Vergiss Paris, Giselle

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Schon bei Marcs erstem Kuss spürt die junge französische Ärztin Giselle, dass ihr Herz in Gefahr ist. Der sympathische Landarzt weckt Gefühle in ihr, die sie auf keinen Fall zulassen will. Denn Giselle ist entschlossen, in wenigen Wochen nach Paris zurückzukehren ...


  • Erscheinungstag 20.05.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716981
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Auktion fand in einem alten Pferdestall am Rande des Dorfes statt. Während Giselle sich umschaute, glaubte sie noch den Geruch der Tiere wahrzunehmen, die hier vor Jahren in ihren mit Holzwänden abgeteilten Boxen gestanden hatten.

Das Gefühl, in eine irreale Welt einzutauchen, hatte sie schon erfasst, als sie auf dem Pariser Flughafen in die Maschine nach Manchester gestiegen war.

Sie musterte die Leute, die um sie herum saßen, offensichtlich Kaufinteressenten wie sie selbst.

Was hatte sie eigentlich hier tief in der englischen Provinz zu suchen? Das fragte sie sich erneut – aber die Antwort war klar. Ihr Vater, der die vergangenen fünfundzwanzig Jahre mit Giselles Mutter Celeste, einer Französin, in Paris gelebt hatte, wollte unbedingt dorthin zurückkehren, wo er als Junge aufgewachsen war.

Sein Wunsch hatte bei Giselle keine Begeisterung ausgelöst, vor allem, weil er ihn noch an demselben Tag geäußert hatte, an dem ihre Mutter beerdigt worden war. Offensichtlich hatte er sich schon länger mit der Idee beschäftigt. Von einem alten Freund in seinem Heimatdorf hatte er erfahren, dass das Haus, in dem er aufgewachsen war, bald versteigert werden sollte.

Bestürzt hatte sie ihm zugehört.

„Wie kannst du heute an so etwas denken?“, rief sie. „Wir haben Maman gerade erst begraben.“

„Ja, mein Kind“, erwiderte er traurig. „Und ich kann den Gedanken, ohne sie in Paris zu leben, nicht ertragen. Wir sind von England hierhergezogen, als du zwei Jahre alt warst und Celeste es vor Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt nicht mehr aushielt. Zum Glück hatte die Wirtschaftsprüfungsfirma, in der ich Direktor war, eine Zweigniederlassung in Paris. So konnte ich hierherwechseln. Aber jetzt lebt deine Mutter nicht mehr. Der Krebs hat sie uns genommen. Und ich möchte wieder nach Hause.“

Er sah müde aus. Und älter als zweiundsiebzig Jahre. „In deinem Zustand kannst du jetzt nicht nach England, Papa. Du hast dich so viele Monate Tag und Nacht um Maman gekümmert und bist jetzt selbst völlig erschöpft. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.“

„Dann musst du an meiner Stelle hinfahren“, entgegnete er.

Giselle dachte mit Schrecken daran, dass sie auf keinen Fall ihr geliebtes Paris verlassen wollte, um in einer gottverlassenen Gegend in einem Land zu leben, in dem es pausenlos regnete. Aber sie würde es nicht übers Herz bringen, ihren Vater nach dem Tod ihrer Mutter allein zu lassen. Zumindest in den ersten Monaten würde sie bei ihm bleiben.

Ihr graute davor, die große, aufregende Stadt Paris mit ihren zahllosen Annehmlichkeiten aufgeben zu müssen. Sie war ein Großstadtmensch, sie brauchte das Gefühl, unter den vielen schönen Restaurants, den Theatern und Kunstausstellungen, den Designerläden und kleinen Boutiquen auswählen zu können. In ihrer knapp bemessenen Freizeit, die ihre Arbeit als Ärztin in einem großen Krankenhaus ihr ließ, kostete sie das alles voll aus.

Außerdem lebte Raoul – groß, schlank, dunkelhaarig und attraktiv – in Paris. Während der letzten Monate hatte sie ihn wegen ihrer Mutter nicht oft gesehen. Er hatte einen Widerwillen gegen alles, was mit Krankheit und Tod zusammenhing, und fragte sie mehr als einmal, ob sie denn keinen Beruf hätte ergreifen können, der mehr Chic besaß.

Sie hatte ihren ganzen regulären Urlaub und viele Tage unbezahlten Urlaub genommen, um so lange wie möglich bei ihrer Mutter zu sein. Nach deren Tod wäre sie wieder zur Normalität ihres Berufslebens zurückgekehrt, wenn ihr Vater sie nicht mit seinem Einfall überrascht hätte.

Und jetzt war sie hier, in einem Dorf im Landkreis Cheshire, mitten unter Menschen, die sie nicht kannte, und hatte den Auftrag, alles zu tun, um ein Anwesen mit Namen Abbeyfields zu ersteigern.

Ihr Vater hatte telefonisch mit dem Makler gesprochen, bevor Giselle aus Paris abreiste, und erfahren, um welchen Preis es bei der Versteigerung gehen würde. Giselle fand ihn erschreckend hoch.

„Können wir uns das denn leisten?“, fragte sie entsetzt.

„Ja, das können wir“, entgegnete ihr Vater etwas verärgert. Das hatte ihr noch einmal gezeigt, wie entschlossen er war, seinen Wunsch zu verwirklichen.

James Morrison, ein Freund ihres Vaters, war Besitzer eines Gartencenters in dem englischen Dorf. Giselle hatte den Abend zuvor mit ihm und seiner Frau verbracht, nachdem der Makler ihr das Anwesen gezeigt hatte.

Als sie durch das alte, aus Naturstein gebaute Landhaus ging, stellte sie sich vor, wie ihr Vater hier als Junge gelebt hatte. Der Makler gab sich alle Mühe, ihr die Vorzüge des weitläufigen Gebäudes und des großen Geländes in glühenden Farben zu schildern – und wunderte sich offensichtlich über ihren mangelnden Enthusiasmus.

Aber sie war Paris und seine Prachtbauten gewohnt. Wie hätte ein Landhaus wie dieses, auch wenn es zweifellos zu den attraktivsten Gebäuden in der Gegend zählte, sie in Begeisterung versetzen sollen?

Im Büro des Maklers hatte Giselle dann noch Fragen zu einer Reihe von Details gestellt und war, als sie ging, fast mit einem Mann zusammengestoßen, der es sehr eilig zu haben schien.

Der Mann war groß und breitschultrig und trug ein typisch englisches Tweedjackett. Sein helles Haar war kurz geschnitten und ein wenig struppig. Seine tiefblauen Augen hatten sie amüsiert angezwinkert, als er sich lächelnd entschuldigte: „Sorry, ich habe nicht aufgepasst.“

Mit einem Nicken hatte sie die Entschuldigung akzeptiert und war gegangen. Sie hatte den Mann kaum wahrgenommen, weil sie in Gedanken schon bei der morgigen Versteigerung war. Wenn nun jemand mehr bot als sie? Der Makler hatte ihr zu verstehen gegeben, dass es eine Reihe von Interessenten gab. Der Gedanke, ihrem Vater bei der Rückkehr nach Paris sagen zu müssen, jemand anders hätte das Haus gekauft, war schrecklich für sie.

Während sie sich nun in dem Auktionsraum umschaute, sah sie den Mann, mit dem sie am Tag zuvor fast zusammengestoßen war, schräg vor sich sitzen. Als ob er gemerkt hätte, dass er beobachtet wurde, schaute er auf und sah Giselle an. Diesmal lächelte er nicht. Er nickte ihr nur kurz zu und beschäftigte sich wieder mit dem Auktionskatalog.

Giselle konnte nicht wissen, dass der Mann den Makler aus genau demselben Grund besucht hatte wie sie. Marc Bannerman wollte Abbeyfields ebenfalls kaufen.

Das Landhaus befand sich am Rande des Dorfs. Von dort hatte man einen großartigen Blick auf die Hügel, die den kleinen Ort umgaben. Marc Bannerman war zu der Überzeugung gekommen, dass Abbeyfields für seine Zwecke ideal geeignet war –- geräumig genug, um dort mit seinen beiden Kindern zu wohnen und zugleich seine Landarztpraxis unterzubringen.

Als der Makler ihm gesagt hatte, dass die elegante junge Frau mit den glänzenden braunen Haaren und dem ausdrucksvollen Gesicht ebenfalls an Abbeyfields interessiert war, hatte er angenommen, es handle sich wieder um jemanden aus der Großstadt, der seine Liebe zum natürlichen Leben entdeckt hatte.

Normalerweise hatte er nichts gegen solche Leute. Sie hatten das gleiche Recht, hier zu leben, wie alle anderen auch. Das Dorf hatte Charme, viele der Wohnhäuser und die meisten Läden im historischen Kern waren liebevoll restauriert und erhalten. Und die Hügel umringten das Dorf und gaben ihm das Flair eines gegen den Lärm und die Hektik der übrigen Welt geschützten Zufluchtsortes. Abbeyfields wäre das perfekte Zuhause für Tom und Alice, um dort aufzuwachsen.

Giselle wäre es lieb gewesen, wenn die Versteigerung von Abbeyfields gleich zu Beginn der Auktion an der Reihe gewesen wäre. Aber der Besitz stand ziemlich weit hinten im Katalog. Während sie mit einem Ohr der Versteigerung der anderen Auktionsobjekte folgte, dachte sie angestrengt darüber nach, wie sie sich nachher verhalten sollte.

Zu viel hing für sie und vor allem für ihren Vater von dem Erwerb von Abbeyfields ab. Er hatte es nach einem harten Berufsleben und den vielen Monaten der Sorge um ihre kranke Mutter verdient, dass sein Wunsch in Erfüllung ging.

Plötzlich war sie ohne jeden Zweifel überzeugt: Sie würde Abbeyfields kaufen! Ihr Vater würde bekommen, was er sich so sehnlich wünschte. Und wenn sie jeden Cent, den sie selbst besaß, ebenfalls dafür einsetzen musste.

Bisher hatte der Mann vor ihr für kein Objekt mitgeboten. Sie fragte sich, an welchem Besitz er wohl interessiert sei. Nun, sie würde es bald herausfinden.

Sowie die ersten Gebote für Abbeyfields abgegeben wurden, begann er mitzubieten. Als der Preis höher ging, zogen sich die anderen Anbieter nach und nach zurück. Schließlich waren nur noch Giselle und der Mann vor ihr im Rennen.

Giselle verspürte Panik. Er wirkte so ruhig und selbstsicher und war offensichtlich genauso stark an dem Haus interessiert wie ihr Vater. Die dunkelblauen Augen, die sie am Tag zuvor noch belustigt angesehen hatten, waren jetzt kalt wie Gletschereis.

Dann plötzlich war alles vorbei. Nach Giselles letztem Gebot war kein Gegengebot mehr gekommen. Der Auktionator schlug mit dem Hammer auf sein Pult. Das Haus gehörte ihr.

Mit dem Hammerschlag des Auktionators verabschiedete sich Giselle gedanklich für viele Monate von Paris. Was würde Raoul dazu sagen? Würde er es überhaupt in Erwägung ziehen, aus Paris ab und zu in die englische Provinz zu kommen?

Als sie den Auktionsraum verließ, trat der Mann, der gegen sie geboten hatte, zu ihr.

„Meinen Glückwunsch“, sagte er. „Ich hoffe, Sie werden in Abbeyfields glücklich sein.“ Er warf Giselle ein knappes Lächeln zu und ging rasch weiter.

Das war’s also, dachte Marc Bannerman enttäuscht, als er zu seiner Praxis hinüberging, die er zusammen mit seinem Schwiegervater und einem jungen Assistenzarzt führte.

Er hatte gewusst, dass es eine Reihe von Interessenten für Abbeyfields gab. Und er war darauf vorbereitet gewesen, hoch bieten zu müssen, aber die Unbekannte, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte mehr geboten, als er sich leisten konnte.

Die Vormittagssprechstunde war gerade vorbei. Stanley Pollard, sein Schwiegervater, und sein Assistent Craig Richards waren gespannt darauf, wie die Auktion ausgegangen war.

Wortlos schüttelte Marc den Kopf.

„Tut mir leid, es hat nicht geklappt“, sagte er. „Eine junge Frau hat mehr geboten. Eine Brünette mit wunderschönen grauvioletten Augen. Und einem gut gefüllten Bankkonto.“

„Ich wette, das ist die Fremde, die gestern Nacht bei den Morrisons im Gartencenter war“, vermutete Stanley. „James war heute Morgen in der Praxis und hat erwähnt, sie sei für die Versteigerung extra von Paris hergeflogen.“

„Aus Frankreich also.“ Marc nickte. „Es war klar, dass sie nicht aus dieser Gegend sein konnte. Hat Morrison gesagt, wie sie heißt und was sie hier will?“

„Offenbar kennt Morrison ihren Vater von früher. Er meinte, sie heißt Giselle oder so ähnlich.“

„Klingt ja interessant“, meinte Craig grinsend. „Wie lange sie wohl hierbleiben will?“

„Angeblich hatte sie vor, gleich nach der Auktion wieder abzureisen“, warf Stanley ein.

Marc war mit dem Ergebnis des Vormittags mehr als unzufrieden. Die Kinder hatten sich so gefreut, sie würden sehr enttäuscht sein.

Zu dem Landhaus gehörten ausgedehnte Wiesen und Felder. Der Name ging zurück auf ein Kloster, eine Abbey, die in alten Zeiten dort gestanden hatte. Alice und Tom hatten sich schon ausgemalt, wie schön es sein würde, dort zu spielen, im Gegensatz zu dem kleinen Garten ihres jetzigen Hauses, das Marc und seine Frau Amanda kurz nach ihrer Hochzeit gekauft hatten.

Aber Marc war nicht der Mann, verpassten Gelegenheiten lange nachzutrauern. Abbeyfields war verkauft, aber leider nicht an ihn. Das war nicht zu ändern. Also musste er nach etwas Neuem Ausschau halten.

Warum hatte er der Unbekannten zu dem Kauf gratuliert? Es war wohl Neugier gewesen, gestand er sich ein. Sie hatte ihn nur kurz und distanziert angelächelt und war ohne ein sichtbares Zeichen von Freude über den Erfolg schnell fortgegangen.

Er hoffte nur, sie gehörte nicht zu jenen reichen Leuten, die ein Haus lediglich als Geldanlage erwerben, um es zu vermieten.

Als sie gegeneinander boten, hatte Marc den Eindruck gehabt, sie stünde unter einem gewissen Druck. Sie hatte immer wieder nachgelegt, was nur heißen konnte, dass sie Abbeyfields um jeden Preis haben wollte. Umso mehr interessierte ihn die Frage, was sie mit dem Besitz vorhatte. Würde sie das Haus in seinem Originalzustand belassen? Oder würde sie es nach eigenen Vorstellungen umbauen und modernisieren?

Er hoffte, sie würde es so lassen, wie es seit vielen Jahrzehnten war. Das Haus hatte bisher nur zwei Eigentümern gehört – und beide hatten es mit dem nötigen Respekt behandelt.

Raoul, der in einem der schicken Einkaufsviertel von Paris eine Edelboutique besaß, war entsetzt, als er hörte, dass Giselle für einige Monate nach England ziehen wollte. Was er sich noch hätte vorstellen und akzeptieren können, war London. Die englische Metropole kannte er von den jährlichen Modeschauen. Aber ins „wilde Cheshire“ zu reisen, daran hatte er nicht das geringste Interesse. Giselle sollte sich doch noch einmal überlegen, ob sie ihre Meinung nicht ändern wollte.

„Das geht nicht“, erklärte sie kurz angebunden. „Nicht zu diesem Zeitpunkt. Mein Vater braucht meine Hilfe, gerade jetzt, wo Maman gestorben ist. Vielleicht kann ich bald nach Paris zurückkommen, wenn er sich drüben eingewöhnt und den Verlust besser verkraftet hat. In der Zwischenzeit werde ich mir dort einen Job suchen.“

Raoul wandte sich einer Kundin zu, die hereingekommen war. „Also, wir bleiben in Kontakt“, sagte er mehr beiläufig zu Giselle. „Sollte ich mal nach London kommen, rufe ich dich vorher an.“

Sie nickte ihm kurz zu und ging hinaus. Was war ich doch für eine Närrin, dachte sie, zu hoffen, er hätte Verständnis für meine Situation. Ihr war klar, mehr als ab und zu einen Anruf hatte sie von Raoul nicht zu erwarten.

Giselle und ihr Vater verkauften ihre Wohnung in Paris und ließen die Einrichtung für den Transport nach England abholen. Als sie nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen in Manchester in einem Taxi saßen, das sie nach Abbeyfields bringen würde, wurde Giselle durch die Freude, die das Gesicht ihres Vaters strahlen ließ, für alle Unannehmlichkeiten entschädigt.

„Hast du eigentlich früher schon mal daran gedacht, nach England zurückzukehren?“, fragte sie.

„Ja, sehr oft sogar. Aber ich habe nicht darüber gesprochen – es hätte deine Mutter zusätzlich belastet. Das wollte ich ihr unbedingt ersparen.“

„Ich liebe dich“, sagte Giselle und beugte sich zu ihm hinüber, um ihn auf die Wange zu küssen. Niemals, das schwor sie sich, würde sie ihn merken lassen, wie ungern sie ihm nach England gefolgt war.

Die Umzugsfirma hatte die Möbel aus Paris bereits nach Abbeyfields geschafft. Der Lastwagen stand vor dem Haus, als Giselle und ihr Vater eintrafen. Die nächsten Stunden war sie vollauf damit beschäftigt, den Leuten Anweisungen zu geben, wie die verschiedenen Möbelstücke im Haus verteilt werden sollten.

Ihr Vater ging währenddessen mit staunenden Augen und vor Glück strahlend durch die Räume, wie ein Kind, das ein neues Spielzeug bekommen hat. Aber Abbeyfields war für ihn ja nicht neu – es war für ihn voller Erinnerungen, die er all die Jahre in seinem Gedächtnis vergraben hatte.

„Dies war mein Zuhause, bis zu dem Tag, an dem ich deine Mutter heiratete“, sagte er. „Nach dem Tod meiner Eltern hat ein entfernter Cousin das Haus gekauft. Vor ein paar Monaten ist er gestorben. Und jetzt bin ich zurückgekehrt. Aber was ist mit dir, Giselle? Ich denke nur an mich. Freust du dich auch über unser neues Daheim?“

Es war ein langer, anstrengender Tag für Giselle gewesen. Sie lächelte ihren Vater etwas müde an. „Ja, natürlich freue ich mich“, versicherte sie ihm und wünschte, es wäre tatsächlich so.

Marcs Kinder waren schrecklich enttäuscht. Der neunjährige Tom verkniff sich tapfer die Tränen, seine sechsjährige Schwester Alice fragte schluchzend: „Können wir denn nicht wenigstens auf der großen Wiese spielen? Das Gras steht so hoch, dass uns niemand sieht.“

„Ich fürchte, das geht nicht“, meinte Marc bedauernd. Einen Moment lang wünschte er, ihre Mutter wäre hier, um sie zu trösten. Aber Amanda, deren große Liebe das Reiten und der Pferdesport gewesen waren, lebte nicht mehr.

Auf einem ihrer Ausritte vor zwei Jahren war sie gestürzt. Sie hatte den Unfall nicht überlebt. Seither mussten die drei allein zurechtkommen, zum Glück mit der liebevollen Unterstützung von Marcs Schwiegereltern.

„Ich verspreche euch, ich werde ein anderes Haus kaufen“, sagte Marc, „wo ihr viel Platz zum Spielen haben werdet. Und das auch noch groß genug für die Praxis ist. Ich möchte unbedingt den ganzen Tag in eurer Nähe sein.“

Im Vorbeifahren hatte er gesehen, wie die neuen Besitzer in Abbeyfields einzogen. Er hatte einen kurzen Blick auf eine weibliche Gestalt mit langen Beinen und hautenger Jeans werfen können. Die junge Frau hatte ihr braunes Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengebunden, sodass er ihr Gesicht, an das er seit der Versteigerung manchmal hatte denken müssen, gut erkennen konnte.

Seine Neugier, wer die Unbekannte war, die ihn bei der Versteigerung überboten hatte, war inzwischen durch ein längeres Gespräch mit James Morrison befriedigt worden. James hatte ihm erklärt, Giselle Howard habe das Haus für ihren Vater gekauft, der dort mit seinen Eltern gelebt hatte, bis er eine Französin heiratete und nach Paris ging.

„Sie werden sich kaum an ihn erinnern“, meinte James Morrison zu Marc. „Aber ich habe all die Jahre den Kontakt zu Philip Howard aufrechterhalten. Ich fürchte, Sie müssen mir die Schuld dafür geben, dass Sie das Haus nicht bekommen haben, Marc. Ich hatte ihm geschrieben, dass es zum Verkauf stünde. Da seine Frau vor Kurzem gestorben ist, entschloss er sich, in seine Heimat zurückzukehren. Er ist überglücklich, wieder in seinem Elternhaus leben zu können. Was seine Tochter Giselle angeht, so habe ich den Eindruck, sie war glücklicher dort, wo sie herkommt.“

Das war also die Geschichte des neuen Besitzers von Abbeyfields. Sie machte es für Marc erheblich erträglicher, sich mit dem Verlust abzufinden.

Am Morgen nach ihrem Einzug in Abbeyfields fühlte sich Philip Howard nicht wohl. Er war mit starken Kopf- und Gliederschmerzen aufgewacht. Nachdem Giselle ihn rasch untersucht hatte, rief sie James Morrison an und fragte ihn, ob es in dem Dorf einen Arzt gäbe.

„Natürlich“, hatte James geantwortet. „Aber du bist doch selbst Ärztin?“

„Schon, aber außer einem Stethoskop und ein paar Schmerztabletten habe ich nichts dabei. Und ich befinde mich in einem fremden Land, in dem ich keine Zulassung als Ärztin habe. Wahrscheinlich waren die Aufregung und die Hektik gestern einfach etwas zu viel für Papa, aber ich möchte sicher sein, dass es nichts Schlimmeres ist.“

„Die Praxis liegt an der Hauptstraße, gar nicht weit von euch“, meinte James. „Wenn du gleich hinübergehst, kannst du noch mit einem der Ärzte sprechen, bevor die Sprechstunde anfängt.“

Ein ziemlich unansehnliches Gebäude, dachte Giselle, als sie die Eingangstür des Hauses öffnete, in der sich die Praxis befand. Das Natursteingemäuer war im Lauf der Jahre stellenweise fast schwarz geworden, aber das war nur äußerlich, wie sie schnell feststellte. Im Inneren präsentierte sich ihr eine helle, moderne Eingangshalle mit einem Empfangstisch, hinter dem eine freundlich lächelnde Frau mittleren Alters saß.

„Mein Vater und ich sind gestern erst hier angekommen“, sagte Giselle. „Ich fürchte, wir brauchen dringend einen Arzt. Meinem Vater geht es heute Morgen nicht gut. Könnte jemand zu uns hinüberkommen und ihn untersuchen?“

Die Dame hinter dem Tresen nickte. „Die Ärzte sind noch nicht da. Es ist erst acht Uhr fünfzehn. Aber sie müssten gleich eintreffen. Dann können Sie sofort mit einem von ihnen sprechen.“

In diesem Moment hielt ein Wagen vor der Tür. „Das wird Dr. Bannerman sein“, meinte die Sprechstundenhilfe.

Marc Bannerman hatte gerade die Kinder zur Schule gebracht, die am anderen Ende des Ortes lag. Dabei war Tom eingefallen, dass er sein Sportzeug zu Hause vergessen hatte. Also war Marc noch einmal zurückgefahren, um die Sachen zu holen. Er seufzte. Tom und Alice morgens pünktlich wach zu bekommen, das Frühstück zu machen, darauf zu achten, dass die Kinder alles hatten, was sie für den Schultag brauchten, sowie die Fahrt zur Schule waren immer ziemlich hektisch.

Und jetzt wartete ein anstrengender Tag in der Praxis auf ihn. Er war heute allein – sein Assistent Craig besuchte ein Seminar an der Universität. Und Marcs Schwiegervater hatte gerade angerufen, er müsse ausfallen – er habe eine verdammte Gürtelrose.

Als Marc mit eiligen Schritten in die Empfangshalle kam, rief er zu der Sprechstundenhilfe hinüber: „Können Sie mir einen großen Kaffee besorgen, Mollie? Ich bin heute Morgen nicht zum Frühstücken gekommen. Die Kinder waren spät dran.“

Die Empfangsdame lächelte ihm zu und nickte.

„Natürlich, Herr Doktor, ich setze gleich Kaffeewasser auf. Inzwischen können Sie mit der Dame sprechen, die schon auf Sie wartet.“

Als er sich herumdrehte, stand Giselle langsam auf und sah ihn entgeistert an. Vor ihr stand der Mann, der auf der Auktion gegen sie geboten hatte.

„Hallo, Sie sind es“, sagte er kühl. „So sieht man sich wieder.“

„Ja“, entgegnete sie nervös. „Es tut mir leid, dass ich Sie heute Morgen schon bemühe. Ich bin ja erst gestern eingezogen …“

„Ja, ich weiß“, unterbrach er sie. „Ich habe Sie gesehen.“

„Wirklich?“

„Als ich vorbeifuhr, war der Möbelwagen gerade da.“

„Mein Vater fühlt sich heute Morgen nicht gut. Könnten Sie bitte nach ihm sehen? Er hat starke Kopfschmerzen, und die Gelenke tun ihm weh.“

„Ich werde in zehn Minuten bei Ihnen sein“, meinte Marc Bannerman. Giselle atmete erleichtert auf. Das gab ihr etwas Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen.

„Danke“, sagte sie und überließ ihn seinem Kaffee oder dem, was er sonst in den nächsten zehn Minuten vorhatte.

Als Giselle gegangen war, trat Marc Bannerman in sein Sprechzimmer und ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen. Er hatte sich schon gefragt, wann er der jungen Frau wieder begegnen würde. So rasch hatte er allerdings nicht damit gerechnet. Und jetzt würde er das Haus betreten, von dem er gehofft hatte, es würde ihm gehören.

Mollie kam herein und stellte eine große, dampfende Tasse Kaffee vor ihm auf den Schreibtisch. Er trank einen Schluck und sah sich nach seiner Tasche um. Dann würde er jetzt also der bemerkenswerten Giselle und ihrem Vater einen Besuch abstatten.

„Ich kann nichts Auffälliges feststellen“, schloss Marc, nachdem er Philip Howard untersucht hatte. „Die Kopfschmerzen können eine Folge vom Umzugsstress sein. Und die Gelenkschmerzen … haben Sie gestern schwer gehoben, Mr. Howard?“

Giselle schüttelte den Kopf, aber ihr Vater lächelte schuldbewusst. „Ich habe eine paar Möbelstücke hin und her geschoben, wenn meine Tochter gerade nicht hinschaute.“

„Das könnte der Grund sein“, meinte Marc. „Dabei haben Sie Muskeln angestrengt, die Sie sonst kaum benutzen. Aber rufen Sie mich bitte an, wenn die Beschwerden nicht bald verschwinden.“

Giselle begleitete Marc hinaus in die Eingangshalle. Als sie sicher war, dass ihr Vater sie nicht mehr hören konnte, sagte sie: „Ich bin selbst Ärztin, aber ich wollte die Meinung eines Kollegen hören.“

Marc schaute sie verdutzt an.

„Bisher habe ich in einem Pariser Krankenhaus gearbeitet“, erklärte Giselle rasch.

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
Schon immer war Abigail Gordon ein Fan von...
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