Am Horizont leuchtet die Liebe

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Er wird aus Schwester Leonie einfach nicht schlau! Wann immer Dr. Callum Warrender ihr außerhalb der Kinderklinik begegnet, wirkt sie ängstlich und abweisend. Warum hat die Schöne sich in einen Kokon verkrochen … und könnte sein sanfter Kuss sie daraus befreien?


  • Erscheinungstag 02.06.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751507233
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Wieder zu Hause, dachte Callum Warrender zufrieden, als er von einem warmen Sonnenstrahl geweckt wurde, der direkt in sein Schlafzimmer fiel. Er hatte die Vorhänge nicht zugezogen, um gleich nach dem Aufwachen den herrlichen Blick auf den gemächlich plätschernden Fluss genießen zu können, der sich durch das malerische kleine Städtchen Heatherdale schlängelte. Er war zurück. Endlich.

Nachdem er fast den ganzen Transatlantikflug von Amerika nach England geschlafen hatte, war er von einer freundlichen Stewardess geweckt worden, die ihm erklärte, sie würden in Kürze in Manchester landen und er möge bitte seinen Gurt anlegen.

Callum war mit einem Schlag hellwach gewesen und hatte ein angenehmes Kribbeln verspürt. Vorfreude auf seine Rückkehr nach Heatherdale.

Sechs Monate lang war er im Rahmen eines Austauschprogramms in einer großen Kinderklinik in den Staaten gewesen und hatte jeden einzelnen Augenblick genossen. Trotzdem hatte er das Angebot, für immer zu bleiben, dankend abgelehnt.

Obwohl die Arbeit in der Kinderchirurgie anspruchsvoll und anstrengend gewesen war, hatte er ein reges Privatleben gehabt und war oft ausgegangen. Die Kollegen waren ausgesprochen nett gewesen, und er hatte mehr als einmal von sehr attraktiven Frauen eindeutige Angebote bekommen. Doch Callum war nie darauf eingegangen, denn er hatte auf die harte Tour gelernt, dass der Weg zu einer romantischen Liebe meistens ziemlich steinig war.

Genau wie der Pfad hoch ins Moor über der Stadt, den er in seiner Freizeit so gern entlangwanderte.

Nachdem er aufgestanden war und sich angezogen hatte, ging er zu dem kleinen Lebensmittelladen am Ende der Straße und machte einige Einkäufe. Wieder zu Hause angekommen, bereitete er sich zum ersten Mal seit sechs Monaten ein richtiges englisches Frühstück zu und überlegte, was er an diesem Tag unternehmen sollte.

Es war Samstag, und er fing erst am Montag wieder im renommierten Heatherdale Children’s Hospital an. Ein langer freier Tag lag also vor ihm, und Callum beschloss, eine Wanderung ins Moor zu unternehmen. Er liebte die Ruhe und Abgeschiedenheit in der Natur, denn als Unfallchirurg in einer Kinderklinik waren seine Tage oft sehr hektisch und alles andere als ruhig. Die Stille im Moor war ein willkommener und notwendiger Ausgleich für ihn.

Er betrachtete sich selbst als ein gebranntes Kind, das schwer an den Fehlern seiner Vergangenheit trug und nicht vorhatte, jemals wieder eine Frau in sein Leben zu lassen. Natürlich gab es immer wieder hübsche junge Damen, die ihr Glück bei ihm versuchten, doch schon bald wurde ihnen klar, dass er wirklich nicht für den Heiratsmarkt zur Verfügung stand.

Entschlossen verdrängte Callum diese trübsinnigen Gedanken und konzentrierte sich auf die genauso ungewohnte wie verlockende Aussicht, zwei Tage ganz für sich allein zu haben. Er schnappte sich seinen Rucksack und machte sich auf den Weg. Mit jedem Schritt, den er in Richtung Moor wanderte, fühlte er sich freier und glücklicher.

Plötzlich wurde die Idylle durch den Lärm eines Motorrads gestört. Viel zu schnell schoss ein junger Mann auf seiner Maschine an Callum vorbei und nahm mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die nächste Kurve. Sekunden später war ein beängstigendes Krachen zu hören, gefolgt von entsetzten Schreien.

Callum rannte zur Unfallstelle und konnte kaum glauben, was er dort sah. Der Motorradfahrer lag mit verdrehten Gliedern bewusstlos neben seiner Maschine, umringt von einer Gruppe von Teenagern, die ihn völlig perplex anstarrten.

Eine junge Frau kniete neben dem Verletzten. Callum konnte ihr Gesicht nicht erkennen, da sie damit beschäftigt war, dem jungen Mann die Lederjacke auszuziehen, um seinen Herzschlag zu überprüfen. Gleichzeitig versuchte sie, die Jugendlichen zu beruhigen, von denen einige Mädchen zu weinen angefangen hatten.

„Ich übernehme! Ich bin Arzt!“, herrschte er sie an.

Die junge Frau hatte es schließlich geschafft, dem Verletzten die Jacke auszuziehen, sodass Callum zu seiner Erleichterung sehen konnte, wie der Brustkorb sich hob und senkte. Der Patient atmete also noch, wenn auch ohne Bewusstsein.

„Haben Sie ein Telefon dabei?“, fragte er knapp.

Sie nickte und griff in ihren Rucksack. Nach einem Blick auf das Display schüttelte sie resigniert den Kopf. „Hier oben ist kein Empfang.“

„Geben Sie mal her!“, befahl er ungeduldig. „Falls es wirklich nicht geht, versuchen wir es mit meinem.“

Mit gerunzelter Stirn reichte sie ihm ihr Telefon. Callum wählte den Notruf, und erstaunlicherweise kam die Verbindung zustande.

„Wir brauchen einen Rettungshubschrauber“, erklärte er. „Ein Rettungswagen kommt nicht bis zu uns durch. Ich kann Ihnen unsere genaue Position durchgeben, denn ich kenne mich hier in der Gegend ziemlich gut aus. Bei der verletzten Person handelt es sich um einen Motorradfahrer. Polytrauma. Wir können hier vor Ort wenig für ihn tun.“ Nachdem er dem Leitstellenmitarbeiter den Weg erklärt hatte, legte er auf. Als er der jungen Frau das Telefon zurückgab, stand sie auf. „Ich muss mich um meine Gruppe kümmern. Die Kids sind ziemlich aufgewühlt von dem Unfall.“

„Darf ich fragen, wie Sie heißen?“

„Ich bin Leonie Mitchell, und ich bin Krankenschwester“, antwortete sie und bemerkte seinen erstaunten Blick. „Manchmal helfe ich in meiner Freizeit im Jugendzentrum von Heatherdale aus. Eine Freundin von mir arbeitet dort. Eigentlich wollte sie diese Tour heute begleiten, aber da sie krank geworden ist, bin ich eingesprungen.“

„Gehen Sie ruhig weiter. Sie können hier nichts mehr tun“, erklärte Callum. „Es ist besser, wenn die Kinder hier nicht herumstehen.“

Ihm war längst klar, dass aus seinem ruhigen Tag in der Natur nichts werden würde. Stattdessen stand nun ein Hubschrauberflug zur Uniklinik in Manchester auf dem Programm. Natürlich würde an Bord des Rettungshubschraubers ein Arzt sein, sodass seine Anwesenheit nicht unbedingt nötig war. Doch ein Blick auf die zertrümmerten Beine des jungen Fahrers hatte genügt, und Callum fühlte sich zuständig. Denn wenn jemand diese schlimmen Verletzungen wieder in Ordnung bringen konnte, dann er.

„Könnten Sie Kontakt mit der Werkstatt am Bootsanleger in Heatherdale aufnehmen, sobald Sie zurück sind?“, fragte er die junge Krankenschwester. „Sie sollen jemanden herschicken, der die Reste des Motorrads einsammelt und abtransportiert. Ich gehe später dort vorbei und kümmere mich um die Rechnung.“

„Dafür müsste ich Ihren Namen und Ihre Adresse kennen.“ Leonie hatte sich wieder neben den Verletzten gekniet.

Besorgt sah Callum seinen Patienten an. „Er atmet nicht mehr! Wir müssen ihn reanimieren!“ Eine gefühlte Ewigkeit lang wechselten sie sich mit Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung ab, bis endlich wieder ein Puls zu fühlen war.

Das laute Knattern der Rotorblätter kündigte die Ankunft des Rettungshubschraubers an. Die Teenager verstummten, als er direkt neben ihnen landete. Schnell informierte Callum die Notärztin und den Sanitäter.

„Wir konnten ihn wiederbeleben, aber sein Herzrhythmus ist unregelmäßig. Außerdem hat er mehrere Frakturen an beiden Beinen.“

„Sind Sie Arzt?“

„Ja, ich bin Callum Warrender“, erklärte er ruhig. Überrascht sah die Notärztin ihn an. „Doch nicht der Warrender vom Heatherdale Children’s Hospital, oder?“

„Doch. Ich werde meinen Patienten begleiten und selbst operieren.“

Oh nein! Das durfte doch nicht wahr sein! Entsetzt schaute Leonie ihn an. Callum Warrender. Im Krankenhaus wurde gemunkelt, er würde noch länger in den USA bleiben, doch offenbar war diese Information falsch. Und als verantwortliche Stationsschwester auf der unfallchirurgischen Station würde sie ihn schon bald wiedertreffen. Sie hoffte inständig, dass er in ihr nicht die Frau wiedererkennen würde, die er oben im Moor getroffen hatte. Ihre Chancen standen gut, denn sie hatte ihre Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und trug einen unförmigen Regenmantel und derbe Wanderschuhe.

Allerdings hatte sie ihm ihren Namen gesagt und erwähnt, dass sie Krankenschwester war. Doch er wusste noch nicht, dass sie zu seinem Team gehörte. Callum Warrender war schon in Amerika gewesen, als sie im Heatherdale Children’s Hospital angefangen hatte.

Nachdem der Patient an Bord gebracht worden war, wandte Callum sich noch einmal an sie. „Bitte vergessen Sie nicht, sich um den Abtransport des Motorrads zu kümmern. Sagen Sie dem Mann in der Werkstatt, dass der Typ aus dem Apartment-Haus, der gestern bei ihm getankt hat, die Rechnung begleichen wird, sobald er von seiner Not-OP in Manchester zurück ist.“

Sekunden später schloss sich die Tür, und er war fort.

Meine Güte, was für ein schrecklicher Tag, dachte Leonie. Zuerst hatte Julie angerufen und erklärt, sie hätte sich einen Grippevirus eingefangen und könnte die Wandertour mit den Jugendlichen nicht übernehmen. Leonie war gern für die Freundin eingesprungen, doch natürlich hatte sie nicht damit gerechnet, Zeugin eines so schlimmen Unfalls zu sein. Der Umstand, dass der Fahrer fast noch ein Teenager gewesen war, hatte die Sache nicht besser gemacht. Kein Wunder, dass die Kids verstört waren.

Callum Warrenders Erscheinen war ihr wie ein kleines Wunder vorgekommen. Wie selbstverständlich hatte er das Kommando übernommen. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu geben. Trotzdem würde sie auf keinen Fall zu dieser Werkstatt gehen und dort erklären, dass ein ihr völlig Fremder den Abtransport des Motorrads bezahlen würde. Sie würde die Rechnung selbst begleichen.

Ihre Gruppe wurde langsam unruhig, und so verdrängte Leonie ihre Sorgen um das Unfallopfer und auch ihre Vorbehalte gegenüber Callum und setzte die Wanderung mit den Jugendlichen fort. Die Stimmung war allerdings für den Rest des Ausflugs deutlich gedrückter als am Anfang.

Nachdem sie am Abend wieder zum Jugendzentrum zurückgekehrt waren, überließ Leonie ihre Schützlinge einigen anderen Helfern, die als besonderes Highlight eine Disco organisiert hatten. Sie selbst machte sich auf den Weg zu der Werkstatt am Fluss, die der schroffe Arzt erwähnt hatte.

Sie schilderte so genau wie möglich, wo sich das Unfallfahrzeug befand, bezahlte den Abschleppdienst und bat den Besitzer, das Motorrad bei sich unterzustellen, bis sie den Namen und die Adresse des jungen Fahrers herausgefunden hatte.

Danach ging sie heim zu ihrer erst vor Kurzem gekauften Jurte, von wo sie als Erstes die Klinik anrief, in die der Verletzte gebracht worden war. Man stellte sie in die Notaufnahme durch, und Leonie erklärte der Kollegin am anderen Ende der Leitung, dass sie als Ersthelferin am Unfallort gewesen war und gern wissen würde, wie es dem jungen Mann ging.

Sie erfuhr, dass der Motorradfahrer das Bewusstsein wiedererlangt hatte und gerade im OP war. Er hatte mehrere Knochenbrüche und wurde von Dr. Warrender aus dem Heatherdale Children’s Hospital operiert.

Erleichtert darüber, dass der Verletzte bestmöglich versorgt wurde, seufzte Leonie auf. Irgendwo hatte er sicher Eltern, die unendlich dankbar dafür sein würden, dass Callum Warrender genau im richtigen Augenblick zufällig zur Stelle gewesen war.

Die Tatsache, dass auch eine hochqualifizierte Krankenschwester vor Ort gewesen war, verblasste vermutlich neben Callums Anwesenheit, dachte Leonie ironisch.

Natürlich hatte sie von ihren Kollegen schon eine Menge über Dr. Warrender gehört. Beispielsweise, wie unglaublich talentiert er war. Trotzdem hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht, wie er wohl aussehen mochte. Umso verwirrender fand sie es nun, wie attraktiv er war.

Sein Teint war leicht gebräunt, sein Haar dunkel, und seine haselnussbraunen Augen hatten eine geradezu hypnotisierende Wirkung auf sie gehabt. Die markanten Gesichtszüge ließen Entschlossenheit und Hartnäckigkeit vermuten und verrieten, dass auch in seinem Leben nicht alles glatt gelaufen war. Es bestand kein Zweifel daran, dass er ein äußerst attraktiver Mann war. Trotzdem hatte sie nie von einer Ms. Warrender gehört. Konnte so ein Mann Single sein?

Callum fuhr mit dem Zug von Manchester zurück nach Heatherdale. Er war erschöpft und freute sich darauf, in dem Hotel neben seinem Apartmenthaus zu Abend zu essen. Doch zuerst musste er zum Jugendzentrum gehen und Leonie berichten, wie es ihrem Patienten ging.

Ihm war klar, dass er alles andere als höflich gewesen war, und er verspürte das dringende Bedürfnis, sich für seine Schroffheit zu entschuldigen. Auch wenn er selbst den Grund für sein Verhalten nachvollziehen konnte, musste es einer Fremden wie Leonie sehr unfreundlich vorgekommen sein. Sie konnte ja nicht wissen, wie wichtig ihm ein wenig Zeit für sich selbst in der Natur war.

Zu seiner Überraschung hatte es ihm Freude bereitet, mit ihr zu arbeiten und so dem Patienten das Leben zu retten. Er musste sie auch deshalb finden, weil er ihr für ihre kompetente und besonnene Hilfe danken wollte.

Die Disco war in vollem Gange, als er ankam, doch er konnte die Frau, die er suchte, nirgendwo entdecken. Als er den Discjockey fragte, wo sie sein könnte, antwortete dieser: „Leonie ist schon nach Hause in ihre Jurte gegangen. Sie hatte offenbar einen ziemlich stressigen Tag. Möchten Sie, dass ich ihr etwas ausrichte?“

Callum schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss selbst mit ihr sprechen. Können Sie mir sagen, wo sie wohnt?“

„Sie lebt in der Jurten-Siedlung auf der anderen Seite des Flusses.“

„Wollen Sie damit sagen, sie lebt in einem Zelt?“ Ungläubig sah Callum ihn an.

„Ähm, ja, ich schätze, so könnte man es bezeichnen“, antwortete der Discjockey grinsend. „Wenn Sie durch das Eingangstor aufs Gelände gehen, ist ihre Jurte die dritte auf der linken Seite. Mit Blick auf den Fluss.“ Stirnrunzelnd blickte er Callum an. „Ich bin mir nicht sicher, ob es okay war, Ihnen das zu sagen. Schließlich weiß ich gar nicht, wer Sie sind.“

„Wir waren heute beide als Ersthelfer bei einem Motorradunfall oben im Moor. Gemeinsam haben wir uns um den Verletzten gekümmert, und nun möchte ich ihr gern sagen, dass er außer Gefahr ist. Das ist alles. Ich bin Arzt hier am Heatherdale Children’s Hospital.“

Damit verabschiedete er sich, denn inzwischen knurrte sein Magen vor Hunger.

Schon einige Tage zuvor hatte er von seinem Balkon aus diese neueste Camping-Weiterentwicklung eingehend betrachtet. Im Gegensatz zu einfachen Zelten boten die Jurten einen gewissen Komfort, und Callum war neugierig darauf, sich diese Behausungen einmal näher anzusehen.

Als Leonie ihm kurz darauf die Tür ihrer runden, mit einem Glasdach versehenen Jurte öffnete, wanderte sein Blick deshalb ungeniert ins Innere ihrer Wohnung. Die Jurte war perfekt für jemanden, der klein, aber fein wohnen wollte. Die Einrichtung war gemütlich und zweckmäßig, und insgesamt wirkte der Wohnraum von innen viel geräumiger, als es von außen den Anschein hatte. Im Vergleich zu dieser Jurte kam Callum sein eigenes, elegant eingerichtetes Apartment plötzlich langweilig und viel zu kühl vor.

Doch er war nicht hier, um seine Neugier zu befriedigen, und genau genommen war er sich noch nicht einmal sicher, ob er an der richtigen Tür geklopft hatte. Die junge Frau vor ihm hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Helferin im Moor, die eine Wollmütze und einen unförmigen Regenmantel getragen hatte.

Sie hatte nun ein blassblaues Kleid mit dazu passenden Sandalen an, ihr langes lockiges Haar war kastanienbraun und umrahmte ein hübsches Gesicht, das völlig ohne Make-up auskam. Ihr Blick verriet ihm, dass er sich nicht in der Adresse geirrt hatte.

„Kommen Sie doch herein“, lud sie ihn ein und trat einen Schritt zurück, um ihn vorbeizulassen. Noch bevor er eingetreten war, fragte sie: „Wie geht es unserem Patienten?“

Callum trug noch immer seine Wandersachen, und noch bevor er antworten konnte, hatte sie schon die nächste Frage gestellt. „Sind Sie gerade erst zurückgekommen?“

Er nickte. „Ja, ich habe ihn selbst operiert. Jetzt ist er auf der Intensivstation, aber es sieht gut aus. Voraussichtlich kann er schon morgen früh auf die Normalstation verlegt werden.“

„Wie schwer waren seinen Verletzungen?“

„Es hat ihn ganz schön erwischt. Aber ich bin zuversichtlich, dass er wieder vollkommen gesund wird. Wie geht es den Jugendlichen, mit denen Sie unterwegs waren? Haben sie sich von dem Schrecken erholt?“

„Ja, ich denke schon. Sie waren etwas weniger ausgelassen als sonst, aber das ist ja eher ein Vorteil.“

Leonie war sofort aufgefallen, dass Callum viel umgänglicher war als vor einigen Stunden im Moor. Er hatte sie doch sicher nicht nur deshalb ausfindig gemacht, um ihr persönlich zu berichten, wie es dem Motorradfahrer ging. Wieso also stand er hier so verlegen vor ihr und machte gestelzten Smalltalk?

„Ich bin hergekommen, weil ich mich für mein ruppiges Benehmen an der Unfallstelle entschuldigen möchte. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur vorbringen, dass ich mich nach sechs sehr anstrengenden Monaten in den USA sehr auf einen entspannten Tag allein im Moor gefreut hatte. Die Vorstellung, zwei ganze Tage frei zu haben, bevor ich am Montag wieder hier im Krankenhaus anfange, war einfach überwältigend. Normalerweise benehme ich mich nicht so schlecht wie heute Morgen, und es tut mir aufrichtig leid.“

„Auch wenn Sie sich nicht direkt wie ein Engel benommen haben, kam es mir vor, als hätte der Himmel Sie geschickt“, erklärte Leonie lächelnd.

Er lachte. „Nehmen Sie also meine Entschuldigung an?“

„Aber natürlich!“

„Und was ist mit dem Motorrad? Haben Sie es geschafft, bei der Werkstatt Bescheid zu sagen?“

„Ja. Sie holen es ab. Auf die Rechnung brauchen Sie allerdings nicht zu warten. Die habe ich bezahlt.“

Er runzelte die Stirn. „Aber das hatten wir doch anders vereinbart.“

„Vereinbart ist wohl nicht ganz das richtige Wort. Sie hatten es beschlossen. Aber ich habe mich anders entschieden. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht dafür gesorgt habe, dass meine Gruppe streng am Straßenrand blieb. Es ist gut möglich, dass der junge Mann die Kontrolle verloren hat, weil er nicht mit so vielen Leuten auf der Fahrbahn gerechnet hatte.“

„Das ist doch Unsinn“, protestierte Callum.

„Lassen Sie es einfach gut sein“, bat Leonie bestimmt. „Ich habe getan, was ich für richtig hielt, und möchte nicht weiter darüber diskutieren.“

„Na gut, wie Sie meinen“, stimmte er widerwillig zu. „Haben Sie schon zu Abend gegessen?“

„Nein“, antwortete sie vorsichtig.

„Ich hatte vor, ins Restaurant des Hotels drüben am Fluss zu gehen. Wenn ich schon nicht die Werkstatt bezahlen darf, erlauben Sie mir vielleicht, Sie zum Abendessen einzuladen?“

„Das geht leider nicht.“ Nicht auszudenken, wie man im Krankenhaus über sie klatschen würde, wenn sie mit ihrem neuen Boss im Hotelrestaurant gesehen würde.

„Eine Freundin von mir, die im Jugendzentrum arbeitet, hätte eigentlich heute den Ausflug begleiten sollen. Aber sie ist krank geworden, und so bin ich eingesprungen. Sie hat sich am Telefon ganz schrecklich angehört, deshalb möchte ich heute Abend bei ihr vorbeischauen und nach ihr sehen. Ich werde dort gemeinsam mit ihr essen. Aber danke für die Einladung.“

„Natürlich. Das verstehe ich. Dann vielleicht ein anderes Mal. Ich möchte wirklich gern meine Schulden bei Ihnen begleichen.“

„Sie schulden mir gar nichts, glauben Sie mir! Das war das Wenigste, was ich für den armen Kerl tun konnte. Und verglichen mit Ihrem Einsatz war es nichts.“

Als Leonie in Julies Wohnung ankam, stellte sie erleichtert fest, dass es ihrer Freundin schon viel besser ging. Sie saß am Küchentisch, während Leonie das Abendessen zubereitete, und lauschte mit großen Augen Leonies Bericht über den Unfall und über Callum Warrenders Einladung.

„Du Glückspilz“, sagte sie. „War er sehr erstaunt darüber, dass du zu seinem Team auf der Unfallstation gehörst?“

„Nein, denn das habe ich nicht erwähnt. Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich Krankenschwester bin, aber entweder hat es ihn nicht interessiert, wo ich arbeite, oder er war zu sehr auf den Verletzten konzentriert, um zu fragen. Es war nicht gerade eine Situation für Smalltalk.“

„Dann erlebt er also am Montagmorgen eine Überraschung.“

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht“, mutmaßte Leonie. „Heute Abend hätte er mich fast nicht wiedererkannt, weil ich nicht mehr meine Wanderklamotten getragen habe. Wer weiß? Vielleicht erkennt er mich in meiner Schwesterntracht ja gar nicht. Angeblich macht er sich nicht viel aus Frauen. Er hat offenbar eine traumatische Erfahrung gemacht und meidet seitdem Beziehungen.“

„Was heißt das?“, hakte Julie nach.

„Genau weiß ich es auch nicht, denn so lange bin ich ja noch nicht in der Klinik. Man sagt ihm nach, dass er sehr professionell ist und niemals auch nur den kleinsten Flirt anfängt. Und nun haben wir genug über Callum Warrender geplaudert. Wie geht es dir? Was hast du den ganzen Tag gemacht, während ich oben im Moor war?“

Julie lächelte. „Ich fühle mich schon viel besser!“

„Kommt Brendan später noch vorbei?“

„Ja, wir sind mitten in den Hochzeitsvorbereitungen. Ich würde mich sehr freuen, wenn du zusammen mit meiner jüngeren Schwester meine Brautjungfer sein würdest. Oder wäre das für dich zu belastend?“

„Nein, natürlich nicht. Man kann die Vergangenheit nun einmal nicht ändern“, entgegnete Leonie ausweichend. „Ich bin darüber hinweg. Sobald Brendan kommt, verschwinde ich. Und komm ja nicht auf die Idee, morgen ins Jugendzentrum zu gehen! Sonntags ist dort immer die Hölle los, und du bist noch nicht wieder fit genug. Du solltest dich unbedingt noch einen Tag ausruhen.“

„Beruhige dich. Ich habe bereits angerufen und mich abgemeldet. Mach dir um mich keine Sorgen, Leonie. Aber ruf mich unbedingt am Montagabend an und erzähl mir, wie es mit Callum war.“

„Das kann ich dir jetzt schon sagen“, erklärte Leonie lachend. „Es wird absolut nichts Erwähnenswertes passieren. Callum Warrender ist nicht mein Typ.“

Wieder zu Hause, wusste Leonie nicht so recht, was sie anfangen sollte. Julies Bemerkung über die katastrophale Affäre mit einem der Oberärzte aus der Londoner Klinik, in der sie gearbeitet hatte, bevor sie nach Heatherdale gekommen war, hatte unangenehme Erinnerungen an den Tag wachgerufen, an dem sie herausgefunden hatte, dass er verheiratet war. Doch diese Enttäuschung war nichts im Vergleich zu ihrer Trauer und ihrem Schmerz, als sie ihr Baby verloren hatte.

Seitdem war sie sehr misstrauisch gegenüber neuen Beziehungen, denn ihre Verletzungen waren noch lange nicht verheilt, und die Enttäuschung quälte sie noch immer.

Als alles vorüber gewesen war, hatte sie beschlossen, nach Heatherdale umzuziehen und dort einen neuen Anfang zu machen. Leider hatte sie ihre schlimmen Erinnerungen mitgenommen, und bislang war es ihr nicht gelungen, sie abzuschütteln.

Trotzdem freute sie sich aufrichtig für Julie und Brendan. Die beiden waren ein tolles Paar. Für sich selbst konnte Leonie es sich allerdings nicht vorstellen, jemals wieder so glücklich zu sein.

Brautjungfer zu sein war jedoch etwas anderes. Sie fühlte sich sehr geehrt, dass ihre Freundin sie gefragt hatte, und würde alles tun, um sie an ihrem großen Tag zu unterstützen. Was für ein Kleid mochte Julie wohl ausgesucht haben?

Ihre Träumereien wurden vom Klopfen ihrer Nachbarn unterbrochen, die Gäste zum Abendessen hatten und Leonie einluden, sich zu ihnen zu gesellen. Als sie die Einladung annahm, wanderte ihr Blick auf die andere Seite des Flusses zum Hotel, und sie spürte ein leises Bedauern, dass sie Callums Einladung ausgeschlagen hatte.

Bei einem gemeinsamen Abendessen hätte sie ihm ganz beiläufig erzählen können, dass sie zu seinem Team gehörte, anstatt darauf zu warten, dass er es am Montagmorgen vor versammelter Mannschaft selbst bemerkte. Nun stand ihr dieses zweifelhafte Vergnügen noch bevor.

Callum saß in der Hotel-Lounge und gönnte sich einen Schlummertrunk, bevor er in sein Apartment ging. Eigentlich hatte er erwartet, zufrieden zu sein, doch so war es nicht. Am Abend zuvor war er noch begeistert darüber gewesen, endlich wieder zu Hause zu sein und ein langes freies Wochenende vor sich zu haben. Aber dieser Tag hatte sich als alles andere als entspannt entpuppt.

Zunächst einmal war da die Sorge um den Motorradfahrer gewesen, vor allem, als er wiederbelebt werden musste. Zum Glück hatten er und die junge Frau es geschafft, ihn zu retten.

Dann hatte die Operation sich als sehr komplex erwiesen. Da Callum eine Koryphäe auf seinem Gebiet war, hatte er nicht daran gezweifelt, die vielen Knochenbrüche wieder richten zu können, doch es war durchaus eine Herausforderung gewesen.

Als er dann zurück in Heatherdale gewesen war, hatte er sich auf die Suche nach Leonie gemacht, um sich für sein unhöfliches und herrisches Benehmen zu entschuldigen. Obwohl es überhaupt nicht seine Art war, hatte er sie dann zum Essen eingeladen, doch sie hatte ihm einen Korb gegeben.

Kein Wunder, dass sie unter einem fadenscheinigen Vorwand abgelehnt hatte. Seine Einladung war alles andere als charmant gewesen.

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
Schon immer war Abigail Gordon ein Fan von...
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