Der Vampir, der aus der Kälte kam

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Toni Davis’ Wunschliste zu Weihnachten: 1. Entlassung meiner besten Freundin aus der Psychiatrie. 2. Eine Wohnung ohne Särge im Keller. Belegte Särge. 3. Ein Date mit Mr. Right. Bitte lass ihn groß, dunkelhaarig, gut aussehend und lebendig sein. Fröhliche Weihnachten? Für Toni dieses Jahr wohl eher nicht. Ihre beste Freundin sitzt in der Psychiatrie, nachdem sie der Polizei erzählt hat, dass sie von Vampiren angegriffen wurde. Es gibt nur eine Möglichkeit, sie da wieder herauszuholen: Toni braucht den Beweis, dass es Vampire tatsächlich gibt. Also nimmt sie einen Job als Bodyguard für die Untoten an - und bekommt noch mehr als erwartet. Denn sie trifft Ian McPhie, einen sexy Schotten auf der Suche nach Mrs. Right …


  • Erscheinungstag 01.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768928
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die Luft vibrierte vor Bassgitarren und wilder Lust. Hier war er genau richtig.

Ian MacPhie schlenderte durch das renovierte Lagerhaus. Seine Schritte glichen sich dem Rhythmus der hämmernden Drums an. Das Horny Devils war der beste Ort, den er sich denken konnte, um eine Frau zu finden. Der Nachtclub quoll über vor Frauen. Alle bezaubernd, alle Vampire.

Durchdringend rote und blaue Laser sausten hier und da an ihm vorbei und beleuchteten die kaum verhüllten hüpfenden Körper der Frauen, die nahe an der Bühne tanzten. Sie wogten mit der Musik wie das wilde Meer bei Hochwasser, und er ließ sich von der gierigen Unterströmung zu ihnen ziehen.

Eines der roten Lichter blitzte an ihm vorbei, erhellte sein Gesicht und ließ ihn einige Sekunden lang erblinden. Kurz stieg Panik in ihm auf. Was, wenn keine dieser Frauen ihn attraktiv fand? Was, wenn er zwölf Tage lähmender Schmerzen ertragen hatte, um älter auszusehen … und hässlich?

Als Vampir konnte er sein neues Gesicht nicht im Spiegel betrachten. Er war auf einigen Digitalfotos aufgetaucht, die bei Jean-Lucs Hochzeit entstanden waren, jedenfalls glaubte er das. Den fremden Mann auf den Bildern kannte er zumindest nicht. Heather hatte ihm versichert, dass er gut aussah, aber sie war so eine glückliche Braut gewesen, dass sie an diesem Tag einfach alles für schön gehalten hatte.

Während Ians Augen sich an die Umgebung gewöhnten, stellte er fest, dass der kurze Anflug von Panik nicht bemerkt worden war. Keine der Frauen sah ihn an. Sie hatten sich alle zur Bühne gewendet, und ihre Blicke klebten an einem männlichen Tänzer, der den Laufsteg auf und ab stolzierte und einen indianischen Federschmuck auf dem Kopf trug. Die Kriegsbemalung auf seiner haarlosen Brust stellte einen Pfeil dar, der gen Süden zeigte, wo ein Bündel strategisch platzierter Adlerfedern sein Kriegsbeil bedeckte.

Ian atmete tief durch und versuchte, die Situation einzuschätzen. Sicher, die Damen hatten ihn noch nicht bemerkt, aber er hatte auch noch nicht wirklich versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Mädchen waren auf jeden Fall in lüsterner Stimmung, also standen seine Chancen gut. Zeit, sein neues Gesicht auf die Probe zu stellen.

Was sollte er eigentlich sagen? Jean-Luc hatte bei Heather mit Charme und Witz Erfolg gehabt. Das würde er auch hier versuchen. “Guten Abend, Ladys.”

Das Dröhnen der Musik war so laut, dass nur zwei der weiblichen Vampire ihn hörten. Sie drehten die Köpfe und musterten ihn ungeniert von oben bis unten.

“Nicht schlecht”, rief eine der anderen zu.

Ian schenkte ihnen, hoffte er wenigstens, ein charmantes Lächeln, auch wenn es etwas ins Wanken geriet, als er sah, dass eine der beiden schwarzen Lippenstift trug. Er nahm an, moderne Mädchen hielten das für schön, aber ihn erinnerte es eher an die Beulenpest.

“Schöner Kilt”, brüllte das Mädchen mit den schwarzen Lippen. “Niedliche Knie.”

“Bist du kein Tänzer?”, brüllte die andere.

“Nay. Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Ich bin Ian Mac…”

“Oh, ich dachte, der Kilt wäre ein Kostüm!” Eine der beiden Mädchen lachte. “Ziehst du dich ernsthaft so an?”

Nun brach auch die mit den schwarzen Lippen in Gelächter aus.

“Wir wollen schon mehr als deine Knie sehen!”

Ian zögerte. Er brauchte eine witzige, charmante Antwort. “Ich bin mir sicher, das ließe sich einrichten.”

Leider blieb sein Versuch, charmant zu flirten, vollkommen unbemerkt. Das plötzliche Ansteigen der grellen Schreie lenkte die beiden Mädchen ab, und sie drehten sich wieder zur Bühne um. Federn flogen, und die Frauen sprangen auf und ab, entschlossen, ein gefiedertes Souvenir einzufangen.

“Bitte entschuldigt”, versuchte Ian die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen wieder auf sich zu lenken. “Darf ich euch zu einem Drink einladen?”

“Die gehört mir!” Das schwarzlippige Mädchen schob ihre Freundin zur Seite, damit sie sich eine Feder schnappen konnte.

Ian, bestürzt darüber, wie die beiden einander herumstießen, trat einen Schritt zurück. Er warf einen Blick zur Bühne und musste schlucken. Bei allen Heiligen, die Frauen hatten den Tänzer gerupft wie ein Huhn. Diese modernen Frauen waren aggressiver, als ihm bisher bewusst gewesen war. Eigentlich wollte er auf der Suche nach einer Partnerin der Jäger sein.

Damit ihn die rasenden, nach Federn grapschenden Frauen nicht überrannten, trat Ian einen Schritt zurück. Vielleicht war alles nur eine Frage des Timings. Aye, Timing war sehr wichtig, wenn man auf Beutejagd war. Er würde sich zurücklehnen und den richtigen Augenblick abwarten. Früher oder später mussten die Tänzer eine Pause machen, und vielleicht ließen die Damen sich dann leichter beeindrucken.

Und während er wartete, konnte er seine Nerven mit einem ordentlichen Drink stärken. Er schlenderte zur Bar. Alles lief prima. Er suchte nach einem Mädchen, das ehrlich, treu, hübsch und intelligent war. In dieser Reihenfolge. Und natürlich musste sie sich wahnsinnig in ihn verlieben.

Letzteres war etwas schwierig. Wie schaffte man es, dass sich das perfekte Mädchen in einen verliebte? Seine angeblich niedlichen Knie würden dazu wohl nicht ausreichen.

Die Barkeeperin hatte ein Telefon an einem Ohr und ihre Hand auf das andere gedrückt, um die laute Musik zu dämpfen. “Klar, sprich weiter. Du bist aus Kalifornien? Heiliger Strohsack, das ist weit weg.”

Neben ihr tauchten wie aus dem Nichts zwei junge Frauen auf. Sie hatten die Stimme der Barkeeperin als Anhaltspunkt genutzt, um sich an den richtigen Ort zu teleportieren.

“Willkommen im Horny Devils.” Die Barkeeperin lächelte und legte den Hörer auf. “Was wollt ihr trinken?”

“Zwei Blood Lite”, bestellte eines der kalifornischen Mädchen. Sie klappte ihr glitzerndes, mit Strasssteinen beklebtes Handy zu und ließ es in ihre glänzende Handtasche fallen.

Das zweite Mädchen zeigte auf die Bühne. “Oh mein Gott, ist der heiß!”

Die Mädchen vergaßen ihre Drinks und flitzten auf die Bühne zu.

Ian hob eine Hand zum Gruß. “Guten Abend, Ladys.”

Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, rauschten sie an ihm vorbei, nur Augen für den tanzenden Indianer, dem lediglich zwei Federn geblieben waren.

Wohin war die Welt gekommen, wenn ein Mann mit ehrlichen Absichten sich mit einem männlichen Stripper messen musste? Ian seufzte. Wie beeindruckte man moderne Frauen von heute? Vielleicht konnte Vanda ihm einen Rat geben. Mit ihrem violetten, strubbeligen Haar und ihrer Lycra-Kleidung hatte sie sich zu einer sehr modernen Frau entwickelt. Und zu einer sehr erfolgreichen, wie es schien, wenn sich die Vampire schon von der Westküste herteleportierten, um ihren Club zu besuchen.

Ian ließ sich auf einem Hocker an der Bar nieder und erhielt ein strahlendes Lächeln der Barkeeperin. Miss Cora Lee Primrose trug vielleicht keine Reifröcke mehr und hatte ihre blonden Haare auch nicht mehr zu Löckchen gelegt, aber sie klang immer noch wie eine Südstaatenschönheit aus der Zeit des Bürgerkriegs.

“Hallo”, begrüßte sie ihn, “möchtest du das Neueste aus der Fusion Cuisine verkosten?”

“Es gibt etwas Neues?” Er war zu lange fort gewesen.

“Jepp. Nennt sich Blier. Synthetisches Blut vermischt mit …”

“Bier?”

Cora Lee sah enttäuscht aus. “Hattest du schon welches?”

“Nay. Nur gut geraten. Ich nehme ein Glas.” Ian zog einen Fünfer aus seinem Sporran und legte ihn auf die Theke, während Cora Lee ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit füllte. Der Duft nach Blut und Hefe ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Bei allen Heiligen, es war Jahrhunderte her, seit er das letzte Mal Bier geschmeckt hatte.

“Bitte sehr.” Cora Lee stellte das Glas vor ihn hin.

Er nahm einen langen Zug und leckte sich dann den rötlichen Schaum von den Lippen. “Ausgezeichnet.”

Lächelnd schaute sie ihn an. “Freut mich, dass es dir schmeckt. Bist du neu in der Stadt?”

Teufel noch eins. Er hatte gedacht, ihr Lächeln bedeutete, dass sie ihn erkannt hatte, aber das hatte sie nicht. Er nahm noch einen Schluck Blier, um den Schmerz zu ertränken. Cora Lee war fünfzig Jahre lang Teil von Romans Harem gewesen, hatte im gleichen Haus gewohnt, in dem auch Ian lebte und als Wachmann tätig war. Hatte er sich so sehr verändert?

“Ich bin es, Ian.”

Ihre blauen Augen wurden rund. “Ian?”

“Aye. Ian MacPhie.”

“Du kannst nicht Ian sein. Der ist nur ein Junge.”

Er starrte düster in sein Bierglas. Es war ein Wunder, dass er nicht wahnsinnig dabei geworden war, fünf Jahrhunderte lang wie ein Kind behandelt zu werden. “Du hast mich immer gebeten, dein Korsett enger zu schnallen. Du musst gedacht haben, ich wäre zu jung, um zu sehen, wie sich deine Hüfte rundet, oder wie dein Korsett deine Brüste …”

“Also so was, ich hätte nie …!” Cora Lee trat einen Schritt zurück.

“Nay, mit mir nicht, das ist sicher.”

Sie schnaubte. “Ich würde mich nie einem Kind hingeben.”

“Ich bin dreihundert Jahre älter als du”, knurrte er.

Sie legte ihren Kopf zur Seite und betrachtete ihn genau. “Ich muss schon sagen, deine Augen sehen Ians wirklich erstaunlich ähnlich.”

“Das könnte daran liegen, dass ich Ian bin.”

“Bist du sicher?”

“Natürlich bin ich sicher. Wer sollte ich sonst sein?”

Misstrauisch betrachtete sie ihn. “Es ist nur … ich erinnere mich nicht daran, dass du so …”

“Charmant bist?”

“Brummig.” Sie seufzte. “Ian war so ein wohlerzogener freundlicher Junge. Ich mochte ihn wirklich gern.”

“Verdammt noch mal, ich bin nicht gestorben. Ich sehe jetzt nur zwölf Jahre älter aus.”

“Heiliger Strohsack. Wie hast du das angestellt?”

Ian zögerte. Romans Wachdroge hielt er lieber geheim. “Ich habe etwas … gegessen. In Texas.”

“Etwas gegessen? Du wolltest älter aussehen?”

“Aye.”

“Aber warum sollte man so etwas Furchtbares tun?”

Er knirschte mit den Zähnen. Jahrhundertelang hinter einem fünfzehn Jahre alten Gesicht eingesperrt zu sein war die Hölle auf Erden gewesen. Wenn Cora Lee sich das nicht denken konnte, na ja, dann musste er es ihr auch nicht erklären. “Vielleicht will ich bloß flachgelegt werden.”

Sie schnaufte. “Und du warst immer so ein netter Junge.”

“Aye.” Er kippte den Rest seines Bliers hinunter.

Cora Lee betrachtete ihn und legte die Stirn in Falten. “Wenn du hast, was du wolltest, warum bist du dann noch so brummig?”

“Ich bin nicht brummig!”

Ihre Augen wurden plötzlich groß. “Ach, ich verstehe. Du bist noch gar nicht flachgelegt worden. Vielleicht kann ich da helfen.”

Verdammt, er konnte alleine auf Jagd gehen. Ihm fiel auf, dass die Musik leiser geworden war. Der indianische Tänzer hatte die Bühne verlassen, und die weiblichen Eingeborenen wurden rastlos. Jetzt war ein guter Ratgeber gefragt. “Ist Vanda da? Ich muss sie sprechen.”

“Nur einen Augenblick.” Cora Lee eilte an einen Tisch, an dem ein weiblicher Vampir saß und mit einigen männlichen Kunden sprach. “Pamela! Du errätst nie, wer der Typ da drüben ist.”

Wollte Cora Lee ihn mit Lady Pamela Smythe-Worthing verkuppeln? Nein. Verdammt, nein. Die britische Viscountess aus der Regency-Ära war auch Teil von Romans Harem gewesen, und sie hatte fünfzig Jahre damit verbracht, ihn von oben herab zu behandeln.

Lady Pamela stand auf und betrachtete ihn. Ihr gerüschtes Empirekleid war wohl Vergangenheit. Sie hatte sich ganz der modernen Zeit hingegeben und trug einen roten Minirock und ein schwarzes Lederjäckchen.

“Oh je, sieh sich einer den schäbigen alten Kilt an.” Lady Pamelas arroganter Akzent hatte sich nicht verändert. “Er muss noch einer von diesen Barbaren aus Schottland sein. Stirbt in diesem furchtbaren Land niemand mehr eines natürlichen Todes?”

Ian hob eine Augenbraue. Sie musste einfach wissen, dass er sie hören konnte.

Cora Lee grinste. “Pamela, das ist Ian!”

Pamelas Augen weiteten sich. “Du beliebst zu scherzen. Ich werde mich furchtbar aufregen, wenn du deine Spielchen mit mir treibst.”

“Es ist wirklich Ian”, sagte Cora Lee nachdrücklich. “Er ist ganz schön gewachsen.”

“Das ist er tatsächlich.” Pamela betrachtete ihn von oben bis unten. “Ich muss schon sagen, dadurch ergibt sich natürlich eine ungemein wichtige Frage.”

“Du meinst, wie ist das passiert?”, riet Cora Lee. “Er hat gesagt, es war etwas, das er …”

“Nein”, winkte Pamela ungeduldig ab. “Die Frage ist …”, sie beugte sich näher zu Cora Lee, “… ist er noch eine Jungfrau?”

“Heiliger Strohsack!” Cora Lee kicherte. “Er hat gesagt, er will flachgelegt werden.”

“Hmm.” Gedankenverloren klopfte sich Pamela mit einem Finger an die Wange. “Eine fünfhundert Jahre alte Jungfrau. Das könnte interessant werden.”

Verdammt. Man konnte es getrost Lady Pamela überlassen, wenn man sich wie ein Zirkusclown fühlen wollte. Ian kehrte ihr einfach den Rücken zu und ging auf Vandas Büro zu.

“Moment mal!” Cora Lee rauschte in Vampirgeschwindigkeit an ihm vorbei und blockierte die Tür. “Vanda regt sich furchtbar auf, wenn wir sie unterbrechen, obwohl sie beschäftigt ist.”

“In der Tat.” Lady Pamela schlenderte zu ihnen. “Vanda ist der kluge Kopf in diesem Unternehmen.” Sie strich sich ihr langes blondes Haar hinter die Ohren. “Wir hingegen sind für die schönen Aussichten zuständig.”

“Das sind wir wirklich.” Cora Lee klimperte mit ihren Wimpern.

“Gratuliere”, knurrte Ian. War den beiden Damen klar, dass sie gerade zugegeben hatten, keinen Verstand zu besitzen? Im Stillen hob er Intelligenz auf seiner Wunschliste von Platz vier auf Platz drei.

Cora Lee öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. “Huuhuu, Vanda! Es will dich jemand sprechen.”

“Hoffentlich ein sexy neuer Tänzer”, knurrte Vanda. “Die Umsätze sind diesen Monat zurückgegangen.”

“Ich muss schon sagen, fantastischer Einfall!” Pamela grinste Ian verschlagen an.

Er drängte sich an ihr vorbei in das Büro.

Vanda blickte von ihrem Bildschirm auf. “Schönes Kostüm. Lass mal sehen, was du unter dem Kilt hast.”

“Oh prima!” Cora Lee klatschte in die Hände.

“In der Tat.” Pamela schloss die Tür hinter ihnen.

“Ich werde mich nicht entblößen.” Ian verschränkte die Arme und legte die Stirn in zornige Falten. “Und das ist kein Kostüm.”

“Oh, die Mädels werden den Akzent lieben.” Vanda stand auf und betrachtete ihn eingehend. Sie trug ihren üblichen violetten Overall mit einer schwarzen Peitsche um die Hüfte. “Du brauchst einen karierten Tanga passend zum Kilt.”

“Mit einer roten Quaste dran”, fügte Cora Lee hinzu.

“Die reine Wucht”, murmelte Pamela.

“Könntest du die Quaste kreisen lassen?” Vanda beschrieb mit dem Zeigefinger Kreise in der Luft.

Was zur Hölle? Ian trat auf sie zu. “Vanda …”

“Kommt, das ist dem armen Kerl peinlich.” Pamela schlenderte zu Vanda und flüsterte: “Wir glauben, er ist noch Jungfrau.”

Wütend starrte er sie an. “Vanda, erkennst du mich nicht?”

Sie lächelte verschlagen. “Schätzchen, wenn wir uns schon begegnet wären, wärest du keine Jungfrau mehr.”

Pamela lachte. “Und wer von uns bekommt die Ehre, ihn zu entjungfern?”

“Wir könnten Strohhalme ziehen”, schlug Cora Lee vor.

“Ich werde mit keiner von euch schlafen”, knurrte Ian. “Vanda, ich bin es, Ian.”

“Was?” Vanda blinzelte und kniff dann die Augen zusammen. “Nein, das glaube ich kaum.”

“Verdammt noch mal.” Er fuhr mit der Hand durch sein langes Haar und löste dabei versehentlich eine Strähne aus dem Lederband, mit dem er es im Nacken zusammenhielt. “Ich dachte, du könntest mir die Haare schneiden, wie früher. Und ich – ich muss mit jemandem reden.”

“Ian?” Vanda ging zu ihm und betrachtete ihn aus der Nähe. “Bist du das wirklich? Was ist passiert?”

“Ich weiß es!” Cora Lee fuchtelte mit einer Hand in der Luft. “Er hat etwas gegessen.”

“Du hast etwas gegessen?” Vanda sah ihn zweifelnd an.

“Mich könnte er jederzeit anknabbern”, murmelte Lady Pamela, während sie ihm mit gesenkten Wimpern einen verführerischen Blick zuwarf.

Cora Lee legte ihre Finger an ihren Mund und kicherte.

“Ich kann dazu nicht mehr sagen.” Ian deutete mit dem Kopf auf Cora Lee und Lady Pamela. Bei ihnen wäre ein Geheimnis niemals gut aufgehoben.

Vanda nickte langsam und sah dann die zwei Blondinen an. “Ihr zwei kümmert euch um die Kunden.”

“Pah. Du willst die Jungfrau ja bloß für dich allein.” Lady Pamela stolzierte aus dem Zimmer, dicht gefolgt von Cora Lee.

Nachdem Vanda die Tür geschlossen hatte, ging sie grinsend auf Ian zu. “Ich kann es nicht glauben! Du bist erwachsen.” Sie umarmte ihn. Früher waren sie etwa gleich groß gewesen, aber jetzt reichte sie ihm gerade noch bis ans Kinn. “Was in aller Welt hast du gegessen, das dich älter gemacht hat?”

“Sag’s keinem weiter, aber ich habe Romans Wachdroge getrunken. Zwölf Tage lang, also bin ich zwölf Jahre gealtert.”

“Aber du bist so viel größer und breiter … das muss schmerzhaft gewesen sein.”

Das war es. Er zuckte nur mit den Schultern. “Mein Haar ist auch ein ganzes Stück gewachsen. Ich glaube, ich könnte einen Schnitt gebrauchen.”

Sie zog das Lederband aus seinem Pferdeschwanz und trat einen Schritt zurück, um ihn sich anzusehen. “Ich glaube nicht, dass kurze Locken dir noch stehen. Du siehst jetzt irgendwie wild aus.”

Wild? Wie die Berge? Kein Wunder, dass er beim Rasieren solche Probleme hatte. In seinem Kinn war immer ein kleines Grübchen gewesen, aber jetzt fühlte es sich eher wie ein verdammter Krater an. Die meiste Zeit verfluchte er diese Unebenheit, weil er sich ständig blutig schnitt. Rasieren ohne Spiegel war verdammt schwer.

“Mir gefällt dein Haar so lang.” Vanda umkreiste ihren Schreibtisch und zog eine Schere aus der oberen Schublade. “Aber die Spitzen sind ein bisschen zerfranst, also werde ich die nachschneiden.”

“Danke.” Ian setzte sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Vanda zog eine Haarbürste aus ihrer Handtasche und begann, sein Haar zu entwirren. Ian schloss die Augen und genoss ihre vertraute Berührung. Sie hatte sein Haar die letzten fünfzig Jahre geschnitten, und in dieser Zeit hatte er ihr mehr anvertraut als irgendwem sonst. Selbst mehr als Connor und Angus.

Er konnte keinem anderen Mann sagen, wie frustriert er gewesen war. Connor war sein direkter Vorgesetzter, und ein harter Kerl, der seine Frustration bloß für kindisches Quengeln gehalten hätte. Angus MacKay war der Inhaber von MacKay Security and Investigations und damit Ians Boss. Er war es auch gewesen, der Ian vor dem sicheren Tod gerettet hatte, indem er ihn 1542 verwandelte. Doch Angus hatte sich immer schuldig gefühlt, ihn im Körper und hinter dem Gesicht eines Fünfzehnjährigen eingesperrt zu haben. Nay, er konnte Angus nie wissen lassen, wie unglücklich er gewesen war. Vanda jedoch hatte ihn verstanden und seine Geheimnisse bewahrt.

Die Schere schnappte. “Seit wann bist du wieder in der Stadt?”

“Seit heute Nacht.”

“Hast du dich aus Texas herteleportiert?”

“Nay. Ich war in Schottland.”

“Oh.” Sie schnitt weiter. “Als ich das letzte Mal von dir gehört habe, warst du in Texas und hast Jean-Luc bewacht.”

“Da war ich auch. Letzten Sommer.”

Das Schnippen hörte einen Augenblick auf. “Ich habe gehört, Phil war auch da.”

“Aye.” Interessierte Vanda sich für Phil? Er war eine der Tagwachen in Romans Stadthaus gewesen, als der Harem noch dort gelebt hatte. Soweit Ian wusste, hatte Phil sich von den Damen immer ferngehalten. Das war eine von Angus eisernen Regeln. Ein Wachposten durfte sich nie mit seinen Schützlingen einlassen.

Vanda schnitt weiter. “Und wie geht es Phil?”

“Gut.” Ian fragte sich, ob sie von Phils Geheimnis wusste.

“Kommt er zurück nach New York?”

“Irgendwann schon. Er bildet gerade Jean-Lucs neue Tagwache aus.” In der Zwischenzeit hatte Connor einen neuen sterblichen Wachposten, Tony, eingestellt, der im Stadthaus leben würde, bis Phil zurückkehrte. Ian war ihm noch nicht begegnet, aber er fragte sich, ob auch Tony ein Gestaltwandler war.

“Was hast du in Schottland gemacht?”, fragte Vanda.

“Nicht viel. Nachdem ich so schnell gewachsen bin, hat Angus darauf bestanden, dass ich mir ein paar Monate freinehme, um … mich zu erholen.”

“Dann war es wirklich schmerzhaft.” Sie beugte sich über seine Schulter und sah ihn an. “Geht es dir jetzt wieder gut?”

“Aye.” Das stimmte nicht ganz. In weniger als vierzehn Tagen mehr als zwölf Zentimeter zu wachsen hatte etwas Gewöhnung bedurft. Er musste riesige Mengen synthetisches Blut trinken, um seinen größeren Körper zu füllen. In den Highlands hatte er einige wichtige Reparaturen an seinem kleinen Schloss ausführen lassen. Er hatte nachts bei den Bauarbeiten geholfen und dabei seinen größeren Körper mit Muskeln gepolstert. Trotzdem stolperte er immer noch über seine riesigen Füße und schnitt sich beim Rasieren. “Es geht mir gut.”

Mit einem zweifelnden Schnauben machte sie sich wieder ans Schneiden. “Wie war Schottland?”

“In Ordnung.” Er war immer begeistert, wenn er nach Schottland zurückkehrte, weil es seine Heimat war und seine Seele mit Frieden erfüllte. Aber nach ein paar Nächten merkte er dann wieder, dass jeder Sterbliche, den er aus seiner Vergangenheit kannte, gestorben war. Und dann begann die Einsamkeit.

Vanda seufzte. “Ich habe das Gefühl, du verschweigst mir vieles. Ich dachte, du willst reden.”

“Ich rede doch.”

“Ich habe nicht mehr die ganze Nacht Zeit wie früher. Ich muss mich um mein Geschäft kümmern.”

Es entstand eine Pause, in der nur das klickende Geräusch der Schere zu hören war. Wie konnte er einfach geradeheraus sagen, dass er die wahre Liebe finden, heiraten und danach jahrhundertelang wunschlos glücklich sein wollte, sich aber nicht sicher war, wie man so etwas anstellte? “Wie geht es dem Geschäft?”

“In Ordnung.” Sie warf ihre Schere auf den Schreibtisch und bürstete seine Haare mit mehr Kraft als unbedingt nötig war. “Redest du jetzt, oder muss ich meine Peitsche benutzen?”

Ian grinste. Vanda spielte gerne die Harte, aber sie bellte nur und biss nicht. “Also gut. Ich rede. Mit meinem neuen, älteren Gesicht habe ich mir gedacht …”

“Der Wahnsinn. Ist dein Gehirn etwa auch gewachsen?”

“Sehr lustig. Ich bin heute Nacht hergekommen auf der Suche nach …” Er konnte einfach nicht einer Frau sagen. Vanda würde ihn wahrscheinlich auslachen. “Ich habe einen Krater in meinem Kinn.”

Sie lachte. “Das ist ein Grübchen.” Sie legte ihren Kopf zur Seite und betrachtete ihn eingehend. “Machst du dir Sorgen darüber, wie du aussiehst?”

“Nein, natürlich nicht.” Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Sie setzte sich auf den Rand ihres Schreibtischs. “Hat dir noch niemand gesagt, wie du aussiehst?”

“Männer sprechen nicht von solchen Kleinigkeiten. Jean-Lucs Frau hat gesagt, ich sehe … gut aus.”

Vanda schnaubte.

Mist. Er hatte doch gewusst, dass Heather log.

Vanda schüttelte den Kopf. “Gut ist eine riesige Untertreibung. Du bist absolut umwerfend.”

In Ians Herz keimte Hoffnung auf. Vielleicht bestand doch noch die Chance, dass sich die richtige Frau in ihn verlieben würde. “Du – du willst nicht nur nett sein?”

“Bin ich dir je besonders nett vorgekommen?”

“Zu mir warst du jedenfalls immer nett.”

“Na ja.” Sie rückte die Peitsche um ihre Hüfte mit einem genervten Blick zurecht. “Du erinnerst mich an meinen jüngsten Bruder. Aber ich nehme an, ich kann dich jetzt nicht mehr wie ein Kind behandeln.”

“Tut mir leid, dass ich dir den Spaß verderbe”, knurrte er.

“Ich freue mich wirklich für dich, Ian. Es muss aufregend sein, endlich erwachsen zu werden”, besänftigte Vanda ihn lächelnd.

“Aye.” Er trommelte mit den Fingern auf seiner Stuhllehne.

Ihr Lächeln verflog. “Du siehst nicht sehr begeistert aus. Was ist los?”

“Jetzt, wo ich älter aussehe … suche ich nach …”

“Ja?”

“Einer Frau.”

Ihre Mundwinkel zuckten. “Na, das ist ein Anfang.” Plötzlich weiteten sich ihre Augen. “Oh mein Gott, bist du wirklich noch Jungfrau?”

“Nay! Ich bin fast fünfhundert Jahre alt. Worauf zum Henker sollte ich wohl warten?”

“Lady Pamela sagte vorhin, sie glaubt, du bist eine. Und du hast es nicht geleugnet.”

“Das ist nichts, was ein Mann in der Öffentlichkeit ausbreiten sollte. Es ist Privatsache.”

Vanda lachte leise. “Du bist so altmodisch. Sex ist nichts, wofür man sich schämen muss.”

“Ich bin nicht …” Er konnte es nicht leugnen. Bei allen Heiligen, es beschämte ihn. “Es ist nicht der Sex, weißt du. Es ist die Art, auf die ich an die Sache herangehen musste. Es – es hat sich nie richtig angefühlt.”

Es tat gut, dass Vanda ihn ernst nahm. “Wir haben alle Dinge getan, die wir bereuen, um zu überleben.”

“Das war mehr als nur bedauerlich. Ich habe mich nicht ehrenhaft verhalten.” Noch nie hatte er darüber gesprochen.

“Was hast du getan?”

Ian nahm sein schulterlanges Haar im Nacken zusammen und schlang sein Lederband darum. “Nachdem Angus mich verwandelt hat, hat er mir erklärt, wie ich mich ernähren kann. Im Austausch gegen Blut sollte ich den Frauen zu Diensten sein und sie befriedigen.”

Vanda atmete geräuschvoll ein. “Für mich hört sich das gut an.”

Beschämt wendete Ian seinen Blick ab. “Ich wusste nicht, wie. Ich war erst fünfzehn, weißt du, also bin ich zuerst in die Bordelle gegangen, um etwas zu lernen. Ich – habe sehr schnell gelernt.”

“Das ist nicht so furchtbar.”

“Es war furchtbar, nachdem ich mit den Bordellen aufgehört habe. Die Frauen wollten sich nicht verführen lassen, weil sie dachten, ich wäre noch ein Kind. Ich wurde so hungrig, also habe ich Gedankenkontrolle benutzt, damit ich in ihren Augen älter aussehe. Ich habe sie glücklich zurückgelassen, aber …”

“Du hast dich schuldig gefühlt dabei?”

Ian verschränkte seine Hände ineinander. “Aye. Ich habe sie getäuscht. Jede Beziehung, die ich jemals hatte, basierte auf Täuschung und Betrug. Das könnte ich nie wieder ertragen.”

“Verstehe.”

Er setzte sich auf. “Und jetzt kann ich zum ersten Mal im Leben ehrlich sein. Ich kann endlich die richtige Frau für mich finden.”

Vanda lächelte. “Dann bist du hier richtig. Mit deinem hübschen Gesicht dürftest du keine Probleme haben, jemanden für die Nacht zu finden.”

“Ich will nicht nur eine Nacht. Ich habe jahrhundertelang Bettgeschichten gesammelt. Ich will die wahre Liebe finden, das gleiche Glück wie Roman, Angus und Jean-Luc.”

Aus Vandas Lächeln wurde eine Grimasse. “Dann bist du hier falsch. Die Ladys, die hierherkommen, interessieren sich normalerweise nicht für feste Bindungen.”

Ian sackte in seinem Stuhl zusammen. “Und wie kann ich sie dann finden?”

“Vielleicht kann ich helfen.” Sie erhob sich. “Ich habe mir selbst schon überlegt, einen netten Kerl zu finden, deshalb habe ich mich online auf einer Seite angemeldet.” Vanda setzte sich hinter den Schreibtisch und klickte. “Das hier ist die heißeste neue Seite für Singles.”

Ian beugte sich über den Schreibtisch, bis er den Bildschirm sehen konnte. Er überflog die Seite namens “Single in the City.” Sie bewarb sich mit mehr als einer halben Million Mitglieder, alle in der Umgebung von New York. “Das ist nichts für mich. Ich kann mich nicht mit einer Sterblichen verabreden.”

“Warum nicht?”

“Habe ich dir doch gesagt. Ich weigere mich, einer Frau, die ich umwerbe, etwas vorzutäuschen. Ich muss sie belügen, bis ich weiß, dass man ihr vertrauen kann. Und dann, wenn ich meine wahre Natur gestehe, kann sie mir nicht mehr vertrauen. Das würde nie funktionieren.”

“Das sehe ich anders. Bei Roman und Shanna hat es funktioniert.”

“Er hat sie aber nicht von Anfang an umworben. Erst wollte er nur einen Zahnarzt. Die Liebe ist durch Zufall ins Spiel gekommen. Und glaub mir, sie war sehr aufgebracht, als sie die Wahrheit herausgefunden hat.”

Vanda zuckte mit den Schultern. “Sie ist drüber weggekommen.”

“Ich werde keine Frau, die ich umwerbe, belügen. Also muss sie ein Vampir sein. Ein Vampir versteht, was ich durchgemacht habe. Eine Sterbliche würde nie verstehen, wie ich in der Vergangenheit Frauen missbraucht habe. Und das könnte ich ihr auch nicht zum Vorwurf machen.”

“Wenn sie dich liebt, versteht sie es.”

“Ich habe mich schon entschieden. Ich will nur einen Vampir.”

Vanda seufzte. “Okay, aber ich glaube, du schränkst dich damit ein.”

“Und sie muss aus der Flasche trinken, ehrlich sein, treu, intelligent und hübsch.”

“Jetzt schränkst du dich sogar extrem ein.” Vanda betrachtete den Bildschirm mit gerunzelter Stirn. “Zu deinem Glück kann man aber erkennen, wer Vampir ist und wer nicht.” Sie klickte auf ihr Profil. “Siehst du das?”

Interessiert las Ian, was dort geschrieben stand.

Ich genieße das Leben in vollen Zügen. (V)

“Alle Vampire schmuggeln diese Vs in ihre Profile”, erklärte Vanda. “Das ist unser Geheimcode, damit wir wissen, wer wir sind. Wenn jemand dich um ein Treffen bittet, und sie kein V in ihrem Profil hat, lehnst du einfach ab.”

Ians Herz klopfte schneller. So hatte er sich die Jagd nach seiner wahren Liebe nicht vorgestellt, aber es war viel besser als Nichts. “Das könnte tatsächlich funktionieren.”

“Natürlich funktioniert es. Ich habe eine Digitalkamera hier.” Vanda öffnete eine Schublade. “Wir machen ein Foto von dir und füllen dein Profil aus. Das kann ein paar Stunden dauern.”

“Stunden?”

“Das Profil ist ziemlich ausführlich. Du musst einen Aufsatz schreiben.” Ihre Miene hellte sich auf. “Ich weiß! Ich mache das.”

“Du? Warum?”

“Weil ich eine Frau bin, und ich weiß, was Frauen hören wollen. Das ist brillant!” Sie griff sich einen Stift und einen Notizblock.

Ihr Angebot war sehr verlockend, weil Ian keine Ahnung hatte, was er in einem Aufsatz schreiben sollte. “Denk daran, es ist mir wichtig, dass du ehrlich bist.”

“Natürlich. Aber überleg mal, Ian. Wir können nicht in dein Profil schreiben, dass du fünfhundert Jahre alt bist.”

“Ich bin vierhundertachtzig.”

Sie klopfte mit dem Stift auf das Papier und wartete.

“Na schön.” Er stöhnte. “Du kannst sagen, ich bin siebenundzwanzig.”

“Toll.” Sie schrieb die Zahl auf. “Und wie groß bist du?”

“Eins siebenundachtzig.” Er runzelte die Stirn. “Und schreib, ich will eine ehrliche und treue Frau. Und intelligent und schön auch.”

“Kein Problem. Und jetzt lächele und zeig mir deine Grübchen.” Sie hob ihre Kamera. “Und mach dir keine Sorgen. Ich werde dich unwiderstehlich machen.”

2. KAPITEL

Es war schon fast Sonnenaufgang, als Ian sich auf die hintere Veranda von Romans Stadthaus auf der Upper East Side teleportierte. Er drückte einen Knopf auf seiner Smart-Key-Fernbedienung, um den Alarm auszustellen, ehe er die Tür aufschloss. Die Küche war dunkel, bis auf das beleuchtete digitale Nummernfeld neben der Tür. Er gab den Code ein, um den Alarm erneut zu aktivieren.

“Keine Bewegung”, warnte ihn eine raue Stimme. “Dreh dich langsam um.”

Während Ian tat, wie ihm befohlen war, bemerkte er das Glänzen eines Highland-Dolches in der Hand eines großen Schotten neben der Küchentür. “Dougal?”

“Aye.” Dougal Kincaid betätigte den Lichtschalter. In seinen Augen war kein Funke des Erkennens zu sehen, bis sein Blick auf Ians Kilt fiel. “Bist du das, Ian?”

“Aye, ich bin es. Willst du meinen Ausweis sehen?”

“Nay.” Dougal lächelte, während er seine Waffe wieder in seinem Kniestrumpf verstaute. “Ich erkenne deinen Plaid eher als dein Gesicht. Wir haben dich erst in einer Woche zurückerwartet.”

“Mir war langweilig.” Einsam war das bessere Wort, aber das wollte Ian nicht zugeben. “Wie ist hier die Lage?”

“Ziemlich ruhig.” Dougal nahm eine Flasche synthetisches Blut aus dem Kühlschrank und stellte sie in die Mikrowelle. “Fängst du gleich wieder an zu arbeiten?”

“Nein. Ich habe noch eine Woche Urlaub.” Eine Woche, die er dazu verwenden würde, seine perfekte Partnerin zu finden.

Dougal legte den Kopf zur Seite und betrachtete Ian. “Ich habe ja gehört, dass du älter geworden bist, aber es ist unglaublich, wie du dich verändert hast.”

“Aye, ich erkenne mich selbst kaum wieder.” Fünf Minuten lang hatte er die Fotos angestarrt, die Vanda von ihm gemacht hatte. Sein Gesicht war kaum wiederzuerkennen, aber auch sein Körper hatte sich verändert. Er war so schnell gewachsen, dass er sich selbst noch daran gewöhnen musste. Manchmal stieß er mit der Hand gegen Dinge, wenn er seine längeren Arme zu weit ausstreckte, und manchmal stolperte er über seine größeren Füße, Schuhgröße siebenundvierzig.

Die Mikrowelle piepte, und Dougal nahm sein Abendbrot heraus. “Wir haben unten gerade Kampfsport trainiert.” Er kippte etwas von dem Blut herunter. “Das hättest du sehen sollen. Der neue Wachposten hat Phineas ordentlich den Hintern versohlt.”

“Wirklich?” Ian war beeindruckt. Menschen konnten Vampire nicht oft im Handkampf besiegen.

Dougal trat aus der Tür. “Ich dusche lieber noch, ehe die Sonne aufgeht.”

Die Sonne näherte sich dem Horizont. Ian konnte bereits fühlen, wie sein Kreislauf sich verlangsamte. Er folgte Dougal die Hintertreppe hinab in den Aufenthaltsraum der Wachen im Keller. Der Billardtisch war an die Wand neben das Sofa geschoben worden, damit für ihre Trainingseinheiten eine große, offene Fläche entstand.

Ian nahm einen Stuhl, der umgekippt worden war, und bemerkte, dass eines der Beine zerbrochen war. “Das muss ein Höllenkampf gewesen sein.”

“Aye. Allerdings ein bisschen peinlich für Phineas.” Dougal leerte seine Flasche auf dem Weg in den Schlafsaal nebenan. Eine Badezimmertür schloss sich mit einem Knall.

Ian schlenderte in den Schlafsaal und erwartete, Phineas McKinney anzutreffen, aber der junge, schwarze Vampir war nicht dort. Das Geräusch von prasselndem Wasser drang aus beiden Badezimmern, also stand er wahrscheinlich genau wie Dougal unter der Dusche. Viele Vampire waren darauf bedacht, sauber zu sein, ehe sie sich dem Todesschlaf hingaben. Sie fühlten sich so weniger wie ein verrottender Kadaver.

Der Schlafsaal war jetzt fast leer. Ian erinnerte sich an eine Zeit, zu der zehn Särge darin gestanden hatten, einer für jeden Vampirwachmann. Die meisten der Vampire waren jetzt fort, auf der Jagd nach Casimir durchsuchten sie Osteuropa.

Die Stockwerke über ihm waren genauso leer. Früher hatte Roman dort gelebt, mitsamt den zehn Haremsdamen, und meist waren jede Menge Vampire auf Besuch. Es war ein aufregender Ort gewesen. Jetzt waren sie alle weitergezogen.

Roman lebte mit seiner sterblichen Frau und seinem Kind in White Plains, wo Connor sie als ihr Bodyguard beschützte. Die Vampirwachen, die in Romans Stadthaus gelebt hatten, arbeiteten im Sicherheitsteam von Romatech Industries, wo synthetisches Blut und die Fusion Cuisine hergestellt wurden. Connor hatte hier die Leitung, aber es war geplant, Ian diesen Posten zu übertragen, damit Connor sich ganz auf die Sicherheit von Roman und seiner Familie konzentrieren konnte.

Ian freute sich zwar auf seine bevorstehende Beförderung, doch dass er sie erst jetzt bekam, wo er älter aussah, fand er irgendwie nicht in Ordnung. Er hatte 1955 bei MacKay Security and Investigations angefangen und es nie weiter als bis zum Stellvertreter gebracht. Selbst seine besten Freunde hatten es schwer gefunden, ihn wie einen Erwachsenen zu behandeln, solange er wie fünfzehn aussah.

Er zog seinen Strickpullover über den Kopf und warf ihn in den Wäschekorb. Dann schlenderte er hinüber zu dem Sarg, der mehr als fünfzig Jahre lang seine Ruhestätte gewesen war. Das Kissen und die Decke zeigten das Grün und Rot des MacPhie-Tartan, genau wie sein Kilt. Er legte seinen Sporran ab und zog das Messer aus seinem Strumpf, dann legte er beides in die kleine Kommode neben seinem Sarg. Er zog seine Schuhe aus und hielt plötzlich inne, weil ihm etwas einfiel. Er war zwölf Zentimeter gewachsen.

Verdammt. Er war zu groß für seinen Sarg.

Er kletterte hinein, und tatsächlich hingen seine Füße über das Ende hinaus. Es gab nur einen weiteren Sarg im Schlafsaal, und der gehörte Dougal. Das Doppelbett war für Phineas bestimmt. Alle anderen Betten befanden sich in den oberen Geschossen.

Vielleicht sollte er dorthin gehen. Warum eigentlich nicht? In einigen Wochen würde Ian hier genau wie bei Romatech die Leitung übernehmen. Er konnte schlafen, wo er wollte. Also verließ er den Schlafsaal und ging die Treppe hinauf.

Normalerweise nahm er vor dem Zubettgehen noch etwas zu sich, aber er hatte bei Vanda so viel Blier getrunken, dass er noch satt war. Vanda hatte sich ihm gegen vier Uhr morgens an der Bar angeschlossen, um zu verkünden, dass sein Profil fertig war und man ihn damit offiziell auf der Dating-Seite “Single in the City” bewundern konnte.

Ein weiteres Glas Blier hatte ihm Selbstvertrauen geschenkt und ihn ermutigt, einige Frauen anzusprechen, mit denen er sich in der nächsten Nacht im Club treffen wollte.

Als er das Erdgeschoss betrat, ging der Alarm los. Er erstarrte eine Sekunde, ehe ihm klar wurde, was geschah. Ein Eindringling! Und verdammt, er reagierte zu langsam. Das vierte Glas Blier war wohl doch zu viel gewesen.

Er rannte in die Eingangshalle. Leer. Drehte sich um, stolperte über seine Füße und dann zum Nummernfeld neben der Tür. Er stellte den Alarm aus, damit er etwas hören konnte. Er nahm ein leises Geräusch aus Richtung der Bibliothek war. Er schlich zu deren Eingang.

Eine kalte Brise durch die offenen Fenster bauschte die Vorhänge. Die Person, die dieses Fenster geöffnet hatte, hatte auch den Alarm ausgelöst, und diese Person befand sich immer noch im Raum.

Weiblich. Und sterblich. Der Duft ihres Blutes hüllte ihn ein und liebkoste seine Haut wie eine Gespielin. Sie war seine Lieblingssorte – AB positiv.

Gott sei Dank hatte Roman 1987 das synthetische Blut erfunden, sodass Ian und die anderen Vampire nicht mehr Sklaven ihrer Blutlust waren. Trotzdem reagierte sein Körper mit dem gleichen ursprünglichen Instinkt, wie er es seit seiner Verwandlung 1542 getan hatte. Sein Zahnfleisch kribbelte. Er hatte genug Erfahrung, um zu wissen, wie er sich unter Kontrolle brachte, aber heute Nacht kostete es ihn mehr Mühe als sonst.

Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, während sie die Buchregale an der Wand gegenüber betrachtete. Zweifellos war sie im Begriff, die seltensten Bücher in Romans Sammlung zu stehlen. Die Bibliothek beherbergte alles: von mittelalterlichen Manuskripten, handgeschrieben von Mönchen, bis zu Erstausgaben aus dem neunzehnten Jahrhundert.

Anscheinend war ihr entgangen, wie er sich auf Strümpfen angeschlichen hatte. Der Alarm war unter Garantie nicht an ihr Ohr gedrungen, weil er auf eine Frequenz eingestellt war, die nur Vampire und Hunde hören konnten. Und sie konnte auch bestimmt nicht spüren, welche Reaktion sie in ihm hervorrief.

Seine Körpertemperatur schien um fünf Grad gestiegen zu sein, trotz der kalten Dezemberluft, die durch das offene Fenster und über sein weißes Unterhemd wehte. Die Lampe zwischen zwei Ohrensesseln war gedimmt. Sie warf ein goldenes Licht durch den Raum und umrahmte ihre Gestalt mit einer schimmernden Aura.

Sie gab eine atemberaubende Einbrecherin ab, ganz in schwarzes Lycra gekleidet, das sich an ihre Taille und die sanft gerundeten Hüften schmiegte. Ihr goldenes Haar hing, zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihren Rücken hinab. Die Spitzen strichen sanft über ihre Schulterblätter, als sie ihren Kopf von einer Seite auf die andere legte und die Buchtitel im Regal überflog.

Sie trat, lautlos auf schwarzen Socken, zur Seite. Vermutlich hatte sie ihre Schuhe vor dem Fenster gelassen, um jedes Geräusch zu vermeiden. Er bemerkte ihre schlanken Fesseln und ließ seinen Blick dann hinauf zu ihrem goldenen Haar wandern. Er musste aufpassen, wenn er sie einfing. Wie alle Vampire hatte er übermenschliche Kraft, und sie sah ein wenig zerbrechlich aus.

Lautlos bewegte er sich an den Ohrensesseln vorbei ans Fenster. Es machte ein rauschendes Geräusch, als er es schloss.

Mit einem erschreckten Keuchen drehte sie sich zu ihm um. Ihre Augen wurden groß. Augen, so grün wie die Hügel, die seine Heimat in Schottland einfassten.

Eine Welle der Lust verschlug ihm einen Augenblick lang die Sprache. Sie schien genauso sprachlos zu sein. Zweifellos dachte sie eilig über einen Fluchtweg nach.

Er bewegte sich langsam auf sie zu. “Du kannst nicht durchs Fenster entkommen. Und du kannst auch nicht vor mir die Tür erreichen.”

Sie trat einen Schritt zurück. “Wer sind Sie? Wohnen Sie hier?”

“Ich stelle hier die Fragen, sobald ich dich in Gewahrsam genommen habe.” Er konnte hören, wie ihr Herz schneller schlug. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, bis auf die Augen. In ihnen loderte Widerstand. Sie waren wunderschön.

Sie nahm ein dickes Buch aus dem Regal neben sich. “Sind Sie hier, um meine Fähigkeiten zu testen?”

Merkwürdige Frage. Schätzte er die Situation falsch ein? “Wer …” Plötzlich schleuderte sie das Buch, das sie gerade aus dem Regal genommen hatte, in sein Gesicht. Verdammt, er hatte für sein älteres, männlicheres Gesicht zu viel gelitten, um es sich jetzt fast von ihr einschlagen zu lassen.

Das Buch flog an ihm vorbei und warf die Lampe um. Das Licht flackerte und verlosch. Vampire haben ein übermenschliches Sehvermögen, mit dem er jetzt wahrnahm, wie sie in Richtung Tür rannte.

Er sauste hinter ihr her. Ehe er sie packen konnte, hatte sie sich umgedreht und seiner Brust einen Tritt versetzt. Er stolperte zurück. Verdammt, sie war stärker, als sie aussah.

Mit einer Reihe von Hieben und Tritten setzte sie ihren Angriff fort, doch er wehrte sie alle ab. Aus Verzweiflung zielte sie einen Tritt zwischen seine Beine. Verdammt, er hatte zu viel gelitten für seine größere, männlichere Ausstattung. Er sprang zurück, aber ihre Zehen verfingen sich im Saum seines Kilts, der jetzt bis über seine Taille nach oben flog.

Ihr Blick wanderte sofort zwischen seine Beine. Sie sperrte den Mund auf. Aye, die zwölf Jahre Wachstum waren großzügig zu ihm gewesen. Er stürzte vorwärts und warf sie auf den Teppich. Sie schlug nach ihm, also fasste er ihre Handgelenke und drückte sie gegen den Boden.

Sich drehend und windend versuchte sie, ihn mit dem Knie zu treffen. Knurrend wehrte er mit seinem eigenen Knie ab. Dann ließ er sich langsam auf sie herabsinken, um sie festzuhalten. Ihr Körper war wunderbar heiß, gerötet von ihrem Blut und pochend mit einer Lebenskraft, die ihn vor Verlangen erbeben ließ.

“Hör auf zu zappeln, Kleine.” Seine Reaktion auf diese Frau konnte er kaum unter Kontrolle bringen. “Hab Erbarmen.”

“Erbarmen?” Sie zappelte weiter unter ihm. “Ich bin hier die Gefangene.”

“Hör auf.” Er presste sich fester auf sie. Ihre Augen weiteten sich. Er bezweifelte nicht, dass sie es spüren konnte.

Ihr Blick wanderte nach unten und dann zurück in sein Gesicht. “Runter von mir. Sofort!”

“Ich würde lieber noch bleiben”, murmelte er.

“Loslassen!” Sie zerrte an seinem Griff um ihre Handgelenke.

“Wenn ich dich loslasse, rammst du mir das Knie zwischen die Beine. Und ich mag, was ich dort aufbewahre, zu gern.”

“Da sind wir wohl nicht der gleichen Meinung.”

Er lächelte selbstgefällig. “Du hast lange genug hingesehen. Muss dir also gefallen haben.”

“Ha! Du hast einen so winzigen Eindruck auf mich gemacht, dass ich mich kaum erinnere.”

Es war amüsant mit ihr. Sie war im Kopf genauso flink wie körperlich.

Neugierig betrachtete sie ihn. “Du riechst nach Bier.”

“Ich hatte ein paar.” Er bemerkte ihren zweifelnden Blick. “Okay, mehr als ein paar, aber ich konnte dich immer noch besiegen.”

“Wenn du Bier trinkst, heißt das, du bist kein …”

“Kein was?”

Sie sah ihn mit immer größer werdenden Augen an. Er hatte das ungute Gefühl, sie glaubte, er wäre sterblich. Sie wollte, dass er sterblich war. Und das bedeutete, sie wusste von Vampiren.

Er betrachtete ihr hübsches Gesicht – die hohen Wangenknochen, das zarte Kinn und die verlockenden grünen Augen. Manche Vampire behaupteten, Sterbliche hätten überhaupt keine Macht. Sie irrten sich.

Ihre Blicke trafen aufeinander, und er vergaß zu atmen. In ihren grünen Tiefen lag etwas verborgen. Einsamkeit. Eine Wunde, die zu alt für ihre Jugend erschien. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, in das Spiegelbild seiner eigenen Seele zu blicken.

“Du bist gar keine Diebin, oder?”, flüsterte er.

Sie schüttelte leicht den Kopf, immer noch von seinem Blick gefangen. Oder vielleicht war er es, der in ihrem gefangen war.

“Ian.” Schritte näherten sich. “Ian, was zum Henker machst du da?”

Er löste seinen Blick von ihrem und bemerkte Phineas, der neben ihnen stand. “Was?”

Phineas sah ihn verwirrt an. “Warum prügelst du dich mit Toni?”

Ian blinzelte verwirrt, dann blickte er zu der Frau, die er auf dem Boden festhielt. “Du bist … Toni?” Der neue Wachposten war eine Frau? Er hatte gedacht, der Neuankömmling wäre ein Mann namens Tony, niemand hatte ihm von einer Toni erzählt.

“Du bist Ian?” Enttäuschung flackerte kurz in ihren Augen auf, ehe sie sich abwendete. “Du bist einer von denen.”

Das tat weh. Jahrhundertelang war er zu jung gewesen, und jetzt, nach all den Schmerzen, die er ertragen hatte, war es immer noch nicht in Ordnung. Sein Kiefer bewegte sich, als er mit den Zähnen knirschte. “Hast du was gegen Vampire?”

In ihren Augen flackerte Wut. “Ja. Ich werde normalerweise richtig sauer, wenn sie mich angreifen.”

“Sie hat nicht unrecht, Alter”, murmelte Phineas, während er den Gürtel seines violetten Satinmorgenmantels zurechtrückte. “Du solltest sie nicht angreifen. Sie ist unser Freund.”

Ian ließ sie los. “Freundschaft muss man sich verdienen.”

Sie rutschte von ihm weg und setzte sich auf. “Ich bin nicht hier, um dein Freund zu sein. Ich bin deine Wache. Das ist alles.”

Das war alles zu viel für Ian. Connor hatte eine Frau eingestellt, um Männer zu beschützen? Das war in der Vampirwelt noch nie vorgekommen. Eine sterbliche Frau hätte nicht die Kraft … es sei denn, sie war ein Gestaltwandler wie Phil und Howard. “Bist du …” Wie konnte er das formulieren, wo Gestaltwandler doch ein Geheimnis waren? “Veränderst du dich zu einer gewissen Zeit des Monats?”

Sie sah ihn ungläubig an. “Du willst wissen, ob ich an PMS leide? Ernsthaft?”

“Nay! Ich meinte nicht …” Ian verstummte, unterbrochen von Phineas’ Gelächter.

“Ich weiß, was du wissen willst, Mann, aber sie ist ganz normal.”

“Normal?” Sie starrte Phineas wütend an. “Ich hab dich heute Abend fertiggemacht.”

Phineas hob beschwichtigend die Hände. “Nicht wehtun, Süße. Du bist ein starkes, schönes Prachtexemplar von einer Frau.”

Sie neigte den Kopf. “Vielen Dank.”

“Connor hat mir am Telefon gesagt, er hat einen Tony eingestellt”, murmelte Ian. “Ich dachte, das wäre ein Mann.”

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. “Ich dachte, du wärest etwas intelligenter.”

“Nicht schlecht”, grinste Phineas. “Der Punkt geht an sie, Alter.”

Ian verzog das Gesicht. “Es war vollkommen logisch, anzunehmen, Tony sei ein Männername.”

Sie hob ihr Kinn. “Ist es vollkommen logisch, jemanden anzugreifen, ohne vorher mit ihm zu sprechen?”

“In diesem Fall, aye, das war es. Das Fenster war offen …”

“Ich habe es aufgemacht”, unterbrach sie ihn. “Es war da drinnen stickig wie in einem Grab, und mir war heiß.”

“Süße, du bist so heiß, dass es brodelt.” Phineas machte ein paar zischende Geräusche.

Ian warf ihm einen genervten Blick zu und fuhr dann mit seiner Erklärung fort. “Der Fühler am Fenster hat einen Alarm ausgelöst, und als ich der Sache auf den Grund gehen wollte, habe ich gesehen, wie du dir einige sehr wertvolle Bücher angesehen hast, und dabei angezogen warst wie eine Einbrecherin.”

“Ja, du siehst wie eine heiße, sexy Catwoman aus.” Phineas schlug seine Krallen in die Luft. “Miau! Fauch!”

Jetzt sah Toni Phineas genervt an. “Das ist meine Trainingskleidung.” Sie richtete ihren wütenden grünäugigen Blick auf Ian. “Und ich habe keinen Alarm gehört.”

“Nur Vampire und Hunde können ihn hören.”

“Oh. Und was bist du?”

“Nicht schlecht!” Phineas klopfte sich auf den Schenkel. “Sie macht dich fertig, Alter.”

“Phineas”, knurrte Ian. “Ich versuche, mich zu unterhalten.” Er wendete sich an Toni. “Es tut mir leid, Mädchen, aber das wird niemals funktionieren. Du kannst kein ganzes Haus voller Männer bewachen. Du siehst doch, wie Phineas auf dich reagiert.”

“Er ist jedenfalls viel netter als du!” In ihren Augen glitzerte Wut. “Und es ist nicht mein Problem, wenn ihr ein Haufen sexistischer Schweine seid. Ich kann diesen Job erledigen, mit oder ohne PMS. Ich habe Phineas besiegt, und ich hätte auch dich noch geschafft, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten.”

“Kleine, du hättest mich nie festhalten können.” Er beugte sich zu ihr. “Ich liege lieber oben.”

In ihren Augen loderte grünes Feuer.

“Der war gut!” Phineas schüttelte seine Faust in der Luft. “Du gewinnst Raum, Alter. Du bist der Beste!”

“Er ist ein Schwein”, knurrte Toni.

“Oink, oink”, grunzte Phineas.

“Das reicht, Phineas!” Ian starrte ihn wütend an. “Ich verstehe langsam, warum man dich so jung ermordet hat.”

Toni entfuhr ein Lachen, aber sie unterdrückte es schnell und legte ihre Stirn in ernste Falten.

Hatte sie Sinn für Humor? Das war im Großen und Ganzen nicht sonderlich wichtig, aber Ian fühlte sich auf einmal herausgefordert, sie noch einmal zum Lachen zu bringen oder ihr wenigstens ein Lächeln zu entlocken. Leider fiel ihm überhaupt nichts Amüsantes ein.

Er stand auf und führte eine galante Verbeugung aus. “Ich entschuldige mich bei dir für den Angriff. Ich hoffe, ich habe dir nicht wehgetan.”

Ihre Stirnfalten entspannten sich etwas. “Ich bin okay.”

Er reichte ihr eine Hand, um ihr aufzuhelfen.

Misstrauisch betrachtete sie ihn. “Du wirst Connor aber nicht sagen, er soll mich feuern, oder? Ich kann diesen Job wirklich machen.”

Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Warum in aller Welt sollte eine bezaubernde Sterbliche einen Job als Wachposten über Vampire wollen? “Ich lasse dich bleiben, wenn du mir ein paar Fragen ehrlich beantwortest.”

Ihre Miene verschloss sich kurz, dann lächelte sie strahlend und nahm seine Hand. “Klar. Was willst du wissen?” Sie erhob sich anmutig.

Seine Hand schloss sich fester um ihre und das ungute Gefühl verstärkte sich. Er wusste, dass sie nicht ganz ehrlich sein würde. Ihr Lächeln war zu gezwungen, und ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt.

“Warum willst du diesen Job?”, fragte er sie leise.

“Die Bezahlung ist extrem gut. Und ich bekomme freie Kost und Logis, was in Manhattan ein Vermögen wert ist”, beantwortete sie seine Frage und löste gleichzeitig ihre Hand aus seinem Griff.

“Und du bist den ganzen Tag mit ein paar Leichen im Haus eingesperrt.”

“Kein Job ist perfekt.” Sie verschränkte die Arme vor der Brust. “Keiner von euch wacht weinend auf oder muss die Windeln gewechselt bekommen, also ist es einfacher als normales Babysitten.”

Babysitten? Das war einfach nur unverschämt.

Phineas amüsierte sich königlich. “Yeah, kümmer’ dich um mich, Hot Mama. Ich brauche ein Bad. Und etwas Babyöl, das du auf meinem ganzen Körper verteilst. Ich fühle mich wund, wenn du weißt, was ich meine.”

Ihre Mundwinkel zuckten.

Fand sie Phineas amüsant? Und warum nervte ihn das? Ian trat näher auf sie zu und biss die Zähne zusammen. “Wir sind keine Babys. Wir sind gestandene Krieger.”

Sie tat so, als würde sie ein heftiger Schauer durchfahren. “Oooh, ich habe Angst.”

Zweifelte sie an ihren Fähigkeiten? Ian trat noch näher. “Mädchen, du hast keine Ahnung, wie wild wir sein können.”

Ihr Lächeln verblasste, und ein schmerzverzerrter Blick huschte über ihr Gesicht. “Das weiß ich nur zu gut. Du musst mich nicht daran erinnern.”

“Bist du angegriffen worden?” Ian betrachtete ihren Hals, konnte aber keine Anzeichen von Bissen über dem Halsausschnitt ihres schwarzen Outfits erkennen. “Hast du so von uns erfahren?”

Das sture Vorstrecken ihres Kinns konnte nur bedeuten, dass sie nicht mehr verraten würde. Aber sie hatte schon vorher erwähnt, wie furchtbar sie es fand, von Vampiren angegriffen zu werden. Bald würde die Sonne aufgehen, und Ian und die anderen Vampire fielen dann in ihren Todesschlaf. Den ganzen Tag würden sie schutzlos und verletzlich daliegen. Und ihr Wachposten schien einen Groll gegen sie zu hegen.

“Mädchen, du sollst uns beschützen. Warum sollte ich dir vertrauen?”

Ihre Augenbrauen hoben sich. “Machst du dir Sorgen, was ich tun könnte, wenn du mir vollkommen hilflos ausgeliefert bist?”

Er packte sie an den Schultern. “Drohst du uns? Ich könnte deine Erinnerung löschen und dich sofort zur Tür hinauswerfen.”

“Nein!” Jetzt sah sie panisch aus. “Bitte. Ich – ich brauche diesen Job wirklich. Ich habe Connor versprochen, dass ich nie einem von euch Schaden zufügen würde. Frag ihn. Er glaubt mir.”

Ian ließ sie los und trat einen Schritt zurück. “Ich werde ihn fragen.”

Nervös blickte sie ihn an. “Ich muss noch meine Uniform anziehen, ehe meine Schicht anfängt.”

Phineas gähnte. “Yeah. Ich bin auch langsam müde. Gute Nacht, Süße.” Er hielt Toni seine ausgestreckte Faust entgegen.

Sie antwortete mit einem Lächeln und schlug mit ihrer Faust gegen seine. “Bis morgen, Dr. Phang.”

Phineas grinste und schlenderte dann die Treppe hinab. “Yeah, so nennt man mich, Dr. Phang. Und nicht nur die Zähne sind lang und spitz.” Er ging hinunter in den Keller, und seine Stimme drang immer noch zu ihnen hinauf. “Der Doktor ist da. Oh Baby, ich kann dich gesund machen.”

Der Sog des Todesschlafes griff auch nach Ian, aber als älterer Vampir konnte er besser widerstehen als Phineas.

“Vielleicht sollten wir noch einmal von vorne anfangen.” Er streckte seine Hand aus. “Ich bin Ian MacPhie.”

Sie sah ihn misstrauisch an. “Toni Davis.” Sie nahm seine Hand, ließ schnell los und eilte dann zur Treppe.

Er folgte ihr. “Ich habe wirklich gedacht, du bist ein Einbrecher. Normalerweise greife ich keine Frauen an.”

“Nur, wenn du Hunger hast.”

“Ich jage nicht nach Nahrung. Darüber sind wir längst hinweg.”

“Ja, klar.” Sie ging die Treppe hinauf, ohne sich umzusehen.

Immer noch war Ian hinter ihr. “Glaubst du mir nicht?”

Sie zuckte mit den Schultern. “Ich habe gesehen, dass ihr hier aus Flaschen trinkt.”

“Dann weißt du, dass wir anders sind als die Malcontents.”

Ihre Knöchel wurden weiß, als sie plötzlich das Treppengeländer fest umklammerte. Dann ließ sie los und ging weiter nach oben. “Ich habe schon herausgefunden, dass eure edle Art etwas Neues ist. Ehe synthetisches Blut erfunden wurde, musstet auch ihr Menschen angreifen, um euch zu ernähren.”

Er biss die Zähne zusammen. “Ich habe nie Gewalt benutzt.”

Eine Hand am Geländer wirbelte sie herum. Sie starrte ihn wütend an. “Aber Gedankenkontrolle hast du benutzt?”

“Das verstehst du nicht”, erwiderte Ian schockiert.

“Oh, ich glaube schon. Gedankenkontrolle macht es euch leicht, die Leute zu manipulieren.” Sie kniff die Augen zusammen. “Aber sie waren trotzdem Opfer, und ihr habt ihnen trotzdem Gewalt angetan.”

“Wir waren nie wie die Malcontents. Diese Bastarde sind Mörder. Wir haben nie getötet, um uns zu ernähren.”

“Okay. Dann wart ihr eben keine Killer. Nur Parasiten.” Sie drehte sich um und ging weiter.

Er packte ihren Arm und hielt sie auf. “Wenn du uns so hasst, wieso nimmst du dann einen Job an, bei dem es darum geht, uns zu beschützen?”

Mit einer harschen Bewegung machte sie sich los und ging weiter die Treppe hinauf. “Ich hasse euch nicht. Und ich habe meine Gründe.”

“Welche Gründe?” Unbeholfen stolperte Ian mit seinen großen Füßen über eine Stufe.

Sie sah sich um. “Warum folgst du mir? Musst du nicht in den Keller zum … Sterben?”

“Ich schlafe nicht da unten.”

“Aber ich habe deinen Sarg unten gesehen.” Sie legte ihren Kopf zur Seite. “Sah gemütlich aus.”

“Dann schlaf du doch drin.”

“Nur über meine Leiche. Oh, Augenblick. Deine Leiche. In ungefähr fünf Minuten. Also sollte ich mich beeilen.” Sie joggte den Rest der Stufen hinauf.

Besserwisserin. Sein Blick wanderte hinab zu ihrem runden, festen Hintern, der sich unter dem schwarzen Lycra köstlich abzeichnete. Es war genug, um ihn wieder zum Beißer zu machen. Er folgte ihr und sah zu, wie ihre Hüften sich wiegten, während sie den Korridor hinabging. Sie blieb vor einer Tür zu ihrer Rechten stehen.

Er hielt neben ihr an. “Ich bin rausgewachsen.”

“Aus was? Deinem Ego?”

“Mädchen, du brauchst keine Waffen. Deine Zunge kann einen Mann in Stücke schneiden.”

Nun hatte er ihr doch noch ein Lächeln entlockt. “Ich nehme das als Kompliment.”

“Ich bin aus meinem Sarg rausgewachsen. Ich bin zwölf Zentimeter größer als bei meinem letzten Besuch.”

Ihre Augen weiteten sich. “Connor hat schon gesagt, dass du gewachsen bist, aber ich habe es nicht richtig geglaubt. Ich dachte, Vampire stecken in dem Alter fest, in dem sie gestorben sind.”

“Das ist normalerweise richtig. Aber ich bin diesen Sommer um zwölf Jahre gealtert.”

“Oh.” Ihre Mundwinkel zuckten. “Willkommen in der Pubertät.”

Er legte eine Hand an die Wand neben ihr und beugte sich vor. “Du hast unter meinen Kilt gesehen. Du weißt, dass ich ein ausgewachsener Mann bin.”

Entschlossen schob sie ihr Kinn vor, aber ihre Wangen röteten sich leicht. “Ich versuche mit aller Macht, diesen unglückseligen Vorfall aus meinem Gedächtnis zu verdrängen.”

Er lächelte verführerisch. “Lass mich wissen, wenn du Erfolg hattest.”

Die Röte auf ihren Wangen verstärkte sich. “Mr. MacPhie, darf ich Sie erinnern …”

“Nenn mich ruhig Ian. Ist Toni dein vollständiger Name?”

“Nein. Hör zu, ich versuche, ernsthaft mit dir zu reden, weil du schätzungsweise in drei Minuten tot zusammenbrechen wirst.”

“Wenn ich es tue, legst du mich dann ins Bett?”

“Diese Art von Gesprächen ist unangemessen …”

“Heißt du Antonia?”

Ihre Augen verdunkelten sich. “Nein.”

“Tonatella? Tonisha?”

“Nein.”

“Toni Baloney?”

Ihre Mundwinkel zuckten. “Ich versuche, ernst zu sein.”

“Ich auch.” Er ließ seinen Blick über sie wandern. “Todernst.”

Sie schnaubte. “Mr. MacPhie, ich habe vor zwei Nächten einen Vertrag unterschrieben, in dem deutlich formuliert ist, dass ich mich mit niemandem, den ich bewache, einlassen darf.”

Ians Herz setzte aus, und das hatte nichts mit der aufgehenden Sonne zu tun. “Mir war nicht klar, dass wir uns auf etwas einlassen.”

“Tun wir ja nicht! Aber du flirtest mit mir, und das muss aufhören.”

Er blinzelte. Flirtete er wirklich? Er war eher versucht gewesen, ihr den Hals umzudrehen, als sie zu verführen. “Du glaubst, ich habe geflirtet?”

“Na ja, schon.”

Er beugte sich näher zu ihr. “Hat es dir gefallen?”

“Du tust es immer noch.”

Ein frivoles Grinsen breitete sich über seinem Gesicht aus. “Süße, ich kann die ganze Nacht.”

“Die Nacht ist vorbei.” Sie drehte sich um und griff nach dem Türknauf. “Gute Nacht, Mr. MacPhie.”

Er wich zurück. Von ihrer Ablehnung würde er sich nicht beeinflussen lassen. Warum sollte ihn das stören? “Das habe ich nicht ernst gemeint. Du musst dir keine Sorgen machen, dass ich dich belästige. Ich suche vielleicht nach der wahren Liebe, aber nur mit einer Vampirin.”

Sie ließ den Türknauf los und drehte sich zu ihm. “Dann glaubst du, tote Frauen sind besser als lebendige?”

“Das habe ich nicht gesagt. Ein Vampir passt nur besser zu mir.”

“Wirklich? Hast du Angst, dich an den Lebenden zu verbrennen?”

Forderte sie ihn heraus? “Ich habe noch keine Frau kennengelernt, mit der ich nicht fertig geworden bin.”

“Klar.” Sie sah ihn misstrauisch an. “Wahrscheinlich hast du bei allen Gedankenkontrolle benutzt.”

Verdammt, sie wusste wirklich, wo das Messer am meisten stach. “Aye, ich habe Gedankenkontrolle benutzt. Und sie haben es geliebt. Es hat ihre Orgasmen verstärkt.” Er hob eine Augenbraue. “Möchtest du, dass ich es dir zeige?”

In ihren Augen loderte Wut. “Ich möchte, dass du verschwindest. Und stirbst.” Sie öffnete ihre Schlafzimmertür.

Er trat näher. “Warum bewachst du uns, obwohl du uns nicht leiden kannst? Warum verbringst du deine Tage eingesperrt in einem Haus voller Untoter?”

“Gute Nacht, Mr. MacPhie.” Sie schloss ihm die Tür vor der Nase zu.

“Ich finde schon heraus, was mit dir los ist, Toni”, rief er und stapfte dann zurück zur Treppe.

Die Sonne berührte bereits den Horizont und der Todesschlaf war bereit, ihn ins Nichts zu ziehen. Er blickte die Treppe zum vierten Stock hinauf und konzentrierte sich. Sofort war er oben angekommen.

Dann stolperte er in Romans Büro und schloss die Tür hinter sich. Die Aluminiumrollläden, die die Fenster verschlossen, tauchten den Raum in völliges Dunkel, was für seine übermenschlichen Augen jedoch kein Problem war. Er ging durch das Büro ins Schlafzimmer und brach auf dem riesigen Doppelbett zusammen. Bei allen Heiligen, das war so viel besser als ein enger Sarg. Er streckte sich aus und genoss die Bequemlichkeit. Seine Atmung verlangsamte sich und fast wäre er schon hinübergeglitten.

Warte. Er schüttelte den Kopf. Er musste zuerst wegen Toni fragen. Er rollte sich zum Nachttisch und nahm das schnurlose Telefon in die Hand. Sein Blick war schon verschwommen, als er Connors Handynummer wählte. Nur noch einige Minuten, mehr brauchte er nicht.

“Hallo?” Connor klang verschlafen.

Ian streckte sich auf dem Rücken aus und hielt sich den Hörer gegen das Ohr. “Erzähl mir von Toni.”

“Bist du das, Ian?” Connor gähnte. “Ruf später zurück.”

“Erzähl mir von Toni. Wie habt ihr sie gefunden?”

“Ich bin ihr im Central Park begegnet.” Connor gähnte noch einmal. “Montagnacht.”

Und es war erst Mittwochmorgen. Ian öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte mehr heraus. Seine Augen schlossen sich flatternd.

“Drei Malcontents”, Connors Stimme wurde langsamer, “haben sie angegriffen … sehr brutal …”

Kein Wunder, dass sie Vampire hasste. Ian ließ das Telefon los. Hatte sie vor, sie alle im Schlaf zu pfählen?

Während der Todesschlaf ihn übermannte, fragte er sich, ob er je wieder erwachen würde.

3. KAPITEL

Ich habe es verdient, glücklich zu sein.

Ich werde meine Ziele erreichen.

Ich werde etwas Bedeutendes mit meinem Leben

anstellen.

Ich bin es wert, geliebt zu werden.

Toni wiederholte ihre morgendlichen Gedankenübungen, während heißes Wasser ihren Körper hinunterfloss und um sie herum Dampf aufstieg. Sie musste einfach daran glauben. Ja genau. Seit den letzten paar Tagen war ihr Leben auf dem besten Weg das Klo hinunter.

Ich habe es verdient, glücklich zu sein. Sie seufzte. Ihre Familie glaubte nicht an sie, warum sollte sie selbst es dann tun? Sie stellte das Wasser ab. Sie musste sich emotional stärken und sich nicht von allen Leuten runterziehen lassen – Leuten wie Ian MacPhie.

Wie konnte ein Toter nur so gut aussehen? Sie zog den Duschvorhang zur Seite. Warum war er kein Sterblicher? Einen flüchtigen, wundervollen Augenblick lang hatte sie ihn für einen Menschen gehalten. Aber nein. Die Klospülung runter. Er war einer von denen.

Sie trat aus der Dusche und schimpfte mit sich selbst. Denk nicht an ihn. Er hat keine Macht über dich. Es sei denn …

Es sei denn, er benutzte seine Fähigkeit, ihre Gedanken zu kontrollieren. Tonis nackter Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, und sie zitterte trotz des heißen Dampfes, der sie umgab. Sie blickte hinab auf die Bissspuren, die ihre Brust und ihren Oberkörper entstellten.

Sie hatte gegen diese drei Vampire gekämpft. Sie hatte auch geglaubt, eine Chance zu haben, bis sie begannen, ihren Verstand zu beeinflussen. Sie hatte dort im dreckigen Schnee gesessen, zitternd und hilflos, während deren grausame Gedanken in ihren Kopf eindrangen und sie zwangen, ihr Hemd auszuziehen. Ihren BH. Ein Beben durchfuhr ihren Körper. Wenn Connor nicht zur rechten Zeit gekommen wäre …

Sie blinzelte ihre Tränen fort und griff sich ein Handtuch, um sich abzutrocknen. Sie würde die Kontrolle über sich behalten und konzentriert bleiben.

Ich werde meine Ziele erreichen. Sie musste einfach Erfolg haben. Sabrina zählte auf sie. Immerhin hatte Toni schon herausgefunden, dass es Vampire wirklich gab, und das Lager der Guten infiltriert.

Gute Vampire? Wer hätte das gedacht? Aber Connor hatte sie gerettet, und geschworen, dass alle guten Vampire das Beißen aufgegeben hatten. Toni hatte sie schon aus Flaschen trinken sehen, aber es fiel ihr dennoch schwer, ihnen vollkommen zu vertrauen. Egal wie gut sich diese guten Vampire verhielten, sie konnte trotzdem spüren, dass unter ihrer Oberfläche ein wildes Biest lauerte. Bei Ian war es besonders deutlich, aber statt davon abgestoßen zu sein, hatte sie es aufregend gefunden.

Wie leichtsinnig konnte man sein? Nur ein vollkommener Idiot forderte ein Biest heraus, das beißen konnte. Sie würde ihn ignorieren.

Ich werde etwas Bedeutendes mit meinem Leben anstellen. Das würde geschehen. Sie und Sabrina hatten alles genau geplant.

Toni tapste ins Schlafzimmer und trocknete währenddessen ihre Haare mit dem Handtuch. Ihr Blick wanderte zu den weichen goldenen Wänden und dem großen Himmelbett, das mit blauem und goldenem Brokat behängt war, passend zu den Vorhängen und der Tagesdecke. Die zwei Kommoden neben dem Bett sahen wie Antiquitäten aus der Zeit Ludwigs XVI. aus.

Eines musste sie widerwillig zugeben: Die Vampire hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Dougal behauptete, ihr Zimmer hatte einst einer Vampirprinzessin gehört, die Teil von Roman Draganestis Harem gewesen war. Anscheinend hatte Roman den Harem nach seiner Hochzeit aufgelöst. Toni schnaubte. Was für ein toller Kerl. Soweit sie es einschätzen konnte, lag das Frauenbild der männlichen Vampire mindestens ein paar Jahrhunderte hinter der Wirklichkeit zurück. Ian MacPhies auf jeden Fall.

Ich bin es wert, geliebt zu werden. Die letzte Gedankenübung war am schwersten zu glauben. Sie warf ihr Handtuch in den Wäschekorb. Verdammt, sie wurde geliebt. Ihre Großmutter hatte sie geliebt.

Und weißt du noch, was mit ihr passiert ist? Du hast sie im Stich gelassen. Toni erstickte so schnell es ging die widerliche innere Stimme, die immer wieder in ihr hochstieg und ihr sagte, dass sie es nicht verdiente, glücklich zu sein, und es auch nicht wert war, geliebt zu werden. Sie war es wert, verdammt. Und sie würde Sabrina nicht im Stich lassen. Selbst wenn das bedeutete, in einem Haus voller blutsaugender Monster zu leben.

Sie setzte ihre Kontaktlinsen ein und zog sich ihre Wachuniform, bestehend aus Khakihosen und einem dunkelblauen Polohemd, an. Connor hatte ihr die kleinsten Größen gegeben, aber die Männerkleidung hing immer noch wie ein formloser Sack an ihr. Offensichtlich war MacKay Security and Investigations es nicht gewöhnt, weibliche Wachen zu beschäftigen. Dougal und Phineas waren überrascht gewesen, aber nachdem sie gesehen hatte, wie sie kämpfen konnte, hatten sie Toni sofort akzeptiert.

Ian war viel misstrauischer gewesen, aber sie ließ sich von ihm nicht vergraulen. Sie würde ruhig und gelassen bleiben. Die Kontrolle behalten. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen.

Sie zuckte zusammen, als laute Musik aus ihrem Handy erschallte. Verdammt. Carlos hatte ihr vor einer Woche einen neuen Klingelton eingestellt, aber die plötzliche Explosion von “Cum On Feel The Noize” von Quiet Riot ließ sie immer noch zusammenzucken.

Der männliche Sänger brüllte weiter, während sie in ihrer Handtasche wühlte. Hoffentlich rief Sabrina sie an. Toni war letzte Nacht ins Krankenhaus gefahren, um sie zu besuchen, aber Sabrina hatte so friedlich geschlafen, dass Toni sie nicht aufwecken wollte.

Sie riss das Telefon auf. “Hallo?”

“Toni?” Die raue Stimme klang dringend. “Was ist los bei euch?”

“Howard?” Ihr Vorgesetzter? Howard Barr hatte die Verantwortung für die Tagesschicht, und er beobachtete Toni von seinem Standort in Roman Draganestis Haus aus. Howard rief jeden Morgen um acht an, damit sie ihm Bericht erstatten konnte, aber gestern Morgen hatte er dazu das Telefon im Haus benutzt und nicht ihr Handy.

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