätte die Einladung niemals annehmen dürfen.

Judd stellte die beiden Vorspeisenteller auf den Tisch und schenkte dann von dem Pinot Grigio, den sie mitgebracht hatten, zwei Gläser ein.

Jetzt erst bemerkte Anna, wie hungrig sie war. „So, womit fangen wir an?“, fragte sie.

„Wie wäre es mit den Garnelen auf dem Nudelbett? Die passen zu diesem Wein am besten“, schlug Judd vor.

Danach probierten sie die frischen Muscheln und wandten sich dann dem Hauptgericht zu, das aus drei Sorten Fleisch bestand. So gut und so viel hatte sie lange nicht gegessen.

„Der neue Shiraz ist wirklich ein guter Wein“, sagte Judd und lehnte sich mit seinem Glas in der Hand entspannt zurück.

„Ja“, bestätigte sie. „Die Rebsorte wird immer beliebter. Wenn wir uns dafür einen Exklusivvertrag sichern können, wird Charles sicher sehr zufrieden sein.“

Charles. Immer ging es um Charles!

„Anna, warum legst du so viel Wert auf seine Meinung?“, fragte Judd.

„Weil er mein Chef ist“, antwortete sie knapp und wandte das Gesicht ab, um die funkelnden Lichter des Hafens zu betrachten.

„Er ist mehr als das, stimmt’s?“

Sie seufzte. „Ja. Er war immer für mich und meine Mutter da. Ohne ihn wäre ich nicht, was ich heute bin. Ich bin ihm wirklich sehr dankbar.“

Diese Aussage gab Judd Rätsel auf. Es war klar, dass sie ihn liebte. Die Frage war nur: Wie weit ging diese Liebe?

„Ja, er ist ein ganz Großer.“

„Du sagst das so spöttisch. Ich glaube, du kennst ihn gar nicht wirklich.“

„An wem das wohl liegt?“ Judd spürte, wie er wütend wurde, und beeilte sich, das Thema zu wechseln. „Reden wir nicht mehr von ihm. Es gibt unterhaltsameren Gesprächsstoff.“

Anna unterdrückte ein Gähnen. „Sorry, aber ich würde mich lieber zurückziehen. In letzter Zeit schlafe ich nicht gut, und morgen müssen wir früh raus.“

„Natürlich, kein Problem.“ Höflich erhob er sich und begleitete sie.

Ja, sie wirkte müde, aber selbst mit Ringen unter den Augen sah sie noch immer umwerfend aus. Er hatte das Dinner mit ihr sehr genossen. Sie verstand wirklich etwas von Wein, und in ihrer Nähe konnte er sich erstaunlich gut entspannen.

So schön das Abendessen also gewesen war – den Ausgang des Abends hatte er sich anders vorgestellt … Heißer, prickelnder, sinnlicher …

Als sie die Verbindungstür erreicht hatten und Anna sich zu ihm umdrehte, um ihm gute Nacht zu sagen, griff er nach einer ihrer Haarsträhnen und spielte damit.

Anna öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie gab keinen Laut von sich.

Er beugte sich näher zu ihr. So nah, dass er sah, wie ihre Pupillen sich weiteten.

„Hast du dich je gefragt …“, flüsterte er.

Sie ließ den Blick nicht von seinen Lippen. „Was gefragt?“ Ihre Stimme klang rau und unglaublich erotisch.

Ihr Gesicht war so verführerisch nahe.

„Wie es ist, wenn wir uns wieder küssen?“

„Wer sagt, dass es so weit kommt?“

„Oh, das wird es, da bin ich mir sicher. Fragst du dich also gar nicht, wie sich das anfühlen wird? Ob es wieder so schön wird?“

Sie blinzelte und atmete tief ein. Einen Moment sah es aus, als wollte sie Nein sagen, aber er ließ ihr keine Zeit dazu, sondern verschloss ihre Lippen mit einem Kuss. Einem Kuss, der zärtlich begann und dann, als Anna keinerlei Gegenwehr zeigte, immer wilder wurde.

Er fuhr mit gespreizten Fingern durch ihre Haare und hielt ihren Kopf im Nacken fest. Wie wundervoll es sich anfühlte, sie zu berühren, sie zu küssen! Er legte ihr den anderen Arm um die Taille und zog sie so eng an sich, dass sie seine harte Erregung deutlich spüren musste. Für langsame Verführungskünste hatte er keine Zeit; dazu begehrte er sie viel zu sehr. Er wollte sie jetzt und hier, auf der Stelle.

Er vertiefte den Kuss immer mehr, immer wilder spielte er mit ihrer Zunge, lockend und fordernd. Sie erwiderte seine heißen Küsse voller Leidenschaft und drückte sich dabei fest an ihn. Er ließ sein Becken kreisen und reizte mit seiner Härte sanft ihre intimste Stelle. Sie stöhnte, tief und lustvoll, doch der Laut wurde gleich wieder von seinen hungrigen Lippen gedämpft.

Er spürte ihre aufgerichteten Brustspitzen durch sein T-Shirt hindurch. Oh ja, sie war genauso erregt wie er! Ganz sicher würde es dieses Mal nicht beim Küssen bleiben …

Er wollte, musste sie einfach besitzen. Und das nicht nur, um seinem Vater eins auszuwischen. Seine Sehnsucht nach ihr war viel ursprünglicher und tiefer, als er sich bisher eingestanden hatte.

Ja, er wollte Anna Garrick – mehr als alles andere auf der Welt!

Vergebens versuchte Anna, einen kühlen Kopf zu bewahren. Judds hungrige, heiße Küsse, die Art, wie er sie berührte, wie er seinen muskulösen Körper an ihren presste … Wenn sie jetzt nicht damit aufhörten, kam der Punkt, an dem es kein Halten mehr gab! Doch wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass dieser Punkt längst überschritten war.

Sie würde es definitiv nicht schaffen, wieder Nein zu sagen. Nicht einmal ihr vor Jahren gefasster Vorsatz, nie etwas mit einem Vorgesetzten anzufangen, konnte sie stoppen. Auch nicht ihr Stolz oder die Befürchtung, Judd würde ihr das Herz brechen.

Schon in Adelaide hatte sie sich unaufhaltsam zu ihm hingezogen gefühlt. Sie wollte ihm unbedingt näher kommen, in jeder Hinsicht …

Ja, sie wollte ihn. Sie warf die restlichen Bedenken über Bord und ließ ihre Hände über seinen männlichen Oberkörper gleiten, dann tiefer hinab zum Bund seiner Jeans. In einer schnellen Bewegung schob sie sein T-Shirt hoch. Endlich spürte sie seine nackte Haut, die sich wunderbar warm und glatt anfühlte. Seine Haut brannte unter ihren Fingern. Oh ja, mehr davon!

Tief in ihr wallte unbändige Lust auf, ihr ganzer Körper schien zu vibrieren. Das Verlangen wurde immer stärker, sie war so heiß, so feucht, so hungrig …

Judd zerrte an ihrem Pullover und zog ihn ihr ungeduldig über den Kopf. Dann drückte er sie stöhnend an sich und zog eine prickelnde Spur federleichter Küsse von ihrem Ohr den Hals entlang.

Durch den dünnen Stoff des BHs streichelte er ihre Brustwarzen, die sich bereits verräterisch aufgerichtet hatten. Er schob den zarten Spitzenstoff zur Seite, leckte und saugte an ihren Spitzen. Sie lehnte sich keuchend nach hinten und streckte ihm auffordernd ihre Brüste entgegen. Mmh …hör jetzt bloß nicht auf!

„Du schmeckst sehr gut“, flüsterte er. „Aber das reicht mir leider nicht.“

„Nicht?“, stieß sie hervor.

„Nein. Ich will mehr.“

Er löste sich von ihr und führte sie zu seinem Bett.

Während sie schweigend zuschaute, zog er T-Shirt und Schuhe aus.

Dann half sie ihm, die Hose aufzuknöpfen, und strich mit dem Handrücken über seine große, harte Erektion.

Er nahm ihre Hand und drückte sie fest dagegen. „Spürst du, was du mit mir machst?“, fragte er mit rauer Stimme.

Anna brachte kein Wort heraus. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen, als ob sie jeden Moment dahinschmelzen würde.

Judd streifte ihr den BH herunter und sah sie so lange an, dass sie anfing, sich befangen zu fühlen. Doch dann blickte er ihr mit funkelnden Augen ins Gesicht. „Du bist traumhaft schön“, sagte er und ließ seine Finger um ihre rosigen Brustwarzen kreisen.

Im nächsten Moment streifte er ihre Hose und ihren Slip herunter. Er kniete vor ihr nieder, befreite sie ganz von den Kleidungsstücken. Dann glitten seine Finger über ihre Beine, ihre zitternden Oberschenkel, bis zu ihrer intimsten Stelle.

„Wie heiß du dich anfühlst“, flüsterte er. „Du bist so feucht. Du willst mich.“ Dann senkte er seinen Mund über den empfindlichen Punkt, den er zuvor gestreichelt hatte.

Anna hatte Angst, ihre Knie würden nachgeben, während er sie wie ein delikates Dessert genoss – mal war das Spiel seiner Zunge neckend und quälend langsam, dann wieder schneller und fordernder. Sie klammerte sich an seinen Schultern fest, rettungslos verloren in einer animalischen Lust, so stark, so hemmungslos wie noch nie zuvor. Judd schien von ihren ekstatischen Seufzern angestachelt zu werden und ließ seine raue Zunge noch schneller um ihre Perle kreisen. Plötzlich durchzuckte Anna ein überwältigendes Gefühl, ihr ganzer Körper schien unter Strom zu stehen, und sie wurde beinahe ohnmächtig, als sich ihr Verlangen in einem unvergleichlichen, wilden Orgasmus entlud.

Als Judd bemerkte, dass ihre Beine sie nicht mehr tragen würden, hob er Anna hoch und legte sie aufs Bett.

Das Laken fühlte sich angenehm kühl an, aber Judd gönnte ihr keine Pause. Gleich darauf sah und spürte sie ihn über sich.

Er macht mir Komplimente über meine Schönheit, dabei ist er selbst der Traum einer jeden Frau: Groß, muskulös, sonnengebräunt, dazu seine beeindruckende Männlichkeit – er ist einfach perfekt!

Judd nahm ein Kondom und streifte es über. „Sorry“, entschuldigte er sich. „Ich kann es nicht mehr erwarten, endlich in dir zu sein. Es wird hart und schnell, aber ich verspreche dir, dass ich mir beim nächsten Mal mehr Zeit nehmen werde. Und es wird noch viele nächste Male geben, darauf kannst du dich verlassen …“

Anna bog ihm ihr Becken entgegen, schlang die Beine um seine Hüften und nahm ihn tief in sich auf. Seine schnellen Stöße erregten sie so sehr, schon nach kurzer Zeit erreichte sie unvermittelt einen zweiten, so heftigen Höhepunkt, dass es sie in Stücke zu reißen schien.

Gleich darauf spürte sie, wie ein Zittern durch Judds Körper ging, als auch er zum Gipfel gelangte. Er stöhnte laut auf und sank dann erschöpft neben sie. Nach einer Weile lächelte er und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ich bin gleich wieder da.“

Anna nickte nur. Sie war zu mitgenommen, um zu sprechen. Eine angenehme, nie gekannte Müdigkeit zwang sie, sich in die Kissen zurückgleiten zu lassen. Sie konnte kaum glauben, was zwischen ihnen geschehen war.

Doch es war kein Traum gewesen! Judd kam aus dem Bad zurück, legte sich zu ihr und zog sie an sich. Dann kam er seinem Versprechen nach, sich mehr Zeit für sie zu nehmen …

In der Morgendämmerung wachte Anna auf. Sie lag noch immer eng an Judd geschmiegt, als ob sie ihm nicht nahe genug sein könnte. Sie erinnerte sich, dass sie nach ihrem Orgasmus einfach erschöpft liegen geblieben war. Die heiße Liebesnacht hatte sie völlig durcheinandergebracht. Noch nie hatte sie sich zu einem anderen Menschen so hingezogen gefühlt.

Im Bett war Judd Wilson ganz anders als sonst. Von der unterschwelligen Spannung zwischen ihnen, wie sie im Büro oft herrschte, war nichts mehr zu merken gewesen. Während sie sich sonst oft gefragt hatte, worüber er mit seinem messerscharfen Verstand gerade nachdachte – im Bett trennte sie buchstäblich nichts. Vergangenheit und Zukunft spielten keine Rolle, nur die Gegenwart zählte.

Vorsichtig, um ihn nicht zu stören, löste sie sich aus seinen Armen. Sie setzte sich auf und schob ein Kissen hinter sich. Nachdenklich betrachtete sie ihn.

Er schlief fest und zeigte dabei einen Gesichtsausdruck, den sie noch nicht an ihm kannte: Ruhig, zufrieden, mit sich und der Welt im Reinen. Nicht so unnahbar, so getrieben, so skrupellos, wie wenn er wach war.

Während es allmählich heller wurde, überlegte sie, wie es weitergehen würde.

Sie hatte ihre eigenen Regeln gebrochen und bereute es noch nicht einmal. Einem Mann wie Judd konnte eine Frau nicht lange widerstehen. Aber jetzt hatte sie etwas begonnen, von dem sie nicht wusste, wie es enden würde.

Sie wollte keine Beziehung wie die ihrer Mutter mit Charles. Sie war zwar auf Liebe und tiefer Freundschaft gegründet, aber insgeheim hatte sich Donna Garrick doch nach der Sicherheit gesehnt, wie nur eine Ehe sie bieten konnte.

Dass ihre Mutter klaglos alles hingenommen, sich sozusagen mit einem halben Leben begnügt hatte, machte Anna immer noch wütend.

Charles und Donna hatten sich nur selten körperlich geliebt, einerseits wegen seiner Erkrankung, andererseits, weil Donna sich stets mehr als seine Angestellte gefühlt hatte.

Anna war es immer so vorgekommen, als hätte ihre Mutter ihr eigenes Lebensglück verraten, um ihrer Tochter ein Zuhause und eine gute Ausbildung zu sichern. Vielleicht war Donna nach dem Tod ihres Mannes auch nicht bereit oder imstande gewesen, eine neue leidenschaftliche Beziehung einzugehen.

Anna war fünf gewesen, als ihr Vater gestorben war und ihre Mutter als Haushälterin bei Charles angefangen hatte. Sie war stets gut und liebevoll behandelt worden. Aber tief im Herzen hatte sie sich immer nach dem Halt gesehnt, wie er sich nur in der innigen Beziehung zu einem anderen Menschen finden ließ.

Judd entsprach dem Typ Mann, von dem sie schon immer gedacht hatte, dass sie sich eines Tages in ihn verlieben würde. Abgesehen von seinem umwerfenden Aussehen machten ihn vor allem seine Intelligenz und sein gradliniger Charakter zu einem idealen Partner.

Aber nicht nur das, er trat auch selbstlos für andere ein. Sie war beeindruckt, dass er sich so für Nicole einsetzte und sogar Charles damit beruhigt hatte.

Konnte sie mit Judd alles haben, was sie wollte? Dachte er wie sie, was Liebe, Ehe und die Gründung einer Familien betraf? Und empfand er für sie wie sie für ihn?

Beinahe hätte sie leise aufgelacht. Jetzt hatten sie gerade erst eine einzige Nacht gemeinsam verbracht – eine umwerfende, wunderschöne Nacht – und sie träumte schon vom Traualtar!

Dabei hatte sie keine Ahnung, wie gut oder schlecht sie in anderen Lebensbereichen zusammenpassten. Sie wusste nur eines: Dass sie sich vom ersten Augenblick an auf einer sehr ursprünglichen Ebene unwiderstehlich zu ihm hingezogen gefühlt hatte.

Sie bereute immer noch, ihn in Australien so wütend gemacht zu haben. Aber in Neuseeland war alles anders geworden. Sie hatte Seiten an ihm entdeckt, die sie nie an ihm vermutet hätte.

Und in dieser Nacht …

Sie seufzte leise. Diese Nacht hatte alles verändert.

Jetzt wusste sie ganz sicher, dass sie sich eine gemeinsame Zukunft mit ihm wünschte. Aber wollte er das auch?

Und noch ein unangenehmes Gefühl beschlich sie: Ein schlechtes Gewissen Nicole gegenüber. Wenn es zu einer ernsthaften Beziehung zwischen ihr und Judd kam, würde das Nicole sicher sehr verletzen. Sie würde also eine lebenslange Freundschaft für einen Mann aufs Spiel setzen, den sie erst ein paar Wochen kannte.

Und Charles? Wie würde er reagieren? Anscheinend sah er sie gern zusammen, aber würde er eine echte Beziehung tatsächlich gutheißen?

Aber all diese Überlegungen setzten voraus, dass mehr aus Judd und ihr wurde. Nur … durfte sie davon ausgehen? Ihn fragen würde sie sicher nicht! Das Risiko war zu groß. Wenn es schiefging, würde sie alles verlieren. Ihre Arbeit. Die Menschen, die sie liebte. Und ihr Zuhause, in dem sie fast ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.

Wieder sah sie zu Judd, und der Wunsch, ihn zu berühren, erwachte aufs Neue. Sie kuschelte sich wieder an ihn. Angenehme Wärme durchströmte sie, als er im Schlaf den Arm um sie legte.

Im Augenblick wollte er sie, und sie wollte ihn. Die Freunde, der Klatsch im Büro, Charles – all das war weit weg. Warum sollte sie widerstehen?

In Auckland würde sich das ändern. In Charles’ Haus würde sie sich niemals … unangemessen benehmen. Aber im Moment wollte sie nur in Judds Armen weiterschlafen. Über die Konsequenzen würde sie sich später Gedanken machen.

7. KAPITEL

Während sie vom Flughafen nach Hause fuhren, spürte Judd, dass Anna sich immer mehr von ihm zurückzog.

Am letzten Tag ihres Trips hatte es begonnen, als sie nicht, wie die Tage vorher, im Zimmer, sondern im Restaurant frühstücken wollte. Auch im Flugzeug war sie distanziert gewesen.

Es war schon dunkel, als sie im Hause der Masters eintrafen.

Anna schwieg noch immer.

Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, fragte er sie in der Eingangshalle: „Bleibst du heute Nacht bei mir?“

„Nein, Judd …“ Sie schüttelte den Kopf.

„Aber warum denn nicht?“ Wieder stieg der Verdacht in ihm auf, der ihn so wütend machte. Das hier war Charles’ Haus. Schlief sie bei ihm? Mit ihm?

Drei Tage und Nächte lang hatte sie ihm gehört, und er war nicht bereit, sie mit irgendjemandem zu teilen. Schon gar nicht mit seinem Vater!

„Es wäre nicht richtig“, sagte sie und ging mit ihrer Reisetasche zur Treppe.

Autor

Yvonne Lindsay
Die in Neuseeland geborene Schriftstellerin hat sich schon immer für das geschriebene Wort begeistert. Schon als Dreizehnjährige war sie eine echte Leseratte und blätterte zum ersten Mal fasziniert die Seiten eines Liebesromans um, den ihr eine ältere Nachbarin ausgeliehen hatte. Romantische Geschichten inspirierten Yvonne so sehr, dass sie bereits mit...
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