Weihnachtswunder gibt es immer wieder

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WEIHNACHTSWUNDER FÜR DEN MILLIONÄR

Diese faszinierenden Augen, diese sinnlichen Lippen - auch mit dem weißen Bart erkennt Holly ihn sofort: Clay spielt für das Waisenhaus den Santa Claus! Inmitten der staunenden Kinder verliert sie ihr Herz an den Millionär. Und ahnt nicht, dass er nicht ganz ehrlich ist …

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  • Erscheinungstag 05.12.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729097
  • Seitenanzahl 650
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Stacy Connelly, Suzanne Barclay, Jennifer Taylor, Abigail Gordon, Candace Havens

Weihnachtswunder gibt es immer wieder

IMPRESSUM

Weihnachtswunder für den Millionär erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
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© 2008 by Stacy Cornell
Originaltitel: „All She Wants For Christmas“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA WEIHNACHTEN
Band 26 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Gaby Krüger

Umschlagsmotive: Getty Images_flyparade

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733759643

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Schlechte Nachrichten, Chef.“

Clay Forrester blickte auf, als seine Assistentin sich unter dem Malergerüst duckte und sich dann durch die im Büro kreuz und quer verlegten Elektrokabel wurstelte. Tapetenmuster klebten an einer mit verschiedenen Farbproben bemalten Wand. Seine Ledercouch und Stühle waren durch Abdeckfolie geschützt, aber eine feine Schicht Baustaub bedeckte Clays Mahagonischreibtisch. „Was gibt es denn, Marie?“

Marie Cirillo setzte gerade zu einer Antwort an, als der Elektriker den Schlagbohrer anwarf. Einen Moment lang sah es so aus, als käme das ohrenbetäubende Kreischen aus ihrem Mund. Clay konnte ein Auflachen eben noch unterdrücken, während Marie den Handwerker mit einem wütenden Blick bedachte.

Der Bohrer verstummte, und Clay fragte: „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine prima Marionette für einen Bauchredner abgeben würdest?“

„Weißt du, als ich hier reinkam, fühlte ich mich als Überbringerin schlechter Nachrichten richtig mies. Jetzt nicht mehr.“ Sie grinste ihn an. „Doug Frankle ist krank.“

Sein Lächeln erstarb. „In knapp zwei Stunden fängt unsere Weihnachtsfeier an – und unser Santa ist krank?“

Die Bürofeier fand zwei Wochen vor den Feiertagen statt, damit es keine Probleme mit Familientreffen und Urlaubstagen gab. Das Ereignis war der Höhepunkt eines langen, schwierigen Jahres, und Clay war entschlossen, dass nichts schiefgehen dürfte.

„Sag mir, dass wir einen Ersatz haben“, flehte er.

„Seine Ehefrau hat das Kostüm zurückgegeben – falls du also die Rolle übernehmen willst“, schlug Marie ihm mit einem frechen Grinsen vor.

„Sehr lustig!“ Clay zog seine Brieftasche heraus und blätterte zwei 100-Dollar-Scheine auf den Schreibtisch. „Zieh los und klau einen Santa von irgendeinem Supermarkt!“

„Du wagst es tatsächlich, Santa Claus zu bestechen?“, keuchte Marie in gespieltem Entsetzen.

„Warum nicht? Seit zig Jahren legt der gute Alte den überarbeiteten Eltern Daumenschrauben an. Das Annehmen von Bestechungsgeldern wäre nach Konsumterror und emotionaler Erpressung nur der nächste logische Schritt.“

„Als wirklich. Für jemanden, der eine Weihnachtsparty veranstalten will, klingst du nicht gerade besonders festlich.“ Und nachdem der Elektriker, der irgendetwas von Verteilerkästen murmelte, das Büro verlassen hatte, fügte sie hinzu: „Du bist nicht mehr du selbst, seit …“ Wenn seine freimütige Assistentin sich zurückhielt, war es ein Zeichen, dass sie sich große Sorgen machte.

„Seit mein Vater gestorben ist“, vollendete Clay den Satz für sie. „Du kannst es ruhig aussprechen, Marie.“

Sie trat näher zu ihm. „Du hast dich verändert, Clay. Zu der Zeit, als dein Vater das Geschäft geführt hat …“

„Er führt das Geschäft nicht mehr. Das tue ich jetzt.“

Vorsichtig zog Marie sich zurück. „Genau. Und du machst deinen Job verdammt gut. Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, dass du wieder in der Gegenwart lebst?“

„Was glaubt du, was ich tue?“

„Du bist völlig auf die Zukunft fixiert, auf das, was du aus der Firma machen willst. Als könntest du damit auslöschen, was sie mal gewesen ist.“

Bei dem Gedanken daran, was und wie diese Firma unter der Leitung seines Vaters gewesen war, schreckte Clay zurück. Erst nach Michael Forresters Tod hatte Clay erkannt, wie skrupellos und unbarmherzig er das Unternehmen geführt hatte.

„So ist das Geschäftsleben, mein Sohn“, hatte sein Vater erklärt, „es geht nur um den Gewinn.“

Allerdings nicht für jeden, dachte Clay grimmig, denn er erinnerte sich an eine Konfrontation, ein paar Wochen, nachdem sein Vater verstorben war. Clay hatte gerade nach Hause gehen wollen, als ihn im Empfang ein älterer Mann in einem abgetragenen Trenchcoat anhielt. Nach einem Blick auf dessen blutunterlaufene Augen und die ungepflegten Haare hatte Clay ihn für einen Obdachlosen von der Straße gehalten. Bis ihn der Mann mit Namen gesprochen hatte.

„Was ist jetzt mit Ihren Versprechungen, Forrester?“, hatte er ihn gefragt. „All Ihre Lügen, die meine Enkel dummerweise geglaubt haben, dass Sie die Firma ‚aus der Krise führen‘? Mit etwas mehr Zeit hätte ich den Kredit bekommen und sie selbst aus dieser Krise geführt. Aber dank Ihnen hatte ich gar keine Chance. Hinter meinem Rücken haben Sie meine eigene Familie ausbezahlt und das Unternehmen Stück für Stück verkauft, bis nichts mehr übrig war. Nichts.“ Seine Stimme war gebrochen. Er hatte Clay beiseitegestoßen und war auf die Straße gehastet.

Clay hatte nicht versucht, ihn aufzuhalten oder mit ihm zu reden. Was gab es da noch zu sagen?

Dass keine Bank einem Unternehmen, das am Abgrund stand, einen Kredit geben würde? Dass es sein Vater gewesen war, der die Firma dieses Mannes zerschlagen hatte?

Erst auf der langen Heimfahrt fiel Clay ein, dass er keine Ahnung hatte, wer der Mann war. Dieses Geschäft hätte eines von Dutzenden sein können.

Jetzt hatte Clay damit angefangen, die Firmenphilosophie umzukehren: Statt angeschlagene Unternehmen endgültig aufzulösen, versuchte er, sie wieder aufzubauen. Als Erstes hatte er Kevin Hendrix, den Chef von „Hendrix Properties“, geschäftlich beraten und die Firma mit einer Finanzspritze vor dem sicheren Bankrott gerettet. Diese Investition hatte ihm, aber auch Kevin, schon nach kurzer Zeit einen ordentlichen Gewinn eingebracht. Auf diesen Erfolg baute Clay bei seinen Bemühungen, das Fir­menimage und Vermächtnis seines Vaters komplett zu verändern.

„Ich versuche das zu machen, was mir richtig erscheint“, erklärte Clay abschließend. „Schluss mit dem Geschäftlichen für heute. Wir müssen eine Weihnachtsfeier retten. Finde jemanden, der den Santa spielt. Im Gegenzug verspreche ich dir, mich auf der Party prächtig zu amüsieren.“

„Tut mir leid, mein Bester, aber das kann ich nicht.“

„Ach, komm“, rief er aus, „erzähl mir nicht, ich hätte deine weihnachtliche Stimmung ruiniert.“

Marie lachte. „Nicht ganz. Die Leute vom Catering-Service haben angerufen. Ihr Lieferwagen hat seinen Geist aufgegeben. Ich muss zwei Dutzend Käsekuchen einsammeln.“

„Also entweder Santa oder Dessert?“

„Genau. Und ich rette den Käsekuchen“, rief sie ihm über die Schulter zu.

Du hast dich verändert, Clay. Dieser Vorwurf beschäftigte ihn noch, nachdem Marie längst gegangen war. Dasselbe hatte ihm Victoria an den Kopf geworfen. In jener Nacht, als sie aus der Wohnung stürmte, aus ihrer Ehe – aus seinem Leben.

Seine Gedanken wurden durch den Elektriker unterbrochen, der mit einem Werkzeugkasten und etlichen Kabeln zurückkehrte. „Tut mir leid, Sie zu stören, Mr Forrester.“

Die Büroumbauten dauerten nun schon so lange, dass Clay sich an die ständige Anwesenheit von Handwerkern und Bauarbeitern gewöhnt hatte. Ohne große Hoffnung fragte er: „Sie wissen nicht zufällig, wo ich einen Santa Claus finde?“ Lieber Himmel, was für eine blöde Frage. Clay schwor sich, den Elektriker auf der Stelle zu feuern, wenn er antworten würde: „Am Nordpol“.

Das war jedoch nicht nötig. Der Mann setzte bedächtig seinen Werkzeugkasten ab und sagte: „In der Eingangshalle ist schon die ganze Woche einer. Vor diesem Blumenladen.“

„Das ist ja wohl ein Scherz!“ Auf dem Weg zum Aufzug kam Clay jeden Morgen an dem Blumengeschäft vorbei. Wie hatte er da einen dicken Mann im roten Samtkostüm übersehen können? Wahrscheinlich hatte Marie doch recht. Offenbar war er tatsächlich nur auf seine Arbeit fixiert.

„Danke für den Tipp!“ Clay schnappte sein Jackett und verließ das Büro.

Der Aufzug stoppte im Erdgeschoss, und Clay trat in die marmorverkleidete Eingangshalle, die mit grünen Girlanden, roten Bögen und Mistelzweigen festlich geschmückt war.

Und tatsächlich: Vor dem Blumengeschäft stand ein rot gewandeter Santa. Nach einer kurzen Begrüßung kam Clay gleich aufs Wesentliche: „Ich habe nachher eine Weihnachtsfeier und einen kranken Santa Claus. Wie sieht’s aus: Würden Sie für hundert Dollar einspringen?“

Clay wedelte mit dem Schein. Santa Claus riss die Augen auf. Sein Blick war allerdings eher gierig als gütig. „Ich habe heute Abend schon einen Auftritt in Aussicht.“

Reine Verhandlungstaktik! Lässig zog Clay einen weiteren Schein aus der Brieftasche. „Wären 200 Dollar genug? Plus eine kostenlose Mahlzeit, die von einem der besten Restaurants in Chicago geliefert wird.“

Santa schnappte sich das Geld aus Clays Hand.

Holly Bainbridge drehte das Schild an der Tür auf „Geschlossen“, trat hinaus und schloss hinter sich ab. Sechs Uhr. Ihr blieb noch eine halbe Stunde, um ins Heim zu kommen. Während sie den Schlüsselbund in ihrer Handtasche verstaute, entdeckte sie zu ihrer Überraschung Clay Forrester – im Gespräch mit Santa Claus.

Da Holly im selben Haus wie „Forrester Industries“ arbeitete, wenn auch 30 Stockwerke tiefer, kannte sie den Ruf des Unternehmens: ein unersättlicher Riese, der gierig kleine Firmen verschlang. Wie skrupellos Clay Forrester war, hatte sie selbst erlebt. Vor einigen Monaten hatte sie unbemerkt beobachtet, wie ein armer älterer Mann von ihm gedemütigt worden war, dessen Firma er kaputt gemacht hatte.

Holly wartete, bis er weggegangen war, bevor sie zu dem verkleideten Santa trat. „Wir müssen uns beeilen, damit wir noch rechtszeitig kommen, Charlie.“

Ein böses Gefühl beschlich sie, als sie sah, wie Charlie dem davoneilenden Forrester nachblickte. „Tja also, Miss Bainbridge, mir ist … äh … etwas dazwischengekommen. Ich muss zu einer anderen Feier gehen.“

Sie konnte es nicht fassen. „Ich habe da ein halbes Dutzend Kinder, die auf Santa Claus warten. Wollen Sie die enttäuschen?“

„Es tut mir leid, Miss Bainbridge.“

Es tut mir leid. Das sagten die Leute immer. Dabei machten Entschuldigungen den Kummer nicht kleiner oder weniger schmerzhaft. Den Pflegekindern aus dem Hopewell House hatte sie einen Santa versprochen – und sie würde die Kids nicht enttäuschen. Besonders nicht in diesem Jahr, denn das Heim würde seine Türen bald für immer schließen.

Entschlossen marschierte Holly zu den Aufzügen, vor denen Clay Forrester immer noch wartete. Eine Glocke ertönte, und die vergoldeten Spiegeltüren öffneten sich. Das Stakkato ihrer Absätze auf dem Marmorboden hallte durch den Raum, als sie losrannte und sich im letzten Moment durch die zugleitenden Aufzugtüren drängte.

Mit einem Hauch von Neugier musterte Clay sie, als der Aufzug losfuhr. Holly war der gut aussehende Geschäftsmann schon vorher aufgefallen, denn sie hätte schon blind sein müssen, um so viel Perfektion zu übersehen: 1,85 Meter, schwarze Haare, blaue Augen. Von Nahem hatte sie ihn bisher allerdings noch nicht begutachten können. Erst jetzt entdeckte sie seine geraden, ernsten Augenbrauen, seinen etwas kantigen Kiefer, seinen sinnlich geformten Mund …

„Mr Forrester …“ Warum klang ihre Stimme bloß so heiser? Vor lauter Nervosität brach Holly mitten im Satz ab.

Er blickte sie wieder an, musterte sie diesmal vom Scheitel ihrer dunklen Haare über ihren Sweater und die Jeans bis zu den Sohlen ihrer Ankle Boots. Aus der Neugier in seinem Blick war plötzlich Interesse geworden. Und irgendwie schien der Aufzug inzwischen eine Höhe erreicht zu haben, die Holly die Luft aus den Lungen presste.

„Entschuldigen Sie bitte. Kenne ich Sie?“

„Holly Bainbridge. Ich arbeite in dem Blumenladen, und Sie haben mir gerade meinen Santa Claus gestohlen.“

„Wie bitte?“

Sie errötete. Wenn er bloß nicht so verdammt gut aussehen würde, könnte sie vielleicht wenigstens einen intelligenten Satz von sich geben. „Charlie hatte mir versprochen, heute Abend als Santa aufzutreten.“

„Er hat einen anderen Job erwähnt, aber …“

Das Wort wurde ihm abgeschnitten, als der Aufzug abrupt stoppte. Holly keuchte auf, verlor das Gleichgewicht und fiel gegen Clay. Er fing sie mit seinem Körper auf, als es plötzlich stockfinster wurde. Sie konnte absolut nichts mehr sehen.

Aber sie konnte fühlen. Oh ja, und wie. Den Druck von jedem seiner Finger, mit denen er ihren Oberarm umklammerte. Das leichte Stocken seines Atems, als ihr Busen seine Brust streifte, die Beschleunigung seines Herzschlags.

Seine starke, männliche Brust unter ihren Händen. Und seine Gürtelschnalle, die sich hart und kalt gegen ihren Bauch presste – ein scharfer Kontrast gegen den Rest von ihm, der definitiv hart und warm war.

Ihre Nervenenden vibrierten, ihr Herz schlug doppelt so schnell wie sonst und übertönte beinahe das Geräusch seines und ihres Atmens.

„Was ist passiert?“, fragte sie, als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. Holly spürte das leichte Beben seiner Brust Sekundenbruchteile, bevor sie ihn lachen hörte. Sie zuckte vor ihm zurück. „Was ist daran so komisch?“

„Irgend so eine Komikertruppe baut gerade mein Büro um, und ich vermute, dass einem von ihnen soeben eine Sicherung durchgebrannt ist.“

Ohne seine Hilfe tastete sie sich aufs Geratewohl durch die Dunkelheit, bis sie die Wand des Aufzugs erreicht hatte. „Das Gebäude hat keinen Strom mehr?“

„Bei dem Glück, das ich derzeit habe, hat ganz Chicago keinen Strom mehr“, erklärte er ironisch.

Ein schwaches elektronisches Summen untermalte seine Worte. Und nach einem kurzen Moment, in dem er schwerelos im Raum zu schweben schien, setzte der Aufzug sich wieder in Bewegung. Mit einem Seufzer der Erleichterung schloss Holly die Augen und sank gegen die Kabinenwand.

„Sind Sie okay?“

Als sie die Augen öffnete, stand Clay unmittelbar vor ihr. Im ersten Moment fürchtete sie, der Aufzug sei doch abgestürzt. Auf jeden Fall hatte sie das Gefühl, jede Bodenhaftung verloren zu haben. Ihr Herz klopfte in der Kehle, und sie griff nach dem Handlauf, um nicht noch näher an Clay heranzutaumeln. „Mir … mir geht’s gut.“

Forschend blickte er sie an, als würde er ihr nicht glauben. Holly hielt seinem Blick stand, krampfhaft darum bemüht, nicht auf seinen Mund zu schauen. Und sich vorzustellen, wie seine Lippen sich auf ihren anfühlen würden.

„Diese Santa-Sache tut mir leid“, sagte Clay. Seine Stimme klang tiefer und heiserer als ein paar Momente zuvor.

Diese lahme Entschuldigung dämpfte den Aufruhr, den seine Anziehungskraft in Holly verursachte hatte. Sie brauchte sich nur vorzustellen, die enttäuschten Kinder mit denselben Worten abzuspeisen: „Hey Kids, tut mir leid, diese Santa-Sache.“

Dieses fast beiläufige Zerstören von Hoffnungen und Träumen erinnerte sie daran, wie leicht ihr Freund sich seinerzeit von ihr getrennt hatte. Immerhin hatte sie Mark genug vertraut, um ihm von ihrer leidvollen Kindheit zu berichten. Und er hatte sie aufs Übelste enttäuscht. „Tut mir leid Holly, ich weiß nicht einmal, ob ich selbst Kinder will – geschweige denn, die Kinder von jemandem anders erziehen.“

Das waren die Worte des Mannes, den sie glaubte zu lieben, den sie heiraten wollte. Diese Worte hatten sie zurück in die Vergangenheit katapultiert, zurück zu ihrem mangelnden Selbstwertgefühl.

Sie war nicht wie andere Leute. Sie hatte keinerlei biologische Bindungen zu irgendjemandem. Sie war nicht Bobs und Carols Tochter, nicht Jimmys kleine Schwester.

„Hören Sie, vielleicht kann ich Ihnen irgendwie helfen“, bot Clay an.

Es dauerte einen Moment, bis Holly sich wieder auf das Gespräch konzentrieren konnte und ihr einfiel, dass sie über die Santa-lose Weihnachtsfeier gesprochen hatten. „Ich wüsste nicht, wie“, antwortete sie, ohne sich große Hoffnungen wegen seines Angebots zu machen. Die Klingel des Aufzugs verkündete ihre Ankunft im obersten Geschoss.

„Lassen Sie uns Charlie anrufen.“

Ohne sich nach ihr umzudrehen, eilte Clay zum Empfangsbereich des Büros. Holly starrte auf den Etagenknopf fürs Erdgeschoss. Es wäre ein Leichtes gewesen, einfach draufzudrücken und schleunigst vor Clays fataler Anziehungskraft zu fliehen …

„Ich habe seine Nummer nicht“, erklärte sie, während sie ihm in das üppig ausgestattete Büro folgte. Ihre Absätze versanken im langflorigen Teppich, sie sah komfortable Bürostühle aus Leder und einen kreisförmigen Arbeitsplatz. Hinter einer Doppeltür befand sich wahrscheinlich Clays inneres Heiligtum.

„Okay. Dann rufe ich jetzt in dem Hotel an, wo meine Feier stattfindet, und sage Charlie, er soll stattdessen zu Ihrer Party gehen.“

Sein Entschluss nahm ihr den Wind aus den Segeln. Schließlich war Charlie derjenige, der sein Versprechen gebrochen hatte. Trotzdem konnte Holly nicht vergessen, dass Clays Geld der entscheidende Faktor gewesen war. Geld war Macht – und Holly diesbezüglich ohnmächtig.

„Wann fängt Ihre Feier an?“, wollte sie wissen.

Clay schaute auf seine Armbanduhr, und Holly erhaschte einen kurzen Blick auf massives Gold und glitzernde Diamanten. „In anderthalb Stunden.“

Erst in anderthalb Stunden würde sie Charlie erreichen, falls er pünktlich war. Dazu kam die Fahrt vom Hotel zum Hopewell House … Holly schüttelte den Kopf. „Das ist zu spät.“

Enttäuschungen waren für die Kinder vom Hopewell House nichts Neues. Aus ihrer eigenen Kindheit konnte Holly sich an das Gefühl nur allzu erinnern. Aber gerade an dieses letzte gemeinsame Weihnachtsfest sollten sich später alle gerne erinnern – das hatte sie sich so sehr gewünscht.

„Zu spät?“, wiederholte Clay. „Wo sollte er denn heute Abend sein?“

„Bei einer Feier im Hopewell House.“

„Was ist das?“

„Ein privates Heim für Pflegekinder.“

Entgeistert starrte er sie an. „Wollen Sie mir damit etwa sagen, ich hätte Waisenkindern Santa Claus gestohlen?“

Holly sah die ehrliche Reue in seinen Augen, als er sich gegen den Rezeptionsschalter sinken ließ. Merkwürdigerweise verspürte sie den dringenden Wunsch, ihm zu helfen, dass er sich wieder besser fühlte.

„Ich werde mir schon etwas ausdenken.“

Vielleicht hatten die beiden Frauen, die die Pflegegruppe leiteten, den Kindern noch gar nichts vom Santas Besuch erzählt. Vielleicht konnte sie in den nächsten Tagen noch einen Ersatz finden. Aber es müsste schnell gehen, bevor die Kinder getrennt und in neue Gruppen verteilt werden würden. Bevor Hopewell House seine Türen für immer schloss.

Als sie gerade gehen wollte, rief Clay: „Warten Sie!“

Einen kurzen Moment hielt er sie an der Hand fest. Kribbelnde Wärme breitete sich in ihrem Arm aus, selbst nachdem sie ihre Hand weggezogen hatte. Holly sehnte sich danach, ihre Handgelenke an seinen Jeans zu reiben, um das Prickeln zu dämpfen. In seinen blauen Augen erkannte sie, dass auch er dieses heiße Aufflackern gegenseitiger Anziehungskraft verspürt hatte. Plötzlich wurde ihr Mund trocken, sie konnte nicht wegschauen. Die gedankliche sexuelle Verbindung war schwieriger zu unterbrechen als jede körperliche.

„Miss Bain … Holly“, er zögerte, „wenn ich irgendetwas tun kann …“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie für meinen Santa bezahlt haben, aber das Problem kann nicht mit Geld gelöst werden.“

Mit ihrem alten, zerbeulten VW-Käfer hielt Holly vor dem Hopewell House. Nach einem Blick auf die mit Lichterketten festlich geschmückte Hausfront holte sie einmal tief Luft.

Normalerweise liebte sie ihre ehrenamtliche Arbeit in dieser Heimgruppe. Im Hinblick auf die Schließung hatte sie jede kostbare Minute ihrer knappen Freizeit hier verbracht. Den Kindern gelang es jedes Mal, sie aufzuheitern. Aber heute Abend fürchtete sie sich fast, das braune Sandsteingebäude zu betreten.

Aus Clays Büro war sie noch einmal in den Blumenladen zurückgekehrt. Sie hatte sich durch alle Kostümverleihe im Branchenverzeichnis telefoniert. Entweder landete sie auf dem Anrufbeantworter, oder ihr wurde mitgeteilt, dass alle Weihnachtskostüme ausgeliehen waren.

Die Autofenster waren schon von ihrem Atem beschlagen, und Holly konnte es nicht länger hinauszögern. Durch die kalte Nachtluft ging sie zum Haus.

Kaum stand sie unter dem Vordach, da öffnete ihr Eleanor Hopewell schon die Tür und winkte sie mit ihren molligen Händen gleich herein. „Komm rein, komm rein. Sonst holst du dir noch den Tod. Die Kinder sind schon ganz aufgeregt.“ Eleanors blassblaue Augen funkelten hinter der Brille.

Beinahe hätte Holly aufgestöhnt. „Eleanor …“

Bevor Holly die schlechte Nachricht überbringen konnte, stürmte Sylvia, Eleanors Schwester, in den Vorraum. „Was trödelt ihr so? Kommt ins Wohnzimmer. Mary Jane kann’s gar nicht erwarten, ihre Lieder zu spielen.“

„Miss Holly?“ Jemand zerrte an Hollys Pullover, sie blickte nach unten. Große blaue Augen unter verstrubbelten Ponyfransen blickten sie an. Sie kniete nieder, bis sie auf der gleichen Höhe wie der Dreijährige war. Sehnsucht und Hoffnung erfüllten sie. Würde man ihr die Chance geben, Lucas zu adoptieren? Um diesem kleinen Jungen, den sie so liebte, mehr zu sein als nur „Miss Holly“? „Hi Lucas!“

Mit sorgenvoller Miene fragte er: „Wie soll’n Santa da reinkommen?“

Vom Kaminsims hingen selbst gestrickte Strümpfe, und im Kamin loderte ein gemütliches Feuer. Die Erwähnung von Santa ließ Holly zusammenzucken. „Also Santa Claus …“

Eleanor unterbrach sie, bevor Holly die Nachricht loswerden konnte.

„Mach dir keine Gedanken, Lucas. Santa muss ganz schön schlau sein, um allen lieben Jungen und Mädchen Spielzeug zu bringen. Der wird sich schon was ausdenken.“

Kaum hatte Eleanor die Worte ausgesprochen, als es an Tür klingelte. Die Kinder jubelten erwartungsvoll auf. Mary Jane sprang vom Klavierstuhl auf. „Santa Claus!“„Nein, wartet!“ Das aufgeregte Trappeln kleiner Schuhe auf dem Holzboden übertönte Hollys Protest. Dass sie für die gleich folgende Enttäuschung verantwortlich war, lastete wie ein schweres Gewicht auf ihr. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, den Kindern in den Vorraum zu folgen.

Sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde, und Eleanors Ausruf. „Kinder, guckt mal, wer da ist!!“

Laute Rufe „Santa Claus!“, dazu ein tiefes Lachen. „Ho, ho, ho! Fröhliche Weihnachten!“

Holly sprang auf. War das möglich? Hatte es sich Charlie doch anders überlegt? Überrascht ging sie zur Tür und beobachtete, wie Eleanor und Sylvia die Kinder nacheinander einem bärtigen Mann im roten Kostüm vorstellten. Die Kleinen starrten ihn ehrfürchtig an. Santa Claus sprach mit jedem einzelnen Kind, nannte es beim Namen und zerzauste ihnen die Haare.

Holly runzelte nachdenklich die Stirn. Auch nach zwei Wochen vor dem Blumengeschäft konnte Charlie sich kaum an ihren Namen erinnern. Wieso konnte er sich plötzlich die Namen von einem halben Dutzend Kindern merken?

Als Lucas an die Reihe kam, rannte er nach einem kurzen Blick auf den weißhaarigen, rundlich aufgepolsterten Mann davon und versteckte sich hinter Hollys Beinen. Zum ersten Mal schaute sie sich Santa Claus genauer an.

Überrascht schnappte sie nach Luft, als sie in Clay Forresters unverwechselbare blaue Augen sah.

2. KAPITEL

Fassungslos und mit heftig klopfendem Herzen konnte Holly ihn nur anstarren. Clay im Santa-Kostüm, umgeben von den Kindern – die Szene wirkte wie eine lebendig gewordene Weihnachtskarte.

Jedenfalls solange man nicht allzu genau hinschaute. Dann nämlich entdeckte man seinen flirtenden Blick und sein sexy Lächeln, das der falsche Bart nicht überdecken konnte.

„Na komm, Lucas“, ermutigte Eleanor Hopewell den Kleinen, „begrüße Santa Claus. Du warst die ganze Woche so aufgeregt.“

Lucas umklammerte Hollys Beine noch etwas fester. Dabei hatte sie selbst Hemmungen, sich dem Mann im roten Kostüm zu nähern. Leider hatte Holly niemandem, hinter dem sie sich verstecken konnte. Und sowohl Eleanor als auch Clay warteten. Eleanor mit aufgeregt wedelnden Händen, Clay mit herausfordernd hochgezogener Augenbraue.

Nach einem tiefen Atemzug griff Holly nach Lucas’ Hand und drückte sie beruhigend. „Komm mit mir, Lucas.“

Lucas blieb zwar größtenteils hinter ihrem Bein versteckt, aber sie überredete ihn zumindest, ein leises „Hi“ von sich zu geben.

Und als wäre Holly eines der Kinder, stellte Eleanor sie vor: „Santa, das ist Holly.“

„Aha! Hallo Holly!“ Clays Augen funkelten. „Komm, umarme Santa Claus.“

Da alle Augen auf sie gerichtet waren, hatte sie keine andere Möglichkeit, als auf ihn zuzugehen. Sofort umschlang Clay sie in einer übertriebenen Umarmung. Sie taumelte gegen ihn. Zum Glück verhinderte das Kissen, mit dem seine Jacke ausgestopft war, den direkten Körperkontakt, der ihr im Aufzug den Atem geraubt hatte.

Trotzdem fanden seine Hände den schmalen Streifen nackter Haut, wo ihr Pullover hochgerutscht war. Hatte sie ihn tatsächlich für eiskalt gehalten? Von seiner Berührung strahlte eine unglaubliche Hitze aus, und ein kleiner wohliger Schauer durchfuhr sie. Sein falscher Bart kitzelte ihre Nase. Der Duft seines Aftershaves war so verlockend, dass Holly sich verzweifelt wünschte, einen gewissen Abstand zu halten. Oder ihre Nase noch fester an sein Gesicht zu pressen, um noch mehr von seiner Haut zu riechen.

„Mr … Claus! Bitte!“, protestierte sie.

„Also, Holly, jetzt erzähl mir mal …“, sein sonores Murmeln sandte ihr einen weiteren Schauer über den Rücken, „… warst du unartig oder brav?“ Mit gehobener Augenbraue produzierte er ein äußerst unartiges Grinsen.

Es gelang ihr, ein aufgeregtes Lächeln aufzusetzen. „Ich war artig.“

„Dachte ich mir.“ Er blinzelte. „Ich weiß immer Bescheid.“

Endlich ließ er sie gehen. Dankbar trat sie einen Schritt zurück und fragte sich, wie der Wohnzimmerkamin das Foyer derart aufheizen konnte.

„Santa Claus, möchtest du hören, wie ich ‚Frosty the Snowman‘ spiele?”, fragte Mary Jane.

„Warte einen Moment, mein Schatz, bis mein kleiner Helfer …“, er nahm Hollys Hand, „… und ich ein paar Überraschungen für euch reingeholt haben.“

„Vergiss deinen Mantel nicht.“ Fürsorglich legte Sylvia die Jacke um Hollys Schultern. Und ehe Holly sich versah, stand sie draußen, alleine – mit Clay Forrester.

Die Luft roch nach Schnee und einem Hauch von Schornsteinrauch. Die Straße war ruhig und still, atemlos in freudiger Erwartung. Erst als Holly nach Luft schnappen musste, fiel ihr auf, dass sie es war, die vergessen hatte zu atmen. „Was … Wie …“

Ohne auf ihr Stottern zu reagieren, schob Clay die Mütze so weit zurück, dass ihm das dunkle Haar in die Stirn fiel, und pustete Luft nach oben. „Sie können sich nicht vorstellen, wie warm dieses Kostüm ist.“

Holly versuchte, ihre fünf Sinne zusammenzuhalten – und gleichzeitig die Ränder ihrer Jacke. „Woher wussten Sie, wo Sie mich finden können?“

„Sie haben mir gesagt, dass Sie ins Hopewell House gehen.“ Dabei wies er auf das Messingschild an der Tür.

Holly trat einen Schritt zurück, um den erfolgreichen Geschäftsmann in seiner ganzen Santa-Pracht zu bewundern. „Woher, um alles in der Welt, haben Sie dieses Kostüm? Ich habe überall herumtelefoniert und keins gefunden.“

Etwas verlegen gestand er: „Ich hatte es schon.“

Holly runzelte die Stirn. „Wenn Sie das Kostüm hatten, wozu brauchten Sie dann Charlie?“

„Ich hatte das Kostüm. Aber niemanden, der es anziehen würde. Nie im Leben würde ich mich zum Narren machen und auf meiner eigenen Firmenparty als Santa Claus auftreten.“

„Aber Sie sind hier.“

„Ja, das bin ich.“

Holly nahm sich vor, nicht zu viel in seine Worte hineinzuinterpretieren. Doch seine Taten sprachen für sich. Er war bereit gewesen, sich zum Narren zu machen, um ihr einen Gefallen zu tun …

Um von sich abzulenken, nickte sie in der Richtung der schwarzen Limousine, die am Bordstein hielt. „Was ist mit dem Schlitten und den Rentieren passiert?“, erkundigte die sich auf dem Weg zum Wagen.

„Die habe ich für 400 Pferde in Zahlung gegeben.“ Er winkte dem Fahrer hinter den getönten Scheiben zu, und die Klappe des Kofferraums ging auf.

Der Chauffeur stieg aus. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“

„Wir schaffen das schon, Roger. Danke.“ Clay schob die Klappe nach oben.

Sein Auftauchen hatte ihr die Sprache verschlagen, beim Anblick der mit Spielzeug vollgepackten Beutel strömten ihr die Worte nur so aus dem Mund. „Schau dir das an … Wo haben Sie … Wie haben Sie es in der kurzen Zeit geschafft, das alles zu kaufen?“

„Ich hatte Hilfe dabei“, gab er zu.

Mit einem etwas zittrigen Lachen, weil ihr fast die Tränen kamen, fragte sie: „Elfen?“

„Schon ziemlich nah dran. Ein persönlicher Einkäufer.“ Er warf ihr einen wissenden Blick zu, während er ihr den ersten Beutel anreichte. „Ich habe über das, was Sie gesagt haben, nachgedacht. Sie hatten recht. Es gibt Probleme, die man nicht mit Geld lösen kann, aber manchmal kann es Wunder wirken.“

Verlegenheit trieb ihr die Röte ins Gesicht. „Mr Forrester …“

„Nennen Sie mich doch Clay.“ Er schnappte sich noch zwei Beutel und schloss den Kofferraum.

„Es tut mir leid, was ich in Ihrem Büro gesagt habe“, entschuldigte sie sich auf dem Weg zum Haus.

„Sie hatten ja recht. Entschuldigen Sie sich nicht dafür.“

Clay wollte schon ins Haus gehen, als Holly in festhielt. „Warten Sie!“

Sie setzte die Tasche ab und rückte seine Mütze gerade. Sorgfältig steckte sie sein dunkles Haar wieder unter die weiße Perücke. Erst als er sie überrascht anschaute, ging ihr auf, was sie getan hatte. Rasch trat sie einen Schritt zurück und räusperte sich. „Die Kids sollen doch nicht merken, dass Sie gar nicht Santa sind.“

Damit drehte sie sich um und öffnete die Eingangstür – bevor sie noch etwas Dümmeres tun konnte. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer.

„Kommt, Kinder, geht etwas zurück. Lasst Santa ein bisschen Platz zum Atmen!“, ermahnte Sylvia die Kinder, die um Clay herumtanzten und dabei versuchten, in die Taschen zu spähen, die er trug.

Absichtlich hielt er die Beutel etwas niedriger, um ihnen einen schnellen Blick auf all die Autos, Bauklötze und Puppen zu gönnen. Aufgeregt auf und ab hüpfend erklärte Mary Jane einem kleinen Mädchen neben ihr: „Ich habe eine Barbiepuppe gesehen!“

Anscheinend hatte Clay ihr lautes Flüstern gehört. Sobald er sich auf dem Sessel zwischen Kamin und Tannenbaum niedergelassen hatte, winkte er die Mädchen zu sich und holte für beide eine Barbie aus der Tasche. Mit strahlenden Augen öffneten sie Kartons und probierten schon Minuten später die verschiedenen Accessoires aus.

Die Begeisterung der Kinder war ansteckend, und Eleanor und Sylvia schienen genauso aufgeregt wie sie. Clays tiefes Lachen füllte den gemütlichen Raum, seine Augen funkelten.

Genau in diesem Moment schaute er zu ihr herüber. Auch die Entfernung zwischen ihnen milderte die Wirkung seines taxierendes Blickes auf sie nicht. Der Rest des Raumes verschwamm, bis nur sie beide übrig blieben.

Sylvia hielt eine Kamera hoch. „Wie wär’s mit einem Foto mit Santa?“

Noch einmal setzte Clay sich in den großen Sessel und posierte mit jedem Kind auf den Schoß. „Sagt ‚Cheese‘“, ermunterte Sylvia die Kleinen. Der kleine Lucas zupfte an seinem Bart, und Clay bemerkte, wie Holly ihn beobachtete. Für eine Sekunde glaubte er, Tränen in ihren Augen zu sehen, dann blendete ihn das Blitzlicht. Als sie sich hinunterbeugte, um Lucas von seinem Schoß zu heben, lächelte sie.

Sie richtete sich auf und setzte Lucas auf die Hüfte, aber der Kleine strampelte mit den Füßen, eine wortlose Aufforderung, ihn runterzulassen. Sobald Holly ihn wieder abgesetzt hatte, fiel er auf die Knie und schob seinen Feuerwehrwagen über den Teppich.

Clay griff nach ihrem Handgelenk, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Mit dem Daumen fuhr er über ihren Handrücken und lächelte, als er spürte, wie ihr Puls plötzlich schneller wurde. Der Gedanke daran, noch sehr viel weichere Haut zu erforschen und sehr viel intimere Punkte, an denen ihr Puls zu fühlen war, erhöhte auch seinen Herzschlag.

„Kommen Sie, Holly. Haben Sie keine Weihnachtswünsche?“

Trotz der Unsicherheit in ihren grünen Augen klang ihre Stimme beherrscht. „Ich werde einen Brief zum Nordpol schicken.“

Er schüttelte den Kopf – ganz vorsichtig, damit Mütze und Perücke nicht verrutschten. „Es wirkt aber besser, wenn man es persönlich macht. Also sagen Sie es mir. Es muss doch etwas geben, was Sie sich wünschen.“

Trotz der neckenden Frage hoffte Clay auf eine ernste Antwort. Er wollte mehr über Holly wissen.

Als Holly ihre Hand sanft aus seinen Fingern befreite, hielt sie Ausschau nach Lucas. Leise murmelte sie Clay zu: „Tut mir leid, Clay, aber ich glaube nicht an Santa Claus.“

„Miss Holly, du machst das ganz falsch!“ Mary Janes aufgebrachte Stimme übertönte den fröhlichen Lärm im Wohnzimmer. „Du musst dich auf Santas Schoß setzen!“

„Das gilt nur für Jungen und Mädchen“, antwortete Holly schnell und warf dabei Clay einen warnenden Blick zu. „Für Erwachsene ist es etwas anderes.“

Die Kleine sah nicht ganz überzeugt aus und fragte: „Aber du bekommst doch noch dein Geschenk, oder?“

Damit hatte sie Holly erwischt.

„Nun?“ Clay nutzte die Gelegenheit. „Es muss doch irgendeinen Wunsch geben, den Santa Ihnen als Kind nicht erfüllt hat.“

Ihr Gesicht spiegelte die unterschiedlichsten Gefühle wider, ihre grünen Augen waren voller Sehnsucht. In diesem Augenblick schwor Clay sich, dass er Holly schenken würde, was immer sie sich wünschte.

„Ein Pony!“, platzte Holly heraus. Trotz ihres gezwungenen Lächelns lag ein Schatten über ihren Augen, als sie sich an Mary Jane wandte: „Wünschen sich nicht alle kleinen Mädchen ein Pony?“

„Barbie hat auch ein Pony“, ergänzte Mary Jane und warf dabei Santa einen eindeutigen Blick zu.

„Dann also ein Pony“, stimmte Clay zu. Sein eigener Wunsch, mehr über Holly zu erfahren, blieb unerfüllt. Jedenfalls für dieses Mal.

Es wurden noch mehr Fotos gemacht. Langsam hatte Clay das Gefühl, dass er die Schlafenszeit der Kinder überschritt. Lucas war auf Hollys Schoß geklettert. Das Feuerwehrauto hielt er immer noch fest umklammert. Erst als er eingeschlafen war, nahm Holly es ihm vorsichtig aus der Hand und trug ihn aus dem Wohnzimmer.

Es war Zeit für Clay, Gute Nacht zu sagen. Seinen Auftritt als Santa hatte er erledigt, und seine Angestellten warteten auf ihn. Zwar hatte er inzwischen Marie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass er später käme. Aber allzu lange konnte sie ihn nicht decken.

Er sollte wirklich gehen.

Clay stand auf und trat zur Tür, hinter der Holly mit dem kleinen Lucas verschwunden war. „Stille Nacht, heilige Nacht“, erklang es aus einem der Zimmer. Es war Hollys klare Stimme, die ihn so unwiderstehlich anzog wie der Gesang der Sirenen. Er folgte der Stimme und blieb schließlich an der geöffneten Tür stehen, beobachtete sie unbemerkt.

Holly saß auf einem Kinderbett. Sie beugte sich hinunter, strich Lucas’ Haar zurück und küsste den schlafenden Jungen sanft auf die Stirn. Aus jeder ihrer Gesten sprach Fürsorge und Mitgefühl. Ihre ehrenamtliche Arbeit verrichtete sie nicht aus Pflichtbewusstsein oder Verantwortungsgefühl. Sie tat es aus Liebe.

Fast glaubte er zu spüren, wie seine Finger ihr Haar zerwühlten, während er seine Lippen auf ihre presste und … nun ja, vielleicht etwas mehr tat, als sie nur ins Bett zu bringen.

Das Verlangen, das er plötzlich empfand, überraschte ihn selbst. Nachdem er Holly den ganzen Abend beobachtet hatte, wusste er, dass sie eigentlich nicht sein Typ war. Heim und Familie waren für sie das Wichtigste. Dagegen hatte er in der Vergangenheit eine Scheidung vorzuweisen und für die Zukunft ein Unternehmen, dem er seine ganze Aufmerksamkeit schenken musste.

Gerade als er beschlossen hatte, jetzt wirklich zu gehen, blickte Holly auf und legte einen Finger an die Lippen. Eine Warnung, dass er leise sein sollte. Dabei hätte er sowieso kein Wort herausgebracht. Denn während er auf ihren Mund starrte, wurde seine Kehle ganz trocken.

Süß würde sie schmecken – wie die Zuckerstangen, die am Weihnachtsbaum hingen. Mit einem Hauch von Gewürzen von dem Apfelpunsch, den sie getrunken hatte. Aber vor allem würde sie wie eine Frau schmecken: warm und weich. Als sie ihn beim Verlassen des Zimmers streifte, musste er sich schon sehr zusammenreißen, um sie nicht gleich in die Arme zu nehmen.

Sie schloss die Tür und flüsterte: „Er ist sofort eingeschlafen. Wahrscheinlich träumt er von Feuerwehrautos und Rentieren.“ Ihr bezauberndes Lächeln zeigte, dass sie von Clays heißen, hungrigen Fantasien nichts ahnte.

Clay hob seine Hand zu ihrem Gesicht – und hatte plötzlich die roten Samtärmel mit dem weißen Besatz seines Kostüms vor Augen. Kein Wunder, dass Holly keine Ahnung davon hatte, was er sich ausmalte. Die Vorstellung, Santa Claus könne eine Frau anmachen, war einfach absurd!

Trotzdem konnte Clay seine Hand nicht senken, ohne ihr nicht zuvor das Haar zurückzustreichen. Die seidigen Strähnen glitten ihm durch die Finger. Wie würden sie sich in seinem Gesicht, an seiner Brust anfühlen?

Verdammt, er musste wirklich gehen. Sofort.

Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer sagte Holly mit gedämpfter Stimme: „Ich glaube, ich habe die Kinder noch nie so glücklich gesehen. Sie haben ihnen das schönste Weihnachtsfest ihres Lebens geschenkt.“

Weil die Hopewell-Schwestern gerade die größeren Kinder ins Bett brachten, war das Wohnzimmer leer. Das Feuer war heruntergebrannt, das Klavier verstummt.

„Ich bringe Sie nach draußen“, bot Holly an. Gemeinsam gingen sie zum Eingang. Wie um Hollys unschuldige Aura noch zu verstärken, hüllte die Außenbeleuchtung sie in einen goldenen Schein. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für alles danken kann.“

Gerade wollte Clay erklären, dass ihre Dankesbezeugungen unnötig seien. Da kam ihm plötzlich eine Idee. Wenn Holly ihm wirklich ihre Dankbarkeit zeigen wollte, gab er ihr jetzt die Möglichkeit dazu.

„Da Sie es erwähnen: Ich wüsste schon, wie Sie sich bei mir bedanken können.“ Er sah ihr überraschtes Gesicht und musste lachen. „Schämen Sie sich, Miss Bainbridge! Meine Absichten sind völlig ehrenhaft.“ Ihr Blick war immer noch zweifelnd. In gespielter Hilflosigkeit streckte er die Hände aus. „Wenn Sie Santa Claus nicht vertrauen …“

Auf ihrem Mund lag der Hauch eines Lächelns, der jedoch schnell wieder verschwand. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich Ihnen erkenntlich zeigen könnte.“

„Kommen Sie heute Nacht mit mir mit.“

„Was?“ Sie riss die Augen auf, in denen ihre Bedenken zu erkennen waren. Wäre das alles gewesen, hätte Clay sie nicht weiter bedrängt. Aber er hatte in ihren Augen auch einen Funken gesehen, der ihm verriet, dass die Anziehungskraft zwischen ihnen nicht einseitig war.

Er machte einen Schritt auf sie zu. Als er sah, dass dieser Funke noch ein bisschen heller flackerte, schien sich das Blut in seinen Adern zu erhitzen. Während er sich von der Mütze und Bart befreite, sagte er: „Ich bitte Sie, mich heute zu meiner Party zu begleiten.“

3. KAPITEL

Entsetzt protestierte Holly. „Mit Firmenfeiern kenne ich mich überhaupt nicht aus.“

„Die wird so ähnlich sein wie die Feier mit den Kindern. Nur mit Alkohol und schlechterem Benehmen.“ Er zuckte die Achseln. „Und außerdem: Ich bin ja auch zu Ihrer Feier gekommen.“

„Ich hätte Sie ja nicht auf meiner Feier gebraucht, wenn Sie mir nicht den Santa gestohlen hätten.“

Mit einer Handbewegung wies er ihr Argument ab. „Unwichtige Details!“

Holly zog den Kopf ein. Schon der bloße Gedanke, zu einer Party mit lauter erfolgreichen, vermögenden Geschäftsleuten zu gehen, versetzte sie in Panik. Die Idee war absurd – allerdings längst nicht so absurd wie Clays Auftritt als Santa Claus.

„Also gut“, willigte sie schließlich ein. Sie sah an sich herunter auf den roten Pullover und die schwarzen Jeans. „Aber wir müssen kurz bei meiner Wohnung vorbeifahren, damit ich mich umziehen kann.“

„Ja, ich auch. Weil ich wusste, dass die Zeit knapp wird, habe ich meine Sachen mitgenommen. Wenn ich mich bei Ihnen umziehen darf, kann mein Fahrer uns gemeinsam zu der Feier fahren.“

Ihre Wohnung war nicht weit entfernt, und Holly wollte ohnehin nicht alleine auf der Party auftauchen. „Okay! Wollen Sie hinter mir herfahren?“

„Das macht Roger, ich komme mit Ihnen mit.“

Nachdem Clay dem Fahrer die entsprechenden Anweisungen gegeben hatte, stieg er zu Holly ins Auto. Sie kicherte, als er die rote Jacke aufknöpfte und das Kissen herauszog, mit dem er sich ausgestopft hatte.

Während sie fuhr, warf sie ab und zu einen kurzen Blick auf sein ebenmäßiges Profil. „Was für eine Art von Party wird das sein?“

„Also … ich weiß, dass es Käsekuchen gibt.“ In den vorbeihuschenden Straßenlampen blitzten seine Zähne auf. „Musik, Tanz. Dieses Jahr hat … nun ja, eine Art Wandel stattgefunden.“ Seine Stimme klang angespannt, ganz anders als sein üblicher, etwas spöttischer Tonfall. „Ich hoffe, die Party bringt alle etwas näher zusammen.“

Holly parkte den Wagen vor dem Haus, in dem sie ihr Apartment hatte, die Limousine hielt direkt hinter ihr. Nachdem Roger ihm einen schwarzen Kleidersack überreicht hatte, stiegen Clay und Holly gemeinsam die Stufen hoch zum Eingang des fünfstöckigen Backsteinbaus.

Als Holly ihren Schlüsselbund aus der Tasche holte, glitt er ihr durch die eiskalten, fast tauben Finger und fiel zu Boden. Sie bückte sich danach, aber Clay war schneller. Ihre Finger berührten sich. Im Gegensatz zu ihrer eiskalten Hand war seine warm.

Einen Moment lang verharrten sie in ihrer Bewegung und sahen sich in die Augen. Ihr Atem vermischte sich in der eisigen Nachtluft, doch Holly spürte die Kälte nicht mehr. Als er ihr aufhalf, drang die Wärme so tief in sie ein, dass ihre Knie weich wurden. Clay schloss die Tür auf und gab ihr im Hausflur die Schlüssel zurück.

Während sie die Treppe zum dritten Stock hochgingen, überlegte Holly krampfhaft, ob auf der Couch ein Haufen Schmutzwäsche lag oder sich leere Fast-Food-Schachteln auf dem Tisch häuften. Sie öffnete die Wohnungstür, schaltete das Licht ein und seufzte erleichtert auf. Im Wohnzimmer lagen nur ein paar Schuhe herum.

Der Raum war mit zweckmäßigen, etwas abgestoßenen Möbeln ausgestattet. Die beigefarbene Couch und der dazugehörige Sessel passten zur Tapete und dem Teppich.

Sie wies auf die Badezimmertür. „Dort können Sie sich umziehen.“

Clay zog seine buschige weiße Santa-Claus-Augenbraue hoch. „Letzte Gelegenheit für einen Weihnachtswunsch!“

Holly lachte. „Ab mit Ihnen ins Bad!“ Sie gehörte nicht zu den Leuten, die ihre Wünsche laut äußerten. Aber wenn sie es getan hätte …

Konnte Clay Forrester wirklich so perfekt sein, wie es den Anschein hatte?

Sie glättete die Kissen auf dem Sofa und hob ihre Schuhe hoch.

Plötzlich hörte sie, wie die Badezimmertür geöffnet wurde. Also war Clay fertig. Und sie wusste noch nicht einmal, was sie anziehen sollte. Holly drehte sich zu ihm um – und ließ prompt die Schuhe fallen.

Während er noch an den Ärmeln seines Smokings herumzupfte, sah er sie an. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Mit letzter Kraft brachte sie noch ein Nicken zustande. Ansonsten konnte sie ihn nur sprachlos anstarren. Der schwarze Smoking saß perfekt und brachte seine breiten Schultern und die langen Beine erst richtig zur Geltung. Die Locke, die Holly vorhin unter die Mütze geschoben hatte, fiel ihm jetzt in die Stirn. Blaue Augen unter geraden schwarzen Brauen musterten sie. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge wirkten wie gemeißelt: eine grade Nase, ausgeprägte Wangenknochen und ein energisches Kinn.

Wäre ein Hollywoodstar plötzlich aus dem Fernseher in ihr Wohnzimmer getreten, wäre Holly nicht stärker beeindruckt – oder erschrocken gewesen.

„Holly, stimmt irgendwas nicht?“ Er machte einen Schritt auf sie zu, doch sie wischte mit einer Handbewegung seine Besorgnis beiseite.

„Nein, nein, alles ist bestens. Außer …“, sie wies auf seinen Smoking, „dass Sie glatt auf einen Ball im Weißen Haus gehen könnten!“

„Na ja, die Feier findet immerhin im ‚Lakeshore Plaza‘ statt.“

Sofort hatte sie das elegante Hotel vor Augen, in dem ständig irgendwelche Berühmtheiten logierten. Man munkelte, dass die Penthouse-Suiten um die 10.000 Dollar pro Nacht kosteten. Holly hätte es nie gewagt, auch nur einen Fuß in das edle, mit Marmor verkleidete Foyer zu setzen.

„Ich kann nicht ins ‚Lakeshore Plaza‘ gehen. Ich habe nichts anzuziehen!“ Denn sie würde nicht nur sich selbst lächerlich machen, sondern gleichzeitig auch Clay in Verlegenheit bringen. Ihre Garderobe würde verraten, dass sie dort nicht hingehörte.

Er verdrehte seine Augen. „Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die genug zum Anziehen hatte. Kommen Sie!“

„Wohin gehen wir jetzt?“, wollte sie wissen, als er sie an die Hand nahm.

„In Ihr Schlafzimmer!“

„Was?“

Er grinste sie über seine Schulter an. „Um für Sie die passende Kleidung zu finden.“

„Ich arbeite in einem Blumenladen!“, protestierte Holly, während er sie ins Schlafzimmer zog. Die Intimität, dass Clay in diesen Raum eindrang, ließ sie erröten. Sie zwang sich dazu, nicht auf das zerwühlte Bett zu schauen, das nicht mal einen Meter weit von ihnen entfernt war. „Ich habe keine tollen Kleider.“

Er wandte sich ihr zu und musterte sie. Sein abschätzender Blick ging ihr durch und durch. „Das gefällt mir.“

Holly blickte an sich hinab. War ihre Kleidung durch einen Zauber verwandelt worden? „Ein Pullover und Jeans?“, fragte sie ungläubig.

„An einem Kleiderständer sind es einfach Pullover und Jeans. An Ihnen ist es etwas völlig anderes.“

Seine Stimme klang heiser, seine Augen waren dunkel vor Verlangen.

Ein aufregendes Kribbeln lief durch ihren ganzen Körper. Wie gerne hätte sie dieser Anziehungskraft nachgegeben, doch ihr Überlebensinstinkt ließ es nicht zu. „Das kann ich unmöglich im ‚Lakeshore Plaza‘ tragen.“

Ohne Hemmungen öffnete er die Kleiderschranktür. „Dann werden wir halt etwas anderes finden.“

Holly beobachtete ihn dabei, wie er ihre Sachen durchging. Seine männlichen Hände waren ein sinnlicher Kontrast zu den weiblichen Kleidungsstücken. Als er über den Ärmel einer Bluse strich, hätte Holly schwören können, diese intime Zärtlichkeit auf ihrem Arm zu spüren.

Schließlich zog er ein Teil aus schwarzem Satin und Spitze heraus. „Wie wäre es damit?“

Vergeblich kämpfte Holly gegen die Röte, die ihr ins Gesicht schoss. „Das ist ein Unterrock.“

„Tatsächlich?“ Er nahm das Kleidungsstück näher in Augenschein. „Bei der Mode heute ist das manchmal schwer zu erkennen.“ Seine Augen glühten, als er ihr das Unterkleid anhielt. Sie hatte das Gefühl, als hätte er sie halb nackt, nur mit Dessous bekleidet, erwischt. „Wahrscheinlich gefällt es mir deshalb so gut.“

„Großartig!“ Energisch nahm sie ihm den Unterrock aus der Hand und hängte ihn wieder in den Kleiderschrank. „Wenn ich zulasse, dass Sie meine Kleidung aussuchen, lande ich womöglich in Unterwäsche auf Ihrer Party.“

Beinahe verzweifelt durchwühlte sie ihre Sachen. Sie musste schleunigst etwas finden, bevor an ihrer gesamten Garderobe die Erinnerung an seine Berührung haftete. Endlich entdeckte sie einen langen schwarzen Rock, den sie Clay zeigte. „Wie finden Sie den?“

„Ein guter Anfang. Jetzt brauchen wir nur noch das …“ Wieder zog er den Unterrock aus dem Schrank.

Sie schüttelte den Kopf. „Clay, ich habe Ihnen doch gesagt …“

Ohne darauf einzugehen, nahm er eine kurze schwarze Jacke aus dem Schrank. „… und das!“

Schon wollte Holly protestieren, sah sich dann aber doch die einzelnen Teile, die er ausgesucht hatte, genauer an. Mit seinen Spaghettiträgern und dem spitzenbesetzten Ausschnitt konnte der Unterrock als Mieder durchgehen. Rock und Jacke waren aus ähnlichem Material, sodass das Ganze wie ein Dreiteiler wirkte.

Clay reichte ihr die Bügel. „Ziehen Sie sich um, wir sind spät dran.“

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, schleuderte Holly ihre Schuhe von sich. Nur ihretwegen war Clay noch nicht auf der Party. In aller Eile zog sie sich um und fasste ihr Haar zu einem Knoten zusammen, bevor sie einen Hauch Farbe auf Wangen und Lippen gab.

Nach einem tiefen Atemzug trat sie einen Schritt zurück und begutachtete ihr Äußeres. Sie suchte nach einem verräterischen Zeichen, an dem sich erkennen ließ, dass sie nicht zu diesen Business-Leuten gehörte. Sie fand es in den Augen – in denen ihre Unsicherheit geschrieben stand.

„Ich bin fertig.“

Clay drehte sich um. Ihm war klar gewesen, dass der lange, gerade geschnittene Rock und die schlichte Jacke Hollys schlanker Figur schmeicheln würden. Allerdings hatte er nicht erwartet, dass ihre Jeans und Sweater solche atemberaubenden Kurven verborgen hatten. Sein Blick wanderte an dem Schlitz hoch, der ihre langen Beine erkennen ließ. Der Rock saß eng auf den Hüften, sodass es ihn in den Fingern juckte, ihre Silhouette nachzuzeichnen. Unter der Jacke schmiegte sich der Seidenstoff an ihren Busen, und die Spitze am Dekolleté ließ den verführerischen Spalt zwischen ihren Brüsten erahnen.

Ihr kastanienbraunes Haar hatte sie auf dem Kopf aufgetürmt. Nur ein paar Strähnen fielen ihr lockig ins Gesicht, was ihre hohen Wangenknochen und die mandelförmigen Augen zusätzlich betonte.

„Wir sollten jetzt besser losfahren“, schlug Holly vor. „Sie sind meinetwegen schon spät genug dran.“

„Sie waren das Warten wert.“

Gemeinsam gingen sie durch die Eingangstür, und Holly stockte fast der Atmen. Man hatte ihr das Hotel schon in den glühendsten Farben geschildert, sie hatte auch ein oder zwei Fotos gesehen. Aber einen derartigen Prunk hatte sie sich nicht vorstellen können.

Deckenhohe Wandmalereien schmückten die Lobby, und hinter der Rezeption schäumte ein Wasserfall. Holly musste sich dazu zwingen, sich nicht noch einmal nach dem vergoldeten Kristalllüster umzudrehen. Doch dieses ganze unglaubliche Dekor war nichts im Vergleich zu der erstaunlichen Tatsache, dass sie, Holly Bainbridge, das „Lakeshore Plaza“ an der Seite von Clay Forrester betrat.

Auf dem Weg zum Ballsaal scholl ihnen Musik und Gelächter entgegen. Die fröhliche Geräuschkulisse wurde von Korkenknallen untermalt. Einige Leute riefen ihnen Grüße zu, und Clay nahm sich vom Tablett eines vorbeieilenden Kellner zwei Champagnerflöten. Eine gab er Holly und hob dann sein Glas zu einem Toast: „Auf Sie, Holly, weil Sie mich an die wahre Bedeutung des Weihnachtsfestes erinnert haben!“

Auch ohne Champagner wäre es für Holly eine denkwürdige Nacht gewesen. Dafür hatte Clay schon gesorgt. Und sosehr sie auch das prickelnde Getränk genoss: Der Geschmack von Clays Lippen auf ihren wäre ein noch viel unvergesslicheres Erlebnis.

Bei diesem Gedanken senkte sie den Blick auf seinen Mund, und Clays Augen verdunkelten sich. „Holly …“

„Es wurde aber auch langsam Zeit, dass du auftauchst!“, rief eine weibliche Stimme aus. Holly sah über ihre Schulter. Hinter ihr tänzelte eine atemberaubende Brünette mit kurzem Haar auf sie zu. Sie trug ein rotes paillettenbesetztes Kleid, auf das jedes modebewusste junge Mädchen stolz gewesen wäre. „Als du ‚ein bisschen später‘ gesagt hast, habe ich an eine Viertelstunde gedacht. War verdammt schwer, dich so lange zu vertreten.“

Die Party war in vollem Gang, Clay blickte sich einmal um und sagte trocken: „Ja, ich sehe, wie sehr man mich vermisst hat.“

„Okay, wir haben ohne dich angefangen, aber ich bin froh, dass du hier bist.“ Marie streckte Holly die Hand hin. „Ich bin Marie Cirillo, Clays Assistentin.“

„Holly Bainbridge.“

„Sie kommen mir bekannt vor,“

Hilfe suchend blickte Holly in Clays Richtung. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wie würde er es erklären, dass er eine Verkäuferin zu dieser noblen Party mitgebracht hatte? Mit irgendwelchen Erklärungen hielt Clay sich gar nicht erst auf. Er sagte einfach: „Holly arbeitet in dem Blumenladen in unserem Bürogebäude.“

„Ach ja, natürlich.“ Maries Lächeln verschwand nicht – ebenso wenig wie die Neugier in ihrem Blick. „Ich habe bei Ihnen eine Pflanze gekauft.“

„Efeu, stimmt’s? Den mag ich besonders gern“, erinnerte sich Holly.

„Ich auch. Aber die Blätter sind gelb geworden und inzwischen richtig braun.“

Clay lachte. „Marie killt Pflanzen, weil der Tierschutzverein ihr nicht erlaubt, ein Haustier zu halten.“

Marie steckte ihrem Chef die Zunge raus, und Holly lachte. „Vielleicht haben Sie den Efeu zu oft gegossen und ertränkt. Versuchen Sie es mal mit Dünger.“

„Danke, das werde ich tun.“ Dann wandte Marie sich an Clay. „Warum gebe ich mich eigentlich mit dir ab?“

„Weil wir perfekt zusammenpassen. Niemand anderes würde für mich arbeiten, und dich würde niemand anderes einstellen.“

„Ach, deswegen!“ Marie nahm ein Glas Champagner von einem der Kellner entgegen. „Ich dachte, kostenloser Champagner und Käsekuchen wären der Grund.“

Clay nickte in Richtung ihres Glases. „Na, dann bist du ja für heute Abend gut ausgestattet. Leiste Holly Gesellschaft, während ich mit dem DJ spreche.“ Er drückte kurz Hollys Arm und versprach: „Ich bin gleich wieder da.“

Schon öffnete Holly den Mund, weil sie ihn bitten wollte, zu bleiben oder sie mitzunehmen. Doch damit würde sie nur zeigen, wie nervös sie war. Ohne Clay wurde sie wieder von Unsicherheit gequält. Sie erwartete förmlich, dass den Leuten auffiel, wie wenig sie hierhin gehörte. Und sie musste nicht lange warten.

„Wissen Sie, ich habe noch kurz vor der Party mit Clay gesprochen. Er hat gar nicht erwähnt, dass er jemanden mitbringt.“

Holly schluckte. „Das ergab sich auch erst im allerletzten Moment.“

„Das habe ich mir gedacht.“ Maries Gesichtsausdruck wurde etwas milder, als sie merkte, wie unbehaglich Holly sich fühlte. „Entschuldigen Sie. Sie müssen mich für furchtbar neugierig halten. Es ist nur so: Sie sind die erste Frau, die mir Clay nach seiner Scheidung vorgestellt hat.“

„Clay war verheiratet?“

Marie zuckte zusammen. „Ich und meine große Klappe!“

„Nein, nein, ist schon in Ordnung.“ Schließlich gab es keinen Grund, warum Clay ihr von seiner Exfrau hätte erzählen sollen, zwischen ihnen war ja nichts Echtes, Ernsthaftes – redete Holly sich ein. Obwohl Clay, der gerade wieder zurückkam, eine Anziehungskraft auf sie ausübte, die hundertprozentig echt war.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich, „aber die Pflicht ruft. Ich hoffe, Marie hat nicht alle meine Geheimnisse ausgeplaudert.“

„Nur eins“, gestand Marie mit einem schuldbewussten Blick auf Holly. In der Nähe knallte ein Champagnerkorken, und sie fügte hinzu: „Diese Flasche ruft nach mir. Wir sehen uns noch!“

Nachdem Marie geflüchtet war, warf Clay einen kurzen Blick auf Holly. Anscheinend unberührt von den Geheimnissen, die seine Assistentin möglicherweise verraten hatte, sagte er nur: „So unglaublich sich das anhört, aber ich wüsste nicht, was ich ohne sie machen sollte. Sie sorgt dafür, dass ich nicht zu sehr abhebe. Im letzten Jahr war das ein Fulltime-Job.“

Schon zum zweiten Mal hatte Clay geschäftliche Sorgen erwähnt. Seine Präsenz war außerordentlich dominant, und Holly konnte sich kaum ein Problem vorstellen, dass er nicht allein durch die Kraft seines Willens hätte lösen können. Ein Unternehmen konnte nur so mächtig und bekannt wie „Forrester Industries“ werden, wenn ein Mann an der Spitze stand, der Schwierigkeiten notfalls mit einem Rammbock beiseitefegte.

Plötzlich hatte sie Clay wieder als Santa Claus vor Augen. Wer war er wirklich? Ein Mann, der sich um ein paar Pflegekinder kümmerte und ihnen ein unvergessliches Weihnachtsfest bescherte? Oder ein skrupelloser Geschäftsmann?

Über ihnen funkelte der Kronleuchter, als Clay sie herumwirbelte, bis sie ganz außer Atem war. Nicht wegen seiner komplizierten, geübten Tanzschritte, sondern wegen ihres engen Kontaktes.

Als die Musik verklang, entwand Holly sich Clays Armen. Sie ließ ihn los – vorgeblich, um den Musikern zu applaudieren. In Wirklichkeit brauchte sie einen gewissen Abstand zu ihm. Sein wissender Blick besagte, dass er sie für einen Feigling hielt. Aber ihr war es wichtiger, ihr Herz zu beschützen als das Gesicht zu wahren.

Von der Tanzfläche führte Clay sie an das Dessertbüfett. „Hier, das müssen Sie einfach probieren.“ Er machte einen Teller für sie beide fertig, nahm ein Stück von dem Käsekuchen und hielt ihr die Gabel entgegen. „Marie hat beträchtliche Mühen auf sich genommen, um diesen Kuchen zu retten.“

Holly beugte sich vor und nahm den Bissen. Obenauf waren Erdbeeren, deren Süße den frischen cremigen Geschmack der Käsesahnefüllung hervorragend ergänzte. Mit der Zunge leckte sie sich ein Krümelchen ab. Das unverhüllte Verlangen in Clays Augen ließ ihre Haut prickeln. Beinahe hätte sie sehnsüchtig aufgestöhnt, als er mit dem Daumen über ihren Mundwinkel strich.

„Und, wie war es?“, fragte er heiser.

„Es … es war köstlich.“

Clay legte seine Hand auf ihre Wange, die Intensität seines Blickes ließ sie bewegungslos innehalten. In Holly schrillten sämtliche Alarmglocken, als Clay seinen Kopf zu ihr neigte und sie küsste. Langsam verblasste der Ballsaal, bis sie nur noch seine Finger wahrnahm, die sanft über ihre Wangen strichen, und seinen warmen Mund auf ihren Lippen. Besser als Käsekuchen, besser als Champagner, besser als alles, was sie sich vorstellen konnte. Sie wollte nur noch, dass dieser Kuss immer weiter und weiter und weiter ging …

Stattdessen öffnete sie widerwillig die Augen, als Clay sich zurückzog, und sah ihm in das attraktive Gesicht.

„Ich kann dir nur zustimmen“, murmelte er, „köstlich!“

4. KAPITEL

Clay lehnte sich entspannt in dem Ledersitz der Limousine zurück. Die Party war eindeutig ein Erfolg gewesen. Dass Holly ihn begleitet hatte, war noch ein weiterer Grund, dass er die Feier so genossen hatte. Auf der Fahrt zu ihrem Apartment war sie plötzlich schweigsam geworden.

Die Erinnerung an ihren Kuss ließ ihn einfach nicht los. Clay hatte Holly überrumpelt – aber das hatte sie nicht daran gehindert, seinen Kuss zärtlich zu erwidern. Allein der Gedanke daran beschleunigte seinen Herzschlag. Der Erfolg dieses Abends ließ ihn hoffen, dass sein Glück weiter anhalten würde.

„Die Party war wundervoll.“ Hollys höflicher Ton schuf eine unerwünschte Distanz. „Ich danke dir von Herzen. Und was du für die Kinder getan hast …“

„Holly, ich bin froh, dass ich es getan habe“, unterbrach er sie. „Aber darum ging es heute Abend nicht. Mir jedenfalls nicht.“

Er wartete darauf, dass sie dasselbe sagen würde. Dass sie zugeben würde, nicht nur aus Dankbarkeit mit ihm gekommen zu sein. Aber sie schwieg. Seine Zuversicht schwand. Noch einmal versuchte er es. „Ich habe dich eingeladen, weil du eine schöne, begehrenswerte Frau bist.“

Bei diesen Worten stockte Holly der Atem, und sie wandte ihr Gesicht zum Fenster. Sie war ihm so nah. Nahe genug, dass der Duft ihres Parfums seine Sinne reizte. Nahe genug, dass er mit dem Finger ihr Bein entlangstreichen könnte, das er durch den aufreizenden Schlitz ihres Rockes sehen konnte. Aber obwohl nur ein paar Zentimeter Abstand zwischen ihnen waren, hielt sie eine Distanz aufrecht, die er nicht überwinden konnte.

„Die Weihnachtsfeiertage sind eine magische Zeit, nicht wahr?“, fragte sie sanft. Ihre ganze Aufmerksamkeit schien den festlich geschmückten Schaufenstern zu gelten. „Die weihnachtlichen Dekorationen, das Einkaufen der Geschenke, die Planung des perfekten Festtagsmenüs. In dieser Zeit ist alles wunderbar, aber wenn es vorbei ist, fühlt man sich immer enttäuscht.“

Zwischen den Zeilen konnte Clay das lesen, was Holly nicht sagte. Für sie beide gab es nur diese eine Nacht. Die Zurückweisung traf ihn unvorbereitet.

Aber er hatte einen kurzen Einblick in Hollys Leben erhascht, in ihre Liebe und ihre Selbstlosigkeit gegenüber den Kindern vom Hopewell House. Sie war nicht der Typ für eine lockere Affäre. Und für mehr hatte er durch sein Engagement für das Unternehmen keine Zeit.

Und selbst wenn er sich diese Zeit nahm: Seine Ehe hatte ihm bewiesen, dass er auf lange Sicht eine Frau nicht glücklich machen konnte. Für sie beide wäre es das Beste, wenn er Holly jetzt gehen ließ.

Warum konnte er es nicht?

„Ich weiß, was du meinst. Die Enttäuschung, wenn ein Moment, der so strahlend begonnen hat, dann zu Ende geht, ist immer groß. Aber du hast dabei etwas Wichtiges vergessen.“

Holly schluckte, wandte sich ihm zu und wisperte: „Und was?“

„Die Feiertage haben gerade erst angefangen.“

Im wechselnden Licht der Straßenbeleuchtung konnte er erkennen, wie Hollys Augen sich weiteten und sie auf seine Lippen schaute. „Clay …“

Es klang weniger wie ein Protest, sondern mehr wie eine Bitte – die ihn sofort erregte. Ihre Locken kitzelten seine Finger, als er Holly die Hand auf den Nacken legte und sie an sich zog. Ihre Lippen waren für ihn halb geöffnet, und heißes Verlangen überwältigte ihn bei der ersten Berührung. Er sank tiefer in den üppigen Ledersitz und zog Holly mit sich. Er streifte ihre Lippen mit seinem Mund, aufreizend, kostend, verlangend, sich wieder zurückziehend … und sie ging auf ihn ein. Ihre Hände klammerten sich an seine Schultern, sanft drängend. Ihre Zunge lockte ihn mehr und mehr.

Hollys Brüste schmiegten sich an seine Brust, und mit seiner freien Hand umfasste Clay ihre Taille. Er wollte ihre nackte Haut spüren, wollte die leisen Laute ihrer Lust hören, wenn ihr Körper seinen willkommen hieß.

In einem Winkel seines Verstandes bemerkte er, dass das Auto sich nicht mehr bewegte. Er hätte dem Fahrer gerne ein Zeichen gegeben weiterzufahren. Irgendwohin, so weit weg, dass Holly und er nie wieder die Türen zur Wirklichkeit öffnen müssten.

Doch als er sich widerwillig von ihr löste, sah er das Bedauern in ihren Augen, sah, dass die Wirklichkeit sie wieder eingeholt hatte. Sofort zog sie sich von ihm zurück und stammelte: „Das hätte nicht … wir hätten nicht …“

Das Deckenlicht flammte auf, als die Wagentür geöffnet wurde. Der grelle Schein ließ Clay blinzeln. Ohne zu warten und ohne die Hilfe des Fahrers kletterte Holly hastig aus dem Wagen. In zwei, drei langen Schritten hatte Clay sie eingeholt und hielt sie am Arm fest. „Ich bringe dich bis zur Tür“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Schweigend betraten sie das Gebäude und stiegen die Treppe hoch. Vor ihrem Apartment drehte Holly sich zu Clay um. Er erwartete keine Einladung, gab aber trotzdem nicht auf. Nicht nach diesem Kuss.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so weit gehen würde. Wie auch? Kein Kuss hatte ihn je so weit gebracht.

„Ich möchte dich wiedersehen, Holly.“

„Clay, wir haben nichts miteinander gemein“, protestierte sie. „Nichts…“

„Nichts außer einer explosiven sexuellen Anziehungskraft.“

Sie schlug die Augen nieder. Aber nicht schnell genug, um die Bestätigung in ihrem Blick zu verbergen. Dennoch schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht. Es tut mir leid.“ Sie schlüpfte in ihr Apartment, flüsterte nur noch „Frohe Weihnachten!“ und schloss die Tür.

Clay blieb im kalten Flur stehen. Gerade als er gehen wollte, fiel ihm ein, dass er sein Kostüm in ihrem Apartment gelassen hatte.

Mit einem letzten Blick auf Hollys Tür lächelte er und sprang die Treppe hinunter. Zumindest hatte er jetzt einen Grund, sie wiederzusehen.

„Hier kommt der Weihnachtsmann …“

Als Clay am Schreibtisch seiner Assistentin vorbeiging, hörte er sie leise singen. Er schoss ihr einen warnenden Blick zu, den sie nicht zur Kenntnis nahm.

Sie war wie ein Hund, der sich in einen Knochen verbissen hat, seitdem Clay am Montagmorgen ins Büro gekommen war und dort schon sein Kleidersack hing. Holly hatte Marie das Weihnachtsmannkostüm gebracht und ihm damit die Erklärung überlassen, wie es in Hollys Apartment gekommen war.

So viel dazu, Holly wiederzusehen, dachte Clay. Das war wohl das endgültige Aus. Unglücklicherweise ging ihm Holly einfach nicht aus dem Kopf. Viel zu oft schlich sie sich in seine Gedanken. Selbst dann, wenn er sich auf Geschäftliches konzentrieren wollte.

„Ach, komm schon!“ Marie folgte ihm in sein Büro, nahm die Plastikabdeckung von einem der Stühle und setzte sich. „Warum willst du mir nichts von dir und Holly erzählen?“

„Es gibt kein ‚ich und Holly‘. Sie hat mir einen Korb gegeben.“ Weil seine Assistentin ihn nur schweigend musterte, fragte er nach: „Nun?“

„Ich glaube, das überrascht mich nicht so sehr.“

„Vielen Dank auch! An dich wende ich mich bestimmt nicht, wenn ich auf Komplimente aus bin.“

Marie lachte. „So habe ich das nicht gemeint. Ich glaube nur, du bist nicht der Typ, mit dem Holly sich verabredet.“

Der Gedanke, dass Holly sich mit anderen Männern verabredete, sagte Clay nicht besonders zu. Sie hatte ihn abblitzen lassen, und das bedeutete für ihn, sie würde sich mit überhaupt niemandem treffen. „Und was für ein Typ wäre das?“

„Die meisten Männer laden ein Mädchen beim ersten Treffen ins Kino ein. Du hast Holly zu einem festlichen Dinner mit hundert Leuten eingeladen, die sie überhaupt nicht kannte.“

„Ich wollte wirklich nicht, dass sie sich unwohl fühlt.“ Aber er hatte sie bedrängt, in der Überzeugung, er könne Holly ihre Befangenheit nehmen. Offensichtlich hatte er versagt.

„Ich will damit nur sagen: Du lebst auf der Überholspur, und Holly fürchtet, dass sie nicht mithalten kann.“ Marie stand auf. „Und keiner bleibt gerne zurück.“

Beim Hinausgehen schloss sie die Tür hinter sich. Seine Behauptung, Marie sorge dafür, dass er nicht zu sehr abhebt, war kein Scherz gewesen. Er konnte immer auf sie zählen – und war ihr dafür mehr als dankbar.

Clay lächelte. Ihm war gerade die perfekte Möglichkeit eingefallen, wie er Marie seine Dankbarkeit zeigen konnte.

Die Glocke über der Tür klingelte, und Holly rief: „Ich bin gleich für Sie da!“ Sie legte das letzte Blumengesteck in den Kühlschrank und drehte sich mit einem professionellen Lächeln um. „Womit kann ich Ihnen …“

In der Türöffnung stand Clay Forrester. Fast jeder Quadratzentimeter des Ladens war mit Blumen und Pflanzen bedeckt, und Clay musste sich unter einem Philodendron durchducken, als er in das Geschäft hineinging.

Inzwischen war Holly davon überzeugt, dass ihre Fantasie ihr in jener magischen Nacht einen Streich gespielt hatte. Seine Augen waren nicht so blau, seine Schultern nicht so breit, und sein Lächeln war sicher auch nicht so umwerfend. Und tatsächlich: Ihre Erinnerung hatte sie getäuscht. In Wirklichkeit war seine Wirkung auf sie war noch weitaus verheerender …

„Hallo, Clay!“

„Hallo!“ Interessiert sah er sich im Laden um. „Ich möchte Blumen bestellen.“

„Blumen?“ Ihr Gesicht brannte vor Verlegenheit. „Oh, ich verstehe.“ Die Schultern gestrafft, gab sie sich ganz professionell. „Hier kannst du dir ein paar Beispiele anschauen.“

Holly schlug ein Buch auf, das auf der Ladentheke lag. Sie hatte sich zurückziehen wollen, während er die Fotos verschiedener Blumenarrangements betrachtete. Clay stellte sich jedoch sofort hinter sie, sodass sie zwischen der Theke und seinem Körper gefangen war. Der dezente Duft seines Eau de Cologne mischte sich mit dem der Gardenien, die in der Nähe standen – eine Kombination von Männlichkeit und Weiblichkeit. Holly spürte, wie ihre Knie weich wurden, und hielt sie sich an der Theke fest.

Sofort aufhören! Er kauft hier Blumen für eine andere Frau!

„Wie wäre es damit?“ Ihre Stimme schwankte verdächtig, als sie blindlings auf ein exotisches Gesteck aus Orchideen wies.

„Nicht schlecht“, murmelte er.

Holly zwang sich dazu, tief Luft zu holen – obwohl sie dabei zugleich seinen verlockenden Duft einatmen musste – und blätterte eine Seite weiter. Das Buch schien kein Ende zu nehmen, bis Clay ihr auf einmal den Arm um die Taille legte und auf ein Foto zeigte: „Wie wäre es damit?“

„Ähh …“ Blinzelnd versuchte sie, das Bild klar zu erkennen.

Clay hatte ein Gesteck ausgesucht aus Margeriten, Iris und roten Gartennelken in einem braunen Weidenkörbchen. Eine gelbe Schleife rundete das Arrangement ab. „Sehr nett“, bestätigte Holly.

„Das nehme ich.“

Ein leiser Seufzer der Erleichterung entfuhr Holly, als Clay ein paar Schritte zurücktrat. Aus einer Schublade nahm sie eine Karte mit Umschlag, die er beschriften sollte. Mit einiger Mühe widerstand sie der Versuchung, einen Blick auf das zu werfen, was er schrieb. Schließlich war es nicht ihre Sache, wem er Blumen schickte. Nur ein einziges Mal waren sie zusammen ausgegangen. Ein zweites Treffen hatte sie abgelehnt – wie ihr jetzt wieder schmerzlich bewusst wurde. Jedenfalls hatte sie keinen Grund, eifersüchtig zu sein.

„Wohin sollen die Blumen geliefert werden?“

„In mein Büro. Sie sind für Marie.“

„Oh. Für Marie.“ Statt Eifersucht flatterten plötzlich lauter fröhliche Schmetterlinge in ihrem Bauch.

Clay sah kurz auf seine Uhr. „Es ist schon fast zwölf. Hättest du Lust, etwas zu essen?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.“

Er zuckte mit den Achseln. „Hey, das ist nicht meine Idee. Mittags etwas zu essen, wird schon seit Jahren praktiziert.“ Als sein Scherz nicht die beabsichtigte Wirkung zeigte, fuhr er fort: „Nur eine Kleinigkeit in einem Sandwichshop ein paar Häuser weiter. Ehrenwort. Garantiert keine Trinksprüche mit Champagner.“

Seine Worte überraschten sie. Obwohl sie hätte wissen müssen, dass er ihr Unbehagen gespürt hatte. Clay war wirklich zu gut, um wahr zu sein.

„Ich kann erst gehen, wenn Marilyn aus der Pause zurück ist“, erklärte sie stattdessen zu ihrer eigenen Überraschung. „Ich könnte zu dir ins Büro kommen, wenn sie wieder zurück ist.“

„In Ordnung. Dann sehen wir uns nachher.“ Er winkte ihr kurz zu, bevor er wieder unter dem Philodendron in Richtung Ausgang tauchte.

„Bis nachher“, wiederholte sie leise, während das Gefühl froher Erwartung schon von einem schwachen Warnton begleitet wurde.

An einem Ecktisch fanden Holly und Clay in dem überfüllten Deli ein einigermaßen ruhiges Plätzchen, um sich zu unterhalten. Sie hatte ein Putensandwich bestellt, er eins mit Pastrami und scharfem Senf. Beim Essen unterhielten sie sich locker über ihre Lieblingsgerichte, Musik und Filme. Zu Hollys Überraschung hatten sie viel miteinander gemein. Langsam begann Holly, den wahren Mann unter der eleganten Verkleidung zu erkennen.

Erst nach dem Essen wurde die Unterhaltung etwas ernsthafter, als Clay noch einmal die schier unendliche Arbeit in seiner Firma erwähnte. Um Zeit zu gewinnen, rührte sie ihren Tee um. Denn sie spürte, dass sein Ärger noch andere, tiefere Ursachen hatte. „Auf der Party hast du schon über Veränderungen gesprochen. Und ich hatte nicht das Gefühl, dass du über Renovierung und neue Möbel sprichst“, sagte sie vorsichtig.

„Nein“, seufzte Clay, „es geht nicht darum, mein Büro umzugestalten. Es geht um die alte Firmenphilosophie, aus dem Elend anderer Profit zu schlagen. Ich will nicht davon leben, eine unangenehme Situation noch zu verschlechtern. Ich will in eine Firma gehen, das Problem analysieren und es dann für alle zufriedenstellend beheben.“

Holly wusste kaum, was sie mehr überraschte: Clays Einstellung zu seiner eigenen Firma oder sein Plan, die Richtung völlig zu ändern. Doch Clay verstand ihr Erstaunen völlig falsch.

Lächelnd fuhr er fort: „Tut mir leid. Schlechte Angewohnheit. Normalerweise habe ich meine Lektion gelernt: keine langweiligen Unterhaltungen über Geschäftliches.“

„Nein, nein, das ist es nicht“, protestierte Holly. „Ich langweile mich nicht. Ich bin nur … erstaunt.“

„Ich bin nicht sicher, dass daran etwas Erstaunliches ist.“

„Ich weiß nicht, wie man es sonst nennen sollte.“ Falls Holly nicht schon vorher davon überzeugt gewesen wäre, dass Clay wirklich erstaunlich war, hätte sie dessen letzte Enthüllung endgültig davon überzeugt. „Obwohl ich eigentlich nicht überrascht sein sollte. Nicht, nachdem du das Problem des verschwundenen Weihnachtsmannes für die Hopewell-Kinder so wunderbar gelöst hast.“

„Ein Santa, der durch meine Schuld abhandengekommen war“, stellte er richtig.

„Ja, aber du wusstest ja nicht …“

„Weil ich mir nicht die Mühe gemacht habe, nachzufragen. Genauso wenig habe ich die Art und Weise hinterfragt, wie mein Vater die Firma führte. Alles war unterteilt in Schwarz und Weiß. Oder besser gesagt, in Rot und Schwarz. Ein Unternehmen war in Schwierigkeiten, ‚Forrester Industries‘ kaufte es auf, setzte die eigenen Leute rein, um es zu retten – wenn wir konnten. Oder verkauften es, wenn es nicht zu retten war.“

„Aber so einfach ist es nicht, oder?“

„Nein, das ist es nicht. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Geschäftsführung meines Vaters nicht doch irgendwie moralisch war. Ein paar Wochen nach dem Tod meines Vaters kam ein Mann in das Gebäude, und einiges, was er sagte …“

„Ich war an dem Tag im Haus“, unterbrach ihn Holly. Als Clay sie anblickte, erklärte sie schnell: „Ich wollte nicht heimlich lauschen. Ich war dabei, den Laden zu schließen. Und der Mann war nicht zu überhören.“

Clay lehnte sich über den Tisch, bis dieser fast verschwunden schien. „Ich wollte alles abstreiten. Ich wollte sagen, dass mein Vater niemals gelogen hätte, dass er keine falschen Versprechungen gemacht hätte. Und wenn er die Firma nicht hätte retten können, dann nur, weil sie eben nicht zu retten war. Das war es, was ich sagen wollte, was ich glauben wollte.“

„Aber du hast es nicht geglaubt.“

„In Wahrheit hätte mein Vater alles getan oder gesagt, um das zu bekommen, was er wollte. Wenn er die Firma hätte retten können – großartig. Aber er hätte jedes Versprechen in Sekundenschnelle gebrochen, wenn für ‚Forrester Industries‘ dabei harte Dollars rausgesprungen wären.“

„Und das alles wirst du ändern?“

Clay lachte. „Ich wünschte, jeder hätte so viel Vertrauen wie du.“

Holly spürte, wie sie rot wurde. Sie wollte hier nicht die anfeuernde Cheerleaderin spielen. Doch Clays Entschlossenheit war überzeugend genug, um an seinen Erfolg zu glauben. „Ich denke, du kannst alles erreichen, was du dir in den Kopf gesetzt hast. Aber es braucht seine Zeit. Es ist nicht leicht, die Vergangenheit loszulassen.“

„Das ist der schwerste Teil. Als Kind habe ich gedacht, meine Eltern wüssten alles. Nie haben sie irgendwelche Fehler gemacht. Jetzt als Erwachsener muss ich feststellen, dass mein Vater alles andere als perfekt war. Aber es tut weh zu sehen, wie er von seinem Sockel gestürzt wird. Verstehst du?“

Holly sah in Clays Augen. Erstaunlich blaue Augen, die Verständnis erwarteten. Sie geriet in Panik. Die eben noch bestehende enge Verbundenheit war plötzlich gekappt wie ein dünner Draht. Nur eine Kleinigkeit, aber seine Worte erinnerten sie daran, dass sie anders war. Sie hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass Kinder ihre Eltern auf Sockel stellten, um zu ihnen aufsehen zu können.

Sie wusste überhaupt nichts von normalen Familien.

Überstürzt griff sie nach ihrer Handtasche, zog eine Zehndollarnote heraus und warf sie auf den Tisch. „Ich muss wieder an die Arbeit.“

Überrascht lehnte Clay sich zurück, als sie vom Stuhl aufsprang. „Was? Holly, warte doch! Lass uns zusammen gehen!“

„Ist schon in Ordnung!“ Sie warf sich den Mantel um die Schultern. „Ich bin dann weg.“

Sie hastete durch das volle Lokal, durch die Glastür in das Schneetreiben hinaus, bevor er auch nur die Chance hatte, um die Rechnung zu bitten. Ihren Mantel fest umklammernd rannte sie durch den eisigen Wind und blinzelte mit tränenden Augen.

Niemals hätte sie mit Clay essen gehen sollen. Die Unterschiede zwischen ihnen lagen außerhalb von Reichtum und sozialem Status. Clay war ein Mann mit starken familiären Bindungen, sie dagegen hatte weder Familie noch sonstige Verbindungen.

Das hättest du ihm sagen können, flüsterte ihr Gewissen vorwurfsvoll.

5. KAPITEL

„Wenn ich jedes Mal Blumen bekomme, wenn du mit Holly ausgehst, plane ich für euch jeden Tag ein gemeinsames Mittagessen!“, rief Marie fröhlich, als Clay das Büro betrat.

Das Gesteck prangte mitten auf ihrem Schreibtisch und füllte den Raum mit Farbe und einem kräftigen Blumenduft, der ihn an Holly erinnerte. „Es war nur ein schlichtes Mittagessen. Mach da bloß nichts Großartiges draus.“ Die Warnung war nicht nur für Marie, sondern vor allem für ihn selbst gedacht.

So schnell, wie Holly aus dem Deli gestürzt war, bezweifelte er, dass sie sich noch einmal treffen würden. Schon zum zweiten Mal war sie geradezu vor ihm davongelaufen. Nach Victoria, die nur seinen Namen und seinen sozialen Status wollte, hatte er sich jetzt in eine Frau verliebt, die ihn überhaupt nicht wollte.

Verliebt?

Nein, auf gar keinen Fall. Den Gedanken schob Clay ganz schnell beiseite. Es gab anderthalb Verabredungen, falls das Mittagessen überhaupt zählte, und ein paar erstaunliche Küsse. Das war wohl kaum etwas, das auf eine ernsthafte Beziehung hinauslief.

„Erfreu dich noch an deinen Blumen, Marie“, rief er seiner Assistentin über die Schulter zu und wollte in sein Büro verschwinden.

„Warte, Clay. Ich habe vergessen, dir zu sagen, dass Albert Jensen in deinem Büro auf dich wartet.“

Na, großartig, dachte Clay, ließ sich seinen Ärger aber nicht anmerken, als er dem älteren Mann zunickte. „Jensen.“ Er ging um seinen Schreibtisch herum und deutete auf den mit einer Plastikplane abgedeckten Stuhl. „Nehmen Sie doch Platz.“

Mit äußerstem Missfallen sah Jensen sich in dem unordentlichen Büro um. „Ich stehe lieber.“ Er kam auch gleich auf den Punkt: „Bevor Sie hier übernommen haben, hat Ihr Vater sein Interesse an ‚JW Shipping‘ bekundet.“

Interesse bekundet. Eine verdammt kuschelige Umschreibung für das, was sein Vater wirklich gemeint hatte. Wenn „Forrester Industries“ sein Interesse an einem Unternehmen bekundete, war es dasselbe, als wenn Attila, der Hunnenkönig, ein Nachbarland anvisierte.

So war es zumindest bisher gewesen.

„Die Gesellschaft war in Schwierigkeiten, aus denen sie sich aber befreit hat.“

Jensen fegte das Argument beiseite. „John Westfell hat sich einen Kredit erschlichen, um die dringendsten Schulden zu begleichen. Eine kurzfristige Notlösung, die das Unvermeidliche nur hinauszögert. Jetzt ist es an der Zeit zuzuschlagen.“

„Ich habe Ihnen schon gesagt, Albert, auf diese Weise macht unser Unternehmen keine Geschäfte mehr.“

Jensens Gesicht wurde rot vor Zorn. „Dieses Unternehmen wird bald überhaupt keine Geschäfte mehr machen, wenn Sie solche todsicheren Gelegenheiten nicht wahrnehmen.“ Er holte tief Luft und versuchte es mit einem überzeugenden Ton. „‚JW Shipping‘ geht unter. Wenn wir die Firma nicht übernehmen, können Sie sicher sein, dass unsere Konkurrenz es tut.“

Sosehr Clay es auch zuwider war, er musste zugeben, dass Jensen recht hatte. Nichts zu unternehmen, würde ihm vielleicht ein gutes Gewissen vermitteln, das Schifffahrtsunternehmen aber nicht retten. Plötzlich fiel ihm die Unterhaltung mit Holly im Deli wieder ein.

Es ist nicht leicht, die Vergangenheit loszulassen.

Verdammt, sie hatte recht. Er hatte sie nicht losgelassen. Jensen führte die Geschäfte wie üblich fort, und die Firmen, die Clay nicht übernehmen wollte, wurden einfach von der Konkurrenz geschluckt. Letzten Endes hatte sich überhaupt nichts geändert.

„Wissen Sie was, Albert? Sie haben recht!“

Der Mann stoppte mitten in seiner Schimpftirade und sammelte sich. Mit aufgeblähter Brust nickte er gewichtig. „Es wurde auch Zeit, dass Sie die Dinge endlich klarer sehen. Was nun ‚JW Shipping‘ betrifft …“

„Rufen Sie John Westfell an und sagen Sie ihm, wir wären an einer beschränkt haftenden Teilhaberschaft interessiert.“

„An einer was?“ Jensen Brust blähte sich noch weiter auf, und Clay wartete jeden Moment darauf, dass er platzte.

„Eine Teilhaberschaft. Wie Sie schon sagten: Eine andere Gesellschaft wird sie übernehmen, wenn wir nichts tun.“

„So habe ich das nicht gemeint. Ihr Vater hatte nicht die Absicht, ein Wohltätigkeitsinstitut zu leiten, das Firmen vor dem Untergang rettet.“

„Ich weiß“, gab Clay zu. „Und ich weiß auch, dass sich alles ändern wird. Dies ist nicht mehr seine Firma, Albert, es ist meine. Mit der Zeit wird es mehr Geld einbringen, Firmen wie ‚JW Shipping‘ zu retten, als sie zu zerstören.“

Falls Sie sie retten“, spottete Jensen. „Und wenn nicht, haben Sie sich an ein absaufendes Unternehmen gekettet, das Sie mit in den Untergang zieht. Zum Teufel, das wäre genau das, was Sie verdienen. Aber ich will verdammt sein, wenn ich dabei zuschaue.“

Mit einem Blick auf Jensen, der rechten Hand seines Vaters, fasste Clay einen Entschluss. Er konnte an der Vergangenheit festhalten oder alte Verbindungen kappen und in die Zukunft schauen. „Gut. Ich akzeptiere Ihre Kündigung.“

Zu seiner Ehre musste man sagen, dass Jensen nur kurz zusammenzuckte. Dann schüttelte er angewidert den Kopf. „Ich habe ja schon immer gesagt: Sie sind nicht wie Ihr Vater.“

„Und das“, erwiderte Clay, „ist wohl das Einzige, worüber wir einer Meinung sind.“

Jensen stürmte aus dem Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Auf Clay wirkte es, als schließe sich die Tür zur Vergangenheit. Die Verspannung wich aus seinen Schultern. Stattdessen fühlte er sich von freudiger Aufregung erfüllt. Er griff zum Telefon und entwarf neue Pläne.

Eine halbe Stunde später legte er auf und lächelte befriedigt. Er hatte ein Projekt, hinter dem er stand.

Jetzt war ihm nach Feiern zumute. Besser gesagt: nach Feiern mit Holly. Sie war die Einzige, mit der er seinen Erfolg teilen wollte. Und obwohl er sie erst vor einer Stunde gesehen hatte, wollte er sofort nach unten in den Blumenladen eilen. Ganz entgegen seiner früheren Entscheidung, sich zurückzuhalten.

Ich glaube, du kannst alles erreichen, was du dir in den Kopf gesetzt hast, hatte Holly gesagt.

Clay hoffte, dass sie recht hatte. Vor allen Dingen, weil er sich Holly in den Kopf gesetzt hatte.

Eleanor Hopewell öffnete auf Clays Klopfen, ihr Lächeln war freundlich, aber fragend. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Er war im Blumengeschäft gewesen, um mit Holly zu reden, aber ihre Kollegin hatte ihm mitgeteilt, dass sie am Nachmittag freigenommen hatte, um ihrer ehrenamtlichen Arbeit nachzugehen. Clay wusste genau, wo er sie finden würde. „Ist Holly Bainbridge hier?“

Die ältere Frau runzelte die Stirn. „Darf ich fragen, wer sie sprechen will?“

Er widerstand der Versuchung, „Santa Claus“ zu sagen. „Clay Forrester.“

„Mr Forrester!“ Eleanors Augen blitzten hinter den Brillengläsern auf. „Das tut mir sehr leid. Ich habe Sie nicht erkannt. Bitte kommen Sie doch rein!“ Sie hielt ihm die Tür auf. „Wir müssen uns wirklich noch einmal für Ihre Hilfe letzte Woche bedanken. Es hat den Kindern so viel bedeutet und auch Holly.“

„Mir hat es Spaß gemacht“, erklärte er ihr und war darüber selbst ganz überrascht.

„Kids schaffen es tatsächlich, das Kind in uns selbst wieder zu entdecken. Ich wünschte, mehr Leute würden erkennen, dass man durch ehrenamtliche Arbeit selbst genauso viel bekommt, wie man gibt.“

Wenn er an die Freude in Hollys Augen dachte, wusste Clay, dass sie dem zustimmen würde. „Holly verbringt hier sehr viel Zeit, oder?“

„Oh ja! Meine Schwester und ich leiten Hopewell House seit Jahren, aber Holly hat ein Einfühlungsvermögen, das unsere Erfahrung übertrifft.“ Eleanor musterte ihn forschend. Er war nicht sicher, wonach sie suchte, aber offenbar war sie mit dem zufrieden, was sie gefunden hatte. „Sie ist selbst in Heimen aufgewachsen, wissen Sie.“

Er hatte es nicht gewusst. Kein Wunder, dass Holly so überstürzt aufgebrochen war. Bei ihrem Mittagessen hatte er hauptsächlich von seiner Beziehung zu seinem Vater gesprochen. Sie hatte seine komplizierten Gefühle so gut verstanden. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass sie ohne Familie aufgewachsen war.

„Davon hatte ich keine Ahnung …“

„Holly spricht selten über ihre Kindheit. Meine Schwester und ich, zusammen mit den Kindern, sind für sie so etwas wie eine Familie. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr in die Küche.“

Clay hätte nur dem Duft zu folgen brauchen. Ein Geruch nach Butterplätzchen lag in der Luft und zog ihn an, bis er im Türrahmen stehen blieb.

Holly arbeitete an der Theke in der Mitte der Küche. Ihr dunkles Haar war aufgesteckt, einige Strähnen hatten sich gelöst und rahmten ihr Gesicht ein. Eine Wange war mit Mehl gepudert, und ihre Arme steckten bis zu den Ellbogen in Plätzchenteig.

Kinder standen auf Stühlen um die Theke herum. Sie arbeiteten wie am Fließband – ein ziemlich geräuschvolles und bekleckertes Fließband. Ein Kind, die musikalische Mary Jane, strich eine dicke Schicht Zuckerguss auf einen Keks. Den reichte sie weiter an das Kind daneben, das noch bunte Zuckerstreusel obendrauf gab. Das nächste Kind legte den farbenfrohen Leckerbissen auf ein schon ziemlich volles Tablett.

„Ihr macht das wirklich fantastisch!“, rief Holly. Sie verteilte Mehl auf der Arbeitsfläche, nahm ein Nudelholz und rollte noch mehr Teig aus. „Was sollen wir als Nächstes machen? Sterne, Rentiere oder Santas?“

Als alle drei Kinder „Santas!“ schrien, verspürte Clay einen völlig absurden Anflug von Stolz.

Jetzt trat Eleanor in die Küche. „Kinder, wir haben Besuch.“ Alle blickten auf Clay, aber der nahm bewusst nur ein smaragdgrünes Augenpaar wahr. „Das ist Mr Clay, ein Freund von Miss Holly.“

Clay bemerkte, wie Holly errötete, bevor sie den Kopf senkte. Sie trug ein rotes Sweatshirt mit einem Schneemann und dazu Jeans. Am Rande vernahm er die höfliche Begrüßung der Kinder. Doch nur der Klang von Hollys Stimme kam wirklich bei ihm an. „Was machst du denn hier, Clay?“

„Ich habe gehört, dass ein paar von Santas Helfern die besten Plätzchen in der Stadt machen.“ Er blinzelte den Kindern zu. „Da konnte ich nicht widerstehen.“

„Wenn mit euch hier alles in Ordnung ist“, meldete Eleanor sich, „werde ich mich jetzt um die Wäsche kümmern, solange die Kleinsten noch unten ihren Mittagsschlaf machen.“

Es gefiel Clay, wie sie ihn mit einbezog, als ob er dazugehörte. Bevor Holly etwas sagen konnte, antwortete er: „Wir kommen hier prima klar.“

Mit einem verschwörerischen Blinzeln in Clays Richtung verließ Eleanor die Küche. Ganze zwei Sekunden konnte er sich in seiner Selbstgefälligkeit sonnen. Dann zerrten kleine, klebrige, mit Zuckerguss überzogene Finger an seiner Hand. „Willst du uns helfen, Mr Clay?“, fragte Mary Jane.

„Äh …!“ Backen? Der Gedanke versetzte ihn in Panik. Zur Not konnte er ein Steak grillen, aber … Plätzchen?

„Mr Forrester ist nicht hier, um uns beim Plätzchenbacken zu helfen“, antwortete Holly an seiner Stelle. Fragend hob sie eine Augenbraue. Warum bist du hier?

Um dir von dem Meeting zu erzählen, das ich mit Westfell geplant habe, und was das für die Zukunft unser beider Firmen bedeuten könnte. Um von dir noch einmal zu hören, dass ich es schaffen kann. Denn wenn du es sagst, reicht mir das, um es selbst zu glauben.

Das alles und noch viel mehr wollte er sagen. Und er würde sich nicht von einem bisschen Mehl und Zucker und … was sonst noch in Kekse kommt, abhalten lassen. Er knöpfte die Manschetten auf und krempelte die Ärmel hoch. „Miss Holly hat recht. Ich bin nicht zum Plätzchenbacken gekommen, aber da ich nun einmal hier bin …“, er warf ihr einen schrägen Blick zu, „ist es nur gerecht, wenn ich mit anpacke.“

Eine Stunde und viele Plätzchen später trug Clay den letzten Teller zur Spüle. „Deine Heinzelmännchen haben dich verlassen.“

Holly stellte den Mixer weg und sah sich in der leeren Küche um. „Sie neigen dazu, sich in alle Winde zu zerstreuen, wenn’s ans Aufräumen und Saubermachen geht.“

Er drehte den Wasserhahn auf, gab Spülmittel mit Zitronenduft dazu und hob die Stimme, um das Rauschen zu übertönen: „Sieht so aus, als ob du mit mir hier festsitzt.“

„Clay …“ Sie zögerte. „Warum bist du gekommen?“

Er drehte den Wasserhahn ab und wandte sich ihr zu. „Weil ich im Blumenladen war und Marilyn mir sagte, du wärst hier.“

„Du weißt, was ich meine“, erwiderte sie ernst. „Ich will nicht, dass die Kinder sich zu sehr an dich gewöhnen.“

„Ich glaube, sie könnten sich eher an die Kekse gewöhnen.“

Holly blieb ernst. „Sie zu enttäuschen, wäre das Schlimmste, was passieren kann.“

Er trat zu ihr. „Und du bist sicher, dass wir von den Kindern reden?“

Sie schluckte. Er sah die Verletzlichkeit und das Verlangen in ihren Augen, eine Mischung, die ihn völlig aus der Bahn warf. Ohne nachzudenken, zog er sie an sich und küsste sie.

Ihr Mund streifte kaum den seinen, aber allein diese federleichte Berührung weckte heißes Verlangen in ihm. Sein Puls hämmerte, glühende Hitze schoss in seine Lenden. Als Holly sich an ihn lehnte und sich an seinen Schultern festhielt, war Clay zu keinem klaren Gedanken mehr fähig.

Ihre Lippen öffneten sich, und er konzentrierte sich ganz auf ihren exquisiten Geschmack. Süßer Zuckerguss mischte sich mit Hollys eigenem weiblichen Geschmack. Ihre Zunge umspielten seine, und die Liebkosungen erregten ihn immer mehr. Mit einem unterdrückten Stöhnen ließ er seine Hände bis zu ihren Hüften gleiten. Blind ertastete er ihre sanften Kurven, die unter dem weiten Sweatshirt versteckt waren.

Beim Berühren der weichen, weiblichen Formen wurde er hart. Irgendwo in den Tiefen seines Verstandes wusste er, dass er und Holly in der Hopewell-Küche standen, nur durch einen Flur von zwei alten Damen und einem halben Dutzend Kinder getrennt. Mehr als ein Kuss durfte es nicht sein. Trotzdem ließ er seine Gedanken wandern, träumte von ihrer zarten Haut unter der Kleidung.

Er stellte sich vor, sie zu streicheln, und sein Kopf schien plötzlich von Rosenduft erfüllt zu sein. Aus Hollys Kehle drang ein kleiner sehnsüchtiger Ton, der Clay fast um den Verstand brachte vor Verlangen. Er musste nach Luft schnappen, als er den Kuss abbrach und mit den Lippen ihre Wangen streifte.

„Clay, bitte!“ Ihre raue Stimme voller unterdrückter Leidenschaft war ebenso verräterisch wie ihr stoßweiser Atem. „Bitte hör auf!“

Es dauerte einen Moment, bis ihre Bitte bei ihm ankam. Und ein Teil von ihm war sicher, sie missverstanden zu haben. Er lehnte seine Stirn an ihre und hielt eine Minute inne, um wieder zu Atem zu kommen.

Schließlich hob er den Kopf, und ein Blick auf ihr gerötetes Gesicht und ihre geweiteten Augen sagte ihm, dass er sie richtig verstanden hatte.

Beschämt sah sie sich suchend in der Küche um. Die Szenarien, die ihr durch den Kopf schossen, konnte er sich gut vorstellen. Leicht zu beeindruckende Kinder und altmodische Ladys. Was wäre geschehen, wenn jemand hereingekommen wäre? „Holly“, sagte er, und seine Stimme klang rauer als beabsichtigt, „es ist nichts passiert.“

Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu, und er bedauerte seine unglückliche Wortwahl, als sie sich von ihm losmachte und auf Abstand ging. „Ich meine, natürlich ist etwas passiert. Wir haben uns geküsst. Aber niemand hat sich in der Vorratskammer versteckt, um plötzlich herauszuspringen.“

„Ich weiß. Es ist nur, dass du mich dazu bringst …“ Ihre Stimme verlor sich, aber dabei konnte Clay es nicht belassen.

„Wozu habe ich dich gebracht?“, wollte er wissen und war gespannt, wie sie wohl diese unglaubliche Chemie zwischen ihnen beschreiben würde.

„Zu vergessen“, sagte sie schließlich.

Stirnrunzelnd wiederholte er: „Ich habe dich dazu gebracht zu vergessen?“

Sie nickte. „Ich sollte es eigentlich besser wissen. Aber du hast mich dazu gebracht, die Lektionen zu vergessen, die ich gelernt habe.“

Lektionen, in denen es um Kummer und Enttäuschung ging. Lektionen, die sie gelehrt hatten, nie mehr jemanden allzu nah an sich heranzulassen.

„Vielleicht ist das gar nicht mal so schlecht.“

Ihre Lippen waren zu einem traurigen Lächeln verzogen. „Vielleicht nicht. Aber es ist schwer zu vergessen, wer du bist. Oder in meinem Fall: wer und was ich nicht bin.“

Clay hatte keine Ahnung, wer sie nicht war, doch er wusste, wer und wie sie war. Sie war süß, liebevoll, verwundbar und weckte in ihm Beschützerinstinkte, die er zuvor noch nie an sich wahrgenommen hatte. „Holly …“

Weiter kam er nicht. „Holly, Liebes?“, erklang Eleanors Stimme wie ein Echo durch die Küchentür. Als die alte Dame eintrat, standen er und Holly nebeneinander und spülten einträchtig das Geschirr. „Holly, Catherine Hopkins ist hier. Ich dachte, du willst ihr vielleicht Hallo sagen.“

Hollys Hände erstarrten im Spülwasser. Sie räusperte sich. „Natürlich.“ Während sie nach einem Geschirrtuch griff, erklärte sie Clay: „Catherine ist als Fürsorgerin für einige der Kinder hier zuständig. Ich bin gleich wieder da.“

Weil Holly die Tür nicht geschlossen hatte, drangen Stimmen aus dem Flur bis in die Küche.

„Immer noch nichts von Lucas’ Familie?“, fragte Holly.

„Bis jetzt nicht. Seine Mutter behauptet, dass sein Vater nichts mit Lucas zu tun haben wollte. Aber nachdem sie verschwunden ist, lässt sich kaum feststellen, ob das stimmt.“

„Ich nehme nicht an … wenn Sie etwas gehört hätten …“ Hollys Zögern war auch im Flur noch zu spüren, genau wie das Mitgefühl der Sozialarbeiterin.

„Glauben Sie mir, Holly, ich würde meine Zeit nicht mit Small Talk vergeuden, wenn ich gehört hätte, dass Ihr Adoptionsantrag bewilligt wurde. Das wäre das Erste, was ich Ihnen sagen würde.“

„Ich weiß“, gab Holly mit einem etwas gequälten Lachen zu. „Aber das Warten fällt mir so schwer, wenn ich mich nur danach sehne, Lucas endlich zu mir nach Hause zu holen.“

Die Haustür wurde geöffnete, und Clay hörte, wie Holly sich von der anderen Frau verabschiedete. Rasch schloss er die Küchentür. Holly sollte nicht wissen, dass er ihr Gespräch belauscht hatte.

Holly würde eine fantastische Mutter sein. Nach dem, was er über ihre Kindheit erfahren hatte, wunderte es ihn nicht, dass sie ein Kind vor dem gleichen grausamen Schicksal bewahren wollte. Zweifellos würde sie Lucas mit Liebe überschütten.

Clay war noch ganz in Gedanken, als Sylvia Hopewell die Küche betrat. „Mr Forrester, ich war nach dem Essen unterwegs und habe mich sehr gefreut, als meine Schwester gesagt hat, Sie wären hier.“

„Ich bin vorbeigekommen, um Holly zu treffen, und konnte den Verlockungen von Zuckerplätzchen einfach nicht widerstehen.“

„Ach ja. Nichts schmeckt so sehr nach Weihnachten wie Zuckerplätzchen“, erinnerte sie sich. „Wie sehr haben meine Schwester und ich sie geliebt, als wir Kinder waren. So viele schöne Erinnerungen.“ Sylvia seufzte melancholisch. „Entschuldigen Sie, Mr Forrester. Das ist für uns alle eine sehr emotionale Zeit.“

In Clays Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. „Geht es Ihnen und Eleanor gut?“

„Oh ja, uns geht’s gut. Nein, nein, das ist es nicht, Gottseidank!“ Sie strich mit der Hand über die Arbeitsplatte. „In ein paar Wochen wird Hopewell House geschlossen.“

6. KAPITEL

„Sie können das Haus nicht schließen!“, platzte Clay heraus. „Wenn es daran liegt, dass Sie Hilfe brauchen oder mehr Geld …“

„Das ist es nicht. Es ist sehr freundlich von Ihnen, das anzubieten, aber ich fürchte, es ist zu spät.“

Zu spät? „Was passiert mit den Kindern?“

„Sie werden zu verschiedenen Pflegefamilien geschickt“, erklärte Sylvia. „Es ist schon alles arrangiert, aber die Kinder sollen erst nach den Feiertagen umziehen, damit wir noch ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest haben. Und damit das Unvermeidliche hinauszögern, fürchte ich.“ Sie seufzte. „Man würde meinen, dass wir nach all den Jahren gelernt hätten, uns zu verabschieden. Natürlich dachte ich immer, wir haben dabei ein Mitspracherecht.“

„Hat man Sie gezwungen, hier auszuziehen?“, fragte Clay voller Wut. Wie konnte man überhaupt daran denken, die Kinder voneinander zu trennen? Und von Holly.

Sylvia hob hilflos die Hände. „Es ist das Haus. Es trägt zwar unseren Namen, aber es gehört uns nicht. Wir haben es von einer wohlhabenden Familie gemietet, doch der ursprüngliche Eigentümer ist vor Kurzem gestorben, und sein Enkel hat das Haus an eine Immobiliengesellschaft verkauft.“

„Immobiliengesellschaft?“, wiederholte er.

„Ja, ‚Hendrix Properties‘.“

Die Worte versetzten ihm den Todesstoß. Sein rechtschaffener Ärger verwandelte sich in ein schlechtes Gewissen. Dank professioneller Beratung und einer Finanzspritze hatte die Firma, die fast pleite gewesen war, angefangen, nicht mehr Büro-, sondern stattdessen Wohnhäuser zu kaufen. Wegen der hohen Grundstückspreise war es profitabler, ältere große Häuser in Mehrfamilienhäuser mit Mietwohnungen umzuwandeln. Kevin Hendrix würde dabei reich werden.

Genau wie Clay. Schließlich war er es gewesen, der die Firma beraten und das Geld investiert hatte und der sich dabei einen ordentlichen Gewinn versprach.

„Mr Forrester?“ Die alte Dame beobachtete ihn besorgt. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

Clay zwang sich zu einem Kopfnicken. „Mir geht’s gut.“

Aber nachdem Sylvia verschwunden war, um Eleanor zu helfen, sah er sich in der behaglichen Küche um, die so viele verlorene Seelen willkommen geheißen hatte. Und er wusste, dass er weit davon entfernt war, sich gut zu fühlen.

Nur ein paar Minuten später ging die Küchentür auf, und Holly trat ein. Beim Gedanken daran, was er getan hatte, konnte er ihr kaum in die Augen sehen. Doch ein kurzer Blick genügte. Er konnte erkennen, welchen Tribut ihr Gespräch mit Catherine gefordert hatte. Hollys Augen strahlten nicht mehr, ihre Stirn war gerunzelt.

„Holly …“, begann er, aber sein Geständnis blieb ihm im Hals stecken. Noch hatte er selbst mit der schrecklichen Erkenntnis und seinen Schuldgefühlen zu kämpfen. Er konnte sich nicht überwinden, es ihr zu gestehen.

Mit einem fragenden Blick sagte sie: „Du hast mir noch nicht gesagt, warum du vorbeigekommen bist.“

„Ich … äh … bin gekommen, um mich bei dir zu bedanken. Was du beim Mittagessen gesagt hast, hat mir gezeigt, dass ich an der Vergangenheit festhalte.“

„Tatsächlich?“ Ihre Augen blitzten freudig überrascht auf. „Habe ich das getan?“

„Ja, das hast du“, antwortete Clay. „Du bist eine erstaunliche Frau, Holly.“

Eine sanfte Röte überzog ihre Wangen. „Es freut mich, wenn ich dir helfen konnte.“

„Dank deiner Äußerungen habe ich erkannt, dass ich im Geschäftsleben nicht einfach die Seiten wechseln und dann erwarten kann, dass alles andere wie von selbst geht. Damit es wirklich funktioniert, muss ich konsequent sein. Auch wenn das bedeutet, einen Angestellten zu verlieren.“

Erschrocken fragte Holly: „Jemand hat gekündigt?“

„Ja, Albert Jensen. Er war der beste Freund meines Vaters.“

„Das tut mir leid. Ich hasse den Gedanken, dass jemand seinen Job verliert.“

Typisch Holly, sich um jemanden zu sorgen, den sie gar nicht kannte. Kevin Hendrix hatte wahrscheinlich keinen Gedanken an die Kinder verschwendet, die er aus dem Haus vertrieb.

Lieber Gott, das musste er in Ordnung bringen. Aber wie?

„Ich habe mit Sylvia gesprochen.“ Die nächsten Worte brachte er kaum heraus. „Sie hat mir erzählt, wie sie dazu gezwungen worden sind, das Haus zu schließen.“

Die Sorgen schienen Hollys Schultern herunterzudrücken, und er wünschte, er hätte nichts gesagt. Wenn er den Hopewell-Schwestern helfen wollte, musste er jedoch wissen, was Kevin Hendrix getan hatte. Was er, Clay, ihm geholfen hatte zu tun.

„Vor dreißig Jahren haben die Hopewells damit angefangen, Kinder aufzunehmen. Sie haben hier so viel Gutes getan. Aber irgendwie sieht der Eigentümer die Dinge nicht wie ich.“

Ihre Verwirrung zeigte, wie unschuldig und gutherzig Holly war.

„Hast du mit Kevin Hendrix gesprochen?“, erkundigte er sich.

„Ich habe ihn angerufen, auch wenn es nichts genützt hat“, entgegnete sie bitter. „Er hat gesagt, es täte ihm leid, ich solle es nicht persönlich nehmen. Es sei rein geschäftlich. Und hätte er das Haus nicht gekauft, dann hätte es ein anderer getan. Als ob das die Sache besser machen würde.“

Genauso hatte Jensen argumentiert. Dank Hollys Ermutigung hatte Clay sich der früheren rechten Hand seines Vaters widersetzt. Zu schade, dass er das bei Kevin Hendrix nicht getan hatte. Er hätte ihn nach seinen Plänen fragen sollen, aber das hatte er nicht getan. Stattdessen hatte er nur daran gedacht, was er selbst erreichen wollte, und war dann gegangen. Er hatte sich ausschließlich auf das Geschäftliche konzentriert.

Wie sein Vater.

„Holly, ich … ich muss gehen. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

Erschreckt durch seine plötzliche Ankündigung, blinzelte Holly. „Oh, ja, natürlich. Du hast zu tun. Du hast wichtigere …“

„Nein!“ Er brachte sie mit einem schnellen Kuss zum Schweigen. Nichts war wichtiger als Holly und das Waisenhaus. „Nichts Wichtigeres. Nur etwas, um das ich mich kümmern muss. Ich rufe dich später an.“

„Clay.“ Ihre Stimme klang unsicher, sie nagte an ihrer Unterlippe.

Im Hinausgehen wiederholte er noch einmal: „Ich rufe dich an.“

Aber nicht, bevor er eine Möglichkeit gefunden hatte, den Schaden, den er angerichtet hatte, wiedergutzumachen.

„Das muss funktionieren“, murmelte Clay, nahm den Hörer und tippte eine Nummer ein.

Alle Informationen über Hopewell House lagen auf seinem Schreibtisch, zusammen mit der Akte für „Hendrix Properties“. Jedes Detail hatte er sich eingeprägt – vor allem den Termin, an dem das Heim geschlossen werden sollte.

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
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