Der König und die Kellnerin

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Ein Blick in die faszinierenden bernsteinfarbenen Augen des Fremden – und in Kellnerin Aurélie entbrennt ein nie gekanntes Feuer. Es ist, als kenne sie Lucien schon ewig. Als er sie küsst, scheint die Zeit stillzustehen, berauscht vor Glück verbringt Aurélie eine Nacht der Lust mit ihm. Schon am nächsten Morgen ist Lucien nicht mehr als eine süße Erinnerung. Bis Aurélie schockiert feststellt, dass sie sein Kind unter dem Herzen trägt – und er der neue König von Vallort ist, der in wenigen Tagen heiraten wird!


 

  • Erscheinungstag 16.04.2024
  • Bandnummer 2526
  • ISBN / Artikelnummer 9783963692017
  • Laufzeit 05:06:00
  • Audio Format mp3-Download
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der gut aussehende Mann mit den breiten Schultern, faszinierenden bernsteinfarbenen Augen und pechschwarzem Haar zog viele Blicke auf sich.

So grüblerisch, wie er dreinschaute, war ihm aber eindeutig nicht nach Gesellschaft zumute.

Dabei war er nicht unhöflich. Im Gegenteil: Er war netter zu Aurélie als die meisten Gäste. Aber nach einem knappen Gespräch verschloss sich sein Gesicht, und er drückte den Rücken an die uralte Steinwand der Nische, sodass ihm niemand zu nahe kam.

Dieses Gesicht war atemberaubend schön, mit markanten Zügen und einem sinnlichen Mund. Doch die düstere Furche auf seiner Stirn verstärkte sich, sobald sein Handy vibrierte. Er nahm das Telefon nicht zur Hand, sondern starrte vor sich hin oder beobachtete Aurélie, während sie sich zwischen den Tischen hindurchschlängelte.

Es war nicht voll heute Abend. Im Winter kamen wenig Touristen nach Annecy.

Vielleicht wanderte Aurélies Blick deshalb immer wieder zu diesem Mann zurück. Er war bei Weitem der faszinierendste Gast im halb leeren Restaurant.

Schon als sie ihn zu seinem Tisch geführt hatte, war sie sich seiner großen Gestalt in ihrem Rücken allzu bewusst gewesen, und sein Duft nach Natur und herber Frische hatte sie eingehüllt, als er an ihr vorbei zu seinem Platz gegangen war.

Er war unfassbar attraktiv.

Doch irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Sie sah es an der Art, wie er sein erstes Glas Wein herunterkippte, als hätte er es dringend gebraucht. Das zweite hingegen schien er vollkommen zu vergessen, während er es noch in der Hand hielt. Es war, als schwebe eine dunkle Wolke über ihm.

Wie fantastisch musste er erst aussehen, wenn er lächelte?

Aurélie schob diese Überlegungen beiseite und räumte den nächsten Tisch ab. Die beiden Spanier hatten sich während des Essens einen Schwips angetrunken und waren in Partylaune. Der eine versuchte, mit ihr zu flirten. Während sie sich vorbeugte, hob er die Hand, als wolle er Aurélie an den Po fassen. Instinktiv kippte sie das Tablett in seine Richtung. Noch ein Zentimeter, und er bekäme klebrigen Raclettekäse ab. Dazu ein strenger Blick, und er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie der Mann in der Nische sein Glas abstellte und aufstehen wollte.

Doch sie brauchte keine Hilfe. Einige humorvolle, aber bestimmte Worte auf Spanisch, und der Bursche war in seine Schranken verwiesen. Dennoch bedankte sie sich auf dem Weg in die Küche mit einem diskreten Lächeln. Der Mann nickte kaum merklich.

Aurélie spürte einen Stich im Herzen. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand sie beschützte.

Wahrscheinlich sah sie deshalb erneut zu ihm herüber.

Außerdem umgab ihn eine emotionsgeladene Aura – wie mühsam im Zaum gehaltene Energie –, die Aurélie wahrnahm, wann immer sie an seinen Tisch trat. Und wenn diese hellen Augen ihrem Blick begegneten, durchfuhr sie prickelnde Hitze.

Oder sie bildete sich das alles nur ein.

Schließlich stand ihr gerade eine Veränderung bevor. Alles schien möglich, doch sie zahlte einen hohen Preis. Andererseits war es gut, Gewissheit zu haben – so hart es sie auch traf. Trotz aller Bemühungen bedeutete sie ihrer Familie absolut nichts. Sie war allein.

Beherrscht blinzelte sie die aufsteigenden Tränen weg und lächelte einem Gast zu, der um die Rechnung bat. Die Leere in ihrem Inneren ignorierte sie. Wozu sich selbst bemitleiden? Sie würde wie immer den Kopf einziehen und hart arbeiten.

Nur, dass sie jetzt eine echte Chance hatte, und die würde sie mit beiden Händen ergreifen.

Lucien beobachtete, wie sich das Gesicht der Kellnerin erhellte, wenn sie einen Gast anlächelte. Sie strahlte einen Glanz aus, der ihm trotz der tiefen Verzweiflung, die ihn gefangen hielt, nicht entging.

Da waren nicht nur die Grübchen auf ihren Wangen, sobald sie redete – offenbar beherrschte sie mindestens vier Sprachen. Auch das feuerrote Haar trug dazu bei. Sie hatte es zu einem schwingenden Pferdeschwanz zurückgebunden, der funkelte wie kostbare Juwelen.

Mit dem Blick folgte er ihren raschen, geschmeidigen Bewegungen voller Würde und Kraft, während sie sich mit beladenen Tabletts zwischen Tischen hindurchmanövrierte. Dazu dieser ungezwungene Humor. Selbst, als der betrunkene Rüpel sie anfassen wollte, hatte sie ihn mit Witz auf seinen Platz verwiesen, ohne ihn zu verärgern.

Manchmal trafen sich ihre Blicke. Der Effekt war atemberaubend: Fast schmerzhaft fuhr Wärme in sein erstarrtes Herz.

Seit er heute Morgen von dem Unglück erfahren hatte, umgab ihn eine Mauer aus Eis, die ihn vom Rest der Welt isolierte. Lucien wusste, dass das der Schock war, der alles weniger greifbar machte.

Seltsamerweise erschien ihm im Moment die Verbindung zu dieser Kellnerin sehr viel realer. Er glaubte, in ihren Blicken Verständnis zu finden, Wärme, die ihn verlockte, obwohl er mit seiner Trauer allein sein wollte.

Seine Welt bestand nur noch aus Schmerz.

Er starrte in sein Glas, ließ die Flüssigkeit kreisen und kippte sie hinunter. Es brannte in seinem Hals, doch der Alkohol vermochte den stechenden Schmerz in seiner Brust nicht zu dämpfen.

Immer wieder sah er Justin vor sich, dessen Auto vom Aufprall zusammengequetscht worden war. Weil er das jedoch nicht aushielt, dachte er daran, wie sie vor Jahren zusammen hergekommen waren. Wie hatte Justin die Inkognito-Reise genossen! Lucien erinnerte sich an das Lachen seines Cousins, an die einfachen Freuden eines Campingurlaubs – beim Paragliding, beim Segeln auf dem See oder wenn sie am Lagerfeuer Bier getrunken hatten wie zwei vollkommen gewöhnliche Jungs.

Darum hatte Lucien das Navi ausgeschaltet und war in dieses Städtchen in Ostfrankreich gefahren, das gar nicht auf dem Weg nach Vallort lag. Eigentlich hätte er fliegen sollen, doch er hatte sich für das Auto entschieden.

Morgen musste er sich seiner trostlosen neuen Verantwortung stellen. Heute durfte er zum letzten Mal mit seinen Erinnerungen allein sein.

Zuerst war Onkel Joseph, der ihn wie ein Vater großgezogen hatte, einer plötzlichen Krankheit erlegen. Dann, weniger als vierundzwanzig Stunden nach dessen Tod, war Cousin Justin verunglückt, der wie ein Bruder gewesen war.

Luciens gesamte Familie.

Verzweifelt schnappte er nach Luft. Der Schmerz, der in seinem Herzen tobte, war so heftig, dass ihm schwarz vor Augen wurde.

Wankend kam er auf die Füße.

Er musste hier raus.

Als Aurélie das Restaurant verließ, schneite es. Dicke Flocken landeten auf ihrem Gesicht. Sie lächelte. Es war so still hier draußen, als wäre sie die Einzige, die dieses kleine Wunder mitbekam.

Den Mantel enger um sich ziehend, lief sie über Kopfsteinpflaster ins Zentrum der Stadt. Das alte Palais de l’Île thronte pittoresk mitten im Fluss.

Würde sie ihre Heimatstadt vermissen?

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Eine große Silhouette, die beinahe mit einer alten Mauer verschmolz.

In ihrer Manteltasche umklammerte sie den Schlüsselbund, sodass die Schlüssel zwischen den Fingern hervorstachen.

Drei Herzschläge lang stand sie da und fragte sich, warum sie zögerte. Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie erkannte den Mann.

Der einsame Gast, der ihre Neugierde geweckt hatte.

„Monsieur? Geht es Ihnen gut?“

Er trug keinen Mantel, nur Jeans und Pullover. Der feine Stoff war ihr schon zuvor aufgefallen, vielleicht Kaschmir. Auf jeden Fall teuer, aber keineswegs warm genug für hier draußen. Schnee lag auf seinen Schultern und auf den dunklen Haaren.

Wie lange stand er schon dort? Er hatte das Restaurant vor einer Stunde verlassen.

Sobald Aurélie näher trat, zuckte er zusammen, als hätte sie ihn aus tiefem Schlaf geweckt. Oder war es drohende Unterkühlung?

„Sie sind es.“ Seine Stimme klang rau. Nicht bedrohlich, sondern heiser und belegt.

„Was tun Sie hier?“

„Ich warte auf Sie“, hätte der Spanier gesagt und anzüglich gegrinst.

„Ich … denke nach.“ Sie hörte ihn schlucken. „Ich brauchte Luft …“ Er brach ab.

Sie ermahnte sich, nicht enttäuscht zu sein, weil er nicht auf sie wartete.

Manche Gäste missverstanden ihre professionelle Freundlichkeit. Warum wünschte sie ausgerechnet heute Abend, diesem Mann wäre es auch so ergangen?

Weil sie sich einsam fühlte, zurückgewiesen und betrogen von ihrer eigenen Familie. Und weil dieser Mann anders war. Fast, als würde sie ihn kennen, obwohl sie sicher wusste, dass sie einander vollkommen fremd waren.

Aber das war albern.

„Hier können Sie nicht bleiben. Sie werden erfrieren“, erklärte sie aufgeräumt und ging noch einen Schritt auf ihn zu.

Sein Blick war immer noch ganz weit weg.

„Wo ist Ihr Mantel?“

Er zuckte mit den Schultern. „Im Auto, nehme ich an.“

„Und wo ist Ihr Auto?“

Er nickte in Richtung des Sees. „Im Parkhaus.“

„Also gut. Wo übernachten Sie?“

Er zögerte. Dann war es, als käme er aus tiefem Wasser an die Oberfläche. Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. „Ich wollte nach dem Essen weiterfahren.“

„Sie können nicht fahren. Sie haben getrunken und könnten verunglücken.“

Ihre Worte hatten einen schockierenden Effekt. Er erschauderte zutiefst und musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Was er vor sich hinmurmelte, verstand sie nicht, aber Aurélie hörte den Schmerz in seiner Stimme.

Sie hatte recht. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

Instinktiv berührte sie seine Hand. Eiskalt. Nun sah sie ganz deutlich, wie heftig er zitterte.

„Sind Sie krank?“

„Nein. Mir ist kalt.“ Er klang überrascht, und sie fragte sich, ob ihm klar war, wie lange er schon hier draußen stand.

Er richtete sich auf, stieß sich von der Wand ab und wirkte gleich größer und wachsamer. Als wäre er zurückgekommen von diesem Ort, wo auch immer seine Gedanken gewesen waren.

Nur einen Moment lang zögerte Aurélie. Zweifellos hätten ihre Freunde ihr abgeraten. Aber sie konnte ihn nicht hier stehen lassen. Nicht heute Nacht. Nicht ihn.

Unerklärlicherweise war sie ganz sicher, dass sie richtig handelte.

„Kommen Sie mit.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Wohin?“

„Zu mir nach Hause.“

2. KAPITEL

„Sie können sich aufwärmen, bevor wir Ihnen ein Zimmer suchen.“

Auf eingefrorenen Beinen folgte Lucien ihren raschen Schritten durch die schmale Fußgängerzone.

Er war es nicht gewohnt, sich herumkommandieren zu lassen. Normalerweise gab er die Anweisungen. Doch heute Nacht lief sein Herz über vor Trauer, und sein Leben war aus der Bahn geworfen. Es war so einfach, dieser Frau zu folgen.

Ja, aufwärmen. Er hatte nicht bemerkt, wie kalt ihm war – in den Füßen kaum noch Gefühl, Ohren und Wangen zu Eis erstarrt.

Ja, ein Zimmer. Ihm wurde vage bewusst, dass er auch das brauchte. Irgendetwas ruhiges, anonymes. Dies war seine letzte Nacht inkognito. Plötzlich kam sie ihm unendlich kostbar vor.

Von nun an würde man ihn überall erkennen. Jedenfalls in seinem Heimatland. Nie wieder würde er sich einfach nach der Arbeit mit Freunden treffen.

Arbeit … Lucien seufzte leise. Natürlich wartete jede Menge Arbeit auf ihn. Nur eben nicht am Zeichentisch eines Architekten. Keines seiner Projekte würde er selbst beenden.

Das alles lag jetzt hinter ihm.

Angewidert verzog er das Gesicht. Wie konnte er sich selbst bemitleiden, während auf seinen Onkel und Justin nur die Familiengruft wartete?

„Sind Sie sicher, dass Sie keinen Arzt brauchen?“ Sie war vor einer schäbigen Holztür stehengeblieben. Selbst im spärlichen Licht einer Wandleuchte funkelte ihr Haar.

„Ziemlich sicher.“ Lucien schob seine quälenden Gedanken beiseite und runzelte die Stirn. „Sie kennen mich gar nicht. Wollen Sie einen Fremden zu sich einladen?“

Ihre Augenbrauen schossen nach oben.

„Entschuldigung. Ich wollte nicht wie Ihr Vater klingen.“

Die Vorstellung, man könnte ihre Großzügigkeit ausnutzen, gefiel ihm nicht. Er hatte gesehen, wie dieser junge Tourist sie begrapschen wollte. Unwillig biss er die Zähne zusammen.

Sie lachte bitter. „Sie klingen nicht wie mein Vater.“

Instinktiv spürte Lucien, dass mehr hinter ihren Worten steckte, aber sie öffnete die Tür, bevor er etwas erwidern konnte.

„Keine Sorge. Ich komme Ihnen nicht zu nahe.“ Ihre Worte klangen spitz, doch sie sah ihn nicht an. Da erkannte er, dass sie seine Besorgnis als Vorwurf missverstanden hatte. „Ich möchte Sie morgen nicht erfroren in einem Türeingang finden. Wenn Sie reinkommen wollen, dann jetzt.“

Offensichtlich war sie verärgert. Lucien verfluchte sich innerlich. In diesem Moment war sie das Einzige, was ihn noch mit der Welt verband.

Also betrat er den winzigen Wohnraum mit einer ärmlichen Küchenzeile.

Sie deutete auf eine von zwei weiteren Türen und mied seinen Blick. Das enttäuschte ihn. Vor anderen Männern sollte sie sich in Acht nehmen, aber doch nicht vor ihm.

„Dort ist das Badezimmer. Im Regal finden Sie ein frisches Handtuch. Wärmen Sie sich unter der Dusche auf. Inzwischen mache ich uns ein heißes Getränk.“

„Vielen Dank. Das ist wirklich nett von Ihnen.“

Lucien wartete, bis sie sich umwandte, und als sie es endlich tat, wirkte sie verletzt. In diesem Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart fiel es ihm schwer, sich richtig auszudrücken. Doch als er ein dankbares Lächeln zustande brachte, schien sie sich etwas zu entspannen.

Sie nickte zum Badezimmer. „Reichen Sie mir Ihren Pullover raus. Ich lege ihn zum Trocknen über die Heizung.“

Er zog sich den nassen Pullover über den Kopf und gab ihn ihr. „Danke.“

Dann ging er ins Badezimmer. Warm und trocken würde er sich bestimmt wieder wie er selbst fühlen.

Aurélie blinzelte, als die Tür sich hinter ihm schloss. Bald hörte sie Wasser rauschen. Vermutlich musste er sich bücken, um unter ihre Dusche zu passen. Alles in ihrer Wohnung war winzig und er bestimmt einen Meter neunzig groß.

Und sehr gut gebaut. Schlank und muskulös.

Das faszinierende Spiel seiner Muskeln und diese breiten Schultern, als er seinen Pullover ausgezogen hatte! Er hatte sich umgedreht, um ins Bad zu gehen, und ihr Blick war automatisch an seinem perfekten Po in schwarzen Jeans hängengeblieben, ihr Mund vollkommen trocken.

Und dann erst dieses Lächeln! Seine bernsteinfarbenen Augen waren plötzlich voller Wärme gewesen, mit kleinen Fältchen an den Seiten.

Nie zuvor hatte ein Mann sie so angelächelt. Jedenfalls keiner wie dieser.

Dabei verstand sie noch nicht einmal, was ihn so besonders machte.

Okay, abgesehen von seinem perfekten Aussehen, dieser aristokratischen Aura und einem Lächeln, das sein Gesicht komplett verwandeln konnte. Und natürlich die nachdenkliche Art, die ihre Neugierde befeuerte.

Was auch immer sie derart anzog: Es zeigte, wie einsam sie war – trotz der vielen Arbeit und all ihrer Zukunftspläne.

Sogar ihre Familie hatte sie nie geliebt. Jetzt waren sie fort, und sie war auf sich gestellt.

Natürlich hatte sie Freunde, aber keine sehr engen. Für ein erfülltes Sozialleben war zwischen Arbeit und Familie nie genug Zeit geblieben.

Hatte sie deshalb einen Fremden zu sich eingeladen? Damit sie für die Dauer einer Dusche und eines heißen Getränks nicht allein war?

Aurélie erstarrte. So bedürftig war sie nun auch wieder nicht.

Sie sah auf die feuchte Wolle in ihrer Hand und roch den verführerischen Duft männlicher Haut.

Rasch lief sie damit zur Heizung.

Als die Getränke fertig waren, kam er aus dem Bad.

„Das hat gutgetan. Danke, Mademoiselle …?“

„Aurélie.“ Sie rührte in seiner Tasse, um ihn nicht ansehen zu müssen. „Tut mir leid, dass ich kein Hemd für Sie habe, aber Ihr Pullover sollte bald trocken sein.“ Ihm die nasse Hose abzunehmen, bot sie nicht an. Wie sollte sie ihren Verstand beisammenhalten, wenn ihr Gast sich noch weiter auszog?

„Danke schön, Aurélie.“ Bei seiner tiefen Stimme klang ihr Name wie ein Kosewort, und ein Schauer durchlief sie. „Ich bin Lucien.“

Sie nickte und reichte ihm den dampfenden Becher. Irgendwie schien dieser Mann allen Sauerstoff in ihrer kleinen Wohnung für sich zu verbrauchen.

„Heiße Schokolade?“ Er schnupperte.

„Nachts trinke ich keinen Kaffee. Nach der Arbeit muss ich runterkommen. Bitte setz dich doch.“ Sie deutete auf das kleine, abgesessene Sofa.

Ein wenig Abstand war vernünftig. Sie lehnte sich mit der Hüfte gegen die Küchenzeile.

„Du spielst Schach?“ Er zeigte auf das Brett auf der Kiste, die ihr als Couchtisch diente. „Wie wäre es mit einer Partie, solange ich auf meinen Pullover warte?“

Aurélies Blick zuckte von seinem ebenmäßigen Profil zu der atemberaubenden Brust mit den dunklen Härchen. Wenn sie sich aufs Schachspiel konzentrierte, konnte sie ihn wenigstens nicht anstarren. Schließlich nickte sie.

Allerdings lenkte es sie ab, ihm gegenüberzusitzen. Lucien schlug sie mühelos. Andererseits tat es erstaunlich gut, die Stille der Nacht mit ihm zu teilen. Selbst ihr Unbehagen verflog, während sie über Schach und andere Spiele sprachen, die sie als Kinder gemocht hatten.

So erfuhr sie, dass er in den Bergen aufgewachsen war. Seinem Akzent nach zu urteilen, nicht in Frankreich. Aurélie fragte nicht nach. Morgen war diese Nacht nur noch eine Erinnerung. Außerdem wirkte er so zurückhaltend, dass sie seine Privatsphäre nicht verletzen wollte.

Stattdessen erzählte sie von ihrer Liebe zur Musik. Dass sie Klavier hatte lernen wollen und jetzt lieber sang. Sie stellte es wie eine Entscheidung dar. Dabei hatte sie schlicht kein Geld für Unterricht.

Als er ihr eine Revanche anbot, nahm sie an – und gewann. Aurélie fühlte sich völlig gelöst bei Lucien. Abgesehen von dieser elektrisierenden Spannung in ihrem Inneren. Lucien war nicht nur angenehme Gesellschaft, sondern auch der attraktivste Mann, den sie je getroffen hatte.

„Glückwunsch“, murmelte er. „Manche deiner Spielzüge sind genial.“

„Na, danke schön.“ Ihr Lächeln erstarb, als sie seine geballten Fäuste zwischen den Knien bemerkte, die Knöchel fast weiß. „Lucien, was ist los?“

Er litt, so viel war offensichtlich.

„Nichts. Du hast mich gerade an jemanden erinnert.“ Sein Kiefermuskel trat deutlich hervor.

„Einen Schachspieler?“

Als er nickte, sah sie ihn heftig schlucken.

Es ging sie nichts an. Was ihn auch quälte, sie konnte nicht helfen. Und dennoch ließ seine Verzweiflung sie nicht unberührt.

„Möchtest du darüber reden?“

Er hob den Blick, und seine bernsteinfarbenen Augen schienen ihr tief in die Seele zu schauen, wo mächtige Emotionen wüteten. Mitleid, Bedauern und das überwältigende Bedürfnis zu trösten.

„Danke.“ Seine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. „Aber er ist tot.“

„Das tut mir leid.“ Mit Trauer kannte Aurélie sich aus. Vor Jahren hatte sie ihre Mutter verloren und vermisste sie noch immer. Sie erinnerte sich an den unglaublichen Schmerz zu Beginn und die langen, einsamen Tage danach.

Es war kaum auszuhalten, seine Seelenqual anzusehen.

„Jemand, der dir nahestand.“ Eine Feststellung, keine Frage.

„Mein Cousin, aber wir sind aufgewachsen wie Brüder.“

Aurélie fühlte mit ihm. Unvorstellbar, einen ihrer jüngeren Brüder zu verlieren. Zwar hatten diese sie immer für selbstverständlich genommen, ebenso ihr Vater und ihre Stiefmutter. Sie schienen sich eher auf sie zu verlassen, als sie zu lieben. Und dennoch wäre es furchtbar, sie zu verlieren.

„Entschuldigung“, murmelte er. „Das musst du dir nicht antun.“

„Schon okay. Trauer braucht Zeit. Wie lange ist es her?“

Er verzog das Gesicht, während er sie ansah. Wieder spürte sie diese intensive Verbindung, als bohrte sich sein Schmerz in ihre Seele.

„Ich habe es heute Morgen erfahren.“

„Oh, Lucien!“ Ihr Herz brach. Wie musste er sich fühlen?

Also stand sie auf und setzte sich neben ihn aufs Sofa. Behutsam legte sie ihre Fingerspitzen auf seine zitternde Faust. Sie wollte sich ihm nicht aufdrängen, aber manchmal brauchte man Körperkontakt.

Seine Haut war ganz heiß. Aurélie ignorierte die Energie, die von der Berührung in ihren Körper floss. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf Lucien.

„Ich wünschte, ich könnte irgendetwas Hilfreiches sagen.“

Doch er schüttelte den Kopf. Eine dunkle Locke fiel ihm in die Stirn.

„Du hast schon so viel für mich getan.“

Er öffnete seine Hand und drehte sie herum, verschränkte seine Finger mit ihren. Wieder erlebte Aurélie ein Wirrwarr aus Emotionen, noch stärker dieses Mal. Hitze schoss durch ihren Körper und breitete sich in ihrem Inneren aus.

Was war das bloß? So hatte sie sich noch nie gefühlt.

„Du spürst es auch.“ Er sah sie eindringlich an.

Dieser Blick hielt sie gefangen, und für einen Moment hatte sie nur noch das überwältigende Bedürfnis, Lucien zu halten.

„Wie bitte?“

Wortlos drückte er ihre Hand, und sofort stockte ihr der Atem.

Aurélie starrte ihn an. Hier war sie – mit einem Fremden – und reagierte, wie sie noch nie auf irgendjemanden reagiert hatte.

„Ich weiß nicht, was du meinst“, versuchte sie, sich selbst zu schützen.

Eine Sekunde lang verharrten sie miteinander. Seine Berührung jagte ihr heiße Schauer über den Rücken, und er sah sie mit diesen umwerfenden Augen an. Dann ließ er ihre Hand los, und das Feuer in ihrem Inneren erlosch. Er wandte sich ab und stand auf.

„Du hast recht … Das war ein Fehler.“ Er strich sich die verirrte Strähne aus der Stirn, und Aurélie bewunderte das faszinierende Spiel seiner Muskeln.

Dann wurde ihr klar, dass er wegwollte.

Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen, und ihr wurde schlecht.

„Was hast du vor?“ Aurélie sprang auf die Füße.

Aber er sah sie nicht an, seine Miene so ausdruckslos wie im Restaurant und auf der Straße.

„Vielen Dank für deine Gastfreundschaft, Aurélie. Ich muss jetzt gehen.“

„Das kannst du nicht!“ Ihre Stimme überschlug sich. „Du solltest nicht fahren, und ein Zimmer hast du auch nicht.“ Warum hatte sie sich nicht längst darum gekümmert?

Er zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Pullover. „Dann schlafe ich eben im Auto.“

Aber Aurélie stellte sich vor ihn und zwang ihn, sie anzusehen. Das leidenschaftliche Glimmen in seinen Augen brachte sie ins Taumeln. Und doch war es nichts im Vergleich zu dem Aufruhr in ihrem Inneren.

„Warum?“

Für einen kurzen Moment hielt er inne und umklammerte die dunkle Wolle. Sie sah, wie seine nackte Brust sich hob und senkte.

„Weil ich dich will, Aurélie.“ Sein Atem klang rau in der Stille des Zimmers. „Ich wollte dich schon, als du mich angelächelt und zu meinem Tisch gebracht hast. Dieser Duft und der Schwung deiner Hüften, die perfekte Rundung deines Pos … Sogar dein wippender Pferdeschwanz hat mich gereizt.“ Seine Stimme wurde immer tiefer und heiserer. Es fühlte sich an, als striche er mit samtweichen Fingern über ihre Haut.

Als Lucien schluckte, erkannte sie darin dieselbe Mischung aus verzweifelter Sehnsucht und Begierde, die auch in ihr tobte. Er war ihr so nah. Ihre Kehle war trocken, der Herzschlag schnell und unregelmäßig.

Den ganzen Abend schon faszinierte er sie. Das Mitleid hatte sie sich nur eingeredet. Sie hatte ihn aus einem anderen Grund mitgenommen.

„Ich dachte, ich hätte es unter Kontrolle, könnte mich wie ein zivilisierter Mensch bedanken und gehen. Und das werde ich auch“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber ich muss jetzt gehen.“

Sie legte ihm eine Hand auf den Oberarm, und er erstarrte – schien den Atem anzuhalten. Sie fühlte die sehnigen Muskeln, die Hitze und hatte einmal mehr dieses klare, beständige Gefühl, das Richtige zu tun.

„Ich spüre es auch.“

„Was?“ Er sah ihr tief in die Augen.

Autor

Annie West
<p>Annie verbrachte ihre prägenden Jahre an der Küste von Australien und wuchs in einer nach Büchern verrückten Familie auf. Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen besteht darin, nach einem Mittagsabenteuer im bewaldeten Hinterhof schläfrig ins Bett gekuschelt ihrem Vater zu lauschen, wie er The Wind in the Willows vorlas. So bald sie...
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