Der Earl mit den eisblauen Augen

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Bridgerton - wie alles begann

Miss Billie Bridgerton weiß genau, dass sie Edward oder Andrew Rokesby heiraten wird. Seit Kindertagen sind sie und die Nachbarssöhne beste Freunde. Wen Billie dagegen bestimmt nicht heiraten wird, ist George, den ältesten Sohn der Rokesbys! Die arroganten Blicke aus seinen eisblauen Augen zeigen ihr: Er kann sie genauso wenig ausstehen wie sie ihn. Aber seit der attraktive Earl sie nach einem Unfall auf starken Armen getragen hat, hat sich etwas geändert. Früher hat sich Billie mit George Wortschlachten geliefert - jetzt wünscht sie sich, in seinen kühlen blauen Augen heiße Leidenschaft auflodern zu sehen …


  • Erscheinungstag 18.07.2017
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768355
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Auf dem Dach eines verlassenen Gehöfts auf halbem Weg zwischen Aubrey Hall und Crake House

Kent, England

1779

Nicht dass es Billie Bridgerton an Vernunft gemangelt hätte. Im Gegenteil, sie war überzeugt davon, eine der vernünftigsten Personen dieser Welt zu sein. Doch wie jeder gedankenvolle Mensch zog sie es hin und wieder vor, nicht auf das zu hören, was die Stimme der Vernunft ihr einzuflüstern versuchte. Das konnte einem doch ganz sicher nicht als Waghalsigkeit ausgelegt werden. Wenn sie diese zur Vorsicht mahnende Stimme ignorierte, war es eine bewusste Entscheidung, eine Entscheidung, die sie nach einer mehr oder weniger sorgfältigen Bewertung der Lage traf. Und eines musste man ihr zugutehalten: Wenn sie eine Entscheidung traf – meist handelte es sich dabei um etwas, was die übrige Menschheit als grob fahrlässig bezeichnen würde –, fiel sie für gewöhnlich auf die Füße.

Außer in den Fällen, wo sie es nicht tat.

Wie zum Beispiel diesmal.

Wütend funkelte sie ihre Begleiterin an. „Ich sollte dich erwürgen.“

Worauf ihre Begleiterin ziemlich gleichgültig mit einem Miauen reagierte.

Das Billie mit einem wenig damenhaften Knurren quittierte.

Die Katze nahm das Geräusch zur Kenntnis, entschied, dass es nicht weiter bedeutsam war, und begann sich die Pfoten zu lecken.

Billie dachte kurz über die Erfordernisse von Würde und Anstand nach, sagte sich dann, dass beides überbewertet sei, und zog eine etwas kindische Grimasse.

Sie fühlte sich danach aber auch nicht besser.

Mit einem erschöpften Stöhnen blickte sie zum Himmel empor und versuchte abzuschätzen, wie spät es war. Die Sonne hatte sich hinter einer dichten Wolkenschicht versteckt, was die Sache nicht vereinfachte, doch es musste mindestens vier Uhr sein. Sie nahm an, dass sie seit etwa einer Stunde hier festsaß, und sie hatte das Dorf um zwei verlassen. Wenn sie mit einrechnete, wie lang sie unterwegs gebraucht …

Ach, zum Kuckuck, was spielte es denn für eine Rolle, wie spät es war? Dadurch würde sie es auch nicht von diesem verfluchten Dach herunterschaffen.

„Das ist alles deine Schuld“, murrte sie die Katze an.

Wie nicht anders zu erwarten war, beachtete das Tier sie nicht.

„Ich weiß nicht, was du da oben auf dem Baum eigentlich wolltest“, fuhr Billie fort. „Auch dem letzten Dummkopf wäre klar gewesen, dass du von dort nicht allein herunterkommst.“

Der letzte Dummkopf hätte sie im Übrigen dort oben sitzen lassen, aber nein, Billie hatte das leise Miauen gehört und war bereits halb den Baum hinaufgeklettert, ehe ihr einfiel, dass sie Katzen nicht einmal mochte.

„Und dich mag ich erst recht nicht“, stellte sie fest.

Sie redete mit einer Katze. So weit war es mit ihr also schon gekommen! Sie bewegte sich ein wenig und verzog das Gesicht, als ihr Strumpf an einer verwitterten Dachschindel hängen blieb. Dadurch wurde ihr Fuß zur Seite gedreht, und ihren ohnehin schon schmerzenden Knöchel durchfuhr ein scharfer Stich.

Eigentlich durchfuhr sie von oben bis unten ein scharfer Stich, und sie heulte vor Schmerzen auf. Sie konnte sich nicht helfen. Es tat furchtbar weh.

Aber es hätte noch schlimmer kommen können. Sie war schon ein gutes Stück den Baum hinaufgeklettert und hatte sich etwa zweieinhalb Meter über dem Dach des Gehöfts befunden, als die Katze sie plötzlich angefaucht und mit ausgefahrenen Krallen nach ihr geschlagen hatte, worauf sie beide ins Taumeln geraten und in die Tiefe gestürzt waren.

Die Katze fiel natürlich mit akrobatischer Anmut und landete unverletzt auf allen vier Pfoten auf dem Dach.

Wie sie selbst gelandet war, wusste Billie nicht genau, nur dass ihr der Ellbogen wehtat und die Hüfte schmerzte. Außerdem war ihre Jacke zerrissen, was vermutlich passiert war, als sie bei ihrem Sturz kurz in einer Astgabel hängen geblieben war.

Doch am schlimmsten schmerzten ihr Knöchel und ihr Fuß, sie taten wirklich entsetzlich weh. Zu Hause hätte sie das Bein mithilfe von Kissen hochgelegt. Verstauchte Knöchel waren ihr nicht fremd – sie hatte selbst oft genug damit zu tun gehabt und sie mehr noch bei anderen erlebt –, und sie wusste daher, was zu tun war. Kalte Umschläge, hoch lagern, Geschwister, die einen von vorne und hinten bedienten …

Wo steckten nur ihre Hilfstruppen, wenn sie sie brauchte?

Doch dann nahm sie in der Ferne eine Bewegung wahr, und sofern die örtliche Tierwelt sich nicht auf den aufrechten Gang verlegt hatte, ging dort eindeutig ein Mensch.

„Halloooooooooooooo!“, rief sie, überlegte es sich dann noch einmal anders und schrie: „Hilfe!“

Wenn ihre Augen sie nicht trogen – und das taten sie nicht, wirklich nicht; selbst ihre beste Freundin Mary Rokesby räumte ein, dass es Billie Bridgerton an perfekter Sehkraft nicht mangelte –, handelte es sich bei dem Menschen um einen Mann. Und in ihrem Bekanntenkreis gab es keinen Mann, der den Hilferuf einer Frau ignorieren konnte.

„Hilfe!“, schrie sie noch einmal und atmete auf, als der Mann innehielt. Sie konnte nicht genau erkennen, ob er sich zu ihr umdrehte; selbst wenn sie wirklich gut sah, so hatte das auch seine Grenzen, daher stieß sie einen weiteren Schrei aus, diesmal so laut sie konnte, und hätte vor Erleichterung beinahe geweint, als sich der Gentleman – bitte, lass es einen Gentleman sein, wenn schon nicht von Geburt, dann wenigstens dem Wesen nach – in ihre Richtung aufmachte.

Nur dass sie nicht weinte. Sie weinte nie. Diese Art Frau würde sie niemals sein.

Allerdings musste sie unwillkürlich Atem holen, und zwar verdächtig laut und zittrig.

„Hier oben!“, rief sie und schlüpfte aus der Jacke, um damit in der Luft herumzuwedeln. Sich jetzt um würdevolles Auftreten zu bemühen, hatte wirklich keinen Sinn. Schließlich saß sie mit einem verstauchten Knöchel und einer räudigen Katze auf einem Dach fest.

„Sir!“, brüllte sie beinahe. „Hilfe! Bitte!“

Angesichts des Geschreis beschleunigte der Gentleman seinen Schritt ein wenig und schaute nach oben, und obwohl er noch so weit entfernt war, dass Billie sein Gesicht trotz ihrer perfekten Sehkraft nicht erkennen konnte, wusste sie es einfach.

Nein. Nein. Nein! Alles, nur das nicht!

Aber er war es natürlich. Wer sonst würde in ihrem schlimmsten Augenblick vorbeigeschlendert kommen, wenn sie peinlichst in der Klemme saß, ausgerechnet dann, wenn sie ausnahmsweise einmal Hilfe brauchte?

„Guten Tag, George“, grüßte sie, sobald er in Hörweite gekommen war.

Er legte die Hände auf die Hüften und blinzelte zu ihr empor. „Billie Bridgerton“, sagte er nur.

Sie wartete darauf, dass er hinzufügte: „Das hätte ich mir denken können.“

Doch nichts weiter kam ihm über die Lippen, was sie irgendwie noch mehr erboste. Die Welt geriet aus dem Gleichgewicht, wenn sie nicht jedes aufgeblasene, wichtigtuerische Wort vorhersagen konnte, das aus George Rokesbys Mund kam.

„Sonnst du dich ein wenig?“, erkundigte er sich.

„Ja, ich fand, ich könnte mir noch ein paar Sommersprossen holen“, giftete sie.

Er reagierte nicht sofort. Stattdessen nahm er den Dreispitz ab, enthüllte dabei sein dichtes ungepudertes hellbraunes Haar, und taxierte sie mit festem Blick. Dann legte er seinen Hut bedächtig auf einer bröckelnden Steinmauer ab, sah wieder zu ihr hoch und sagte: „Ich kann nicht behaupten, dass mir das jetzt keinen Spaß macht. Aber nur ein bisschen.“

Billie lag eine ganze Reihe von Antworten auf der Zunge, doch sie führte sich vor Augen, dass George Rokesby weit und breit der einzige Mensch war, der ihr helfen konnte, wenn sie vor dem kommenden Mai wieder festen Boden unter den Füßen spüren wollte; sie musste also nett zu ihm sein.

Zumindest bis er sie gerettet hatte.

„Wie bist du überhaupt dort hinaufgekommen?“, erkundigte er sich.

„Katze.“ Das sagte sie in einem Ton, den man, wenn man es freundlich ausdrücken wollte, als wutschnaubend bezeichnen konnte.

„Ah.“

„Sie saß im Baum“, erklärte sie, weiß der Himmel, warum sie meinte, es ihm erklären zu müssen. Schließlich hatte er nicht darum gebeten.

„Verstehe.“

Wirklich? Das bezweifelte sie dann doch.

„Sie hat jämmerlich geschrien“, stieß sie hervor. „Das konnte ich wohl kaum ignorieren.“

„Nein, bestimmt nicht“, erwiderte er, und obwohl seine Stimme absolut freundlich klang, war sie doch überzeugt, dass er sie auslachte.

„Manche Leute“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „sind eben rücksichtsvoll und mitfühlend.“

„Nett zu kleinen Kindern und Tieren?“

„Genau.“

Seine rechte Augenbraue hob sich auf diese unglaublich ärgerliche Weise, die für die Rokesbys so typisch war. „Manche Leute“, sagte er schleppend, „sind nett zu großen Kindern und Tieren.“

Sie biss sich auf die Zunge. Erst im übertragenen Sinne, dann im wörtlichen. Sei höflich, mahnte sie sich. Selbst wenn es dich umbringt …

Er lächelte ausdruckslos. Wenn man von dem kleinen selbstgefälligen Zug in seinem Mundwinkel absah.

„Verdammt, hilfst du mir jetzt endlich herunter?“, platzte sie heraus.

„Was sind denn das für Ausdrücke?“, schalt er.

„Habe ich von deinen Brüdern gelernt.“

„Oh, ich weiß“, gab er zurück. „Ich konnte sie nie ganz davon überzeugen, dass du in Wirklichkeit ein Mädchen bist.“

Billie setzte sich auf ihre Hände. Sie setzte sich tatsächlich auf die Hände, so sicher war sie sich, dass sie dem Drang nicht widerstehen konnte, sich vom Dach auf ihn zu stürzen und ihn zu erwürgen.

„Ich selbst konnte mich bisher allerdings nicht einmal davon überzeugen, dass du ein menschliches Wesen bist“, fügte George lässig hinzu.

Billies Finger krümmten sich zu Klauen. Was, alles in allem, wirklich unbequem war. „George“, sagte sie und hörte tausend verschiedene Nuancen in ihrer Stimme – Flehen, Schmerz, Resignation, Erinnerung. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte, und bei allen Differenzen – er war ein Rokesby, sie eine Bridgerton – waren sie, wenn es hart auf hart kam, fast so etwas wie eine Familie.

Ihre Wohnsitze, Crake House gehörte den Rokesbys, Aubrey Hall den Bridgertons, lagen gerade einmal drei Meilen voneinander entfernt in diesem behaglichen grünen Winkel von Kent. Die Bridgertons waren länger ansässig – sie waren Anfang des sechzehnten Jahrhunderts hergekommen, als James Bridgerton zum Viscount ernannt worden war und von Heinrich VIII. Land verliehen bekommen hatte –, doch die Rokesbys hatten seit 1672 einen höheren Rang.

Ein besonders unternehmungslustiger Baron Rokesby (so lautete die Geschichte) hatte Charles II. einen speziellen Dienst erwiesen, worauf dieser ihn aus Dankbarkeit zum ersten Earl of Manston ernannt hatte. Die Details rund um diese Erhebung in den Adelsstand waren im Dunkel der Jahrhunderte versunken, aber man war sich darüber einig, dass eine Kutsche, ein Ballen türkischer Seide und zwei königliche Geliebte beteiligt gewesen waren.

Billie konnte sich das gut vorstellen. Charme war erblich, oder nicht? George Rokesby mochte genau der Langweiler sein, wie man es von dem Erben eines Earls erwartete, doch sein jüngerer Bruder Andrew besaß die Art teuflischer joie de vivre, die ihn einem notorischen Schwerenöter wie Charles II. empfohlen hätte. Die anderen Rokesby-Brüder waren nicht ganz so verwegen (allerdings war der erst vierzehnjährige Nicholas wohl noch dabei, seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet auszubauen), doch sie alle überflügelten George mit Leichtigkeit in sämtlichen Wettbewerben, in denen Charme und Liebenswürdigkeit gefragt waren.

George. Sie hatten einander nie gemocht. Aber sie konnte sich wohl gerade nicht beschweren. Im Augenblick war George der einzig verfügbare Rokesby. Edward hielt sich in den Kolonien auf und kämpfte dort mit Degen oder Pistole oder weiß der Himmel womit sonst, und Nicholas war in Eton, wo er vermutlich ebenfalls zu kämpfen hatte (aber hoffentlich mit weniger ernsten Folgen). Andrew war für die nächsten Wochen in Kent, nachdem er sich bei irgendeiner Heldentat für die Marine den Arm gebrochen hatte. Er hätte kaum hilfreich einspringen können.

Nein, es würde wohl George sein müssen, und sie würde sich zwingen, höflich zu sein.

Sie lächelte auf ihn herunter. Nun ja, sie zog die Lippen auseinander.

Er seufzte. Nur ein wenig. „Ich sehe mal nach, ob ich hinter dem Haus eine Leiter finde.“

„Danke“, sagte sie züchtig, doch er hatte sie wohl nicht gehört. Er hatte schon immer einen schnellen Schritt gehabt, und so war er um die Ecke verschwunden, ehe sie richtig höflich werden konnte.

Kurz darauf tauchte er wieder auf, eine Leiter im Arm, die aussah, als wäre sie während der Glorreichen Revolution zum letzten Mal benutzt worden. „Was ist denn eigentlich passiert?“, rief er zu ihr herauf und legte die Leiter an. „Es sieht dir gar nicht ähnlich, einfach irgendwo zu stranden.“

Das kam einem Kompliment näher als alles andere, was sie bisher aus seinem Mund zu hören bekommen hatte. „Die Katze war für meine Hilfe nicht so dankbar, wie man es hätte erwarten können“, erwiderte sie, jeder Ton eine eisige Anklage in Richtung des kleinen Biestes.

Die Leiter klinkte dumpf in Position, und Billie hörte, wie George heraufgeklettert kam.

„Wird sie das denn aushalten?“, fragte sie. Das Holz wirkte etwas spröde und knarrte bei jeder Bewegung unheilvoll.

Das Knarren hielt einen Augenblick inne. „Es spielt ja eigentlich keine Rolle, ob sie hält oder nicht, oder?“

Billie schluckte. Jemand anderes hätte mit seinen Worten wohl nichts anzufangen gewusst, aber sie kannte diesen Mann, so lange sie zurückdenken konnte, und wenn man sich bei ihm einer Sache gewiss sein durfte, dann, dass er ein Gentleman war. Niemals würde er eine Dame in Nöten sich selbst überlassen, da konnte die Leiter noch so morsch wirken.

Sie war in Schwierigkeiten, also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihr zu helfen, egal wie nervtötend er sie fand.

Und das tat er. Oh, ja, sie wusste es genau. Er hatte sich nie bemüht, es zu verhehlen. Um gerecht zu sein: Sie auch nicht.

Sein Kopf tauchte auf, und seine Rokesby-blauen Augen wurden schmal. Alle Rokesbys hatten blaue Augen. Jeder.

„Du trägst Breeches“, stellte George fest und seufzte schwer. „Natürlich trägst du Breeches.“

„In einem Kleid hätte ich wohl kaum versucht, auf den Baum zu klettern.“

„Nein“, versetzte er trocken, „dazu bist du viel zu vernünftig.“

Billie beschloss, ihm das durchgehen zu lassen. „Sie hat mich gekratzt“, sagte sie und wies mit dem Kinn zur Katze.

„Wirklich?“

„Wir sind vom Baum gefallen.“

George sah nach oben. „Das ist ziemlich hoch.“

Billie folgte seinem Blick. Der nächste Ast wippte eineinhalb Meter über ihnen, und sie hatte nicht auf dem nächsten Ast gesessen. „Ich habe mir den Knöchel verletzt“, räumte sie ein.

„Das habe ich mir schon gedacht.“

Fragend sah sie ihn an.

„Sonst wärst du doch vom Dach auf den Boden gesprungen.“

Sie verzog den Mund und sah an ihm vorbei hinunter zu der festgestampften Erde rings um die Ruinen des Gehöfts. Irgendwann musste das Gebäude einmal einem wohlhabenden Bauern gehört haben, da es zwei Stockwerke hoch war. „Nein“, meinte sie und schätzte die Höhe ab. „Dazu ist es zu hoch.“

„Selbst für dich?“

„Ich bin kein Dummkopf, George.“

Er stimmte ihr nicht so schnell zu, wie er es hätte tun sollen. Eigentlich stimmte er ihr überhaupt nicht zu.

„Na schön“, war alles, was von ihm kam. „Dann schaffen wir dich mal nach unten.“

Sie atmete ein. Und aus. Dann sagte sie: „Danke.“

Er betrachtete sie mit einem merkwürdigen Ausdruck. Ungläubig vielleicht, dass sie sich ausgerechnet bei ihm bedankte?

„Es wird bald dunkel“, stellte sie fest und blickte mit gekrauster Nase zum Himmel auf. „Es wäre schrecklich gewesen, hier über Nacht …“, sie räusperte sich. „Danke.“

Er nahm dies mit einem flüchtigen Nicken zur Kenntnis. „Kommst du auf der Leiter zurecht?“

„Ich glaube schon.“ Es würde schrecklich wehtun, aber sie würde es schaffen. „Ja.“

„Ich könnte dich tragen.“

„Auf der Leiter?“

„Auf dem Rücken.“

„Ich setze mich nicht auf deinen Rücken.“

„Dort will ich dich auch gar nicht haben“, brummelte er.

Sie sah scharf auf.

„Also gut“, fuhr er fort und erklomm zwei weitere Sprossen. Die Dachkante reichte ihm nun bis zur Hüfte. „Kannst du aufstehen?“

Sie starrte ihn stumm an.

„Ich würde gern sehen, wie stark du deinen Knöchel belasten kannst.“

„Oh“, murmelte sie. „Natürlich.“

Sie hätte es wohl besser nicht versuchen sollen. Die Neigung des Daches war so steil, dass sie beide Füße brauchte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und ihr rechter Fuß war im Augenblick ziemlich unbrauchbar. Doch sie versuchte es, weil sie es hasste, vor diesem Mann Schwäche zu zeigen; vielleicht versuchte sie es auch nur, weil es nicht ihrer Art entsprach, etwas – irgendetwas – nicht auszuprobieren; vielleicht aber hatte sie es nur nicht gründlich genug durchdacht, jedenfalls stand sie auf, geriet ins Wanken und setzte sich sofort wieder hin.

Ein erstickter Schmerzensschrei kam ihr über die Lippen.

Im nächsten Augenblick war George von der Leiter aufs Dach geklettert. „Du kleiner Dummkopf“, brummte er, aber in seiner Stimme schwang Zuneigung mit, zumindest so viel Zuneigung, wie er zu zeigen pflegte. „Kann ich mal sehen?“

Widerstrebend streckte sie den Fuß in seine Richtung. Den Schuh hatte sie schon abgestreift.

Nüchtern berührte er den Fuß, umfasste die Ferse mit einer Hand, während er mit der anderen die Beweglichkeit prüfte. „Tut es da weh?“, fragte er und drückte behutsam auf die Außenseite ihres Knöchels.

Vor Schmerzen stöhnte Billie unwillkürlich auf und nickte.

Er probierte es an einer anderen Stelle. „Und hier?“

Sie nickte noch einmal. „Aber nicht so stark.“

„Und hier …“

Ein glühender Schmerz durchbohrte ihren Fuß, so intensiv, dass er sie förmlich elektrisierte. Ohne nachzudenken, entriss sie ihm den Fuß.

„Das interpretiere ich als Ja“, konstatierte er und runzelte die Stirn. „Aber ich glaube nicht, dass er gebrochen ist.“

„Selbstverständlich ist er nicht gebrochen“, fuhr sie ihn an. Was eine ziemlich alberne Bemerkung war, denn von selbstverständlich konnte keine Rede sein. Doch George Rokesby brachte immer das Schlechteste in ihr zum Vorschein, und daran änderte auch nicht, dass ihr der Fuß wehtat, verflixt!

„Eine Verstauchung“, stellte George fest, ohne auf ihren kleinen Ausbruch einzugehen.

„Ich weiß“, erwiderte sie. In bockigem Ton. Schon wieder. Im Moment konnte sie sich selbst nicht ausstehen.

Er lächelte ausdruckslos. „Natürlich.“

Am liebsten hätte sie ihn umgebracht.

„Ich gehe voran“, verkündete George. „Wenn du ins Straucheln gerätst, kann ich dich auffangen.“

Billie nickte. Es war ein guter Plan, eigentlich der einzig funktionierende Plan, und es wäre dumm von ihr gewesen, Einwände zu erheben, nur weil er derjenige war, dem er eingefallen war. Auch wenn dies ihre erste Reaktion gewesen wäre.

„Bist du so weit?“, fragte er.

Sie nickte noch einmal. „Hast du keine Angst, dass ich dich von der Leiter stoßen könnte?“

„Nein.“

Keine Erklärungen. Ein schlichtes Nein. Als wäre es absurd, sich diese Frage überhaupt zu stellen.

Sie sah scharf auf. Er wirkte so stabil. Und stark. Und verlässlich. Verlässlich war er schon immer gewesen. Sie war normalerweise nur viel zu sehr damit beschäftigt, sich über ihn zu ärgern, um es zu bemerken.

Vorsichtig tastete er sich zur Dachkante vor und drehte sich um, damit er einen Fuß auf die oberste Sprosse der Leiter setzen konnte.

„Vergiss die Katze nicht“, ordnete Billie an.

„Die Katze“, wiederholte sie und warf ihr einen Du-machst-wohl-Witze-Blick zu.

„Nach alledem habe ich nicht vor, sie jetzt im Stich zu lassen.“

George knirschte mit den Zähnen, stieß etwas ziemlich Anstößiges hervor und streckte die Hand nach der Katze aus.

Woraufhin diese ihn biss.

„Himmel noch …“

Billie wich ein Stück zurück. Er vermittelte den Eindruck, als hätte er am liebsten irgendwem den Kopf abgerissen, und sie war ihm näher als die Katze.

„Diese Katze“, knurrte George, „kann von mir aus in der Hölle schmoren.“

„Also gut“, stimmte sie sehr schnell zu.

Angesichts dieser raschen Einigkeit blinzelte er ein wenig. Sie versuchte sich an einem Lächeln und entschied sich dann für ein Achselzucken. Sie hatte zwei leibliche Brüder zu Hause und im Rokesby-Haushalt drei Brüder im Geiste. Vier, wenn sie George mitzählte, aber da war sie sich nicht ganz sicher.

Die Sache war die: Sie kannte sich mit Männern aus und wusste, wann sie besser den Mund hielt.

Außerdem hatte sie von diesem verflixten Katzenvieh die Nase voll. Sie wollte sich wirklich von keinem nachsagen lassen, dass sie ein schwärmerisches Herz besäße. Sie hatte das räudige Tier retten wollen, weil sie es eben für das Richtige hielt, und dann hatte sie es retten wollen, weil aufzugeben wie eine Verschwendung ihrer bisherigen Bemühungen gewirkt hätte, und jetzt …

Sie starrte auf die Katze hinunter. „Jetzt bist du auf dich allein gestellt.“

„Ich gehe als Erster“, ordnete George an und kletterte zur Leiter. „Ich will dich auf dem gesamten Abstieg direkt hinter mir haben. Wenn du straucheln solltest …“

„Stürzen wir beide ab?“

„Fange ich dich auf“, stieß er hervor.

Sie hatte gescherzt, hielt es aber nicht für klug, ihm das jetzt auseinanderzusetzen.

George machte sich an den Abstieg, doch gerade als er im Begriff war, den Fuß auf die oberste Sprosse zu setzen, stieß die Katze, der es offenbar nicht gefiel, ignoriert zu werden, ein markerschütterndes Miauen aus und sprang ihm zwischen die Beine. Mit wild rudernden Armen taumelte George rückwärts.

Billie dachte nicht nach. Sie achtete weder auf ihren Fuß noch auf ihr Gleichgewicht noch auf sonst irgendetwas. Sie sprang einfach nach vorn, packte ihn und zog ihn zurück in Sicherheit.

„Die Leiter!“, kreischte sie.

Doch es war zu spät. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Leiter ins Trudeln geriet und mit seltsam tänzerischer Grazie zu Boden fiel.

2. KAPITEL

Man konnte wohl festhalten, dass George Rokesby, ältester Sohn des Earl of Manston und der vornehmen Welt derzeit als Viscount Kennard bekannt, ein ausgeglichener Gentleman war. Er besaß eine ruhige, feste Hand und einen unerbittlich logischen Verstand. Außerdem verstand er es, seine Augen auf eine Art zusammenzukneifen, die dafür sorgte, dass man seinen Wünschen mit kühler Effizienz nachkam und seine Bedürfnisse mit atemlosem Vergnügen erfüllte, und das – vor allem – nach seinem Zeitplan.

Ebenso konnte man festhalten, dass Miss Sybilla Bridgerton, hätte sie gewusst, wie kurz er davor stand, ihr an die Kehle zu gehen, vor ihm sehr viel größere Angst gehabt hätte als vor der aufziehenden Dunkelheit.

„Das ist aber äußerst bedauerlich“, sagte sie und sah auf die Leiter hinunter.

George schwieg. Er hielt es für das Beste.

„Ich weiß, was du denkst“, behauptete sie.

Mit zusammengebissenen Zähnen stieß er hervor: „Da bin ich mir nicht sicher.“

„Du versuchst zu entscheiden, wen du lieber vom Dach stoßen würdest, mich oder die Katze.“

Damit kam sie der Wahrheit näher, als man hätte annehmen können.

„Ich habe nur versucht zu helfen“, sagte sie.

„Ich weiß“, erwiderte er in einem Ton, der nicht zu weiteren Gesprächen ermutigte.

Doch Billie fuhr einfach fort: „Wenn ich dich nicht gepackt hätte, wärst du hinuntergestürzt.“

„Ich weiß.“

Sie biss sich auf die Unterlippe, und für einen segensreichen Augenblick glaubte er, sie würde die Sache auf sich beruhen lassen.

Dann sagte sie: „Es war dein Fuß, weißt du?“

Er neigte den Kopf, nur ein winziges Stück, nur so weit, um anzuzeigen, dass er sie gehört hatte. „Wie bitte?“

„Dein Fuß.“ Sie wies mit dem Kinn auf sein Bein. „Du hast die Leiter weggestoßen.“

George gab es auf, so zu tun, als ignorierte er sie. „Dafür wirst du jetzt nicht mir die Schuld in die Schuhe schieben!“ Er zischte es beinahe.

„Nein, natürlich nicht“, stimmte sie rasch zu und zeigte damit endlich eine Spur Selbsterhaltungstrieb. „Ich habe nur gemeint … Nur dass du …“

Er machte schmale Augen.

„Ist ja egal“, murmelte sie. Sie stützte das Kinn auf die angewinkelten Knie und sah hinaus aufs Feld. Nicht dass es dort etwas zu sehen gegeben hätte. Es regte sich nichts außer dem Wind, der sich durch ein leises Rascheln der Blätter an den Bäumen bemerkbar machte.

„Wir haben wohl noch eine Stunde bis Sonnenuntergang“, stellte sie fest. „Vielleicht zwei.“

„Wenn es dunkel wird, werden wir nicht mehr hier sein“, erklärte er.

Sie sah erst ihn an und dann die Leiter. Dann wieder ihn, mit einem Blick, der in ihm den Wunsch weckte, sie im sprichwörtlichen Dunkeln stehen zu lassen.

Doch er tat es nicht. Anscheinend konnte er es nicht. Siebenundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit, und die Grundsätze ritterlichen Benehmens waren ihm gründlich eingetrichtert worden. Niemals könnte er sich einer Dame gegenüber so grausam zeigen. Nicht einmal ihr gegenüber.

„Andrew wird hier wohl in einer halben Stunde oder so vorbeikommen“, meinte er.

„Was?“ Sie wirkte erleichtert, dann verärgert. „Warum hast du denn nichts gesagt? Ich kann nicht fassen, dass du mich in dem Glauben gelassen hast, wir könnten hier die ganze Nacht festsitzen.“

Er sah sie an. Billie Bridgerton, seit ihrer Geburt vor dreiundzwanzig Jahren die Geißel seines Lebens. Sie funkelte ihn wütend an, als hätte er sie unsäglich beleidigt. Ihre Wangen waren hochrot, ihre Lippen wütend gespitzt.

Mit unmissverständlich eisiger Deutlichkeit hielt er fest: „Seit dem Augenblick, als die Leiter zu Boden fiel, und dem Moment, in dem mir diese Worte über die Lippen kommen, ist gerade einmal eine Minute vergangen. Verrate mir doch bitte, an welchem Punkt deiner erhellenden Analyse vom Zusammenhang zwischen meinem Fuß und dieser Leiter ich dir diese Information hätte zukommen lassen sollen?“

Ihre Mundwinkel zuckten, aber als ein Grinsen ließ sich dies nicht bezeichnen. Sarkasmus lag ihr in diesem Augenblick völlig fern. Jeder andere hätte gedacht, sie wäre verlegen, vielleicht sogar kleinlaut. Aber das hier war Billie Bridgerton, die schämte sich nie wegen irgendetwas. Sie tat, was ihr gefiel, ohne sich um die Folgen zu scheren. So hatte sie es schon ihr Leben lang gehalten, und normalerweise zog sie dabei den halben Rokesby-Clan mit sich ins Verderben.

Und irgendwie wurde ihr immer wieder verziehen. Sie hatte etwas an sich, das man nicht unbedingt Charme nennen konnte, es war eher eine Art verrückte, sorglose Zuversicht, die die Leute magisch anzog. Ihre Familie, seine Familie, das gesamte verflixte Dorf, sie alle beteten sie an. Ihr Lächeln war breit, ihr Lachen war ansteckend – Herr im Himmel, wie war es eigentlich möglich, dass er als Einziger in ganz England erkannte, was für eine Gefahr sie für die Menschheit darstellte?

Dieser verstauchte Knöchel? Nicht zum ersten Mal. Sie hatte sich auch schon den Arm gebrochen, auf ihre typische spektakuläre Art. Sie war acht gewesen und vom Pferd gefallen. Einem kaum zugerittenen Wallach, den sie nie hätte reiten und mit dem sie erst recht über keine Hecke hätte setzen dürfen. Der Knochen verheilte – wie konnte es auch anders sein, Billie hatte immer höllisches Glück –, und so war sie innerhalb weniger Monate ganz wiederhergestellt, und keiner kam auf die Idee, sie deswegen auszuschelten. Auch nicht, als sie sich wieder rittlings aufs Pferd setzte. In Breeches. Auf denselben verflixten Wallach, über dieselbe verflixte Hecke. Und als es ihr einer ihrer jüngeren Brüder nachtat und sich dabei die Schulter auskugelte …

Hatten alle gelacht. Sowohl seine Eltern als auch ihre hatten den Kopf geschüttelt und einfach nur gelacht, und keiner von ihnen hatte es für angemessen gehalten, Billie vom Pferd zu holen und in ein Kleid zu stecken oder sie, besser noch, in irgendein Mädchenpensionat zu schaffen, wo man ihr Sticken und Benimm beigebracht hätte.

Edwards Arm war aus der Gelenkpfanne gesprungen und hing lose herab. Aus der Gelenkpfanne! Und das Geräusch, das er gemacht hatte, als ihr Stallmeister ihn wieder eingerenkt hatte …

George schauderte. Es war eines dieser Geräusche gewesen, die man eher spürte als hörte.

„Ist dir kalt?“, fragte Billie.

Er schüttelte den Kopf. Ihr allerdings war vermutlich kalt. Sein Rock war beträchtlich wärmer als ihre Jacke. „Und dir?“

„Nein.“

Er sah sie aufmerksam an. Für sie wäre es typisch gewesen, sich möglichst nichts anmerken zu lassen und ihn daran zu hindern, sich wie ein Gentleman zu benehmen. „Du würdest es mir doch sagen, oder?“

Sie hob die Hand, wie um einen Schwur abzulegen. „Versprochen.“

Das reichte ihm. Billie log nicht, und sie hielt, was sie versprach.

„War Andrew mit dir im Dorf?“, fragte sie und blickte mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont.

George nickte. „Wir hatten etwas beim Schmied zu erledigen. Andrew wollte danach noch beim Pfarrer vorbeischauen, und ich hatte keine Lust, zu warten.“

„Natürlich nicht“, murmelte sie.

Er fuhr zu ihr herum. „Was soll das denn heißen?“

Sie öffnete die Lippen, hielt einen Augenblick inne und sagte dann: „Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.“

Er bedachte sie mit einem finsteren Blick und wandte sich dann wieder dem Dach zu, weniger weil er in diesem Augenblick irgendetwas hätte unternehmen können. Doch es lag nicht in seiner Natur, herumzusitzen und abzuwarten. Zumindest könnte er ihre Zwangslage untersuchen, sie einschätzen und …

„Wir können nichts tun“, stellte Billie munter fest. „Nicht ohne die Leiter.“

„Dessen bin ich mir bewusst“, stieß er hervor.

„Du hast dich umgesehen“, meinte sie und zuckte mit den Achseln, „als wolltest du …“

„Ich weiß, was ich getan habe“, fuhr er sie an.

Sie presste die Lippen zusammen, während sie gleichzeitig ärgerlich ihre Brauen wölbte zu jenem Bridgerton-Bogen, als wollte sie sagen: Na los, denk doch, was du willst! Ich weiß es besser.

Sie schwiegen einen Augenblick, und dann fragte sie mit kleinlauter Stimme, die er so von ihr nicht gewohnt war: „Bist du dir ganz sicher, dass Andrew hier vorbeikommt?“

Er nickte. Er und sein Bruder waren von Crake House zu Fuß ins Dorf aufgebrochen. Das entsprach nicht ihrer üblichen Art der Fortbewegung, doch Andrew, der vor Kurzem zum Leutnant der Königlichen Marine befördert worden war, hatte sich bei irgendeinem idiotischen Bravourstück vor der portugiesischen Küste den Arm gebrochen und war zur Genesung nach Hause geschickt worden. Ihm fiel das Gehen leichter als das Reiten, und für März war es ein ungewöhnlich schöner Tag.

„Er ist ohne Pferd unterwegs“, bemerkte George. „Welchen Weg sollte er denn sonst nehmen als den, der hier vorbeiführt?“ Es gab andere Fußpfade, aber sie alle würden den Heimweg um mindestens eine Meile verlängern.

Billie legte den Kopf schief und blickte auf das Feld hinaus. „Es sei denn, jemand nimmt ihn im Wagen mit.“

Er wandte sich langsam zu ihr um, völlig verblüfft von dem Mangel an … allem in ihrem Ton. Keinerlei Wetteifer, keinerlei Streitlust, nicht einmal eine Spur von Sorge. Nur ein kurzes, nüchternes Hmmm, hier haben wir noch eine andere unselige Möglichkeit.

„Na ja, kann doch sein“, meinte sie und zuckte mit den Achseln. „Alle mögen Andrew.“

Das stimmte, Andrew besaß die Art verwegenen, lässigen Charme, die ihn bei jedem beliebt machte, vom Dorfpfarrer bis zu den Schankmädchen im Wirtshaus. Wenn jemand in seine Richtung fuhr, würde er ihn mitnehmen.

„Er geht zu Fuß“, erklärte George bestimmt. „Er braucht Bewegung.“

In Billies Miene waren entschiedene Zweifel erkennbar. „Andrew?“

George zuckte mit den Achseln, weil er ihr in diesem Punkt nicht recht geben wollte, auch wenn Andrew seit jeher ein äußerst sportlicher Mensch war. „Zumindest wird er die frische Luft brauchen. Er geht schon die ganze Woche die Wände hoch. Mutter hat versucht, ihn auf Brühe und Bettruhe zu setzen.“

„Wegen eines gebrochenen Arms?“ Billies empörtes Schnauben wich einem Kichern.

George warf ihr einen Seitenblick zu. „Genießt du das Elend anderer Menschen?“

„Aber immer.“

Das entlockte ihm ein widerstrebendes Lächeln. Er hätte auch kaum Anstoß an dieser Bemerkung nehmen können, nachdem er selbst die ganze letzte Woche damit zugebracht hatte, den Ärger seines jüngeren Bruders zu genießen, ja regelrecht zu befeuern.

Billie veränderte vorsichtig ihre Position, zog die Beine an.

„Pass auf deinen Fuß auf“, sagte George beinahe abwesend.

Sie nickte, und gemeinsam verfielen sie in Schweigen. George starrte vor sich hin, doch er konnte jede ihrer noch so kleinen Bewegungen spüren. Sie strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus den Augen, streckte einen Arm aus, wobei der Ellbogen knackte wie ein alter Stuhl. Doch mit der Hartnäckigkeit, die sie in allen Lebenslagen auszeichnete, kam sie kurz darauf wieder auf das vorige Thema zu sprechen und meinte: „Trotzdem hätte ihn jemand mitnehmen können.“

Beinahe hätte er gelächelt. „Schon möglich.“

Sie schwieg ein paar Augenblicke und sagte dann: „Nach Regen sieht es nicht aus.“

Er sah auf. Der Himmel war leicht bewölkt, aber die Wolken waren zu hell, um viel Regen mit sich zu tragen.

„Bestimmt wird man uns vermissen.“

Er gestattete sich ein Grinsen. „Zumindest mich.“

Sie stieß ihn in die Rippen. Heftig. So heftig, dass er lachen musste.

„George Rokesby, du bist ein grässlicher Mensch“, erklärte sie. Doch sie lächelte dabei.

Er lachte noch einmal, überrascht davon, wie sehr er das leichte Kribbeln in der Brust genoss, das ihr Lächeln hervorrief. Er war sich nicht sicher, ob er und Billie als Freunde gelten konnten – dazu gerieten sie eigentlich zu oft aneinander –, doch sie war ihm vertraut. Das war nicht immer gut, doch im Moment …

War es das.

„Also“, verkündete sie, „es gibt wohl niemanden, mit dem ich lieber auf einem Dach stranden würde.“

Er drehte den Kopf und sah sie an. „Wie, meine Liebe, war das etwa ein Kompliment?“

„Kannst du das nicht erkennen?“

„Von dir?“, parierte er.

Sie schenkte ihm ein liebenswert schiefes Lächeln. „Das habe ich wohl verdient. Aber, weißt du, du bist so verlässlich.“

„Verlässlich“, wiederholte er.

Sie nickte. „Überaus.“

Er spürte, wie sich seine Miene verfinsterte, wobei er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum eigentlich.

„Wenn ich mir nicht den Knöchel verstaucht hätte“, fuhr Billie munter fort, „hätte ich bestimmt einen Weg gefunden, nach unten zu gelangen.“

Er bedachte sie mit einem ausgesprochen skeptischen Blick. Abgesehen von dem Umstand, dass dies nichts mit seiner Verlässlichkeit zu tun hatte … „Hast du nicht eben gesagt, dass es für einen Sprung viel zu hoch ist?“

„Nun ja“, erwiderte sie und tat diese Sache mit einem kleinen Handwedeln ab, „aber mir wäre schon etwas eingefallen.“

„Natürlich“, versetzte er, hauptsächlich, weil es ihm an der nötigen Energie mangelte, etwas anderes zu sagen.

„Der Punkt ist der“, fuhr sie fort, „dass ich, solange ich mit dir hier oben …“

Plötzlich wurde sie ganz bleich. Selbst ihre Augen, sonst unergründlich braun, schienen zu verblassen.

George blieb beinahe das Herz stehen. Nie, nie zuvor hatte er Billie Bridgerton mit solch einem Ausdruck im Gesicht gesehen.

Sie hatte panische Angst.

„Was ist denn?“, fragte er.

Sie wandte sich ihm zu. „Du glaubst doch nicht …“

Er wartete, doch sie schien nichts mehr herausbringen zu können. „Was?“

Ihr kreidebleiches Gesicht nahm einen leicht grünlichen Ton an. „Du glaubst doch nicht, dass jemand annehmen könnte, dass du … dass wir …“ Sie schluckte. „Dass wir beide … zusammen verschwunden sind?“

Georges Welt stand mit einem Mal kopf. „Himmel, nein“, gab er ohne eine Sekunde zu zögern zurück.

„Ich weiß“, stimmte sie zu. Ebenso schnell. „Ich meine, du … und ich. Das ist doch lächerlich.“

„Absurd.“

„Jeder, der uns kennt …“

„Würde wissen, dass wir niemals …“

„Und doch …“ Diesmal verklangen die Worte nicht einfach, sondern senkten sich zu einem verzweifelten Wispern.

Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. „Was denn?“

„Wenn Andrew nicht wie erwartet hier vorbeikommt … und man dich vermisst … und mich vermisst …“ Sie sah zu ihm auf. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. „Irgendwann wird irgendwem auffallen, dass wir beide gemeinsam vermisst werden.“

„Und worauf willst du hinaus?“, herrschte er sie an.

Sie blickte ihm direkt in die Augen. „Nur darauf, dass es eben keinen Grund gibt, warum die Leute nicht annehmen sollten, dass …“

„Die Leute verfügen über Verstand“, gab er zurück. „Niemand würde je auf die Idee kommen, dass ich absichtlich mit dir zusammen bin.“

Sie fuhr zurück. „Oh, na dann, herzlichen Dank.“

„Soll das heißen, du wünschst dir, jemand käme auf diese Idee?“, erwiderte er.

„Nein!“

Er rollte mit den Augen. Frauen! Allerdings hatte er es mit Billie zu tun. Der unweiblichsten Frau, die er kannte.

Sie atmete lang und tief aus. „Unabhängig davon, was du von mir hältst, George …“

Wie brachte sie es nur fertig, dass sein Name aus ihrem Mund wie eine Beleidigung klang?

„Ich muss auf meinen Ruf achten. Und auch wenn mich meine Familie gut genug kennt und …“, hier nahm ihre Stimme einen widerstrebenden Ton an, „… und wohl auch dir genügend vertraut, um zu wissen, dass unser Verschwinden nichts weiter zu bedeuten hat …“

Sie unterbrach sich und kaute auf der Unterlippe herum. Sie sah aus, als fühlte sie sich nicht ganz wohl, und, wenn man ehrlich war, auch ein wenig kränklich.

„Ist der Rest der Welt vielleicht nicht so gnädig“, ergänzte er.

Sie sah ihn kurz an und gab dann zurück: „Genau.“

„Wenn wir nicht vor morgen früh gefunden werden …“, murmelte George eher in sich hinein.

Billie vollendete den schrecklichen Satz. „Müsstest du mich heiraten.“

3. KAPITEL

Was tust du da?“, Billie kreischte fast. George war mit einem Ruck aufgesprungen, der sich als höchst gefährlich erweisen könnte, und schaute nun mit angestrengt gerunzelter Stirn über die Dachkante.

Wahrhaftig, er sah aus, als löste er komplizierteste mathematische Gleichungen.

„Vom Dach steigen“, knurrte er.

„Du bringst dich dabei noch um.“

„Vielleicht“, stimmte er grimmig zu.

„Na, jetzt fühle ich mich aber wie etwas ganz Besonderes“, erwiderte Billie.

Er drehte sich um und starrte wütend auf sie hinunter. „Soll das heißen, du willst mich heiraten?“

Sie erschauerte. „Niemals.“ Doch einer Dame konnte es auch nicht gefallen, dass ein Herr bereit war, sich vom Dach zu stürzen, nur um dieser Möglichkeit aus dem Weg zu gehen.

„Darin, meine Liebe“, sagte George, „sind wir uns wenigstens einig.“

Das traf sie. Oh, und wie sie das traf! Welche Ironie! Es machte ihr nichts aus, dass George Rokesby sie nicht heiraten wollte. Sie konnte ihn ja nicht einmal leiden. Und wenn er sich jemals dazu herabließe, eine Braut zu erwählen, dann wäre diese Oh-so-dankbare Dame ganz anders als sie, dessen war sie sich sicher.

Und dennoch traf es sie.

Die zukünftige Lady Kennard wäre zart, feminin. Sie wäre dazu erzogen, ein großes Haus zu führen, keinen Gutshof. Sie wäre stets nach der neuesten Mode gekleidet, ihr Haar wäre gepudert und aufwändig frisiert, und selbst wenn sie ein Rückgrat aus Stahl besäße, würde sie es unter einer Ausstrahlung vornehmer Hilflosigkeit verbergen.

Männer wie George hielten sich gern für männlich und stark.

Sie beobachtete, wie er die Hände in die Hüften stemmte. Also gut, er war tatsächlich männlich und stark. Aber er war wie die anderen; er würde eine Dame wollen, die über einen Fächer hinweg flirtete. Der Allmächtige möge ihn davor bewahren, eine leistungsfähige, bodenständige Frau zu heiraten.

„Das ist eine Katastrophe!“, stieß er hervor.

Billie gelang es nicht ganz, sich ein Knurren zu verkneifen. „Das fällt dir erst jetzt auf?“

Seine Reaktion bestand aus einem vernichtend finsteren Blick.

„Warum kannst du denn nicht einfach auch mal nett sein?“, platzte Billie heraus.

„Nett?“, wiederholte er.

Oh Gott, warum hatte sie das nur wieder gesagt? Nun würde sie es erklären müssen. „Wie der Rest deiner Familie“, stellte sie klar.

„Nett“, wiederholte er. Er schüttelte den Kopf, als könnte er ihre Unverfrorenheit nicht fassen. „Nett.“

„Ich bin nett“, betonte sie. Das bereute sie dann auch wieder, denn sie war ganz und gar nicht nett. Zumindest nicht immer, und sie hatte das Gefühl, dass sie auch jetzt nicht besonders nett war. Aber das konnte man ihr doch kaum vorwerfen, denn sie hatte es immerhin mit George Rokesby zu tun, da konnte sie einfach nicht anders.

Und er anscheinend auch nicht.

„Ist dir je aufgefallen“, erkundigte er sich mit einer Stimme, die vor Nichtnettigkeit förmlich triefte, „dass ich zu allen außer dir nett bin?“

Das tat weh. Es hätte nicht wehtun dürfen, weil sie sich noch nie gemocht hatten, und verdammt, es hätte auch nicht wehtun dürfen, weil sie das auch gar nicht wollte.

Aber sie würde es sich niemals anmerken lassen.

„Ich glaube, du hast gerade versucht, mich zu beleidigen“, stellte sie fest, wobei sie versuchte, so viel Verachtung wie möglich in ihre Stimme zu legen.

Er starrte sie an und wartete auf weitere Erläuterungen.

Sie zuckte mit den Achseln.

„Aber?“, drängte er.

Sie zuckte noch einmal mit den Achseln und gab vor, ihre Fingernägel zu betrachten. Was natürlich hieß, dass sie ihre Fingernägel tatsächlich genauer ansah. Sie waren abstoßend schmutzig.

Noch etwas, was sie mit der zukünftigen Lady Kennard nicht gemeinsam hatte.

Sie zählte innerlich bis fünf und wartete darauf, dass er auf die ihm eigene beißende Art, die er bereits perfektioniert hatte, bevor er alt genug gewesen war, sich zu rasieren, eine Erklärung forderte. Aber er sagte kein Wort, und am Ende war sie diejenige, die nachgeben musste in diesem albernen Wettstreit, der zwischen ihnen zu herrschen schien. Sie hob den Kopf.

Er sah sie nicht einmal an.

Zum Teufel mit ihm!

Und zum Teufel mit ihr, denn sie konnte sich wieder einmal nicht zurückhalten. Jeder, der auch nur eine Spur Selbstbeherrschung besaß, hätte gewusst, wann er still zu sein hatte, aber nein, sie musste ja wieder ihren dummen, dummen Mund aufreißen und sagen: „Wenn du nicht mal die geistige …“

„Sprich es lieber nicht aus“, riet er ihr.

„… Größe aufbringen kannst …“

„Ich warne dich, Billie.“

„Ach ja?“, gab sie zurück. „Ich glaube eher, dass du mir drohst.“

„Das werde ich!“, spie er beinahe, „wenn du nicht endlich den Mund …“ Leise fluchend unterbrach er sich und wandte sich ab.

Billie zupfte an einem losen Faden ihrer Strümpfe und schob ihre zornig zitternde Unterlippe vor. Sie hätte besser nichts sagen sollen. Sie war sich dessen auch bewusst gewesen, noch während sie redete, denn so ärgerlich und aufgeblasen George Rokesby auch sein mochte, es war einzig und allein ihre Schuld, dass er hier oben auf dem Dach festsaß. Sie hatte keinerlei Veranlassung, ihn so zu provozieren.

Aber er hatte etwas an sich – irgendein spezielles Verhalten, das nur er besaß –, das ihre Erfahrung und Reife zunichtemachte und sie dazu brachte, sich wie eine Sechsjährige zu benehmen. Wenn er jemand anders wäre, egal wer, würde man sie vermutlich als die vernünftigste und hilfreichste Frauengestalt der gesamten Christenheit preisen. Sobald sie von diesem verdammten Dach herunter wäre, würde man sich überall Geschichten von ihrem Mut und ihrem Witz erzählen. Billie Bridgerton … so einfallsreich, so vernünftig … Das sagten alle. Sie hatten auch jeden Grund dazu, denn sie war einfallsreich, sie war vernünftig.

Nur nicht, wenn George Rokesby in der Nähe war.

„Tut mir leid“, murmelte sie.

Ganz langsam wandte er sich ihr wieder zu, so als könnte er nicht fassen, was sie da gerade von sich gegeben hatte.

„Ich habe gesagt, dass es mir leid tut“, wiederholte sie lauter. Es fühlte sich schrecklich an, aber es war richtig so. Aber gnade ihm Gott!, wenn er sie dazu brachte, es noch einmal gestehen zu müssen, denn ihren Stolz konnte sie nicht hinunterschlucken, ohne daran zu ersticken. Und das sollte ihm auch klar sein.

Denn er war genauso.

Ihre Blicke begegneten sich, dann sahen beide zu Boden, und nach einer Weile meinte George: „Wir sind beide im Moment nicht ganz auf der Höhe.“

Billie schluckte. Sie überlegte, ob sie vielleicht noch etwas sagen sollte, doch bisher war ihr ihr Urteilsvermögen keine große Hilfe gewesen, und so nickte sie stattdessen und schwor sich, den Mund zu halten, bis …

„Andrew?“, flüsterte George.

Billie wurde munter.

„Andrew!“ George brüllte regelrecht.

Aufgeregt suchte Billie die Baumreihe am gegenüberliegenden Feldrand mit den Augen ab, und da war er … „Andrew!“, kreischte sie und machte instinktiv Anstalten, sich zu erheben, als ihr Knöchel sich nachdrücklich meldete.

„Au!“, schrie sie und plumpste auf ihr Hinterteil.

George hatte keinen Blick für sie übrig. Er stand schon an der Dachkante und wedelte in großen, ausladenden Bewegungen mit den Armen.

Andrew konnte sie unmöglich übersehen, schließlich schrien sie beide aus vollem Halse, doch Billie konnte nicht erkennen, ob er seinen Schritt beschleunigte. Aber das war wieder einmal typisch Andrew. Vermutlich konnte sie schon froh sein, dass er sich angesichts ihrer Zwangslage nicht vor Lachen auf dem Boden wälzte.

Diese Situation war etwas, das er sie beide nicht vergessen lassen würde.

„Ahoi da oben!“, rief Andrew aus, nachdem er die halbe Strecke zurückgelegt hatte.

Billie blickte zu George hinüber. Sie konnte nur sein Profil sehen, doch er wirkte sichtlich erleichtert über das Auftauchen seines Bruders. Und merkwürdig grimmig. Nein, eigentlich war das gar nicht merkwürdig, erkannte sie. Wie sehr Andrew sie künftig auch aufziehen mochte, George würde es hundertfach abbekommen.

Andrew kam näher. Sein Schritt war beschwingt, obwohl sein verletzter Arm in einer Schlinge steckte. „Was für eine reizende Überraschung“, erklärte er und grinste dabei über das ganze Gesicht. „Wenn ich nachgedacht hätte, richtig scharf nachgedacht, scharf und schärfer …“

Er hielt inne und hob den Zeigefinger, eine Geste, wie Billie erkannte, die man überall als Bitte um eine kleine Pause interpretiert hätte. Dann legte er den Kopf in den Nacken, als holte er noch einmal richtig Schwung, und sagte: „Eben richtig scharf …“

„Ach, zum Kuckuck noch mal!“, knurrte George.

„Und das jahrelang, viele Jahre scharfen Nachdenkens …“, gluckste Andrew. „Dann hätte ich mir trotzdem nichts einfallen lassen können, was …“

„Hol uns einfach von diesem verdammten Dach herunter!“, fuhr George ihn an.

Billie konnte seinen Ärger gut nachempfinden.

„Ich fand immer, dass ihr beide ein prächtiges Paar abgeben würdet“, flötete Andrew durchtrieben.

„Andrew“, knurrte Billie.

Er schenkte ihr ein hinterhältiges Lächeln. „Wirklich, so weit hättet ihr nicht gehen müssen, um ein wenig unter euch zu sein. Wir anderen wären euch da mit Freuden entgegengekommen.“

„Hör auf damit!“, befahl Billie.

Andrew sah auf und lachte, während er gleichzeitig etwas gekünstelt die Stirn runzelte. „Möchtest du mir gegenüber wirklich einen solchen Ton anschlagen, Billie, du kleine Zicke? Ich bin hier derjenige, der auf festem Boden steht.“

„Bitte, Andrew“, barmte sie und gab sich größte Mühe, höflich und vernünftig zu wirken. „Wir würden deine Hilfe sehr zu schätzen wissen.“

„Nun, wenn du mich so hübsch bittest“, murmelte Andrew.

„Ich bring ihn um!“, stieß sie hervor.

„Und ich breche ihm den anderen Arm“, knurrte George.

Billie unterdrückte ein Lachen. Andrew konnte sie unmöglich gehört haben, dennoch sah sie zu ihm hinunter und erkannte, dass er, die gesunde Hand in die Hüfte gestützt, missmutig dreinblickte.

„Was ist denn nun schon wieder?“, wollte George wissen.

Andrew betrachtete angestrengt die Leiter, die Lippen nachdenklich geschürzt. „Ich weiß nicht, ob es einem von euch schon aufgefallen ist, aber eine Aufgabe wie diese lässt sich mit nur einem Arm nicht so leicht bewältigen.“

„Nimm den Arm aus der Schlinge“, bat George, doch seine Worte wurden übertönt von Billies Schrei: „Nimm den Arm nicht aus der Schlinge!“

„Willst du wirklich auf dem Dach bleiben?“, zischte George.

„Soll er sich erneut verletzen?“, gab sie zurück. Sie mochten ja darüber gewitzelt haben, dass sie Andrew den anderen Arm brechen wollten, aber … Also wirklich! Der Mann diente in der Marine. Für ihn war es lebenswichtig, dass der Knochenbruch ordentlich verheilte.

„Du würdest mich seinem Arm zuliebe heiraten?“

„Ich werde dich nicht heiraten“, gab sie zurück. „Andrew weiß jetzt, wo wir sind. Er kann Hilfe holen, wenn wir welche brauchen.“

„Bis er mit einem kräftigen Mann zurück ist, werden wir hier oben mehrere Stunden miteinander verbracht haben.“

„Und du bist von deiner männlichen Leistungskraft so überzeugt, dass du meinst, die Leute würden dir zutrauen, dass du mich auf einem Dach kompromittierst?“

„Glaub mir!“, zischte George, „jeder Mann, der auch nur einen Funken Vernunft besitzt, würde wissen, dass man dich unmöglich kompromittieren kann.“

Einen Augenblick lang runzelte Billie verwirrt die Stirn. Machte er ihr ein Kompliment wegen ihrer sittlichen Ehrbarkeit? Aber dann …

Oh!

„Du bist einfach nur niederträchtig!“, schäumte sie. Es war für sie die einzige zur Wahl stehende Antwort. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie mit „Du hast ja keine Ahnung, wie viele Männer mich gern kompromittieren würden!“ Punkte für Würde und Witz bekommen würde.

Oder für Ehrlichkeit.

„Andrew“, rief George nach unten mit dieser hochmütigen Ich-bin-der-älteste-Sohn-Stimme, „ich gebe dir einhundert Pfund, wenn du die Schlinge abnimmst und die Leiter aufstellst.“

Einhundert Pfund?

Völlig fassungslos drehte Billie sich zu ihm um. „Hast du den Verstand verloren?“

„Ich weiß nicht“, sagte Andrew. „Es könnte tatsächlich hundert Pfund wert sein, euch dabei zuzusehen, wie ihr euch gegenseitig umbringt.“

„Sei doch kein Idiot!“, rief George und warf ihm einen wütenden Blick zu.

„Du würdest nicht einmal erben“, erklärte Billie, obwohl Andrew nie den Wunsch geäußert hatte, seinem Vater als Earl of Manston nachzufolgen. Er war viel zu vernarrt in sein freies Leben, um eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen.

„Ah ja, Edward“, seufzte Andrew etwas übertrieben. Er bezog sich auf den zweiten Rokesby-Sohn, der zwei Jahre älter war als er. „Das versalzt mir natürlich die Suppe. Es würde ja sehr verdächtig aussehen, wenn ihr beide unter merkwürdigen Umständen ums Leben kämt.“

Ein Augenblick betretenen Schweigens folgte, als ihnen allen klar wurde, dass Andrew etwas, was für beiläufige Scherze vielleicht viel zu ernst war, auf die leichte Schulter genommen hatte. Edward Rokesby hatte den stolzesten Weg genommen, der zweiten Söhnen offenstand, und war zum Hauptmann im 54. Infanterieregiment seiner Majestät avanciert. Vor einem Jahr war er in die amerikanischen Kolonien geschickt worden und hatte tapfer in der Schlacht von Quaker Hill gekämpft. Er war mehrere Monate in Rhode Island stationiert gewesen und dann ins britische Hauptquartier in New York versetzt worden. Viel zu selten erhielt die Familie eine Nachricht, wie es um seine Gesundheit und sein Wohlergehen bestellt war.

„Wenn Edward umkommt“, sagte George steif, „würde man die Umstände wohl kaum als ‚merkwürdig‘ bezeichnen.“

„Ach, nun mach mal halblang“, Andrew bedachte seinen älteren Bruder mit einem Augenrollen, „sei doch nicht immer so verdammt ernst.“

„Dein Bruder riskiert sein Leben für König und Vaterland“, erwiderte George, und Billie fand, dass seine Stimme selbst für ihn kurz angebunden und angespannt klang.

„Genau wie ich“, erwiderte Andrew mit kühlem Lächeln. Er drehte den verletzten Arm in Richtung Dach. „Zumindest den einen oder anderen Knochen.“

Billie schluckte und sah vorsichtig zu George hinüber, um seine Reaktion abzuschätzen. Wie es für dritte Söhne üblich war, hatte Andrew die Universität ausgelassen und war gleich als Seekadett in die Royal Navy eingetreten. Vor einem Jahr war er in den Rang eines Leutnants befördert worden. Andrew war nicht so oft in Gefahr wie Edward, doch auch er machte in Uniform seinem Vaterland alle Ehre.

George hingegen hatte man ein Offizierspatent verwehrt: Er war der Erbe des Earls und wurde als solcher als viel zu wertvoll erachtet, als dass man ihn amerikanischen Musketenkugeln hätte aussetzen können. Und Billie fragte sich … Machte ihm das etwas aus? Dass seine Brüder ihrem Vaterland dienten und er nicht? Hatte er vielleicht auch kämpfen wollen?

Und dann fragte sie sich … Warum hatte sie sich das alles noch nie gefragt? Gut, sie verschwendete nicht viele Gedanken an George Rokesby, es sei denn, er stand vor ihr, doch das Leben der Rokesbys und der Bridgertons war schon immer eng miteinander verwoben gewesen. Es erschien ihr merkwürdig, dass sie das nicht wusste.

Langsam blickte sie von einem Bruder zum anderen. Die beiden hatten eine ganze Weile nichts gesagt. Andrew starrte immer noch nach oben, in seinen eisblauen Augen lag eine gewisse Herausforderung, und George blickte hinab mit … Nun ja, nicht direkt mit Zorn. Zumindest nicht mehr. Bedauern war es auch nicht. Stolz war es ebenfalls nicht. Oder sonst irgendetwas, was sie hätte zuordnen können.

Diese Unterhaltung hatte gewisse Untertöne, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen waren.

„Also, ich habe mein Leben für eine undankbare Katze aufs Spiel gesetzt“, erklärte sie, darauf bedacht, das Gespräch in weniger brisante Bahnen zu lenken. Als da wäre: ihre Rettung.

„Das also ist passiert?“, murmelte Andrew und beugte sich über die Leiter. „Ich dachte, du könntest Katzen nicht ausstehen.“

George wandte sich ihr mit einer Miene zu, die über bloße Erbitterung weit hinausging. „Du magst Katzen noch nicht einmal?“

„Jeder mag Katzen“, erwiderte Billie rasch.

George kniff die Augen zusammen, und sie wusste genau, dass er ihr das ausdruckslose Lächeln nicht abnahm, doch zum Glück stieß Andrew in diesem Augenblick einen erstickten Fluch aus, worauf beide ihre Aufmerksamkeit wieder seinen Bemühungen mit der Leiter zuwandten.

„Alles in Ordnung?“, rief Billie ihm zu.

„Ein Holzsplitter“, stieß Andrew hervor. Er saugte am kleinen Finger. „Verdammt!“

„Das wird dich nicht umbringen“, stellte George kühl fest.

Andrew nahm sich einen Augenblick Zeit, um seinen Bruder wütend anzufunkeln.

George rollte mit den Augen. „Ach, um Himmels willen!“

„Provoziere ihn doch nicht auch noch!“, zischte Billie.

Autor

Julia Quinn
<p>Julia Quinn, auch als zeitgenössische Jane Austen bezeichnet, studierte zunächst Kunstgeschichte an der Harvard Universität. Ihre überaus erfolgreichen historischen Romane präsentieren den Zauber einer vergangenen Epoche und begeistern durch ihre warmherzigen, humorvollen Schilderungen.</p>
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