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Die junge, bisexuelle Tesla ist fasziniert von der unkonventionellen Meredith - und würde fast alles tun, um deren Freundschaft nicht zu verlieren. Als Meredith ihr eine Ménage à trois mit ihrem Mann Charlie vorschlägt, stimmt Tesla nach kurzem Zögern zu. Rasch gerät sie in den Sog einer einzigartigen Dreiecksbeziehung. Der ruhige, seriöse Charlie und die charismatische, verrückte Meredith geben ihr alles, wovon sie je geträumt hat. Doch weder Tesla noch Charlie ahnen, was wirklich in Meredith vorgeht. Ihre dunkle Lust treibt sie zu immer extremeren Taten...


  • Erscheinungstag 10.12.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783955763169
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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1. KAPITEL

Jeder hat eine Geschichte. Das war Merediths Masche, mit der sie uns zum Reden brachte. Manchmal fragte sie uns, welche Süßigkeiten wir als Kind besonders gern gegessen hatten, was unsere größten Ängste waren. Was wir die Nacht zuvor geträumt hatten. Sie fragte, wir antworteten. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, nachzuforschen, warum sie all das wissen wollte, so wie ich mich nie gewundert habe, warum wir ihr es erzählen wollten.

Heute ging es um Verrücktes.

„Also, Tesla, erzähl mal. Was war das Verrückteste, das du je getan hast?“ Merediths Augen leuchteten, und ihre Lippen waren ganz feucht, weil sie immer wieder darüber leckte.

Anders als sonst meistens hatte ich diesmal keine Antwort parat. „Hab ich dir nicht schon genug Geschichten erzählt?“

Sie schüttelte den Kopf. Ihr glattes honigblondes Haar fiel auf ihre Schultern in einem weichen, hellblauen Cardigan. „Genug gibt es nicht. Der liebe Carlos hier zum Beispiel hat mir bereits erzählt, wie er dabei erwischt wurde, als er sich bei einem Oma-Porno einen runtergeholt hat.“

Ich hielt inne, die Kaffeekanne in der Hand, und starrte die beiden an. „Waaaas?“

Carlos stand grinsend vor dem Tresen.

Er ist Schriftsteller. Von denen haben wir im Mocha reichlich, weil man sich bei uns für unter zwei Dollar so viel Kaffee nachschenken kann, wie man will - und kostenloses WLAN gibt es auch. Carlos kam jeden Morgen und tippte munter auf seiner Tastatur herum, mit Kopfhörern im Ohr. Das war sein festes Ritual, bevor er sich zu seinem Brotjob aufmachte. Heute hatte er sich allerdings Merediths verführerischem Charme ergeben und sogar seinen Laptop zugeklappt. Das war in der Tat ziemlich verrückt.

Meredith besuchte das Mocha, um wie die Schriftsteller kostenlos im Internet zu surfen und literweise Kaffee zu trinken … nur, dass sie keine Schriftstellerin war. Meredith verkaufte diverse Sachen - Kerzen, Küchenutensilien, Schmuck und solches Zeug für Hausfrauenparties. Sie nervte aber niemanden damit, so wie Lisa, die Produkte von Scharf & Lecker verscherbelte. Meredith verkaufte dir gern ein Paar Ohrringe oder eine toll riechende Enthaarungscreme, wenn du sie danach fragtest, aber sie drängte ihr Zeug niemandem auf. Sie war von der subtileren Sorte.

Meistens jedenfalls.

„Ein Porno über alte Leute beim Vögeln“, sagte sie. „Du weißt schon. Wie Lemon Party.“

Ich hatte keine Ahnung, was das war, aber Carlos verzog das Gesicht. Also schien er es zu kennen.

„Ich war noch jung. Und was anderes hab ich nicht gefunden.“ Er zuckte die Schultern, nur leicht peinlich berührt.

Ich lachte, stellte die volle Kaffeekanne auf den Tresen und nahm die leere in die Hand. „Seid mir nicht böse, aber das klingt für mich nicht sonderlich verrückt. Ich meine, wer hat sich noch nicht ein, zwei widerliche Pornos angesehen.“

Ich hielt inne, um ihn ein bisschen zappeln zu lassen. „Ich habe mir dabei aber nicht meine Perle poliert.“

Carlos verdrehte lachend die Augen. „Wie gesagt, ich war blutjung.“

„Siehst du.“ Meredith lehnte sich über den Tisch, um ihm einen Stups zu geben. „Unsere Tesla ist ein echter Wildfang.“

Das bekam ich öfter zu hören. Vielleicht waren es die Doc Martens, von denen ich mich weigerte zu glauben, dass sie jemals aus der Mode kommen könnten, oder mein kurzes Haar. Es war zurzeit platinblond, und ich hatte ein süßes, rot-weiß gepunktetes Kopftuch darum gebunden, ganz im Rosie-the-Riveter-Stil der vierziger Jahre. Nur dass ich Milch aufschäumte und Kaffeekannen nachfüllte, statt Flugzeuge zu reparieren. Wenn „verrückt“ bedeutetet, dass man Retro-Klamotten und Unmengen von Eyeliner trägt, dann war ich das vielleicht - aber bestimmt nicht wegen der Art und Weise, wie ich so lebte.

Ich malte Anführungszeichen in die Luft. „Ooooh ja, ich bin ja soooo wild. Und verrückt! Passt bloß auf, dass ich nicht was wirklich Durchgeknalltes mache, wie die Krümel von euren Tischen zu wischen.“

„Ich hab das im besten Sinne gemeint“, erwiderte Meredith.

„Danke.“ Ich wollte noch mehr sagen, doch in dem Moment kam meine Chefin aus dem Hinterzimmer und warf mir einen ihrer tödlichen Laserblicke zu. „Lasst uns später weiter reden, wenn ich Joy nicht im Nacken habe.“

„Hast du den Selbstbedienungsbereich schon nachgefüllt?“, fragte Joy und fuhr fort, ohne meine Antwort abzuwarten: „Die Backwaren müssen heute schon um vier statt um fünf herausgenommen werden. Es kommt jemand vom Frauenhaus, der sie abholt. Ach, und das Panino auf der Karte? Das nehmen wir Ende der Woche runter, also versuch, so viel wie möglich davon zu verkaufen, damit ich die Avocados loswerde.“

Wir hatten ein halbes Dutzend Panini im Angebot, aber die Avocado gab mir zumindest einen Hinweis, welches sie meinte. Ich schenkte Joy mein schönstes und strahlendstes, wenn auch dümmstes Lächeln. Ich achtete dabei darauf, ausdruckslos wie eine Puppe zu gucken, weil ich wusste, wie gern sie sich überlegen fühlte. Hey, jeder hat sein Hobby, oder? Ihres war es, ein Biest zu sein. Meines war es, sie in dem Glauben zu lassen, dass ich absolut nach ihrer Pfeife tanzte.

„Ja, klar. Kein Problem.“ Ich stellte die leere Kanne auf die Kaffeemaschine.

„Koch jetzt besser keinen Kaffee - bis es Zeit ist, ihn nachzufüllen, ist die Kanne kalt.“ Sie sagte das, als würde ich nicht seit fast zwei Jahren für sie arbeiten.

Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, irgendwas zu erwidern. Es gibt nun mal Menschen, denen du es nicht recht machen kannst. Und das Leben ist einfach zu kurz, um sich über sowas aufzuregen, oder? Manchmal muss man einfach nett zueinander sein, auch wenn dein Gegenüber deine Play-Doh-Knete auf den Boden geworfen hat.

Aber was sie dann sagte, haute mich doch um.

„Ich gehe heute um halb eins und nehme mir den Rest des Tages frei.“

„Alles okay mit dir?“ Das war die erste Frage, die mir in den Sinn kam.

Joy nahm sich die meisten Wochenenden frei, das war ihr Privileg als Chefin. Aber dafür war sie sonst immer da. Und früher gehen? Nicht ums Verrecken. Insgeheim dachte ich sogar, dass es für sie überhaupt kein Leben außerhalb des Cafés gab.

Ihre saure Miene machte deutlich, dass ich etwas Falsches gesagt hatte. „Wie bitte? Natürlich! Jetzt sag bitte nicht, dass ich bleiben muss, Tesla. Ich meine, du kommst doch klar, oder? Oder soll ich Darek anrufen, dass er früher kommt?“

Ihr Tonfall machte deutlich, dass sie ungefähr so viel Vertrauen in meine Fähigkeit hatte, den Laden allein zu schmeißen, wie sie in den Wischmob gehabt hätte, wenn der plötzlich zum Leben erwacht wäre und angefangen hätte, Panini zuzubereiten. „Ja, natürlich. Viel Spaß.“

„Es ist ein Termin“, sagte sie. „Von wegen ‚Spaß‘.“

Ich hielt daraufhin meinen Mund und konzentrierte mich darauf, Kaffee und Kuchen zu servieren und so viele Panini wie möglich unter die armen, ahnungslosen Langweiler zu bringen, die nicht wussten, dass ich so vom Truthahn-Avocado-Club Sandwich schwärmte, weil wir es bis Ende der Woche los sein wollten. Als Joy sich zum Gehen fertigmachte, reichte die Schlange wartender Kunden bis zur Eingangstür. Aber das kam jeden Tag vor. Ich machte mir deshalb keinen Kopf.

„Ich habe Darek angerufen“, sagte Joy. „Er wird in zwanzig Minuten hier sein. Ich kann eigentlich nicht auf ihn warten …“

Ich arbeitete gern mit Darek zusammen. Aber dass sie ihn unbedingt bitten musste, früher zu kommen, ging mir trotzdem gegen den Strich. „Alles bestens, Joy. Du kannst gehen. Ich krieg das schon hin.“

„Selbst mit einer Hand hinter den Rücken gebunden“, sagte Johnny D., der in der Schlange vor dem Tresen stand, unaufgefordert. Ich liebe diesen Typen.

Wenn du einen Job machst, bei dem du mit Menschen zu tun hast, dann lernst du unweigerlich die, die tagtäglich kommen, besser kennen. Die Stammkunden. Nun, für mich gibt es die Stammkunden und dann noch meine Lieblingskunden.

Johnny Dellasandro gehörte definitiv zu den Lieblingskunden. Er ist älter als mein Dad, aber er ist der liebenswerteste kleine Junge, den ich je gesehen habe. Dieser Typ ist einfach fabelhaft. Er hat immer ein Lächeln für dich, immer ein Augenzwinkern. Einen Dollar im Trinkgeldglas. Ein Mädchen bemerkt so was. Er mag aromatisierten Kaffee und alles Süße, und er sitzt mit seiner Zeitung gern in der Nische direkt neben dem Tresen. Manchmal bringt er seine Freundin mit, Emm, manchmal seinen kleinen Sohn, manchmal auch seine ältere Tochter und seinen Enkel.

Joy würde ihm nie einen bösen Blick zuwerfen. Deshalb bekam ich ihn ab, als wäre es meine Schuld, dass sie gehen musste. Dann schlüpfte sie in ihren Mantel und verschwand.

„Wo ist denn dein süßer Kleiner?“, fragte ich Johnny, nachdem sie gegangen war.

„Der ist heute bei seiner Mama.“

„Muss schön sein, so als Lebemann“, neckte ich ihn. „Sich in Cafés und sonst wo rumzutreiben, immer schick angezogen und so.“

Johnny lachte. „Du hast mich ertappt.“

„Was kann ich dir bringen?“

„Ein Schokocroissant. Wann bekommt ihr diese Pfefferminz-Mokka-Lattes wieder rein?“

„Erst kurz vor Weihnachten“, sagte ich, während ich das größte Croissant aus dem Korb nahm und es für ihn auf einen Teller legte. „Aber wir haben noch Kürbis-Zimt. Davon kann ich dir einen machen.“

Nachdem ich Johnny bedient hatte, wandte ich mich dem nächsten Kunden zu. Ich arbeitete nach dem Prinzip: Immer schön einen nach dem anderen, und bei den Bestellungen gut zuhören - es bringt nichts, schnell zu sein, wenn man dann schlampig ist und Fehler macht.

Eric, der nächste Gast, arbeitete als Arzt in der Notaufnahme, saß im Mocha gerne an einem Tisch am Fenster und trank eine Tasse Tee, während er auf gelbe Notizblöcke eine Liste nach der anderen kritzelte. Jurastudentin Lisa aß, während sie lernte, immer eine mit Jalapeños und Käse gefüllte Brezel, dazu gab‘s einen Eistee. Jen war eine Stammkundin, die ich eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte, und wir quatschten kurz über ihren neuen Job. Dann entdeckte ich Sadie am Ende der Schlange und winkte ihr zu. Manchmal kam Sadie mit ihrem Mann Joe, einem richtig heißen Typen -, nur dass er zu der Art Männer gehörte, die andere Frauen nicht mal von der Seite anschauten. Heute war Sadie allein. Sie winkte mit der einen Hand, während sie sich mit der anderen über ihren dicken Schwangerschaftsbauch strich.

„Eine heiße Schokolade mit Schlagsahne und …“, ich musterte Sadie von oben bis unten, als sie an den Tresen kam. „Bagel mit Lachscreme, stimmt‘s?“

Sie lachte. „Tja … Eigentlich wollte ich mich ja mal zurückhalten, aber … ach, du hast mich überzeugt.“

„Wenn du nicht ordentlich schlemmst, während du schwanger bist, wann zum Teufel willst du es dann tun?“ Ich deutete zu Meredith hinüber, die grade ein paar andere Stammkunden dazu gebracht hatte, ihr Geschichten zu erzählen. Gelächter brandete auf und ebbte wieder ab. „Ich glaube, da ist was Aufregendes los. Such dir einen Platz. Ich bring dir die Bestellung.“

Sadie stieß einen Seufzer aus. „Danke. Ich schwöre, ich war vorher richtig fit. Jetzt bin ich schon von dem Weg bis hierher k.o.! Und meine Füße tun höllisch weh.“

„Mach dir keinen Kopf.“ Während sie zu einem Tisch watschelte, der von der Sonne, die durch das große Frontfenster schien, erhellt wurde, begann ich, den Bagel zu toasten, die Milch aufzuschäumen und Schokoladensirup hinzuzufügen.

„Die Königin hält Hof“, sagte Darek, als er hinter mich trat, um seinen Mantel aufzuhängen und sich die Schürze umzubinden.

Ich sah auf. Merediths Lachen hallte durch den ganzen Coffeeshop. „Tut sie das nicht immer?“

Ich kannte sie erst wenige Monate und war nicht sicher, wann sie von einer Stammkundin zu einer Lieblingskundin und dann zu einer Freundin geworden war. Vielleicht an dem Tag, als Joy mal wieder einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte. Meredith war ruhig und gelassen geblieben und hatte zu ihr gesagt: „Der Kunde hat immer recht … ansonsten geht der Kunde nämlich woanders hin, um vier fünfzig für einen Mokka Latte zu bezahlen.“

Seitdem hatte Meredith bei Kaffee und Sandwiches fast alles über mein Leben erfahren. Ich glaube, ich war aber schon vorher in sie verknallt, eigentlich seit dem Moment, als sie das erste Mal das Mocha betreten hatte, mit ihrer überdimensionalen Handtasche, der tiefschwarzen Sonnenbrille, den farblich zum Gürtel passenden Pumps und ihrem perfekt gestylten blonden Haar. Meredith verkörperte all das, was ich gerne wäre - nur dass ich letztlich akzeptieren musste, dass es dafür mehr Geld, Einsatz und Willenskraft bedurfte, als ich aufbringen konnte. Sie wurde Teil unserer kleinen Community, obwohl sie nicht in der Gegend wohnte. Mehr als das: Sie wurde Teil meines Lebens. Und, ja, sie dachte, ich wäre verrückt … wild.

Sie kannte mich wirklich kein Stück.

Der Andrang an Gästen, die auf Kaffee und Essen warteten, nahm ab, auch wenn die meisten Tische besetzt blieben. Das Mocha war jeden Tag gut besucht.

Sadie war schon gegangen. Ebenso Johnny und Carlos. Ein paar von Dareks Stammkunden kamen rein, aber um die kümmerte er sich. Da Joy für den Rest des Tages weg war, hatte ich Zeit für eine Pause und trug meine Jumbotasse Chai zu Merediths Tisch.

Als ich mich setzte, sah sie von ihrem Laptop auf. „Du hast heute einige richtig gute Geschichten verpasst. Und deine hast du mir auch immer noch nicht erzählt.“

„Hab ich dir nicht schon genug Geheimnisse anvertraut?“ Ich hatte ihr schon so viele Geschichten erzählt, die meisten handelten von der Kommune, in der ich mal einen Sommer lang gelebt hatte. „War dir das ‚Compound‘ etwa nicht abgedreht genug?“

„Da ging es um einen Ort, an dem du warst, nicht um das, was du dort getan hast. Das ist ein Unterschied.“

Ich schlürfte meinen Chai und musterte sie. „Sehe ich etwa aus wie jemand, der verrückte Sachen gemacht hat?“

„Hast du etwa nicht?“

Ich zuckte die Schultern. „Ich hab noch nicht mal Tattoos.“

Meredith machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jede brave Studentin hat heutzutage Tattoos. Und Piercings am ganzen Körper. Sie tragen Nippelringe, als wäre es etwas Besonderes.“ Sie sah mich an. „Als ich gesagt habe, du bist ein Wildfang, hat sich das nicht auf deine Klamotten oder dein Make-up bezogen.“

„Worauf dann?“ Die Tasse wärmte meine Hände besser als die Sonne, die durch die Fenster schien. Anfang Oktober kann es in Pennsylvania wunderbar sein, wenn die Luft noch warm war und nach Herbstlaub duftete. Dieses Jahr war es allerdings schon früh kalt geworden.

Meredith zuckte die Schultern auf so anmutige, leichte Weise, dass ich Neid in mir aufsteigen fühlte. Selbst wenn ich es jahrelang üben würde, sähe es bei mir nie so elegant aus. „Sagen wir mal, du hast so eine bestimmte Art.“

„Jeder hat eine bestimmte Art, oder?“ Ich zeigte unauffällig zu Eric hinüber, der allein am Tisch saß, mit seinen gelben Notizblöcken und Listen. „Guck dir nur Dr. McSexy dort an. Was macht der nur mit all dem Zeug? Jedes Mal, wenn er hierher kommt, kritzelt er auf seinen Notizblöcken rum. Warum fragst du ihn nicht mal nach einer Geschichte?“

Meredith lachte, ein tiefes, heiseres Lachen, nicht wie das, das zuvor den Laden erfüllt hatte. Dieses war nur für mich. „Weil er sie niemandem erzählen wird. Stille Wasser sind tief und all dieser Scheiß.“

„Vielleicht bin ich auch ein stilles Wasser.“

Sie schüttelte amüsiert den Kopf. Es sah hinreißend aus. „Nein, Süße, du bist eher wie ein Wasserfall.“

„Weil ich alles überstürze?“, fragte ich scherzhaft.

„Nein. Eine Naturschönheit, hinter der sich ein Schatz versteckt. Komm schon, Tesla. Erzähl‘s mir. Das Wildeste, das du je getan hast.“

Man konnte ihr nichts abschlagen. Was Meredith wollte, das bekam sie auch, und sie schaffte es, dass ich es ihr sogar geben wollte. „Ich glaube nicht, dass ich jemals irgendwas ‚Wildes‘ getan habe. Sowas wie … keine Ahnung. Einen toten Vogel in deinen Schulschrank zu legen, damit du ihn später beerdigen kannst. Etwas zu verbrennen.“

„Okay, es muss nicht zu wild sein. Aber abenteuerlich. Einzigartig.“ Sie dachte kurz nach. „Ungezügelt.“

„Ah. Du meinst was Sexuelles.“

Meredith trug einen großen Diamanten und einen golden Ring an ihrer linken Hand. Sie sprach manchmal von ihrem Ehemann, aber immer nur in vagen Andeutungen. Ich wusste, dass er Charlie hieß und Lehrer an einer schicken Privatschule war. Sie hatten keine Kinder.

„Jaaa“, raunte Meredith entzückt. „Was Sexuelles. Los, Tesla. Was war die verrückteste sexuelle Sache, die du je gemacht hast?“

Ich war nicht überrascht, dass sie danach fragte. Sie redete gern und viel über Sex. Nun ja. Wer tat das nicht?

„Hmmm.“ Ich drehte meine Tasse in der Hand hin und her. „Ich bin nicht sicher, dass ich Oma-Pornos toppen kann.“

„Wusstest du, dass Sadie schon mal verheiratet gewesen ist, vor Joe?“, sagte Meredith leise.

„Nein. War sie das? Tja.“ Ich zuckte die Schultern. „Was war das Verrückteste, das sie je getan hat? Sich scheiden zu lassen?“

Meredith schüttelte den Kopf. „Oh nein. Ihr erster Mann ist gestorben.“

Stirnrunzelnd dachte ich an die hübsche Sadie mit ihrem dicken Bauch und dem tollen Mann. „Das ist ja schrecklich.“

Meredith zuckte die Schultern. „So was passiert.“

Es war nicht das erste Mal, dass sie klang, als würde sie der Kummer der anderen ein bisschen langweilen. Sie hörte gerne Geschichten, aber am liebsten lustige oder aufregende. Traurige Dinge passten ihr nicht in den Kram.

Ich sah zum Tresen rüber, aber Darek war damit beschäftigt, mit einer seiner Lieblingskundinnen zu flirten. Es wartete niemand sonst. Ich hatte also noch Zeit - und eine halbvolle Tasse Chai. „Okay. Aber du fängst an.“

Sie schüttelte den Kopf und befeuchtete sich wieder den Mund. Ich musste einfach hinsehen, als sie sich mit ihrer Zunge über ihre Lippen fuhr. Meredith hatte einen Mund wie Angela Jolie. Volle, weiche Lippen. Wie ein sanftes Kissen. Wenn sie lächelt, zeigt sie alle ihre Zähne, und man kann nicht anders, als zurückzulächeln. Merediths Mund gehört zu denen, die du um keinen Preis der Welt traurig sehen willst.

„Ich hab nichts Verrücktes getan. Ich bin verheiratet.“

Darüber musste ich lachen. „So? Warst du etwa noch Jungfrau, als du geheiratet hast? Und außerdem - machen verheiratete Leute keinen ausgefallenen Scheiß?“

Für einen Moment schloss sie die Augen, so als würde sie sich an etwas erinnern. „Nein. Eigentlich nicht.“

„Du musst mir doch irgendwas erzählen können.“ Ich lehnte mich zurück, als Eric aufstand, um sich an einer der Kannen am Tresen neben uns Kaffee nachzuschenken.

„Tesla“, sagte er und nickte Meredith zu. „Hi.“

„Hi, Eric.“ Sie klimperte nicht mit den Wimpern oder machte irgendwas ähnlich Berechnendes. Meredith hatte das nicht nötig. „Was macht die Kunst?“

„Houdini würde wohl vor Neid erblassen“, sagte Eric, obwohl er mit Meredith nicht den gleichen unbeschwerten Flirtton hatte wie mit mir. Er sah sie irgendwie misstrauisch an und hielt Distanz.

Sie musterte ausgiebig seinen Hintern, als er wegging, dann drehte sie sich zu mir um. „Den Mann würde ich nicht von der Bettkante stoßen.“

„Wenn du Single wärst.“

„Und wenn er mich nicht ansehen würde, als hätte er Angst, ich könnte ihn beißen, statt zu küssen.“ Meredith klang leicht verletzt.

Ich wandte meinen Blick von Eric ab, der sich wieder über seine Listen gebeugt hatte. „Ach, komm. Das hat er doch gar nicht.“

Sie lächelte leicht. „Dich sieht er nie so komisch an.“

„Weil ich mich nicht sonderlich dumm anstelle und weil ich ihm Koffein und Zucker gebe“, sagte ich lachend. „Eric ist schon in Ordnung.“

Meredith sah noch einmal zu ihm hinüber, dann beendete sie das Thema mit einer wegwerfenden Handbewegung. Sie hob ihre Tasse an den Mund und trank, den Blick auf mich gerichtet. Wieder leckte sie sich über die Lippen.

„Ich habe ein Mädchen geküsst“, sagte sie.

„Und, lass mich raten: Es hat dir gefallen?“ Ich trank einen Schluck heißen Tee.

Sie zuckte die Schultern. „Es war okay. Viel ist eigentlich auch gar nicht passiert. Es war während der College-Zeit. Wir haben nur so ein bisschen herumgealbert.“

„Um zu sehen, wie es ist“, kam ich ihr zu Hilfe. Ich hatte diese Geschichte schon viel zu oft gehört.

„Na klar. Das machen ja viele. Du auch?“, sagte sie.

„Manchmal.“ Ich fand das nicht besonders außergewöhnlich, und sie offensichtlich auch nicht, da sie es ja schon wusste und anscheinend eine andere Geschichte aus mir herauszukitzeln versuchte.

„Und es hat dir gefallen.“

„Nun … natürlich.“ Ich lachte. „Ich würde es nicht tun, wenn es mir nicht gefallen würde.“

„Siehst du? Das meine ich. Du machst, wozu du Lust hast, was dich anmacht.“ Meredith hielt kurz inne. „Das bewundere ich an dir. Darum beneide ich dich sogar.“

Als ob es irgendetwas an mir gäbe, um das sie mich beneiden könnte - ein Mädel, das in einem Café arbeitete, ein abgewracktes Auto fuhr, noch nicht mal eine eigene Wohnung hatte. Abgesehen davon war es Lichtjahre her, seit ich jemanden geküsst hatte, egal ob Mann oder Frau.

„Du bist niemandem Rechenschaft schuldig. Du bist dein eigener Boss“, sagte Meredith.

„Sag das mal Joy.“

„Ach komm, Tesla. Ich sehe es in deinen Augen. Du hast gute Geschichten zu erzählen.“

Ich lachte. Man konnte ihr einfach nicht widerstehen. Ich hatte sie dabei beobachtet, wie sie ihre Waffen einsetzte, ob bei den anderen Gästen oder bei einem Polizisten, der ihr einen Strafzettel verpassen wollte. Selbst Joy hatte Meredith in ihr Herz geschlossen - auch wenn sie danach immer so tat, als würde ihr ihre Freundlichkeit auf die Nerven gehen, und stundenlang noch unmöglicher war als sonst, so als müsste sie sich von jeder Spur an Liebenswürdigkeit wieder reinwaschen.

„Ich hab mal mit zwei Brüdern gevögelt. Zwillinge.“ Ich sagte das nicht selbstgefällig oder voller Stolz, auch wenn ich daran, wie Merediths Augen größer wurden, erkannte, dass sie beeindruckt war.

„Gleichzeitig?“

Ich zögerte eine Millisekunde. Sie hatte nach der verrücktesten, wildesten Sache gefragt, und auch wenn ich persönlich nicht glaubte, dass irgendetwas, das ich getan hatte, als verrückt durchgehen würde, so hatte Meredith da eindeutig ihre eigene Messlatte. Nun, die hatten die meisten Leute. „Ja.“

Sie atmete tief und langsam aus. „Wow.“

„Es war nicht -“, begann ich, aber sie hob die Hand. Ich verstummte.

„Erzähl mir davon.“

Ich hatte noch nie irgendjemandem davon erzählt. Warum sollte ich das jetzt tun?

Weil sie etwas Besonderes war.

„Erzähl schon“, drängte Meredith mich.

Also tat ich es.

2. KAPITEL

Chase und Chance Murphy waren noch nie voneinander getrennt gewesen. Ich war neu in der Gegend, während alle anderen sich schon seit der Mittelstufe kannten, manche sogar schon seit dem Kindergarten. Die Mütter der beiden Jungen, Mrs Eugene Murphy - falls sie einen Vornamen hatte, und das musste sie, benutzte ihn niemand - war so etwas wie eine Urgewalt in der Schule, wo ihre Söhne beide zur ersten Riege in den Basketball- und Football-Mannschaften gehörten. „Die Zwillinge“, nannte sie sie. Sie machte eine Einheit aus ihnen, betrachtete sie nicht als Individuen.

Vielleicht war es deshalb so leicht für mich, sie beide gleichzeitig zu vögeln, oder besser ausgedrückt, war es für sie beide so leicht, mich gleichzeitig zu vögeln. Sie waren gut darin, etwas zu teilen. Ich wette, das war nicht unbedingt, was ihre Mutter sich für sie vorgestellt hatte. Aber ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Mama Murphy überhaupt nicht an die kommenden Jahre gedacht hatte, wenn den Zwillingen Haare am Kinn wuchsen - und an den Eiern.

Wir gingen alle schon in die Oberstufe. Ich, die Neue an der Schule, befand mich noch in der Eingewöhnungsphase. Chase und Chance waren ziemlich beliebt, obwohl ihre Mutter so eine berühmte Nervensäge war. Sie waren groß, schlaksig, athletisch. Sie sahen vollkommen gleich aus, obwohl sie sich zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr gleich anzogen. Später entdeckte ich, dass ich sie daran unterscheiden konnte, in welche Richtung ihr Schwanz leicht gekrümmt war. Der eine zur Linken, der andere zur Rechten. Spiegelverkehrt. Sie waren beliebt, gut in der Schule. Früher waren sie Messdiener gewesen. Bald sollten sie aufs College gehen.

Und ich? Ich war klein und trug Second-Hand-Klamotten, aber anders als Molly Ringwald in Pretty in Pink ließ mich das nur ärmlich aussehen, nicht cool und unkonventionell. Es gab keinen Duckie, der mich bewundert hätte, oder zumindest war ich nicht so verrückt nach den reichen Jungs. Auch keinen Andrew Dingsdabums, zum Glück. Leider aber auch keinen James Spader. Den hätte ich damals sofort geknallt. Scheiße, vermutlich würde ich das selbst heute noch tun.

Wenn es um Mathe ging, hatte ich mehr drauf als die Murphy-Jungs und alle anderen aus meiner Klasse. Da ihre Mutter sich fest vorgenommen hatte, dass die beiden ihre Eignung für die Sportteams behielten, heuerte sie mich deshalb als Nachhilfelehrerin an. Ja, Mama Murphy war fest davon überzeugt, dass Sport den Charakter festigt - auch wenn in Anbetracht ihrer eigenen Unsportlichkeit oder der ihres Mannes, einem Zahnarzt mit dicken Brillengläsern und krummen Zähnen, nur schwer vorstellbar war, dass sie an so was glaubte.

Mama Murphy bezahlte mich also quasi dafür, dass ich ihre Lieblinge entjungferte. Natürlich fing es nicht so an. Ursprünglich hatte ich wirklich vor, ihnen Infinitesimalrechnung beizubringen. Ich brauchte das Geld und hatte auch keine Skrupel, von Mrs Eugene doppelt so viel zu verlangen wie sonst, weil ich ja zwei Schüler hatte statt einem - auch wenn sie mich zu überzeugen versuchte, dass nicht die Anzahl der zu unterrichtenden Personen zählte, sondern die aufgebrachte Zeit.

„Und da du sie beide gleichzeitig unterrichtest“, argumentierte sie, „sollte ich dir auch nur das normale Honorar zahlen.“

„Es sind aber zwei Schüler“. Ich blieb standhaft.

„Aber sie sind Zwillinge!“

Ich erinnere mich, dass ich, statt zu antworten, nur eine Augenbraue hob. Sie hatte mich genau gemustert: meinen langen Jeansrock, die kniehohen Doc Martens, mein schwarz gefärbtes Haar. Ich schätze, ich sah für sie ziemlich furchterregend aus.

„Du bist mir vom Vertrauenslehrer der Schule nachdrücklich empfohlen worden.“ Sie klang zweifelnd.

„Ich werde dafür sorgen, dass Chase und Chance ihre Prüfungen mit Bestnote bestehen - sonst bekommen Sie Ihr Geld zurück.“

Und das war‘s. Sie bezahlte mich jede Woche. Und ich hielt mein Versprechen ein.

Es fing nicht als Sexparty an. Ganz im Gegenteil, die Brüder waren echt nervig. Sie hatten keine Lust auf Infinitesimalrechnung. Schlimmer noch, sie kümmerten sich einen Dreck darum. Dabei waren sie darin so schlecht, dass es ihren Platz in der Schulmannschaft gefährdete. Es war ihnen trotzdem egal. Wenn es nach den Murphy-Brüdern ging, war Mathe was für Warmduscher.

Aber wie gesagt: Ich brauchte das Geld. Auf keinen Fall würde ich das Versprechen, das ich ihrer Mutter gegeben hatte, brechen. Ich hätte ihr das Geld auch gar nicht zurückzahlen können - schließlich hatte ich es schon längst für Klamotten, Bücher und Musik ausgegeben.

„Wenn ihr das lernt“ - so lautete das erste Angebot, das ich ihnen machte -, „dann blas ich euch einen.“

Das unterbrach ihr blödes Gebrabbel und dieses Rumgerutsche auf den Stühlen, als wären sie Welpen, die nicht stillsitzen können. Beide sahen zu mir auf, mit einer geradezu unheimlichen Synchronizität. Sie waren nicht derselbe Mensch, aber sie hatten eine beeindruckende Art, sich auf die gleiche Weise und zur selben Zeit zu bewegen oder etwas zu sagen. Sie waren miteinander verbunden, darüber gab‘s keinen Zweifel.

„Du verarschst uns doch nur!“, sagte Chase.

„Das machst du doch niemals, verdammte Scheiße“, sagte Chance.

„Ich blas euch beiden einen“, sagte ich, legte die Hände flach auf den Tisch und lehnte mich vor, um ihnen in die Augen zu sehen, einem nach dem anderen. Ich weiß nicht mehr, wen ich zuerst ansah. Ich dachte damals nicht, dass es einen Unterschied machte, aber das tat es. „Ich werde es euch so heftig besorgen, dass ihr Sterne seht.“

Ich könnte nie eine Lehrerin sein und habe auch nie davon geträumt, es zu werden, aber eins habe ich übers Unterrichten gelernt: Wenn man eine Belohnung in Aussicht stellt, läuft alles wie von selbst.

So fing es an. Sie beendeten ihre Aufgaben in Rekordzeit und, von ein paar kleinen Fehlern abgesehen, ohne Beanstandung. Wie mit den meisten Dingen im Leben war die Aufgabe, die Murphy-Brüder zum Lernen zu bringen, nur eine Frage der Motivation. Ich wollte, dass sie Bestnoten erhielten - sie wollten, dass ich ihnen einen blase.

Erst als sie die Hosen runterließen, wurde mir klar, dass bei dem Deal vermutlich sogar ein Gewinn für mich raussprang. Ich hatte Chase und Chance nie groß als potenzielle Partner angesehen. Erstens schien man sie nur im Doppelpack zu bekommen, auch wenn ich ihrer Mutter gegenüber betont hatte, dass es sich um zwei unabhängige Menschen handelte. Zweitens sahen sie aus wie Fred und George, die Weasley-Zwillinge aus den Harry Potter-Filmen: rote Haare, helle Haut und dunkelbraune Augen. Ich wusste damals nicht, dass sie noch nie mit einem Mädchen zusammen gewesen waren. Doch das wäre mir auch egal gewesen, ich hatte nur noch Augen für ihre prachtvollen Schwänze.

Ich gierte nach ihnen.

Ich ließ sie Schulter an Schulter dastehen, Hüfte an Hüfte. Dann ging ich vor ihnen auf die Knie. Der Teppich im Hobbykeller ihrer Eltern war weich und dick, ein perfektes Kissen. Ich nahm erst den einen Schwanz in den Mund, dann den anderen. Diesmal erinnere ich mich, welcher der Zwillinge der Erste war, weil ich währenddessen zu ihm hochsah. Und er sah zu mir runter.

Es war Chase, auch wenn es sein Bruder hätte sein können - die Wahl war vollkommen willkürlich. Später sollte es einen Unterschied machen, doch zu dem Zeitpunkt, glaube ich, war es uns allen noch egal. Ich schob seinen dicken hübschen Schwanz so tief ich konnte in meinen Mund und lutschte ihn, während ich mit der Hand den Schwanz seines Bruders rubbelte, auf und ab, auf und ab.

Beide stöhnten im selben Moment auf. Sie hörten sich gleich an. Sie sahen gleich aus. Einen Augenblick später entdeckte ich, dass sie auch gleich schmeckten.

Wenn ich beide gleichzeitig hätte in den Mund nehmen können, ich hätte es getan. So mussten sie sich damit begnügen, dass ich meine Aufmerksamkeit gerecht aufteilte.

Weil ich zusehen wollte, wie sie kamen, lehnte ich mich am Ende zurück und brachte sie mit der Hand zum Höhepunkt. Sie kamen wenige Sekunden nacheinander, spritzen auf ihre flachen, durchtrainierten Waschbrettbäuche. Beide hatten die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt. Ihre Münder, von denen ich später erfahren sollte, welches Talent sie im Küssen und Lecken und Saugen hatten, waren entspannt und offen.

Chase sah mich als Erster an. Mit seiner rechten Hand - mit der er noch kurz zuvor Infinitesimalrechnungen niedergeschrieben hatte - strich er mir durchs Haar. Sein Daumen fuhr über meine Unterlippe, die sich geschwollen und feucht anfühlte. Er blinzelte langsam, als erwachte er aus einem Traum, den er noch nicht verlassen wollte.

„Scheiße nochmal“, sagte Chance in die Stille hinein. „War das geil.“

Und das war nur der Anfang.

3. KAPITEL

„Wow“, sagte Meredith, als ich zu Ende erzählt hatte. „Das ist …“

Ich hoffte, sie würde nicht „verrückt“ sagen. Es würde das Geschehene zwar nicht abwerten können, es zu etwas machen, dass es nicht gewesen war, und dennoch: Ich wollte nicht, dass sie so etwas sagte.

„… so unglaublich verdammt heiß“, sagte Meredith.

Ich errötete, Hitze stieg in meinem Hals und weiter unten auf. Ich hatte ihr den Rest nicht erzählt, aber vielleicht würde ich es tun, wenn sie mich fragte. Von dem langen Herbst mit den Murphy-Brüdern, wie wir drei uns weiterbildeten in allen relevanten Bereichen: von simultanem Blasen über Cunnilingus bis hin zu jeder erdenklichen Sexvariante, die zwei Schwänze und eine Muschi beinhaltet. Erst an Weihnachten in jenem Jahr hatten wir damit aufgehört.

„Damit hatte ich absolut nicht gerechnet“, sagte sie mit einem Kopfschütteln. „Wow. Kein Stück.“

„Womit hattest du denn gerechnet?“ Ich trank meinen Chai aus, um mit der Arbeit weiterzumachen, blieb aber noch sitzen. Weil ich neugierig war, wie sie mich eingeschätzt hatte.

„Hab ich dir doch gesagt. Verborgene Schätze.“

Ich blinzelte, weil ihr Blick so feurig war. Sie hatte mal ein Mädchen geküsst, na klar, aber was hieß das schon? Nichts.

Es ist sinnlos, mit Hetero-Mädels zu flirten. Nicht mal mit den „neugierigen“. Heten glauben heutzutage, dass es vollkommen in Ordnung ist, auf der Tanzfläche die Sau rauszulassen, um so die Aufmerksamkeit der Typen zu erhaschen, oder weil sie betrunken sind, oder weil es einfach in Mode ist. Sie denken: Solange du keine Möse leckst, ist es nur ein Spiel … und selbst wenn du es dann doch tust, bist du noch lange keine Lesbe.

Ich bin weder hetero noch lesbisch.

Man kann sagen, dass ich mich sexuell nicht so richtig festlege. Liebe kommt in allen Formen und Farben und in allen Geschmacksrichtungen, und ich möchte in der Lage sein, sie kompromisslos auszuleben. Aber wenn ich irgendwas von meinem Job im Mocha gelernt habe - wo der Kaffee fließt wie die Niagarafälle und der Hosenbund schon eng wird, wenn man nur in die Nähe der Kuchenvitrine kommt - dann, dass Wollen und Haben zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind.

„Das ist lange her.“ Ich klang wenig überzeugend.

„So lange kann das gar nicht her sein“, erwiderte sie mit Sarkasmus in der Stimme. „Du hast die Schule doch grade erst abgeschlossen.“

Ich lachte. „Quatsch. Ich bin sechsundzwanzig.“

„Damit bist du immer noch ein Baby“, beharrte sie. „Aber ein erfahrenes Baby.“

Mein Alter war mir ziemlich schnuppe. „Ich muss wieder arbeiten. Darek hat mir gerade diesen verzweifelten Blick zugeworfen, der besagt, dass jemand was zu trinken bestellt hat, von dem er nicht weiß, wie man es macht.“

„Tesla, die Retterin in der Not. Dann hilf ihm besser mal. Ich muss sowieso los. Hab noch was zu tun.“ Meredith lachte erneut auf ihre dunkle sinnliche Art, bei der sich mir immer die Nackenhaare aufstellten.

Wir standen beide im selben Moment auf. Sie kam schon seit Monaten hierher, aber heute war es das erste Mal, dass sie mich umarmte. Erst war ich so überrascht, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Sie trat noch etwas näher. Von ihr ging ein dezenter exotischer und sicherlich teurer Duft aus. Sie legte die Arme um mich und zog mich dichter an sich heran. Ihr Pulli fühlte sich weich an auf meiner Haut, ihre Hände warm auf meinem Rücken, zwischen den Schulterblättern. Für die Länge eines halben Herzschlags standen wir Brust an Brust und Schritt an Schritt.

Gerade, als ich mich ihrer Berührung hingab, die Augen schloss und ihren köstlichen Duft einatmete, war es vorbei. Zurück blieb nur die Wärme ihres Atems in meinem Ohr, nachdem sie sich leise verabschiedet hatte, und das Kitzeln auf meiner Wange, wo sie mich - aber vielleicht war das pure Einbildung - mit den Lippen gestreift hatte.

„Tesla?“, rüttelte Eric mich aus meinem wohl ziemlich offensichtlichen Schockzustand. Meredith hatte den Laden bereits verlassen, die Türglocke bimmelte noch. Eric, der vor dem Selbstbedienungstresen stand, neigte den Kopf zur Seite und musterte mich von oben bis unten. „Alles okay bei dir?“

„Ja, klar. Natürlich.“ Ich streckte meine Hand nach seiner leeren Tasse aus. „Bist du fertig? Soll ich abräumen?“

Er sah mich amüsiert an. „Nö. Ich trink noch einen, wenn es dir nichts ausmacht.“

Ich lachte. Es war mir ein bisschen peinlich, dass mich so etwas Simples wie eine kurze Umarmung derart umhauen konnte. „Natürlich. Trink, soviel du willst. Wenn du‘s nicht machst, macht‘s jemand anderes.“

„Ist das nicht immer so?“ Er prostete mir zu.

Dann wandte er sich ab, um sich Kaffee nachzuschenken. Darek entfuhr am Tresen ein Hilfeschrei, und ich konzentrierte mich wieder auf meinen Job.

4. KAPITEL

Als ich von der Arbeit nach Hause kam, war es im Haus ungewöhnlich still, und von den anderen war nichts zu sehen. Normalerweise hätte ich einen leisen Freudenschrei ausgestoßen - ich liebte meine Mitbewohner heiß und innig, aber ich sehnte mich auch danach, das Haus ab und zu ganz für mich allein zu haben. Was so gut wie nie vorkam. Heute Abend aber deprimierte es mich, nach Hause zu kommen, ohne dass wenigstens das Licht im Flur an war, um mich willkommen zu heißen.

Abendessen gab es auch nicht, und das war noch schlimmer. Ich machte mir ein Thunfischsandwich mit Käsemakkaroni, weil es einfach nichts Besseres gibt. Außer Hotdogs mit Käsemakkaroni, aber leider hatten wir keine Hotdogs mehr.

Ich fragte mich unwillkürlich, was sie seither wohl angestellt hatten, diese Murphy-Brüder. Die Erinnerung an sie war ein kleiner empfindsamer Punkt in meinem Hirn, der ab und zu schmerzte wie eine Wunde im Mund, wenn ich die Zahnseide zu hart eingesetzt hatte. Aber ich hatte seit Langem nicht mehr an Chase und Chance gedacht, nicht so bewusst jedenfalls. Die Zeit hat diesen merkwürdigen Effekt, die rauen Kanten der Dinge glatt zu schmirgeln, selbst solche, die ein wenig wehtun. Oder auch sehr.

„Du bist eine Egoistin, Tesla“, hatte Chance gesagt, als wir das letzte Mal zusammen waren. „Ein Egoist, weiter nichts.“

Das stimmte nicht. Ich war mehr als nur ein Egoist. Ich war viele Dinge, die wir damals zu jung und zu dumm waren zu verstehen. Und als er das zu mir sagte, drehte ich mich um und ging davon, voller selbstgerechter Wut angesichts dieser Beleidigung. Heute, mit Zeit und Abstand und Erfahrung, verstand ich jedoch, warum Chance es damals so empfunden hatte.

Ich hatte seit Jahren nichts mehr von ihnen gehört. Mein Bruder Cap, der drei Jahre jünger war als ich, wüsste vermutlich alles über sie. Ich hatte in der Schule nur wenige Freunde gehabt; Cap dagegen war bei allen beliebt gewesen. Football-Spieler, Mitglied in der Theatergruppe, König des jährlichen Alumnitreffens, im Jahrbuch zum witzigsten Schüler gekürt … Außerdem hatte die High School ihm genügend Spaß gemacht, um auch danach noch den Kontakt zu seinen Kumpeln von damals zu halten. Er war zwar mit den Murphys nicht befreundet gewesen, aber er könnte was über sie rausfinden.

Allerdings war, meinen Bruder anzurufen, um Infos über ein paar Jungs zu bekommen, mit denen ich Sex gehabt hatte, ungefähr so peinlich, wie die eigenen Eltern in flagranti im Bett zu ertappen … Ja, das war mir tatsächlich schon passiert, auch wenn ich mich nicht sonderlich gern daran erinnerte …

Cap war vermutlich der Einzige, der von mir und den Murphy-Brüdern wusste. Aber nur weil er vor Jahr und Tag eingeweiht gewesen war, musste er ja nicht unbedingt heute noch Lust darauf haben, mit mir darüber zu reden.

Doch selbst Affen setzen gern irgendwelches Werkzeug ein. Also wendete ich mich dem zu, was mir zur Verfügung stand: dem Internet. Meinen Laptop hatte ich vor ein paar Monaten geschrottet, und ein neuer war bisher nicht drin gewesen. Ich wollte warten, bis ich genug gespart hatte, um mir den größten, schnellsten, schicksten Mac zu leisten, und das würde noch eine ganze Weile dauern - es sei denn, ich würde auf der Stelle meine Sucht nach tollen Retro-Klamotten und glitzerndem Eyeliner überwinden. Was reichlich unwahrscheinlich war. Bis dahin checkte ich deswegen meine E-Mails und anderen Kram über mein Handy und benutzte ansonsten den alten Computer im ersten Stock.

Ich hatte mir ein eigenes Benutzerkonto auf dem PC angelegt - weniger, weil ich mir Sachen angucken wollte, die nichts für kleine Kinder waren, sondern damit sie nicht irgendwas, das ich gespeichert hatte, durcheinanderbrachten. Mit ihren vier Jahren fand Simone sich schon ziemlich gut im Labyrinth der Online-Spiele für Kinder zurecht, aber sie war auch eifrig mit der Delete-Taste zugange. Ich hatte dadurch mehr als einmal wichtige Dokumente und E-Mails verloren. Ihr Bruder Max, zweieinhalb Jahre alt, hämmerte gern ohne Sinn und Verstand auf den Tasten herum und brachte den Computer immer wieder dazu, eine Reihe merkwürdiger Funktionen auszuführen, von den wir gar nicht wussten, dass er sie hatte, und die er vermutlich auch nicht haben sollte.

Da noch niemand zu Hause war, musste ich mir keine Sorgen machen, dass jemand unbedingt Videos von süßen Haustieren ansehen oder sich vor eines dieser pädagogischen Lernspiele setzen wollte, von deren grellen Farben einem die Augen wehtun. Ich musste nicht aufpassen, dass ein kleines Wesen über meine Schulter starrte, während ich mir Bilder ansah, die Connex-Freunde für mich hochgeladen hatten. Meredith lag falsch mit ihrer Annahme, ich wäre niemandem Rechenschaft schuldig. Ich lebte mit vier anderen Menschen zusammen, und einer davon würde mir meinen Hintern auf einem Silbertablett servieren, wenn ich seine Kinder irgendwelchem Zeug aussetzen würde, das nicht gut für sie war.

Leute auf Connex auszuspionieren ist supereinfach, wenn sie nicht vorsichtig genug sind, die entsprechenden Icons zum Schutz der Privatsphäre anzuklicken. Ich hab meinen Account nicht geblockt, weil ich nie Fotos oder irgendwas zu Privates hochlade, das nicht jeder sehen soll. Außerdem will ich ja, dass Leute mich finden können. Dafür sind Social Networks schließlich da.

Ich fand die Murphy-Brüder nach nur wenigen Klicks. Sie gehörten beide zu einer Fan-Gruppe unserer Abschlussklasse. Ich war nicht beigetreten. Auf ihren Profilbildern sahen sie sich nicht mehr so ähnlich wie damals. Sie waren noch immer groß und schlaksig, aber sie hatten ein wenig zugenommen, und das stand ihnen.

Chance war verheiratet. Zwei kleine Kinder. Ich klickte mich durch seine Fotos, auch wenn mir dabei ein wenig unheimlich zumute war. Er lebte in Ohio und arbeitete für ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen. Er hatte eine wunderbare Familie und schien glücklich zu sein. Mein Cursor schwebte über dem „Freund hinzufügen“-Button, klickte ihn jedoch nicht an. Es freute mich, dass Chance anscheinend ein glückliches Leben führte, aber ich hatte nicht das Bedürfnis, auch nur ein klitzekleiner Teil davon zu sein.

Chase war nicht verheiratet.

Und er sah gottverdammt gut aus, warum sollte ich lügen. Er hatte unheimlich viele Bilder hochgeladen. Ganze Alben voll: beim Klettern, Fahrradfahren, Rudern. Viele Schnappschüsse mit nacktem Oberkörper, Waschbrettbauch, muskulösen Armen. Einfach zum Anbeißen. Er hatte auch eine Menge Bilder von sich mit immer dem gleichen Typen eingestellt. Den Arm entspannt über der Schulter des anderen. Lachend. Ich sah mir nochmal Chases Profilinformationen an: Da hieß es nur „Single“, aber mir war klar, dass der andere Mann nicht ohne Grund in seinen Alben auftauchte. Vielleicht hatte Chase sich nicht dazu entschieden, es aller Welt direkt mitzuteilen, aber zu übersehen war es nicht.

Ich fügte auch ihn nicht zu meinen Freunden hinzu. Ich hätte es gern getan. Ich hätte ihm gern eine Nachricht geschickt, ihn gefragt, ob er glücklich war. Ob der Grund, warum er nicht mit mir hatte zusammen sein wollen, der war, dass er auf Jungs stand, und nicht, dass er mich nicht so geliebt hatte wie ich ihn. Ich hätte ihn gern so viele Dinge gefragt, tat es aber letzten Endes nicht. Wozu alte Wunden aufreißen.

Ich lenkte mich damit ab, auf der Homepage von Apple zu surfen - mir anzusehen, was ich wollte, aber niemals bekommen würde. Das schien das Motto des Tages zu sein. Ich erinnerte mich an den Duft von Merediths Parfum und wie weich ihr Pullover gewesen war, als sie mich umarmt hatte … Mit einem tiefen Seufzer drehte ich mich auf dem Schreibtischstuhl im Kreis, den Kopf in den Nacken gelehnt, nur meine Füße bewegten sich. Eine Runde nach der anderen, alles um mich herum drehte sich, bis ich einen Zeh in den Teppich bohrte.

Ich hörte auf. Der Raum bewegte sich weiter. Wenn ich jetzt aufstand, würde ich stolpern, vermutlich hinfallen. Der Drehschwindel war zwar nicht so schlimm, dass ich mich übergeben müsste, auch wenn im Nachhinein der Thunfisch vielleicht nicht grade die beste Idee gewesen war. Ich versuchte angestrengt, irgendetwas im Raum zu fokussieren, und drehte mich langsam wieder zum Computer um. Da hörte ich, wie die Haustür ins Schloss fiel, dann das Geräusch von kleinen, tapsenden Schritten auf den Fliesen im Eingangsbereich. Stimmen. Simone kreischte auf, ihr Bruder kicherte wie verrückt. Elaine, ihre Mutter, wies sie matt zurecht. Dann verlagerte sich der Lärm die Treppen hinauf, vermutlich Richtung Badezimmer, wo die Kinder abends immer gewaschen wurden, bevor es Zeit fürs Bett war.

Ich löschte den Verlauf und schloss die offenen Browser-Fenster, bevor ich mich ausloggte. Gerade, als ich meinen Stuhl Richtung Zimmertür drehen wollte, um aufzustehen, kam er herein.

„Hallo, Vic“, sagte ich.

„Hallo.“ Er sah müde aus. So ist das eben, wenn man Kinder hat.

Vic presste sich die Handballen gegen die Augen, dann sah er kurz zum Computer rüber. „Dachte nicht, dass du zu Hause bist.“

„Nicht jeder hat so einen überquellenden Terminkalender voller gesellschaftlicher Verpflichtungen wie du“, neckte ich ihn.

Er verzog schwach einen Mundwinkel. Nur einen. „Wir sind mit den Kindern zu Elaines Mutter, es war Nancys Geburtstag. Hätte ich gewusst, dass du Zeit hast, hätte ich dir Bescheid gesagt.“

„Schon okay. Ich hatte eh zu tun.“ Elaines Familie war mir gegenüber zwar nicht richtiggehend unfreundlich, aber sie strengte sich auch nicht sonderlich an, nett zu sein. Wenn sie hierher kamen oder wir uns woanders trafen, waren wir distanziert, aber höflich zueinander und vermieden die Frage, welche Rolle ich im Leben ihres Schwiegersohns spielte. Zu ihnen nach Hause ging ich nie.

Er nickte. „Ich helfe Elaine mal mit den Kindern. Hast du später Lust auf Resident Evil 4?“

Das war unser Lieblingsvideospiel, vor allem, wenn wir Vics Wii benutzten, mit den Spezialpistolen als Controller.

„Na klar! Soll ich euch beiden helfen?“

„Nö.“ Er zuckte die Schultern und gähnte. „Haben wir im Griff.“

„Wie fühlt sie sich?“ Elaine war mit ihrem dritten Kind schwanger und litt nicht unter Morgenübelkeit. Ihr war einfach den ganzen Tag lang schlecht.

„Beschissen.“ Er zuckte wieder die Schultern.

Allein es von außen mitzuerleben, reichte mir aus, um niemals schwanger werden zu wollen. Nie im Leben. Na ja … Vielleicht würde ich mich überzeugen lassen, wenn Christian Bale der Samenspender wäre. Aber ansonsten: nein, danke.

„Ich schmeiß die Konsole schon mal an.“

Es gab für mich keinen Grund, warum ich Vic sagen sollte, dass ich im Internet nach Chase und Chance Murphy gesucht hatte. Trotzdem fühlte es sich wie eine Lüge an, eine, die schwer genug wog, dass ich mich nicht richtig aufs Spiel konzentrieren konnte. Da Resident Evil nur für einen Spieler war, wechselten Vic und ich uns ab, wann immer einer von uns starb. Ich starb ziemlich häufig.

„Was ist los mit dir, Tesla?“ Vic nahm mir die Wii-Pistolen aus der Hand, weil rote Flüssigkeit als Beweis über den Bildschirm sickerte, dass ich schon wieder krepiert war.

„War ein langer Tag, schätz ich.“ Ich stand auf. „Ich sollte ins Bett gehen. Muss morgen früh raus.“

„Ja. Ich auch“, erwiderte Vic, blieb aber sitzen. Er zielte mit der Pistole wieder auf den Bildschirm, wechselte auf das nächste Level. „Gute Nacht.“

Im Rest des Hauses war es schon seit Stunden ruhig, Elaine und die Kinder schliefen längst. Es gab nur noch Vic und mich, wie wir im Dunkeln saßen und Zombies töteten. Das flackernde Licht des Bildschirms warf Schatten auf Vics Gesicht, verfremdete es.

Er ertappte mich dabei, wie ich ihn anstarrte, und unterbrach das Spiel. „Was?“

„Du solltest zu Bett gehen. Du musst doch morgen auch früh raus.“

„Danke, Mama“, sagte Vic.

Ich zuckte die Achseln. „Ich sag‘s dir nur.“

„Ja, ich weiß schon. Ich will nur noch dieses Level schaffen, das ist alles. Geh schlafen. Ich komm schon klar.“

Da Vic häufig noch vor mir aufstand, wusste ich, dass er nicht klarkommen würde. „Du siehst müde aus …“

„Ich bin kein kleines Kind mehr, Tesla“, unterbrach er mich harsch, den Blick starr auf die Horden von Zombies gerichtet, die gekommen waren, um den Helden des Spiels, Leon S. Kennedy, zu töten. Er sah mich kurz an. „Ich kann schon selbst entscheiden, wann ich ins Bett gehe.“

Ich trat einen Schritt zurück, hob die Hände. „In Ordnung. Du hast recht. Gute Nacht.“

„Nacht“, hörte ich ihn wiederholen, als ich das Arbeitszimmer verließ und in mein Zimmer ging.

Natürlich hatte er recht. Ich war nicht seine Mutter, Gott sei Dank. Und ich war auch nicht seine Frau. Aber das hieß nicht, dass ich kein Recht hatte, mir Sorgen um ihn zu machen. Vic arbeitete hart, verbrachte Stunde um Stunde in seiner Autowerkstatt und dem dazugehörigen Gebrauchtwagengeschäft. Er hatte eine schwangere Frau und zwei Kinder. Und mich, als Untermieterin im Keller.

Als ich geduscht und mich ins Bett gelegt hatte, hörte ich durch die Tür leise das Röcheln der sterbenden Zombies. Als ich kurz davor war, einzuschlafen, wurde es still. Dann hörte ich das beruhigende Knarzen des Fußbodens in der Küche, dem Wohnzimmer, dem Esszimmer. Vic drehte seine Runden. Prüfte Türen und Fenster, stellte sicher, dass er überall abgeschlossen hatte und wir in Sicherheit waren.

Als er die Kellerstufen hinabkam, starrte ich mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Was machte er hier? Wollte er hier unten auch die Fenster überprüfen? Sie waren zu klein, als dass irgendjemand hätte hindurchschlüpfen können. Ich hörte das Geräusch einer Rassel, und wie er leise fluchte. Dann das metallische Quietschen, als mein Türknauf langsam gedreht wurde.

Das hereinfallende Licht erhellte einen Teil meines Zimmers, als die Tür aufging. Zwar konnte ich Vics Silhouette nicht erkennen, aber ich hörte ihn atmen. Er schlich näher an mich heran, und ich schloss fest die Augen. Ich atmete ruhig ein und aus, damit er nicht merkte, dass ich wach war.

Als er sich über mich beugte, spannte ich unwillkürlich jeden Muskel in meinem Körper an. Doch anstatt mich zu berühren, drückte er die Verriegelung an dem hohen, schmalen Fenster über meinem Bett hinunter. Dann, beruhigt, dass alles in Ordnung war, verließ er den Raum, und schloss die Tür hinter sich.

Ich atmete hörbar aus und drückte mich tiefer in meine Kissen. Kalter Schweiß rann über mein Gesicht. Langsam erfüllte Wärme die kleine Höhle, die ich mir unter der Decke geschaffen hatte, doch es dauerte noch lange, bis ich nicht mehr zitterte.

Und als ich endlich schlief, hatte ich einen Traum.

Ich habe keine Ahnung, was Vic macht, wenn er nicht im Compound ist, aber wenn er da ist, schraubt er an Autos rum. Manche der Leute hier, wie meine Eltern zum Beispiel, fahren normalerweise Volvos oder BMWs, aber den Sommer über kurven sie in alten Kisten durch die Gegend. Verbeulte alte Jeeps und verrostete Muscle-Cars, so was halt. Denn im Compound geht es nicht um Geld oder Status, sondern um den Umgang miteinander - und um Gemüseanbau, Blumensäen und den ganzen anderen Scheiß.

Ich komme hierher, seit ich denken kann, und ich weiß nur, dass ich mich diesen Sommer zu Tode langweile.

Hier gibt es nicht viel für mich zu tun. Ich könnte in der Krippe abhängen und ihnen mit den Kleinkindern helfen, aber der Gestank von vollgeschissenen Stoffwindeln macht mich nach einer Weile völlig fertig. Ich könnte im Garten helfen, Unkraut jäten und so, aber es ist der wärmste Sommer seit zwanzig Jahren, und es ist einfach brutal heiß auf den Feldern. Und wofür auch? Ich mag Tomaten noch nicht mal.

Ich bin sechzehn, bald siebzehn, ich besitze keinen Fernseher, keinen Computer, kein Handy, und es gibt hier zwar Unmengen von Kleinkindern und viele Erwachsene, aber nur ein Mädchen in meinem Alter, und mit dem verstehe ich mich nicht sonderlich. Ihre Eltern leben hier das ganze Jahr über, und sie tut so, als wäre sie deshalb ein besserer Mensch als ich, dabei ist es eigentlich andersherum. Sie denkt, Adam Ant war bei Culture Club! Und ich weiß, das wäre andern Leuten egal, aber mich regt es tierisch auf.

Also verbringe ich die meiste Zeit damit, in der Werkstatt rumzuhängen. Hier ist es zwar ziemlich laut, weil immer irgendwo gehämmert und geschraubt wird, aber Vic besitzt ein Radio und hört noch dazu Rock-Sender. Mein kleiner Bruder, Cap, hängt hier auch ab. Er kennt sich mit Autos besser aus als ich. Na ja, eigentlich ist er regelrecht brillant, was Autos angeht. Ich kann vielleicht ein Scheibenwischerblatt austauschen - meine Bestleistung des Sommers - aber Cap kann tatsächlich einen ganzen Motor auseinandernehmen und auch wieder zusammenbauen.

Vic gibt mir trotzdem nie das Gefühl, im Weg zu sein. Geduldig zeigt er mir, welche Teile wohin müssen und wie sie alle zusammengehören. Er hat immer Schmiere an den Fingerknöcheln und unter den Nägeln, selbst wenn er seine Hände an einem der T-Shirt-Fetzen abwischt, die er in einer großen Kiste neben der Werkbank aufbewahrt. Manchmal, wenn er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn wischt, ist auch sein Gesicht dreckig.

Heute ist Cap mit ein paar anderen Kindern schwimmen gegangen, in einem ekligen Teich, der voller Algen ist. Sie haben einen Picknickkorb mitgenommen. So gesunde Sachen wie Hummus, Pita und Gurken aus dem eigenen Garten. Ich würde sterben für einen Cheeseburger mit Pommes und einen Milchshake. Ich sieche nur so dahin diesen Sommer, brate in der Hitze, das Hirn weichgespült von dem pausenlosen Lächeln der Leute hier. Am liebsten würde ich mal so richtig losbrüllen.

Und das mache ich dann auch. Richtig laut und hart, die Fäuste geballt, die Augen geschlossen. Ich stampfe mit den Füßen auf den staubigen Boden vor der Werkstatt, eins-zwei, eins-zwei. Dabei stoße ich mir die Zehen durch meine alten schwarzen Chuck Taylors hindurch an den Scheunenbrettern. Und dann beuge ich mich vor, um meinen Kopf gegen das splitterige Holz zu lehnen, und denke daran, dass nur noch wenige Wochen fehlen. Dass ich normalerweise total traurig bin, das Compound verlassen zu müssen, es dieses Jahr aber nicht erwarten kann.

„Na komm. So schlimm kann‘s nicht sein.“ Vic lehnt im Türrahmen, einen Schraubenschlüssel in der Hand und die Stirn ölverschmiert.

„Ich langweile mich zu Tode.“

Vic zuckt die Schultern. „Ich geb dir was zu arbeiten, Tesla. Das weißt du.“

Aus diesem Grund bin ich hier. Weil er eine Beschäftigung für mich hat. Und weil er vielleicht sein Hemd auszieht, wenn ihm zu heiß wird, und ich zusehen kann, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterläuft, zwischen die Grübchen direkt oberhalb seines Hinterns. Vic trägt seine Jeans tief auf den Hüften und über seine großen schwarzen Motorradstiefel gekrempelt.

Wegen Vic liege ich nachts in meinem Bett wach und wälze mich unruhig in der stickigen Sommerluft hin und her.

Ich weiß alles über Sex. Hier treibt es jeder mit jedem. Niemand spricht darüber, aber es ist kein Geheimnis. Und falls du glaubst, es sei eklig, daran zu denken, wie deine Eltern es miteinander treiben, dann versuch mal, dir vorzustellen, wie sie es mit anderen Leuten machen. Manchmal sogar mit mehreren zur selben Zeit. Neben Peace, Love und Bio-Gemüse geht es im Compound vor allem um Sex.

Ich weiß alles darüber, aber ich hab es noch nie getan. Die Jungs in meiner Schule interessieren mich nicht. Zu jung, zu unreif, und außerdem, ich bin ja den ganzen Sommer weg. Das ist die wichtigste Zeit für diese Freund-Freundin-Sache. Das eine Mal, als ich letztes Jahr versucht habe, mit einem Jungen zu gehen, kam ich im Herbst in die Schule zurück, nur um zu erfahren, dass er den Sommer über die gesamte Cheerleader-Riege gedated hatte. Erstens: Ich bin alles andere als ein Cheerleader. Zweitens: Ich glaube, ich konnte es ihm noch nicht mal übelnehmen. Eine Freundin, die für drei Monate verschwindet, macht nicht sonderlich viel Spaß.

Ich arbeite den ganzen heißen Sommernachmittag Seite an Seite mit Vic. Wir reparieren einen alten Impala, der nicht so aussieht, als würde er jemals wieder laufen. Vic zieht tatsächlich sein Hemd aus, und ich versuche, nicht hinzustarren, aber wir wissen beide, dass ich es trotzdem tue.

„Scheiße“, knurrt er, als ihm der Schraubenschlüssel ausrutscht und gegen das Metall schlägt.

Ich benutze das Wort immer und überall, doch irgendwas daran lässt mich diesmal erstarren. Ich stehe zu dicht neben Vic, unsere Hüften berühren sich, als wir beide uns vorbeugen und ich zusehe, wie er etwas mit dem Schraubenschlüssel anzieht. Er flucht wieder, leiser diesmal.

„Lass uns eine Pause machen“, sagt er.

In dem kleinen Hinterzimmer steht eine Kühltruhe mit kaltem Bier und ein paar Flaschen Cola. Vic nimmt sich ein Bier und reicht mir eine Cola. Ich überlege kurz, ob ich ihn nach einem Bier fragen soll. Ich bin zwar minderjährig, aber solche Sachen spielen im Compound kaum eine Rolle. Doch ich mag Bier eigentlich gar nicht und würde es deshalb eh nicht trinken.

„Wir kriegen die Karre schon zum Laufen. Wir sind ein gutes Team, du und ich.“ Er prostet mir zu.

Tausende von Sachen sind mir wichtiger als dieses blöde Auto. Zum Beispiel die Art, wie Vic mich ansieht … Oder eher wie er mich nicht ansieht. Ich möchte nicht Teil seines Teams sein. Ich möchte, dass er mich wahrnimmt.

Draußen in der Werkstatthalle singen die Rolling Stones davon, eine Tür schwarz anzumalen. Vic stemmt die Finger in die Hüfte, während er die Flasche an den Mund führt, den Kopf in den Nacken legt und einen großen Schluck trinkt. Die Flasche ist feucht, seine Fingerspitzen sind nass. Seine Kehle bewegt sich, wenn er schluckt.

Ich will die Kuhle an seinem Hals ablecken. Ich will mit meiner Zunge über die gebogene Linie seines Schlüsselbeins fahren. Über seine Schultern.

Es kommt ganz plötzlich über mich. Ich will ihn.

Dieses Mal sehe ich nicht zur Seite, als er mich ansieht und mich dabei ertappt, wie ich ihn anstarre.

Vic leckt sich über die Lippen.

Er könnte mich problemlos zurückstoßen, als ich die Distanz zwischen uns überwinde und mich zwischen seine Beine stelle. Es hätte mich am Boden zerstört. Hätte mich vermutlich für den Rest meines Lebens unfähig gemacht, noch mal den ersten Schritt zu wagen. Aber er schiebt mich nicht zurück, als ich so dastehe, meine Waden gegen seine gepresst, meine Knie an den Innenseiten seiner Schenkel.

Es ist heiß in diesem Raum. Schweiß glänzt über Vics Oberlippe, und ich denke an nichts anderes, als mich vorzulehnen und ihn abzulecken. Meine Zunge fährt über sein salziges Fleisch, meine Lippen berühren seine.

Das ist zu viel, ich weiß. Ich habe einen Fehler gemacht, bin zu weit gegangen. Vic ist älter als ich. Er hat nie mit mir geflirtet. Und ich habe erst ein paar Jungs geküsst, wenn auch noch nie so. Mutig und frei und ungestüm.

Vic stoppt mich nicht. Sein Mund öffnet sich unter meinem. Seine Hände legen sich auf meine Hüften, direkt über den Bund meiner Jeansshorts und unter den Saum meines T-Shirts. Bei der Berührung seiner Finger auf meiner nackten Haut entschlüpft mir ein leiser Seufzer. In dem Moment bin ich mir sicher, dass er mich gleich rausschmeißt. Oder auslacht.

Schließlich lande ich auf seinem Schoß. Wir küssen uns lange, sehr lange. Seine Zunge liebkost meine. Es ist noch besser, als ich es mir vorgestellt habe. Unter meinem Hintern fühle ich ihn hart werden. Mein Herz schlägt noch schneller als all die Male, als ich ihm zugesehen habe, wie er mit nacktem Oberkörper arbeitet.

Ich würde jetzt alles für Vic tun. Sein Reißverschluss ist offen, meine Hand in seiner Jeans, noch bevor ich weiß, was ich da tue. Dann stoppt er mich. Er schiebt mich nicht weg, er hält mich nur fest.

„Tesla.“ Seine Stimme ist tief und grummelnd, so wie vorhin, als er wegen des Schraubenschlüssels geflucht hat.

Ich will nicht, dass er sagt, wie müssen damit aufhören. Ich drücke mich gegen ihn, meine Finger umschließen die ungewohnte Größe seines Schwanzes. Ich sehne mich danach, ihn heiß zu machen, auch wenn ich gleichzeitig fürchte, dass ich es vielleicht nicht richtig kann.

Er stöhnt, als ich meine Hand bewege.

Zum ersten Mal begreife ich, welche Macht man hat, wenn man jemandem Befriedigung verschafft.

Ich bewege meine Hand wieder, erforsche die Länge seines Schwanzes, so gut es in der Jeans geht. Die Couch quietscht und knarzt, als wir unser Gewicht verlagern, bis wir irgendwie nebeneinanderliegen. Ohne Vics Hand auf meinem Kreuz würde ich auf den dreckigen Betonboden fallen.

Autor

Megan Hart
Seit ihrer Kindheit zählt das Schreiben zu den Hobbys der US-amerikanischen Autorin Megan Hart. Ihr erstes Buch wurde 2002 veröffentlicht, seitdem hat sie zahlreiche Romane in den Genres Fantasie, Horror, Science-Fiction, Romance sowie Erotik geschrieben. Im dritten Schuljahr entdeckte Megan Hart ihre Liebe zum Schreiben. Ein Buch aus der Bibliothek...
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