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„Bald ist es fertig.“ Sonia begutachtete Olivias Kleid, während eine Schneiderin zwischen ihnen kniete und den Saum absteckte. „Fast geschafft.“
Olivia unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung. Die letzte Anprobe – es kam ihr vor, als habe sie stundenlang stillgestanden, während an ihr gezupft, gezogen und genestelt worden war.
Aber das Kleid musste perfekt sein.
Denn nächste Woche würde sie hier in Venedig im Mittelpunkt eines Fests stehen, das weltweite Aufmerksamkeit erregen würde. Deshalb musste ihr Kleid einzigartig sein. Das erwarteten die Öffentlichkeit, die Presse und vor allem ihre Familie.
Was jedoch noch wichtiger war: Wenn alles so lief, wie sie es sich erhoffte, würde dieses Kleid für ihre konservative Familie und den risikoscheuen Firmenvorstand den sichtbaren Beweis liefern, dass sie und ihre Ideen Beachtung verdienten.
Sie hatte alles getan, was ihre Familie von ihr verlangt hatte … und noch mehr. Bald würde sie endlich die Gelegenheit bekommen, sich zu beweisen und ihre Träume zu erfüllen. Sie würde ihren Platz im Vorstand bekommen.
Olivia betrachtete ihr Bild in dem goldgerahmten Spiegel, der das Licht vom Canale Grande einfing.
Die Frau in dem antiken Spiegel sah nicht aus wie Olivia Jennings. Nicht einmal wie die Olivia Jennings, die gelernt hatte, sich innerhalb der wohlhabenden Elite Europas zu behaupten, indem sie stets stilvoll und souverän wirkte.
Dieses Kleid verwandelte sie in eine andere Person.
Von Weitem wirkten der Chiffon und die Seide cremefarben, doch sie hatten eine Wärme, weil ihre Farbe ins Blassrosa changierte. Das Mieder und der Saum waren mit etlichen winzigen Chiffonblüten verziert, deren Mitte jeweils mit einem kleinen Kristall besetzt war. Einige Blüten waren auch über den Rock und die durchsichtigen Ärmel verstreut.
„Es ist wunderschön“, sagte die Schneiderin mit einem strahlenden Lächeln, während sie sich aufrichtete. „Sie sehen aus, als kämen Sie direkt aus einem Märchen.“
„Genau diese Wirkung wollten wir erzielen.“ Sonia nickte. „Jede Frau möchte mindestens einmal in ihrem Leben wie eine Märchenprinzessin aussehen.“
Nein, nicht jede Frau.
Es war lange her, dass Olivia an Märchen geglaubt hatte.
Eine frühe Tragödie hatte ihr den Glauben an ewiges Glück geraubt. In ihrem achtzehnten Lebensjahr waren alle romantischen Träumereien für immer ausgelöscht worden.
Aber nur, weil ihre Hoffnungen und Träume nicht den üblichen Vorstellungen entsprachen, bedeutete das nicht, dass andere sie nicht hegten. Einmal hatte es einen Mann gegeben. Ein einziger Mann in den vergangenen neun Jahren, der sie für ein paar kurze Augenblicke an Liebe auf den ersten Blick und Seelenverwandtschaft hatte glauben lassen.
Es war eine verrückte Verirrung gewesen. Ein Moment, der sich wie ein Wiedererkennen angefühlt hatte, wie ein Blitz, der ihre Füße an den Boden eingebrannt hatte und ihr Herz zu einer seltsamen Harmonie tanzen ließ.
Natürlich hatte es nirgendwohin geführt.
Er hatte sie nicht einmal gemocht.
Und sie … nun, sie hatte getan, was sie gelernt hatte. Olivia hatte ihre Enttäuschung begraben und sich weiterentwickelt. Ihre Großeltern hatten recht: Ohne romantische Fantasien war sie besser dran.
Die Blumen auf ihrem Kleid tanzten, als sie tief einatmete. Olivia lächelte die beiden Frauen an. „Das Kleid ist wunderschön, die Kunden werden es uns aus den Händen reißen.“
„Wenn du den Vorstand überzeugen kannst“, ergänzte Sonia.
Olivia nickte. „Ich habe mir eine Strategie überlegt.“
„Würden Sie sich bitte noch einmal für mich drehen“, bat die Schneiderin, während sie den Saum wieder unter die Lupe nahm.
Bedächtig drehte Olivia sich auf ihren handgefertigten kristallbesetzten Stöckelschuhen um die eigene Achse, wobei die Seide leise zu flüstern schien. Hoffentlich gab es viele Frauen, die dieses einzigartige Kleid kaufen wollten.
Die Schneiderin stand auf. „Perfekt. Sie werden dem Bräutigam den Atem rauben, wenn Sie zum Altar schreiten.“
Olivia zauberte das erwartete Lächeln auf ihre Lippen. „Vielen Dank.“ Es war sinnlos zu erklären, wie unwahrscheinlich das war. Carlo und sie waren Freunde, kein Liebespaar. Sie schlossen eine reine Zweckehe.
Das mochte nicht der Traum jeder Frau sein, aber nach allem, was sie über Romantik wusste, war Olivia erleichtert, diese Falle zu vermeiden. Gegenseitiger Respekt und Freundschaft bildeten eine solide Grundlage für eine gute Ehe.
Bei ihren Großeltern hatte es funktioniert.
Also würde es bei Carlo und ihr auch klappen.
Gerade als Sonia sich vorbeugte, um Olivias Ärmel zu begutachten, klopfte es an der Tür.
„Würden Sie bitte nachsehen, wer das ist?“, bat Olivia die Schneiderin. „Ich erwarte niemanden.“
Ihre Großeltern waren nicht in Venedig. Olivia war früher hergekommen, um die Vorbereitungen für die Hochzeit nächste Woche zu überwachen.
„Bleib noch einen Moment stehen“, wies Sonia sie an und inspizierte eine Blume, die offenbar nicht korrekt angebracht war.
„Da ist ein Mann“, verkündete die Schneiderin und fuhr sich verträumt mit den Fingern durch ihr Haar. „Es ist il signor Sartori. Er möchte mit Ihnen sprechen.“
Carlo ist hier? Er sollte doch erst kommende Woche eintreffen!
„Kann er noch fünf Minuten warten?“, mischte Sonia sich ein. „Sagen Sie ihm, dass es Unglück bringt, wenn der Bräutigam das Brautkleid vor der Hochzeit sieht.“
„Ich fürchte, ich kann nicht warten“, meldete sich eine tiefe Stimme von der Tür. Alle drei Frauen erstarrten.
Olivia kannte diese Stimme. Wie üblich klang sie schneidend, fast schroff, aber nun schwang auch noch Ungeduld in ihr mit. Eine Mischung, die unwillkürlich Hitze in ihr aufsteigen ließ. Einen Moment schloss sie die Augen und sammelte sich. Allmählich sollte sie sich an ihn gewöhnt haben. Es gab keinen Grund für diese unerwünschte Reaktion. Sie verhielten sich höflich distanziert, sie und ihr zukünftiger Schwager.
Und genau so sollte ihr Verhältnis auch bleiben: distanziert.
Sie öffnete die Augen und erwischte ihre Assistentin dabei, wie sie unauffällig ihr Oberteil richtete.
Alessandro Sartori hatte diese Wirkung auf Frauen.
Carlo auch. Doch die Hälfte der Anziehungskraft ihres Verlobten lag in seinem Lächeln und seinem freundlichen Wesen. Sein älterer Bruder verkörperte eher den starken schweigsamen Typ … was bei ihm jedoch an Gefühlskälte und allgemeine Verachtung grenzte.
Olivia atmete tief ein und drehte sich um.
Seine muskulösen Schultern schienen die Türöffnung auszufüllen. Er war schlank, wirkte jedoch elegant und kraftvoll, als verberge sich hinter seiner urbanen Ausstrahlung ein Mann, der weitaus mutiger und gefährlicher war, als sein vornehmer Kleidungsstil vermuten ließ.
Wie üblich trug er einen maßgeschneiderten Anzug. Sie hatte ihn noch nie in anderer Kleidung gesehen. Er war ein wandelnder Werbeträger für Sartori – die Firma, die für ihre exklusive Herrenbekleidung in der ganzen Welt bekannt war.
Insgeheim wunderte Olivia sich, warum die Werbegurus von Sartori nicht längst vorgeschlagen hatten, die erotische Ausstrahlung ihres CEO zur Verkaufsförderung zu nutzen.
Sein Haar erinnerte an Ebenholz, hinten und an den Seiten kurz geschnitten, am Oberkopf ein wenig länger. Es glänzte im Licht des Kronleuchters. Dasselbe Licht offenbarte ausgeprägte gleichmäßige Gesichtszüge, dunkle Augen, ein markantes Kinn und einen sinnlichen Mund, dessen Lippen jetzt zu einer schmalen Linie zusammengepresst waren.
Das überraschte sie nicht. Alessandro Sartori sah immer so aus, wenn sie in der Nähe war. Was hatten sie oder Carlo nun schon wieder getan, um ihn zu verärgern?
Wut flammte in ihr auf – darüber, dass ihre Ehe arrangiert worden war, um Sartori und Dell’Orto zu fusionieren – beschlossen von ihren Großeltern und diesem Mann.
Olivia zwang sich, ganz langsam auszuatmen. Es war ja nicht so, dass sie sich nach einer Liebesheirat sehnte. Die Hochzeit und die Firmenfusion würden Carlo und ihr die Chance geben, für die sie so hart gearbeitet hatten.
Nein, ihr Ärger galt der Tatsache, dass andere über ihr Leben bestimmt hatten. Schon wieder. Von nun an würde sie ihre eigenen Entscheidungen treffen und selbst die Kontrolle über ihr Leben behalten.
„Alessandro. Was für eine Überraschung.“ Eigentlich hatte sie gehofft, ihn erst bei der Hochzeit wiederzusehen und dabei so wenig wie möglich mit ihm zu tun zu haben, obwohl er Trauzeuge sein würde. „Ich fürchte, niemand aus deiner Familie ist hier, und Carlo ist verreist, was du bestimmt wusstest.“
Vermutlich suchte er nach ihren Großeltern. Alessandro Sartoris Gespräche mit Olivia hatten sich bislang auf flüchtige Höflichkeiten beschränkt. Als ob sie weder den Verstand noch die Erfahrung besäße, etwas vom Geschäft zu verstehen. Dass er sie offenbar nicht hoch genug einschätzte, um eine sinnvolle Unterhaltung mit ihr zu führen, obwohl sie bald im selben Vorstand sitzen würden, nagte an ihr.
„Ich bin deinetwegen hier.“
Keine weitere Erklärung. Kein Lächeln. Nur dieser unerschütterliche Blick.
Vor Verwunderung verschlug es ihr einen Moment die Sprache. Alessandro will mit mir sprechen? Mit den Vorbereitungen der Hochzeit hatte er nichts zu tun. Um das Geschäft konnte es aber auch nicht gehen. Denn Alessandro besprach geschäftliche Angelegenheiten nicht außerhalb seines Büros.
Ging es um ihre Großeltern? Bei dem Gedanken daran, dass ihnen etwas passiert sein könnte, fühlte Olivia Panik in sich aufsteigen. Doch dann wäre nicht Alessandro Sartori gekommen, um ihr die Nachricht zu übermitteln.
„Wir müssen reden. Und zwar sofort.“
Es war typisch für diesen Mann, von ihr zu erwarten, dass sie alles stehen und liegen ließ, sobald er den Raum betrat. Am liebsten hätte sie vorgeschlagen, einen Termin zu vereinbaren, da ihr Kalender bis obenhin voll war.
Wie gern hätte sie dann sein Gesicht gesehen. Wahrscheinlich hatte es noch nie jemand gewagt, ihm etwas zu verweigern. Laut Carlo war er immer der Liebling der Familie gewesen – derjenige, der alles richtig machte und seinem jüngeren Bruder als Vorbild dienen sollte.
Schade, dass er nicht auch ein wenig Bescheidenheit gelernt hatte.
Trotzdem wandte sie sich an Sonia. „Entschuldige die Störung. Gibst du uns zehn Minuten?“
Sonia nickte. „Natürlich. Wir trinken einen Kaffee in der Küche. Ruf uns, wenn es weitergeht.“
Die beiden Frauen verließen den Salon. Erst jetzt schloss Alessandro die Tür und kam auf sie zu.
Ohne die beiden Frauen fühlte sich das Zimmer plötzlich seltsam an. Trotz der hohen Decken, der vergoldeten antiken Möbel und der schieren Größe des Salons hatte es gemütlich gewirkt, während sie plaudernd an dem Hochzeitskleid gearbeitet hatten. Nun kühlte sich die Atmosphäre merklich ab.
Obwohl sie hohe Absätze trug, musste Olivia den Kopf heben, um ihm in die Augen sehen zu können. Jetzt stand er so nah vor ihr, dass sie die winzigen Fältchen um seine Mundwinkel sehen konnte. Sie schienen sich zu vertiefen, während er sie musterte.
„Was kann ich für dich tun, Alessandro?“
Erst jetzt fiel ihr auf, dass dies das erste Mal war, dass sie allein mit ihm zusammen war.
„Ich habe Neuigkeiten.“ Er schaute an ihr vorbei zu einem unbezahlbaren, aber unbequemen Sofa. „Vielleicht möchtest du dich setzen.“
Ohne nachzudenken streckte sie die Hand aus und griff nach seinem Arm. Ihre Finger umschlossen weiche Wolle über harten Muskeln.
„Ist etwas mit meinen Großeltern? Ist ihnen etwas passiert?“ Sie standen einander zwar nicht sonderlich nah, und sie zeigten ihr nur selten ihre Zuneigung, aber dennoch liebten sie Olivia auf ihre eigene Weise.
„Nein, nein! Nichts in der Art. Allen geht es gut.“
Er hob seine Hand, als wolle er ihre ergreifen, ließ sie aber wieder sinken.
Sofort ließ auch Olivia ihn los. Seine Körperhaltung verkündete überdeutlich „berühren verboten“. Sie wandte den Blick ab und kam sich auf einmal dumm vor.
„Komm, du solltest es dir bequem machen.“
„Ich kann nicht. Nicht in dem Kleid.“ Sie deutete auf das wunderschöne Werk. „Ich habe Angst, es zu zerknittern.“
„Man kann es bügeln.“
Olivia machte sich nicht die Mühe zu antworten. Offenbar hatte er keine Ahnung von den zarten Materialien und den handgearbeiteten Details. „Ich kann stehen und zuhören. Was hast du für Neuigkeiten?“
Einen Moment sagte er nichts. Dann fragte er: „Hast du in letzter Zeit von Carlo gehört?“
Sie runzelte die Stirn. „Natürlich. Wir haben regelmäßig Kontakt.“ Nicht so regelmäßig wie ein Liebespaar, das die Stunden bis zu seiner Hochzeit zählte, aber sie hielten Kontakt. Er war in den Staaten, um etwas Geschäftliches für seinen Bruder zu erledigen und sich mit alten Freunden zu treffen.
„Heute?“
Eiseskälte kroch Olivias Nacken hoch. „Geht es ihm gut? Ist ihm etwas zugestoßen?“
„Soweit ich weiß, geht es ihm körperlich gut. Aber ich schlage vor, du wirfst einen Blick in deine Nachrichten.“ Die Art, wie Alessandro sprach, und das Glitzern in seinen Augen verstärkten ihre Unruhe.
Vor einigen Stunden war eine Nachricht von Carlo gekommen. Sie war auf der Mailbox gelandet, weil Olivia ihr Handy während des Treffens mit dem Caterer stumm geschaltet hatte. Seither hatte sie keine ruhige Minute gehabt und die Nachricht noch nicht abgehört.
Nun wirbelte sie herum. Aber ihr Handy lag im Nebenzimmer bei ihren Sachen. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie eine Ader an Alessandros Hals hektisch pulsieren. Das zu sehen, verstärkte ihre Nervosität.
„Was ist los?“, wollte sie wissen.
Eine Sekunde zögerte Alessandro. „Carlo ist mit einer anderen Frau durchgebrannt.“
Olivia spürte, wie ihre Augen sich weiteten, während sie in Alessandros strenges Gesicht starrte.
Durchgebrannt? Das ist unmöglich.
Carlo und sie steckten gemeinsam in der Sache drin. Sie hatten jeden einzelnen Punkt besprochen und waren sich einig, das Beste aus dieser Ehe machen zu wollen. Sie vertrauten einander.
„Das würde er nie tun“, flüsterte sie. Diese Hochzeit bedeutete ihnen beiden zu viel. Außerdem gab es in Carlos Leben keine andere Frau. Nicht mehr.
Doch sie sah die Wahrheit in Alessandros dunklen Augen. Seine Lippen zuckten, als hätte er am liebsten das Gesicht verzogen.
Weil er dazu gezwungen war, ihr die schlechte Nachricht zu überbringen? Oder weil er befürchtete, sie könnte weinend zusammenbrechen?
Ihr Atem ging immer schneller und hektischer. Plötzlich sah sie bunte Farbwirbel. Die grün schimmernden Seidentapeten an den Wänden schienen lebendig zu werden und wie eine große Welle über sie hereinzustürzen.
Sie taumelte, dann spürte sie, wie jemand ihre Ellenbogen umfasste.
„Ganz langsam atmen.“
Olivia schaute in zwei dunkelbraune Augen hinauf, in denen ein Ausdruck funkelte, den sie nicht recht einschätzen konnte. Das Schwindelgefühl ließ nach. Sie machte einen Schritt zurück und befreite sich aus seinem Griff.
„Du musst nicht …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es geht mir gut.“
Doch das war gelogen. Alles fühlte sich auf einmal fremd und seltsam an. Denn obwohl Alessandro sie längst losgelassen hatte, glaubte Olivia, noch immer seine Berührung auf ihrer Haut zu spüren. Sie blickte nach unten, um sicherzugehen, dass der Stoff des Ärmels nicht gerissen war.
Natürlich war er das nicht. Alessandro hatte sie stützen wollen. Fast zärtlich hatte er sie gehalten. Die kristallbesetzten Blumen schienen ihr zuzuzwinkern … und erinnerten sie an die Hochzeit nächste Woche.
„Bist du dir absolut sicher?“ Ihre Stimme klang heiser.
„Meinst du, ich wäre sonst hergekommen?“
Seufzend hob sie den Kopf. Alessandros Miene wirkte noch grimmiger als sonst.
Nein, Alessandro Sartori war nicht der Typ, der wegen eines Gerüchts in Panik verfiel. Noch nie hatte sie einen Mann getroffen, der methodischer vorging. Manchmal stellte sie sich vor, er wäre mit einem Stapel Unternehmensberichte in der Hand geboren worden und schaute so finster drein, weil die Gewinne nicht seinen Erwartungen entsprachen.
Entschieden biss Olivia sich auf die Lippen, weil ihre Gedanken in eine merkwürdige Richtung abschweiften.
„Was genau hat er denn gesagt?“ Vielleicht wollte Carlo die Hochzeit nur verschieben und Alessandro hatte voreilige Schlüsse gezogen?
Doch als sie in sein ernstes Gesicht blickte, wusste sie, dass sie nach Strohhalmen griff.
„Schon gut. Ich finde es selbst heraus.“ Olivia drehte sich weg. Sie wollte die Erklärung von Carlo selbst hören. Also hob sie die voluminösen Röcke hoch und marschierte quer durch den Salon, vorbei an weiteren Sofas und vergoldeten Stühlen. Vorbei an einem riesigen Kamin aus Marmor und vier hohen Fenstern mit Blick auf den Canal Grande.
Sie hätte ihr Handy bei sich behalten und ihre Nachrichten früher checken sollen.
Normalerweise hätte Olivia das auch getan, aber heute war ihre Geduld endgültig erschöpft. Sie hatte eine Pause von den ständigen Änderungswünschen an jedem Detail der Hochzeitsvorbereitungen gebraucht. Daher war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie viel mehr schaffen würde, wenn sie ein paar Stunden ohne Unterbrechung arbeiten konnte.
Sie stemmte die Handflächen gegen die massive hohe Tür, drückte sie auf und hastete in den kleinen Raum dahinter, den sie als Büro nutzte, wenn sie in Venedig war. Dort lag ihr Handy.
Ihr stockte der Atem, als sie Carlos Nachricht fand. Sie presste das Handy ans Ohr und lauschte seiner Stimme. Seiner Erklärung.
Das Herz pochte ihr bis zum Hals. Obwohl sie genau wusste, dass Alessandro nicht ohne Grund herkommen würde, hatte sie doch gehofft …
Es war eine lange Nachricht. Und er entschuldigte sich aufrichtig. Carlo wusste, wie viel ihr diese Ehe und die Fusion bedeuteten. Er wollte sie nicht im Stich lassen. Aber etwas Wunderbares war geschehen. Er hatte Hannah wiedergetroffen. Die Amerikanerin, in die er sich während seines Studienjahrs in den Staaten verliebt hatte. Die Frau, die ihm vor zwölf Monaten das Herz gebrochen hatte, weil sie sich weigerte, ihr Zuhause zu verlassen und nach Europa zu ziehen. Sie liebten einander – immer noch und mehr denn je. Dieses Mal hatten sie sich auf einen Kompromiss geeinigt. Er würde ein Jahr in den Staaten bei ihr leben und arbeiten und danach ein Jahr mit ihr in Europa verbringen und herausfinden, wie Hannah das Leben im Ausland gefiel. Anschließend würden sie entscheiden, wo sie sich endgültig niederließen. Beide waren fest entschlossen, alles zu tun, damit ihre Beziehung funktionierte. Sie waren so glücklich. Er bedauerte es so sehr, Olivia hängen zu lassen, aber …
Olivia streckte die Hand aus und griff nach der Stuhllehne. Ihre Finger schlossen sich um das harte Holz.
Das Mieder, das sich vor zehn Minuten noch bequem um ihre Brust geschmiegt hatte, schnürte ihr jetzt die Luft ab.
Keine Hochzeit bedeutete keine Fusion. Ihre Großeltern hatten auf der Heirat als Sicherheit bestanden, damit die Familie Dell’Orto in dem neuen Unternehmen nicht ausgebootet wurde.
Und es bedeutete keinen Sitz im Vorstand für Olivia. Überhaupt keine feste Stelle in der Firma. Denn auch das zählte zu den Bedingungen. Ihre Großeltern mochten geschäftstüchtige Menschen sein, doch sie gehörten einer anderen Generation an. In ihrer Vorstellung brauchte eine Frau – egal, wie talentiert oder gut ausgebildet sie war – einen Mann an ihrer Seite. Natürlich hätte Olivia eine Stelle in anderen Firmen annehmen können. Angebote hatte es gegeben. Aber sie hatte immer im Familienunternehmen arbeiten wollen. Das war ihr größter Traum.
Ihre Familie wollte sie verheiratet sehen. Nicht aus Liebe, sondern um das Vermögen zu erhalten. So verfuhr man in der Familie Dell’Orto seit Generationen. Die Ausnahme bildete Olivias Mutter, die aus romantischer Liebe geheiratet hatte … und das hatte bekanntlich kein gutes Ende genommen.
Olivia schluckte, um den säuerlichen Geschmack aus ihrem Mund zu vertreiben. All die Arbeit umsonst. All ihre Hingabe. Ihre endlose Toleranz für die antiquierten Sichtweisen ihrer Großeltern … alles vergebens.
Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Die Nachricht hatte all ihre Hoffnungen zerstört. Nicht einmal ansatzweise konnte sie sich vorstellen, wie sie die Scherben aufsammeln und weitermachen sollte. Für ihre Familie war es ein geschäftlicher Misserfolg und ein medialer Albtraum. Aber für Olivia bedeutete es ein persönliches Desaster.
Stillschweigend verfluchte Alessandro seinen Bruder, während die sitzengelassene Braut die Stuhllehne umklammerte und ihr Handy an ihre üppigen Brüste presste.
Ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Lippen blutleer. Alle Farbe schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein – abgesehen von den haselnussbraunen Augen, in denen Schmerz schimmerte.
Sein Instinkt riet ihm, zu ihr zu gehen. Vielleicht brauchte sie Trost.
Er zwang sich, es nicht zu tun. Besser Distanz wahren. Sogar jetzt noch spürte er ein Kribbeln auf seinen Handflächen, wo er ihre Ellenbogen gehalten hatte. Diesen Streich spielte sein Verstand ihm immer, wenn er in Olivias Nähe war. Dabei hatte er geglaubt, das Phänomen durch schiere Entschlossenheit getilgt zu haben.
Bis heute.
Ausgerechnet heute konnte er keine zusätzlichen Komplikationen gebrauchen.
Aber Alessandro stellte sich stets jeder Herausforderung. Je unmöglicher die Aufgabe, desto größer sein Triumph. Nicht, weil er sich bewusst für den schwersten Kurs entschied, sondern weil das Leben eben nach diesen Regeln spielte. Doch das hier fühlte sich weder nach Triumph noch nach Herausforderung an. Es war eine totale Katastrophe.
Wie konnte Carlo das tun?
Alessandro ballte die Hände zu Fäusten. Klar, dass Carlo ihm eine Nachricht schickte … er traute sich nicht einmal, ihm persönlich gegenüberzutreten.
Aber verhielt sich seine Familie nicht immer so? Immer kam sie selbst an erster Stelle, ohne zu bedenken, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere haben mochte.
In den vergangenen Jahren hatte Alessandro versucht, sich davon zu überzeugen, dass Carlo sich geändert hatte. Er war reifer geworden und hatte gute Leistungen in seinem Studium und bei der Arbeit erbracht. Alessandro hatte geglaubt, sein Bruder sei bereit, eine größere Rolle im Unternehmen zu übernehmen. Er hatte sich darauf gefreut, die Last zu teilen und statt als Ersatzvater als Chef und Mentor mit ihm im Team zu arbeiten.
Aber nun hatte Carlo mit seiner schrecklichen Tat alles zerstört, worauf Alessandro zwei Jahre lang hingearbeitet hatte. Abgesehen davon hatte er eine verzweifelte Braut zurückgelassen.
Olivias Anblick schnürte ihm das Herz in der Brust zusammen. Sie hielt die Stuhllehne so fest umklammert, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihr Atem ging unregelmäßig. Und zum ersten Mal, seit er sie kannte, wirkten ihre Schultern nach vorn gesackt, als könnten sie die schwere Enttäuschung nicht tragen.
Liebt sie Carlo? Wäre es für sie mehr als eine Zweckehe gewesen?
Diese Frage hatte er sich schlicht nie gestellt. Eine Sartori-Dell’Orto-Hochzeit war nötig, und Carlo hatte sich dazu bereit erklärt. Alles andere spielte keine Rolle. Er hatte sich nie erlaubt, darüber nachzudenken, was Olivia und Carlo taten, wenn sie allein waren. Denn die beiden standen sich definitiv nahe. Von Anfang an hatte die Chemie zwischen ihnen gestimmt. Wenn sie lachten, neigten sie einander die Köpfe zu. Olivias Augen funkelten, sobald sie Carlo ansah.
Deshalb hatte er, obwohl er der ältere Bruder war, auch nicht vorgeschlagen, die Erbin von Dell’Orto selbst zu heiraten.
Alessandro sah, wie Olivia den Mund vor Schmerz verzog. Wie auch immer ihre Beziehung aussah, die Nachricht erschütterte sie.
Wenn Carlo ihr auch noch das Herz gebrochen hat …
„Hat Carlo sich bei dir gemeldet?“ Ihre Reaktion verriet eigentlich alles, doch er musste ganz sicher sein.
Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen schimmerten feucht. Dann blinzelte sie und runzelte die Stirn, als bereite sein Anblick ihr zusätzliche Qualen. Was ihn nicht überraschte, schließlich war er der Bruder des Mistkerls, der sie sitzengelassen hatte.
„Ja, er hat eine Nachricht hinterlassen.“ Sie stieß die Worte hervor, als wolle sie ihn damit erstechen. Oder vielleicht auch Carlo.
Alessandro würde mit ihrem Temperament zurechtkommen. Jeder Gefühlsausbruch war gerechtfertigt.
„Im Namen meiner Familie möchte ich mich aufrichtig bei dir entschuldigen, Olivia.“
„Carlo hat sich schon entschuldigt. Mehrmals.“
Die Bitterkeit in ihrer Stimme zeigte, dass die Entschuldigungen rein gar nicht geholfen hatten. Selbst für Carlo mit seiner rücksichtslosen Art war dieses Verhalten ein neuer Tiefpunkt.
„Er hat dir großes Unrecht angetan, Olivia. Und er hat den Namen unserer Familie entehrt.“
„Bestimmt verstehst du, dass mir die Auswirkungen auf den Namen Sartori im Moment herzlich egal sind.“
Alessandro neigte den Kopf. Es freute ihn, dass sie die Schultern straffte. Jetzt sah sie wieder wie die Frau aus, die er kannte. „Natürlich. Das Problem ist, dass Carlos Tat nicht nur unsere Namen betrifft.“