Die Rückkehr des Bösen

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Wieder ist ein Priester ermordet worden. Zunächst glaubt die FBI-Profilerin Maggie O'Dell an einen Serienkiller, muss aber einsehen, dass mehr als ein Täter hinter den heimtückischen Ritualmorden steckt. Bei ihren Nachforschungen taucht sie in eine Welt voller Lügen, Missbrauch und Scheinheiligkeit ein. Um den Fall zu lösen, muss sie ausgerechnet mit dem Mann, der für sie das Grauen schlechthin verkörpert, einen Pakt schließen ...

Ein neuer, großartig recherchierter Thriller von Top-Autorin Alex Kava, der mit seiner psychologischer Raffinesse atemberaubende Spannung garantiert!


  • Erscheinungstag 01.07.2006
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781867
  • Seitenanzahl 460
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Freitag, 2. Juli

Eppley Airport

Omaha, Nebraska

Monsignore William O'Sullivan war sicher, dass ihn niemand erkannt hatte. Woher aber rührte dann seine feuchte Stirn? Dabei hatte er noch nicht einmal die Sicherheitsschleuse passiert. Damit wollte er warten, bis seine Abflugzeit näher gerückt war – nur für den Fall, dass irgendjemand ihn womöglich doch noch entdeckte. Außerhalb des Sicherheitsbereichs konnte er immer noch vorgeben, er hole bloß einen Bekannten ab. Dass er die Stadt verließ, das ließ sich hier noch verheimlichen.

Unruhig rutschte er auf dem Kunststoffsessel herum, seine lederne Aktenmappe eng an die Brust gepresst. So fest, dass es ihm vorkam, als zerdrücke sie ihm die Lungen und riefe erneut jenes schmerzhafte Stechen etwas tiefer hervor, das er vorhin vielleicht doch etwas zu voreilig als Sodbrennen abgetan hatte. Ach was, natürlich war es ja auch nichts anderes. Er war es schlichtweg nicht gewohnt, ein derart üppiges Mittagsmahl zu sich zu nehmen. Aber er würde während des Fluges nach New York und anschließend weiter nach Rom nur die übliche Bordverpflegung vorgesetzt bekommen, und dieses pappige Zeug würde seinem überempfindlichen Magen noch weit mehr zu schaffen machen als Sophias Hackbraten mit Kartoffelpüree.

Natürlich, versuchte er sich zu beruhigen, bestimmt liegt's daran, dass dir so kodderig ist. Er ließ seinen Blick auf der Suche nach einer Toilette durch die belebte Abflughalle schweifen und seufzte, als er das Piktogramm ausgerechnet am anderen Ende entdeckte. Er schob Daumen und Zeigefinger unter den unteren Rand seiner Nickelbrille und massierte sich die Müdigkeit aus den Augen. Dann starrte er wieder quer durch die Halle auf die gegenüberliegende Seite.

Der direkte Weg schied aus, denn er wollte auf gar keinen Fall Gefahr laufen, von der drallen Schwarzen angesprochen zu werden, die gerade dabei war, kleine Broschüren an jeden zu verteilen, der zu höflich war, „Nein“ zu sagen. Das Haar zu kleinen Zöpfen gedreht, mit bunten Kügelchen verziert, trug sie offensichtlich ihr bestes Sonntagskleid, einen Fummel mit violetten Klecksen, die ihre Hüften noch ausladender wirken ließen, dazu allerdings durchaus geschmackvolle Schuhe. Darf ich Ihnen etwas zu lesen anbieten?“, säuselte sie mit heller Stimme und bedachte ihre Opfer – auch jene, die nur mit abwehrendem Grunzen reagierten – anschließend mit einem geradezu melodisch klingenden „Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag“.

Um was es sich bei ihren Broschüren handelte, konnte sich Monsignore O'Sullivan denken. Vermutlich war die Frau eine von diesen neumodischen Missionarinnen von eigenen Gnaden. Ob sie, wenn er an ihr vorbeiginge, vielleicht spüren würde, dass es diesbezüglich eine gewisse Verbindung zwischen ihnen gab? Beide waren sie Geistliche, die es als ihre höchste Aufgabe empfanden, Gottes Wort zu verbreiten. Sie in eleganten Schuhen, er mit einer Ledermappe voller Geheimnisse.

Er sah hinüber zu dem Süßigkeitenstand auf der linken Seite, vor dem eine Schlange von Zombies geduldig anstand und nach dem nachmittäglichen Energieschub gierte. Er musste unweigerlich an Drogenabhängige denken, die sich kurz vor dem Abflug noch eine letzte Dosis besorgen. Er ließ den Blick nach rechts zum Eingang des Zeitschriftenladens schweifen, schlug aber blitzschnell die Augen nieder, als er bemerkte, dass ein hoch gewachsener Junge in seine Richtung sah. Um seine schmalen Hüften schlabberte eine viel zu weite, ausgewaschene Jeans, und unter seiner Baseballcap lugte speckig wirkendes, langes blondes Haar hervor. Ob er ihn erkannt hatte? Trotz seiner unauffälligen Straßenkleidung?

Mit verkrampftem Magen fixierte O'Sullivan angestrengt die Spitzen seiner Schuhe. Sein Polohemd – ein Geschenk von seiner Schwester – klebte ihm auf dem schweißnassen Rücken. Wieder kam aus den Lautsprechern die Durchsage, die alle Reisenden mahnte, ihr Gepäck tunlichst nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Krampfhaft umklammerte er seine Aktenmappe, wobei er erst jetzt feststellte, dass auch seine Handflächen ganz feucht waren. Wie in aller Welt hatte er bloß glauben können, dass es ganz einfach war, sich davonzumachen, ohne jemandem aufzufallen? Dass es ein Klacks sei, sich kurzerhand in einen Flieger zu setzen und frei zu sein, entledigt von allem, das hinter ihm lag?

Doch als Monsignore O'Sullivan wieder aufsah, war der junge Mann verschwunden. Reisende hasteten vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Selbst die Farbige, die den Passanten ihre Broschüren anzudrehen versuchte, schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen.

Kein Zweifel, er litt an Verfolgungswahn! Siebenunddreißig Jahre aufopferungsvolles Wirken im Dienste der Kirche, und was habe ich nun davon? Anschuldigungen und ausgestreckte Finger, die anklagend auf ihn zeigten, obwohl er doch eigentlich Hochachtung und Dankbarkeit verdient hätte! Bei dem Versuch, seiner Schwester alles zu erklären, waren ihm die Nerven durchgegangen, und schließlich hatte er ihr nicht viel mehr gesagt, als dass er die Grundbuchurkunde für das Elternhaus habe ändern und den Familienbesitz ganz auf ihren Namen überschreiben lassen. „Das fehlte noch, dass sich irgendjemand unser Elternhaus unter den Nagel reißt!“ hatte er wutentbrannt gebrüllt.

Er wäre in diesem Moment gerne dort gewesen. Es war ein einfaches zweigeschossiges Fachwerkhaus auf einem gut zwölftausend Quadratmeter großen Grundstück in Connecticut, umgeben von Bäumen und Bergen. Er musste an die Wanderwege denken und an den Himmel, vor allem den Himmel – hier hatte er sich Gott immer am nächsten gefühlt. Er verzog das Gesicht, als ihm die Ironie bewusst wurde, dass ausgerechnet die herrlichen Kathedralen und vollen Kirchen ihn zusehends weiter vom Allmächtigen entfernt hatten.

Lautes Gezeter schreckte ihn auf und holte ihn unversehens in die Gegenwart zurück. Was wie Schreie eines exotischen Vogels klang, stammte von einem Dreikäsehoch, der wohl gerade seine tollen fünf Minuten hatte. Ungerührt zog die Mutter den Knirps weiter, offenbar taub für das Geschrei, das so vehement an Monsignore O'Sullivans blank liegenden Nerven zerrte, dass sich seine Kiefer verkrampften und er kurz davor war, mit den Zähnen knirschen. Er stand auf und steuerte geradewegs die Herrentoilette an.

Zum Glück war sie leer. Trotzdem spähte er vorsichtshalber unter den Klozellentüren hindurch. Dann stellte er die Aktenmappe neben sich auf den Boden, an sein linkes Bein gelehnt, als wolle er um jeden Preis verhindern, den Körperkontakt zu verlieren. Nachdem er die Brille abgenommen und auf dem Rand des Waschbeckens abgelegt hatte, hielt er seine Hände unter die Wasserdüse, jedoch ohne Ergebnis, was das Gefühl seiner Ohnmacht nur noch steigerte. Ungeduldig bewegte er die Hände hin und her, bis endlich ein kurzer Wasserstrahl aus dem Hahn schoss, allerdings kaum genug, um sich die Fingerspitzen zu befeuchten. Er wiederholte die Bewegung, und wieder schoss ein Wasserstrahl hervor. O'Sullivan schloss die Augen und benetzte sich das Gesicht, so gut es eben ging. Er spürte, wie seine Übelkeit sich unter der kühlen Feuchtigkeit legte und das dumpfe Pochen in seinen Schläfen allmählich abebbte.

Seine Hände tasteten nach dem Papiertuchspender und rissen mehr ab als benötigt. Angeekelt von dem Altpapiergeruch und der rauen Oberfläche des Recyclingpapiers, tupfte er sich vorsichtig das Gesicht ab. Dass sich die Tür öffnete, bemerkte er gar nicht. Erst als er in den Spiegel blickte, sah er hinter sich die verschwommenen Umrisse einer Gestalt.

„Bin schon fertig“, nuschelte er in der Annahme, er stehe im Wege, obwohl doch weitere Waschbecken frei waren. Warum muss der Kerl ausgerechnet dieses benutzen? O'Sullivan tastete nach seiner Brille, stieß aber so ungeschickt dagegen, dass sie zu Boden fiel. Ehe er sich bücken und sie aufheben konnte, legte sich von hinten ein Arm um seinen Hals und drückte ihm die Luft ab.

„Wie Sie schon sagten, Monsignore.“ Die Stimme an seinem rechten Ohr klang weich und sanft. „Sie sind fertig.“

Ein silbernes Blitzen, mehr sah O'Sullivan nicht. Der stechende Schmerz breitete sich wie Feuer in seinem Brustkorb aus, und er nahm im selben Moment einen eigenartigen Duft wahr. Schwer und metallisch.

2. KAPITEL

Washington, D.C.

Mit einem menschlichen Kopf zu hantieren war alles andere als ein Vergnügen. Jedenfalls war Special Agent Maggie O'Dell dieser Ansicht.

Sie stand an der Uferböschung und sah voller Mitgefühl für den jungen Kriminaltechniker der Spurensicherung auf den unterhalb ihrer Füße liegenden Fundort hinab. Was dem wohl durch den Sinn gehen mochte, während er da im Schlamm kauerte und den Schädel sorgfältig von allen Seiten inspizierte, dachte sie. Sogar Detective Julia Racine, die neben ihm stand, blieb stumm und sparte sich ihre üblichen Kommentare. So still hatte Maggie sie noch nie erlebt.

Stan Wenhoff, der Leiter der Bezirkspathologie, rief zwar die eine oder andere Anweisung hinunter, blieb aber bei Maggie auf der Böschung und machte keinerlei Anstalten, sich nach unten zu begeben. Maggie wunderte sich, dass Stan sich an einem Freitagnachmittag herbemüht hatte, obendrein an einem Feiertagswochenende. Normalerweise hätte er einen seiner Stellvertreter geschickt, aber er musste wohl instinktiv die Chance gewittert haben, in die Schlagzeilen zu kommen. Und Schlagzeilen würde dieser Fall mit Sicherheit machen, daran gab es gar keinen Zweifel.

Maggie ließ ihren Blick über das Wasser auf die Stadt jenseits des Flusses gleiten. Ungeachtet der üblichen Terrorwarnungen bereitete sich Washington auf die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag vor, zumal bestes Wetter erwartet wurde. Nicht, dass sie irgendwas Großartiges vorgehabt hätte, außer es sich mit Harvey im Garten bequem zu machen. Sie würde, so hatte sie sich gedacht, ein paar Steaks auf den Grill werfen und sich in den neuen Thriller von Jeffery Deaver vertiefen.

Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, obschon die Brise sogleich an einer anderen zupfte. Ja, es hätte ein ausgesprochen angenehmer Sommertag werden können – wäre da nicht dieser abgetrennte Kopf, den jemand hier am sumpfigen Flussufer deponiert hatte. Welchen Grad von Bösartigkeit und Verachtung musste man erreicht haben, um einem Menschen kaltblütig den Schädel abzutrennen und diesen dann wie Abfall einfach irgendwo in die Landschaft zu schmeißen? Ihre Freundin Gwen warf ihr zuweilen vor, sie sei vom Bösen geradezu besessen. Maggie hingegen sah es weniger als Besessenheit denn vielmehr als einen uralten Kreuzzug. Nicht umsonst hatte sie sich für einen Beruf entschieden, dessen Sinn und Zweck die Bekämpfung und Vernichtung des Bösen war.

„Untersuchen Sie auch die Umgebung der Fundstelle!“ rief Stan nach unten. „Und dann in den Sack mit dem Ding!“

Maggie warf Stan einen verächtlichen Blick zu. Er hatte leicht reden – hier oben, wo seine auf Hochglanz polierten Schuhe nicht in Gefahr waren und man den Pesthauch des Todes nicht aushalten musste. Doch Maggie wusste, was der arme Kerl da unten vor sich hatte. Zudem war das Flussufer übersät mit Dosen und Fastfood-Verpackungen. Hier, unter der Autobahnbrücke, kamen noch Zigarettenkippen, Kondome sowie sicherlich die eine oder andere Spritze hinzu. Der Mörder war ein Risiko eingegangen, den Kopf ausgerechnet hier abzulegen.

Unter normalen Umständen hätte sie angenommen, dass der Täter planlos gehandelt hatte. Eine derartige Unvorsichtigkeit ließ auf simple Panik schließen. Da es sich hier jedoch bereits um den dritten Kopf handelte, der binnen drei Wochen innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches aufgetaucht war, war Maggie klar, dass von Unbesonnenheit keine Rede sein konnte. Der Täter verfolgte vielmehr eine abartige Strategie.

„Was dagegen, wenn ich runter komme und mir das mal ansehe?“ rief Maggie nach unten.

Detective Racine zuckte die Achseln. „Von mir aus“, erwiderte sie ohne große Begeisterung, bequemte sich allerdings zum Fuß der Böschung und bot Maggie ihren Arm als Stütze. Maggie winkte ab und hielt stattdessen Ausschau nach irgendetwas, an dem man sich festhalten konnte. Fehlanzeige, es gab weder Wurzeln, noch einen Felsvorsprung, nur Schlick und Gras. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Böschung mehr oder weniger hinunterzurutschen. Sie kam sich vor wie ein Skifahrer ohne Stöcke, als sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Zwar gelang es ihr, einigermaßen aufrecht an Julia Racine vorbeizuschlittern, aber viel hätte nicht gefehlt, und sie wäre im Potomac River gelandet.

Den Anflug eines Feixens auf den Lippen, schüttelte Racine den Kopf, verkniff sich aber einen Kommentar. Ein Glück, dachte Maggie. Auf den Hinweis, sie hätte ihr Angebot ruhig annehmen können, konnte sie gern verzichten. Sie wollte halt alles vermeiden, das ihr Gefühl gab, sie schulde Racine etwas oder wäre ihr gar irgendwie verpflichtet. Sie beide hatten in den vergangenen Jahren so manchen Strauß ausgefochten. Im Moment waren sie quitt, und genau bei diesem Stand der Dinge gedachte Maggie es auch zu belassen.

Sie rieb ihre Schuhe an dem hohen Gras ab, dabei bemüht, die Dreckklumpen abzustreifen, um nicht noch mehr Fremdpartikel zum Fundort zu schleppen. Die flachen Lederschuhe waren mit Sicherheit hin. Mit ihrem Schuhwerk ging sie recht achtlos um, denn allzu oft vergaß sie, ihre Gummistiefel mitzubringen. Gwen rügte sie immer wieder, dass ihre Nachlässigkeit in punkto Schuhe schon an Schlampigkeit grenze – ein Gedanke, zu dem ihr Stans gewienerte Treter einfielen. Sie blickte nach oben und sah, dass der Gerichtsmediziner ein Stück zurückgetreten war. Hatte er etwa befürchtet, es könne bis zu ihm nach oben spritzen, falls sie ausgerutscht wäre? Oder wollte er nur verhindern, dass irgendjemand ihn zu einer ähnlichen Rutschpartie aufforderte? So oder so – dass er ihr nicht folgen würde, war Maggie klar gewesen.

Julia Racine bemerkte ihren Blick.

„Gott bewahre, dass der sich seine Schuhe versaut!“ zischte sie, als hätte sie Maggies Gedanken erraten. Dann wandte sie sich wieder dem Grund dafür zu, dass sie sich heute hier begegnet waren. „Muss derselbe Killer sein. Aber diesmal haben wir vielleicht Glück.“

Maggie hatte die Ermittlungsakten über die anderen beiden Köpfe gelesen. Nun war sie zum ersten Mal zum Tatort beordert worden, denn möglicherweise, vermuteten Detective Racine und Chief Henderson, war hier ein Serienmörder am Werk.

„Glück? Inwiefern?“ Maggie wusste, dass Detective Racine auf diese Frage gewartet hatte. Manches änderte sich eben nie – wie diese Marotte, sich erst in geheimnisvollen Andeutungen zu ergehen, bevor man die Katze aus dem Sack lässt.

„Dank eines Hinweises haben wir ihn diesmal gefunden, bevor die Viecher ihre Mahlzeit beenden konnten. Die beiden anderen waren bis auf die Knochen abgenagt. Wir haben sie noch immer nicht identifizieren können.“

Maggie rieb ihre Schuhe noch einmal am Gras ab, bevor sie auf den Fundort zuging. Der Gestank traf sie mit der Wucht eines heißen Luftschwalls. Obwohl der Geruch, den der Tod ausströmt, sich immer ähnelte, war es doch, abhängig von der jeweiligen Umgebung, jedes Mal anders. Sie nahm den schwachen, metallischen Blutgeruch wahr, der überlagert wurde von süßlichem Verwesungsgestank und dem des faulig riechenden Schlicks. Sie zögerte, ein oder zwei Sekunden lang, bevor sie sich voll und ganz auf die grausige Szene konzentrierte, die sich jetzt ihren Augen aus nächster Nähe bot.

Vom oben hatte es so ausgesehen, als habe sich der Schädel in einem Geflecht aus Algen und schlammverkrustetem Gras verfangen. Nun war zu erkennen, dass es vielmehr das lange Haar des Opfers war, das sich so um den Hinterkopf gewickelt hatte, dass das Gesicht hinauf in den klaren blauen Himmel starrte. Obwohl starren nicht treffend war, denn die Augenlider schienen zu zucken. Maggie musste gegen ein Gefühl von Übelkeit ankämpfen, als sie die milchig weißen Maden entdeckte, die in den Augenhöhlen wühlten. Selbst die Lippen des Opfers bewegten sich wie zu einem, so mochte man meinen, allerletzten Flüstern. Tatsächlich war auch im Mund wie in den Nasenlöchern eine breiige Masse Maden ganz in die Aufgabe vertieft, den Frauenkopf von innen nach außen aufzufressen.

Mit einer Handbewegung verscheuchte Maggie die Schmeißfliegen und ging dann gegenüber dem Mann von der Spurensicherung in die Hocke, um die Szenerie aus gleicher Höhe in Augenschein zu nehmen. Sie meinte, über das Summen der Fliegen hinweg das Saugen und Schmatzen der durcheinander wimmelnden Maden hören zu können.

Großer Gott, wie sie diese Viecher hasste!

Während ihrer Zeit als FBI-Anwärterin, als sie noch keine Angst kannte und sich manches beweisen wollte, hatte sie einmal auf Weisung eines Gerichtsmediziners – aber eigentlich mehr als Mutprobe – in den von Maden wimmelnden Mund einer Leiche gelangt, um den Führerschein des Toten sicherzustellen. Das mit dem Führerschein war das Markenzeichen des Killers gewesen, der seinen Opfern zwar das Leben nahm, ihnen offenbar aber ihre Identität lassen wollte. Seitdem fiel es ihr immer noch schwer, beim Anblick von Maden nicht jene klebrige Schleimspur zu spüren, die die Viecher auf ihrer Haut hinterlassen hatten, bis hinauf zum Unterarm. Aus ihrem Selbsterhaltungstrieb heraus hatten die Tiere umgehend versucht, sich in Maggies Fleisch zu bohren.

Maggie schüttelte den Ekel ab und begriff sofort, was Detective Racine mit „Glück“ gemeint hatte. Trotz des Madengewimmels konnte man deutlich die gelblich weißen Eier erkennen, die in den Ohren des Opfers sowie in den Mund- und Augenwinkeln steckten. Die Larven befanden sich noch im Anfangsstadium, woraus sich folgern ließ, dass der Kopf höchstens seit ein oder zwei Tagen hier liegen konnte.

In der Julihitze, das war Maggie klar, schlüpften die Larven schnell. Sie wusste, dass Schmeißfliegen Blut auf drei Meilen Entfernung wittern. Sie mussten also binnen Stunden nach Eintritt des Todes eingetroffen sein. Sie selbst knabberten an den Leichen kaum herum, vielmehr waren sie darauf aus, ihre Eier in den dunklen, feuchten Körperöffnungen abzulegen und das, was einmal ein warmes, lebendes, atmendes menschliches Wesen war, als Brutstätte zu benutzen.

Die Maden schlüpften nach ein, zwei Tagen und machten sich sofort daran, den Körper bis auf die blanken Knochen zu verschlingen. Bei der Aufklärung eines Falles in Connecticut hatte Professor Adam Bonzado ihr einmal erklärt, es bedürfe lediglich dreier Fliegen, um genügend Eier zu legen und Maden zu produzieren, die eine Leiche dann restlos vertilgen. Schon erstaunlich, musste Maggie zugeben, wie wirkungsvoll und organisiert die Natur manches Getier ausstattete.

Ja, Detective Racine hatte Recht. Diesmal hatten sie Glück. Es war noch ausreichend Gewebe für eine DNA-Analyse vorhanden. Und was noch entscheidender war: Möglicherweise stießen sie sogar auf aussagekräftige Merkmale, im Fleisch verborgene Hämatome oder Verletzungen, die möglicherweise Aufschluss darüber geben konnten, wie die Frau umgekommen war.

Was sie allerdings als Glück ansah, war natürlich Pech für die Spurensicherung. Denn selbstverständlich konnte man die Maden nicht einfach von dem Schädel waschen oder kurzerhand ausräuchern, denn dadurch würden möglicherweise Spuren oder Indizien vernichtet werden.

Maggie sah sich um und hielt Ausschau nach Fuß- oder sonstigen Spuren.

„Was meinen Sie, wie ist sie wohl hierher gekommen?“ fragte sie, bewusst darauf bedacht, dem Opfer so etwas wie eine Persönlichkeit zu lassen, anstatt wie Stan den Fund als Gegenstand zu betrachten, den man einfach in einen Sack steckte. Gleichzeitig wusste sie allerdings auch, dass das nicht allein Pietät war, sondern vielmehr auch eine Art Schutzmechanismus.

Der junge Kollege von der Spurensicherung indes schien eher von Stans Bauart zu sein. „Runtergeworfen wurde das Ding jedenfalls nicht. Weder von der Brücke, noch von der Böschung. Ich kann keine Aufschlagstelle oder andere Spuren im Schlamm erkennen, die darauf hindeuten würden. Sieht aus, als hätte er's einfach hier abgelegt.“

„Demnach hätte sich der Mörder also bewusst für diesen Ort entschieden?“ Maggie ließ ihren Blick zurück über die Böschung schweifen, sah aber auch da nur ihre eigenen Spuren.

„Soweit ich das beurteilen kann.“ Der Mann stand auf und dehnte die Beine, dankbar für die Abwechslung. „Gibt 'n paar Fußstapfen. Davon machen wir Gipsabdrücke.“

„Ach, richtig, die Fußabdrücke!“ schien Racine jetzt erst einzufallen. „Die sollten Sie sich natürlich ansehen.“ Sie stakste vorsichtig ein paar Schritte die Böschung entlang und wies dann mit dem Finger auf die Reste einer im Schlamm erkennbaren Fußspur.

Maggie erhob sich und sah hinüber zu Detective Racine. Die Abdrücke befanden sich etwa drei Meter vom Kopf des Opfers entfernt.

„Woher wollen Sie wissen, dass die vom Täter stammen?“

„Andere haben wir nicht gefunden“, gab der Kriminaltechniker achselzuckend zurück. „Vor zwei Nächten hat's mächtig geschüttet. Er muss danach hier rumgegeistert sein.“

„Die Spuren kommen aus dem Nichts“, erklärte Racine. „Und sie führen direkt in den Fluss.“

„Ein Boot vielleicht?“ schlug Maggie vor.

„Hier draußen? Und dann unbemerkt? Glaube ich nicht.“

„Sie erwähnten da eben etwas von einem Hinweis.“ Maggie begutachtete die übergroßen Fußspuren. Die Profile waren zwar deutlich zu erkennen, aber ohne jede auffällige Eigenart.

„Richtig“, erwiderte Detective Racine und verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als habe sie schon lange auf ihren großen Auftritt gewartet. „Ein anonymer Anruf. Eine Frau, genauer gesagt. Über den Notruf. Keine Ahnung, woher zum Teufel die hiervon wusste. Möglicherweise sogar vom Täter selbst. Vielleicht hat er befürchtet, dass es wieder so lange dauert wie bei den ersten beiden.“

„Oder es lag ihm daran, dass wir die Identität von dieser hier rauskriegen“, wandte Maggie ein.

Detective Racine nickte kurz, ohne mit einer Gegenthese aufzuwarten.

„Was meinen Sie, was hat er mit dem Rest der Leiche angestellt?“ fragte der junge Beamte.

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Racine zuckte die Schultern und stapfte davon. „Vielleicht kann uns das unsere anonyme Anruferin verraten. Mal sehen, ob sich der Anruf inzwischen hat zurückverfolgen lassen.“

3. KAPITEL

Washington, D.C.

Dr. Gwen Patterson versuchte, die Stelle auf der anderen Seite des Potomac vom Fenster ihrer Praxis aus auszumachen. Doch selbst wenn sie ein Fernglas gehabt hätte, hätte ihr die Brücke die Sicht versperrt. Deutlich erkennen konnte sie allerdings Maggies roten Toyota, der oben auf der Straße parkte, direkt neben dem mobilen Labor der Spurensicherung.

Ein Zittern erfasste ihre Finger, als sie sich durchs Haar fuhr. Lag das an der Aufregung? An ihren Nerven? Aber was tat das zur Sache? Sie wusste, dass der Stress allmählich seinen Tribut forderte. Und wie sollte es auch anders sein? Drei Opfer in drei Wochen! Dennoch hatte sie heute auf ein Gefühl der Erleichterung gehofft, auf ein Nachlassen der Anspannung. Leider wollte sich diese Linderung nicht einstellen. Stattdessen war ihr, als ziehe sich der Knoten zwischen ihren Schulterblättern nur noch weiter zusammen. Vermutlich war es Unsinn gewesen zu glauben, sie habe die Situation im Griff, nur weil Maggie jetzt in den Fall involviert war. Wie konntest du es bloß so weit kommen lassen?

Sie war für später mit Maggie zum Dinner verabredet, und zwar im Old Ebbitt's Grill, ihrem bevorzugten Refugium. Sie selbst würde sicher Grillhähnchen in Pecan-Kruste bestellen, Maggie wahrscheinlich ein Steak. Möglicherweise würden sie sich ein Fläschchen Wein teilen, je nach Maggies Stimmungslage. Und die hing mit Sicherheit davon ab, was sie da unten am Fluss zu Gesicht bekommen hatte. Gwen konnte getrost davon ausgehen, dass Maggie ihr alles erzählen würde, und wahrscheinlich würde sie überhaupt nicht merken, dass Gwen einiges davon bereits wusste. Sie würde das schon hinkriegen. Was blieb ihr auch anderes übrig?

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass dies alles ausgerechnet jetzt passieren musste, nachdem sie sich ganz bewusst von allem zurückgezogen hatte, das mit Kriminalität zu tun hatte. Gwen trat vom Fenster zurück und starrte die Wände ihres Büros an. Das Sonnenlicht spiegelte sich in den Glasscheiben ihrer gerahmten Urkunden und zauberte Farbenspiele hervor. Eine ganze Wand voller Zeugnisse und Diplome, und was half ihr das alles jetzt? Gwen rieb sich die Augen. Auch der Schlafmangel der letzten Nächste machte sich jetzt deutlich bemerkbar.

Sie befand sich auf dem Höhepunkt ihrer Laufbahn – zumindest war das die einhellige Meinung ihrer Kollegen, wenn die sich bei ihren Studien oder Recherchen auf Gwens Bücher und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften bezogen. Die sauer verdienten Auszeichnungen dort an der Wand hatten ihr die Türen zur Führungsakademie des FBI in Quantico geöffnet, ja selbst ins Weiße Haus und ins Pentagon. Sie stand in Verbindung mit Angehörigen des Senats, mit Abgeordneten des Repräsentantenhauses, mit Botschaftern und Diplomaten, von denen etliche sogar zu ihren Klienten zählten. Nicht schlecht für ein kleines Mädchen aus der Bronx. Und doch: Nun hockte sie hier, und all ihre Kontakte und Urkunden halfen nicht weiter.

Die Mitteilungen waren samt und sonders kurz gewesen, die Anweisungen knapp und präzise. Doch wie bedrohlich sie tatsächlich waren, das hatte sich nicht erahnen lassen – bis heute, wohlgemerkt. Falls sie zuvor noch gezweifelt hatte, so stand für Gwen nun zweifelsfrei fest, dass er nicht zögern würde, seine Drohung wahr zu machen. Aber jetzt, endlich, konnte sie auf Maggie zählen. Maggie würde den Tatort in Augenschein nehmen, ein Täterprofil erstellen und ihr dabei helfen, herauszufinden, wer dieses Schwein war. Ihre Zusammenarbeit hatte sich schon häufig bewährt. Bei zahlreichen Fällen, bei denen sie sich gemeinsam die Indizien vorgenommen, die Opfer auf Gemeinsamkeiten überprüft und sämtliche Umstände analysiert hatten, bis sie endlich eine Spur hatten, die sie zum Täter führte. Sie würde Maggie dann schon zu ihm führen, so wie damals, als sie mit einem Stipendium für Forensik in Quantico auftauchte.

Gott, wie lange lag das jetzt schon zurück? Zehn Jahre? Elf? Eine verdammte Ewigkeit.

Damals war Gwen noch Beraterin von Assistant Director Cunningham gewesen. Als erfahrene Mentorin hatte sie Maggie unter ihre Fittiche genommen und sie eingewiesen. Ungeachtet ihres Altersunterschiedes waren die zwei sich näher gekommen und enge Freundinnen geworden. Aber es war wohl gerade diese Differenz von fünfzehn Jahren, weshalb Gwen ihrer besten Freundin gegenüber immer wieder unterschiedliche Rollen einnahm – mal als Ratgeberin, dann als Psychologin, bisweilen sogar als Mutter. Letzteres allerdings erstaunte sie selbst immer wieder, denn bislang hatte sie stets gemeint, sie habe nicht ein Fitzelchen Mütterlichkeit im Leibe.

Möglicherweise glaubte sie gerade aus diesem Grund, dass sie den Fall auf ihre Weise lösen konnte. Sollte Maggie ruhig die Orte unter die Lupe nehmen, zu denen sie keinen Zugang hatte. Sie würde den Mörder jagen und fassen. Alles was Gwen tun musste, war, sie zu ihm zu führen. Sie würde ihn mit den eigenen Waffen schlagen. Ob es tatsächlich so einfach sein würde? Konnte das gut gehen? Es muss!

Gwen stopfte einige Akten und Hefter in ihre Tasche, ohne sich darum zu kümmern, was sie da eigentlich einpackte – ein weiteres Anzeichen von Übermüdung. Selbst ihr ansonsten picobello aufgeräumter Schreibtisch erweckte heute den Eindruck, als sei ein Windstoß durchs Zimmer gefegt und hätte die Aktenstapel durcheinander gewirbelt.

Sie nahm das Handy, das sie am Morgen in einem schlichten Umschlag in ihren Briefkasten gefunden hatte. Sorgfältig wischte sie es ab und steckte es dann in eine braune Papiertüte. Auf dem Heimweg würde sie schon einen Müllcontainer finden, in den sie das Telefon werfen konnte, genau der Anweisung entsprechend.

4. KAPITEL

Omaha, Nebraska

Die Hintertür war unverschlossen, genau so, wie Gibson Mc Cutty sie vorhin gelassen hatte. Als er in die Küche stolperte, hätte er um ein Haar den Gemüsekorb umgeworfen. Er stieß einen leisen Fluch aus. Dann vernahm er ein dumpfes Poltern. Er hielt inne und horchte, aber außer seinem eigenen Keuchen war nichts zu hören.

Die ganze Strecke zurück vom Flughafen war er gehetzt wie ein Irrer, war mit seinem Sportrad bei Rot über die Kreuzungen gerast, ohne sich um das Gehupe zu scheren. Erst an der letzten Steigung hatte er das Tempo etwas zurückgenommen. Logisch, dass einem da die Puste ausging! Er musste erst einmal zu Atem kommen. Er lehnte sich gegen den Kühlschrank, und zu seiner eigenen Überraschung beruhigte ihn das vertraute Brummen. Er war zu Hause. In Sicherheit. Fürs erste zumindest.

Er spürte, wie sich die albernen Haftmagneten an der Kühlschranktür in seine Schulterblätter bohrten. Blöde kleine Tiere, wie sie manchmal draußen im Garten zu sehen waren, die seine Mutter gerne zu „Kunstwerken“ seines Bruders hochstilisierte. Als hätte sie jemals etwas mit dem Garten am Hut gehabt. Sie flippte ja schon aus, wenn sie mal Dreck unter den Nägeln hatte. Er musste grinsen bei der Vorstellung. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und er versuchte, sich dazu zu zwingen, sich jeden Einzelnen der Magneten ins Gedächtnis zu rufen – in der Hoffnung, so ließe sich das Bild von dem vielen Blut aus seinem Kopf löschen. Mit geschlossenen Augen zählte er auf – Hase, Eichhörnchen, Igel, Waschbär. Gab es in ihrem Garten überhaupt Waschbären? Hatte er überhaupt jemals einen zu Gesicht bekommen?

Es funktioniert nicht!

Jede Einzelheit hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt. Das schmerzverzerrte Gesicht, das Blut, das aus dem Mund quoll. Und diese Augen, die leer ins Nichts starrten. Ob er ihn wohl erkannt hatte? Natürlich nicht! Er war schließlich tot gewesen. Oder?

Mit einem Kopfschütteln stieß Gibson sich vom Kühlschrank ab, taumelte durch das Wohnzimmer und stieg vorsichtig über den am Fuß der Treppe abgestellten Wäschekorb. Langsam erklomm er die Stufen, im Geiste mitzählend bis Nummer acht. Die Hand am Treppengeländer, machte er einen größeren Schritt, um nicht auf die knarrende neunte Stufe treten zu müssen. War er erst am Zimmer seiner Mutter vorbei, konnte nichts mehr passieren. Vielleicht sah sie sich ja gerade die Fünf-Uhr-Nachrichten an. Das tat sie oft, wenn sie sich nach der Arbeit umzog. Er durfte auf gar keinen Fall riskieren, dass sie ihn hörte. Wie hätte er ihr erklären sollen, wo er gesteckt hatte? Und fragen würde sie natürlich auf jeden Fall, vor allem, wenn sie ihn in diesem Zustand sah, ein einziger stinkender, klatschnasser Haufen Elend. Selbst das Haar klebte ihm unter der Baseballcap schweißnass am Kopf.

Er näherte sich der Tür, vernahm jedoch keinen Laut dahinter. Vielleicht war sie ja noch nicht zurück? Dann fiel es ihm wieder ein. Natürlich war sie noch nicht zu Hause! Heute war Freitag, morgen hatte sie frei, und außerdem wollte sein kleiner Bruder bei einem Freund schlafen. Gibson erinnerte sich jetzt, dass seine Mutter gesagt hatte, sie werde sich heute möglicherweise mal was gönnen und mit den Arbeitskolleginnen aus dem Büro nach Feierabend etwas trinken gehen. War das wirklich heute? Klar, schließlich war ja Freitag. Nun war er sich ganz sicher. Was für ein Glück! Vielleicht war alles ja weit weniger dramatisch, als er angenommen hatte.

Trotzdem vermied er jedes Geräusch, als er in sein Zimmer schlich und leise die Tür hinter sich schloss. Er warf seinen Rucksack aufs Bett und stemmte dann die Schulter gegen die Tür, als sei dieser Druck vonnöten, um sie abzuschließen. In dieser Stellung verharrte er eine Weile, das Ohr an der Tür, und lauschte angestrengt und mit angehaltenem Atem. An einem Tag wie diesem wollte er sich keinesfalls auf sein Glück verlassen. Nichts zu hören, er war allein im Haus. In Sicherheit. Trotzdem zitterte er. Kein fröstelndes Schaudern, sondern eher ein haltloses Schlottern, als würde er von Krämpfen geschüttelt.

Er schlang sich die Arme um den Oberkörper, zuckte jedoch zusammen, als er merkte, dass sein T-Shirt klatschnass war. Er war in Schweiß gebadet. Er schleuderte die Baseballcap aufs Bett und riss sich das Hemd vom Leib. Es war eine Wohltat, endlich den Gestank von Schweiß, Diesel und Erbrochenem loszuwerden. Warum hatte er sich vorhin auch unbedingt einen Hamburger holen müssen? Das Ding war ihm hochgekommen, und er hatte es an der Ausfahrt des Flughafenparkhauses ausgekotzt.

Schließlich getraute er sich, die Nachttischlampe anzuknipsen. Sofort bemerkte er das geronnene Blut unter seinen Fingernägeln. Er versuchte, es wegzukratzen und rubbelte sich anschließend die Hände mit dem T-Shirt ab. Dann öffnete er den Kleiderschrank, stopfte das nasse Hemd in eine Plastiktüte, die auf dem Schrankboden lag, und schob sie in die hinterste Ecke. Seine Mom würde das Ding nie und nimmer entdecken, da war er sich sicher. Denn nachdem sie in seiner Sockenschublade einmal ein halbes, völlig vergammeltes Salamisandwich gefunden hatte, hatte sie ihm erklärt, sie werde sich ab sofort nicht mehr um seine Klamotten scheren, außer um die, die er in den Schmutzwäschesack steckte. Vielleicht wollte sie ihm auf diese Weise beibringen, sich selbst um seinen Kram zu kümmern. Allerdings fragte er sich, ob diese Reaktion nicht ihre Art war, Augen und Ohren davor zu verschließen, was mit ihm vorging.

Ohne die Schnürsenkel aufzumachen, streifte er sich die Joggingschuhe von den Füßen und ließ sie mitten im Zimmer liegen. In diesem Moment bemerkte er das Blinken auf seinem Computerbildschirm. Den Blick starr auf das aufblitzende Totenkopfsymbol gerichtet, ging er auf den Monitor zu. Ein Spiel lag jetzt eigentlich nicht an, Mitteilungen kriegte er normalerweise nur über den Chatroom.

Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl sinken und spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Nach kurzem Zögern klickte er das Icon mit einem Doppelklick an. Sofort erwachte der Bildschirm zum Leben, und auf dem Display erschien eine Zeile in fetten Lettern.

DU HAST DIE SPIELREGELN VERLETZT.

Gibsons Finger krampften sich um die Armstützen seines Stuhls. Was zum Teufel sollte das denn? Im gleichen Moment erschien auf dem Monitor eine neue Nachricht.

ICH HABE DICH GESEHEN.

5. KAPITEL

Old Ebbitt's Grill, Washington, D.C.

Maggie bedachte die Kellnerin, die auf sie zugeeilt kam, als sie Old Ebbitt's Grill betrat, mit einer abwehrenden Handbewegung und drängelte sich durch das gut besuchte Restaurant, nach Kräften bemüht, die himmlischen Düfte von gegrilltem Rindfleisch und Knoblauch zu ignorieren. Sie hatte nämlich einen Mordshunger.

Gwen wartete bereits an dem Tisch in der Ecknische, ihrem Stammplatz. Vor ihr stand ein noch volles Glas Rotwein. Wahrscheinlich der von ihrer Freundin bevorzugte Shiraz, vermutete Maggie.

„Du hättest ruhig schon anfangen können“, sagte sie, als sie sich auf die Sitzbank Gwen gegenüber gleiten ließ und auf ihr Glas wies.

„Von wegen, das ist schon mein zweites!“

Maggie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie war gerade mal zehn Minuten zu spät. Aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, stand Marco an ihrem Tisch.

„Guten Abend, Ms. O'Dell. Darf's ein Cocktail vor dem Essen sein?“

Sein Talent, ihnen das Gefühl zu geben, in dem ganzen lärmerfüllten, ausgebuchten Restaurant sei ihr Wohlergehen seine einzige Sorge, verblüffte Maggie immer wieder. Er war schlank und braungebrannt und wirkte trotz der Krähenfüße um die Augenwinkel jungenhaft. In der Tat schien es für ihn eine Art von Berufsethos zu sein, die Gepflogenheiten seiner Gäste genau zu kennen. Gwen und Maggie mussten bei einer Reservierung nicht einmal erwähnen, an welchem Tisch sie am liebsten saßen.

Maggie bestellte „das Übliche“.

„Selbstverständlich“, erwiderte Marco freundlich und reichte ihr die Speisekarte. „Darf ich heute frische Escargots als Vorspeise empfehlen?“

„Nein!“ Maggie biss sich auf die Unterlippe und war selbst überrascht über ihre schroffe Reaktion. „Für mich jedenfalls nicht“, ergänzte sie in der Hoffnung, Marco nicht brüskiert zu haben. Aber nach all den Maden heute war ihr allein der Gedanke an Schnecken ein Gräuel.

„Für mich auch nicht“, lehnte Gwen ebenfalls ab.

„Wie wär's mit gefüllten Pilzen für den Anfang?“ schlug Maggie vor. Beim Gedanken an den würzigen Knoblauchduft dieser köstlichen Vorspeise lief ihr bereits das Wasser im Munde zusammen.

„Ausgezeichnete Wahl!“ bemerkte Marco und belohnte sie mit einem Lächeln. „Ich lasse sie Ihnen sofort zubereiten.“

„Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, als er die Schnecken empfahl“, sagte Gwen, als der Kellner verschwunden war. „Ich nehme an, du hattest keinen besonders angenehmen Nachmittag?“

„Eindeutig zu viele Maden“, seufzte Maggie, wobei sie sich eine Strähne aus der Stirn wischte, überrascht darüber, dass ihre Haare immer noch feucht waren. Sie war nach Hause gefahren, um sich schnell unter die Dusche zu stellen, wohl in der Hoffnung, so die Erinnerung an das eklige Getier abzuspülen. „Das Polizeipräsidium hat uns angefordert, um Amtshilfe zu leisten. In der Sache mit den abgetrennten Frauenköpfen.“

„Soll das heißen, die gehen davon aus, dass beide Opfer auf das Konto desselben Täters gehen?“

„Jedenfalls weist alles auf eine identische Vorgehensweise hin. Außerdem …“ Maggie verstummte, als Marco ihr die Cola light servierte, garniert mit einer Zitronenscheibe.

„Die Vorspeise kommt sofort. Haben die Damen sonst noch einen Wunsch?“

„Nein, danke“, erwiderte Gwen. „Erzähl weiter“, forderte sie dann ihre Freundin auf, noch ehe Marco sich entfernt hatte.

Maggie wartete, bis der Kellner außer Hörweite war. Was war denn bloß in Gwen gefahren? Sie war doch sonst nicht so ungeduldig, und Mangel an Diskretion konnte man ihr auch nicht vorwerfen. In letzter Zeit hatte Maggie sogar oft den Eindruck gehabt, ihre Freundin höre ihr nur aus Gefälligkeit zu, als wolle sie nichts mehr davon wissen, was sich die Menschen da draußen gegenseitig antaten. Warum bloß wirkte sie heute so angespannt?

Maggie beugte sich vor, die Hände um ihr Glas gelegt, und senkte die Stimme. „Heute wurde ein dritter Schädel gefunden.“

„Jesus!“ stieß Gwen hervor und starrte Maggie an.

„Ach, und Detective Racine leitet die Ermittlungen“, ergänzte Maggie kopfschüttelnd. „Damit ist die doch völlig überfordert.“ Wie zur Bestätigung nahm sie einen großen Schluck von ihrer Cola.

„Bist du sicher, dass du ihr gegenüber fair bist?“ wandte Gwen ein und musterte Maggie mit einem kritischen Blick.

Nicht zum ersten Mal wurde Maggie von ihrer Freundin daran erinnert, dass es ihr im Bezug auf Detective Julia Racine zuweilen an Objektivität mangelte. Sie ließ sich den Einwand durch den Kopf gehen und zerbiss dabei einen Eiswürfel. Ob es ihr nun passte oder nicht: Gwen hatte Recht. Schon vor Jahren, zu Beginn ihrer Laufbahn, hatte sie Julia Racine wenig Achtung entgegengebracht. Ihrer Meinung nach war sie nur deshalb so rasch aufgestiegen, weil sie davon profitiert hatte, dass die Polizei von Washington die Frauenquote erfüllen musste. Maggie dagegen hatte stets größten Wert darauf gelegt, in dienstlichen Belangen genauso behandelt zu werden wie ihre männlichen Kollegen beim FBI. Detective Racine schien sich allerdings für ein Naturtalent zu halten, was sie hatte überheblich und oftmals sogar leichtsinnig werden lassen. Hinzu kam, dass sie Maggie vor Jahren, als sie ihren ersten gemeinsamen Fall bearbeiteten, Avancen gemacht hatte. Seitdem schienen ihre Lebenswege seltsam verflochten. Julia Racine hatte Maggies Mutter einmal vorm Selbstmord bewahrt, während Maggie ihrerseits Racines Vater vor einem Serienkiller gerettet hatte. Ja, ihr Verhältnis war weiß Gott seltsam. Es stimmt ja, gab Maggie im Stillen sich selbst gegenüber zu. Wenn es um Julia Racine geht, bist du wirklich nicht gerade unvoreingenommen.

„Bei der Identifizierung der anderen beiden Opfer tritt sie jedenfalls auf der Stelle.“ Diese Feststellung konnte sie sich dennoch nicht verkneifen.

„Liegt das an ihr oder an der Pathologie? Vielleicht sind die es ja, die nicht in die Puschen kommen. Meiner Ansicht nach solltest du mit Racine nicht so hart ins Gericht gehen.“

Maggie zuckte die Schultern. Warum ihre Freundin plötzlich die Partei von Julia Racine ergriff, war ihr unerfindlich. „Sie hält sich nicht an die Spielregeln“, wandte sie ein. Doch als sie Gwens Blick auffing, wusste sie, dass sie mit ihrem Versuch, sich zu rechtfertigen, kläglich gescheitert war.

„Und was hältst du von den Spielregeln?“

„Bisweilen lege ich sie halt etwas großzügig aus. Warst du es nicht, die mir damals eingetrichtert hat, im Kampf gegen das Böse gäbe es keine Regeln?“

„Es gibt immer Regeln“, sagte Gwen. „Die Guten halten sich daran, die Bösen eben nicht. So geht das Spiel.“

Genau diesen Moment hielt Marco anscheinend für günstig, den beiden ein Tablett mit dampfenden, knoblauchduftenden Pilzen zu servieren, zusammen mit zwei kleinen Portionstellern. „Guten Appetit, die Damen! Ich bin gleich wieder da.“

„Und was ist mit Stan?“ erkundigte sich Gwen, als sie ihrer Freundin eine Portion Pilze auf ihr Tellerchen häufelte. Sich selbst tat sie ebenfalls auf, schob ihren Teller dann aber beiseite. „Wieso kommt der nicht in die Gänge?“

„Es waren kaum noch Gewebereste vorhanden.“ Maggie ließ den Blick durch das Restaurant schweifen. Als sie sich vergewissert hatte, dass niemand ihre Unterhaltung verfolgte, redete sie weiter. „Es gab auch keine zahnärztlichen Unterlagen zum Abgleich. Nach Stans Aussage hat er noch keine Obduktion durchführen können. Allerdings hat er die Köpfe auch noch nicht von einem forensischen Anthropologen begutachten lassen.“

„Und da hast du natürlich einen parat.“ Wieder dieses wissende Lächeln.

„So ungefähr jedenfalls“, gab Maggie zu und bemühte sich, ein Erröten zu unterdrücken. Sie wusste, Gwen spielte auf Adam Bonzado an, einen Professor in West Haven in Connecticut, mit dem Maggie im Jahr zuvor zusammengearbeitet hatte. Eine Koryphäe auf dem Gebiet der anthropologischen Gerichtsmedizin, der keinen Hehl daraus machte, dass er an Maggie weit mehr Interesse hatte als an sterblichen Überresten.

„Mal im Ernst“, fuhr Gwen fort und ersparte Maggie ausnahmsweise ihre sonst üblichen Kommentare zu deren nichtexistentem Liebesleben. „Bestünde die Aussicht, einen neutralen Experten wie Professor Bonzado hinzuzuziehen? Fühlt Stan sich dann nicht auf den Schlips getreten?“

„Ich will doch hoffen, dass er es begrüßen wird“, gab Maggie zurück, wobei sie einen gefüllten Pilz zerteilte. „Ich habe Detective Racine gegenüber angedeutet, dass die beiden anderen Opfer einem Spezialisten zugeführt werden sollten. Es liegt an ihr, Stan diesen Vorschlag vorzutragen. Heute war ich kaum am Tatort angelangt, da klärte er mich schon auf, dass er genau genommen gar nicht zuständig sei.“ Sie trank den Rest ihrer Cola und sah sich nach dem Kellner um.

„Nicht zuständig? Was soll das denn heißen?“

„Nach alter Väter Sitte verhält es sich so: Ist eine Leiche zerstückelt oder, wie in diesem Fall, enthauptet, liegt die Zuständigkeit für die Ermittlung bei denen, die das Herz haben.“

„Was für ein Schwachsinn!“ rief Gwen mit solcher Heftigkeit, dass Maggie den Kellner vergaß und ihre Freundin verwundert ansah. Gwen bemerkte ihren Fauxpas und fasste sich wieder. „Ist aber doch wirklich bescheuert, oder?“ sagte sie deutlich leiser. „Ich wusste gar nicht, dass es einen derartig vorsintflutlichen Quatsch heute noch gibt. Und was ist, wenn die Körper nie gefunden werden?“

„Zunächst muss Racine in einem größeren Radius recherchieren, ob irgendwo Leichen ohne Kopf aufgetaucht sind. Der Mörder muss sie ja nicht unbedingt gleich hier in der Gegend losgeworden sein.“

Sie schlug die Speisekarte auf, doch das größere Interesse galt ihrer Freundin. Warum war sie heute bloß so reizbar? In der gedämpften Beleuchtung versuchte sie, Gwen zu mustern, wobei ihr erst jetzt auffiel, wie zerzaust ihre erdbeerblonde Frisur war. Auch ihre sonst stets manikürten Fingernägel wirkten vernachlässigt, und unter den Augen entdeckte sie dunkle Ringe.

„Das würde bedeuten, dass er ein Auto hat und Zeit, um durch die Gegend zu fahren.“ Gwens Stimme klang jetzt wieder ganz normal, aber Maggie entging nicht, wie ihre Finger nervös die Spitzen der Cocktailserviette aufrollten.

„Schon möglich.“ Maggie legte die geöffnete Speisekarte vor sich auf den Tisch. „Aber egal, was der Kerl mit den Leichen auch anstellen mag – Stan wird sich seiner Verantwortung nicht einfach entziehen können. Was wir im Augenblick jedenfalls überhaupt nicht gebrauchen können, ist Kompetenzgerangel.“

Gwen nippte an ihrem Rotwein, und diesmal schien es Maggie, als würde ihre Hand leicht zittern. Vielleicht war sie ganz einfach übermüdet. Gestresst wegen eines Klienten. Vielleicht war es ja auch gar nichts. Möglicherweise, sagte sie sich, suchst du nach Dingen, die es gar nicht gibt. Aber Fragen kostete schließlich nichts.

„Alles in Ordnung mit dir?“

„Natürlich!“

Die Antwort war eindeutig zu schnell gekommen.

„Mir geht's prima“, versicherte Gwen, wenn auch ein wenig spitz. Dann aber fasste sie sich und fügte hinzu: „Wirklich, Maggie. Ich bin nur etwas müde.“

Sie lächelte ihre Freundin an und vertiefte sich in die Speisekarte – wohl auch, um ihr zu signalisieren, dass das Thema für sie damit beendet war.

Maggie nahm die Speisekarte wieder auf, obwohl sie längst wusste, was sie bestellen würde.

Was in aller Welt wollte Gwen ihr an diesem Abend um jeden Preis verheimlichen?

6. KAPITEL

Eppley Airport

Omaha, Nebraska

Detective Tommy Pakula hasste Schweinereien. Dabei machte ihm das Blut noch am wenigsten aus. In fast zwanzig Jahren bei der Mordkommission hatte er schon so gut wie alles gesehen. Verspritzte Gehirnmasse oder abgesägte Körperteile – damit kam er irgendwie klar. Was er indes auf den Tod nicht ausstehen konnte, das war ein versauter Tatort.

Er fuhr sich mit der Hand über den rasierten Schädel, dessen nachsprießendes Haar an diesem lang gewordenen Tag bereits deutlich zu fühlen war. Sein Abstecher nach Hause hatte gerade mal gereicht, um Hemd und Socken zu wechseln, letztere auf nachdrückliches Insistieren seiner Frau, Clare. Obwohl sie mit ihm ebenso lange verheiratet war, wie er schon Polizist war, hatte sie sich mit seinen Schweißfüßen noch immer nicht abgefunden. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln. Im Grunde musste er ihr dankbar sein. Sie hätte sich nämlich über eine ganze Menge schlimmerer Dinge aufregen können – über von Anrufen unterbrochene Mahlzeiten etwa, die ihn zwangen, die selbst gemachte Lasagne nebst warmen Brötchen mit Knoblauchbutter sausen zu lassen, weil er sich um irgendeine Leiche kümmern musste, die in der Flughafentoilette lag.

Schon vom Eingang her hatte er die Sauerei erkannt. Eine Spur, die hier nichts zu suchen hatte, blutverklebte Fußstapfen, die sich vom Männerklo in die Halle zogen, schön um den Putzmittelkarren herum, den jemand als provisorische Absperrung direkt vor den Toiletteneingang geschoben hatte. Da hatte irgendwer das gelbe Schild mit der Aufschrift „Außer Betrieb“ wohl einfach ignoriert. Laut Auskunft der Streifenpolizisten war das Wägelchen erst nach Auffinden des Toten vor die Toilettentür gestellt worden. Die Fußspur konnte also kaum von dem Täter stammen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war der Tote auch noch ein Geistlicher, ein Monsignore.

„Meine Fresse!“ stöhnte Pakula. „Meine achtzigjährige Mutter kommt nicht an der Sicherheitsschranke vorbei, ohne dass sie abgetatscht wird, aber hier kann jeder hergelaufene Kerl zum Pinkeln rein und die Leiche besichtigen.“

„Der Typ, der ihn gefunden hat, sagt aus, er hätte jemanden vom Reinigungspersonal gebeten, den Karren vor den Eingang zu stellen. Er selbst wollte Hilfe holen.“ Peter Kasab starrte in sein Notizbuch und ergänzte die Angaben hektisch in seiner Sauklaue.

Pakula musste sich beherrschen, um angesichts seines umständlichen Kollegen nicht die Augen zu verdrehen. Er wandte sich zu der jungen Schwarzen vom Spurensicherungsteam des Douglas County um. Sie hatte sich bislang nicht zu Wort gemeldet und sich ganz auf die Untersuchung der Videoüberwachungskamera konzentriert. Jetzt machte sie sich, auf den Knien und mit behandschuhten Fingern, an ihre Routinearbeit. Mit einer Pinzette nahm sie Dinge vom Boden auf, die viel zu klein waren, als dass Pakula erkennen konnte, um was es sich dabei handelte, und verstaute die Partikel in Plastiktütchen. Er hatte zwar bislang noch nicht mit ihr zusammengearbeitet, kannte Terese Medina jedoch vom Hörensagen. Falls der Mörder etwas zurückgelassen hatte – sie würde es mit Sicherheit finden.

„Der Typ hat gesagt, er wäre förmlich mit dem Täter zusammengestoßen“, las Kasab von seinen Kritzeleien ab.

„Wie bitte?“

Kasab hörte auf, in seinen Notizen zu blättern und richtete seinen Blick auf Pakula. „Er meint, er sei mit dem TV kollidiert, als der aus der Toilette kam.“

Pakula verzog das Gesicht. Was sollte denn diese dämliche Abkürzung für Tatverdächtiger? „Hat der Mann vielleicht auch einen Namen?“

„Der, mit dem er zusammengestoßen ist?“

„Der Zeuge!“ Pakula schüttelte fassungslos den Kopf, verkniff sich aber jede weitere Bemerkung. „Der, der die Leiche gefunden hat!“

„Ach so, klar.“ Wieder begann Kasab zu blättern. „Der heißt Scott …“ Er hatte Schwierigkeiten, seine eigene Schrift zu entziffern. „Linquist. Ich habe seine Telefonnummern, dienstlich und privat, Handynummer und Anschrift.“ Er tippte auf die Heftseite und grinste, als sei damit alles geklärt.

„Gibt es zufällig auch eine Beschreibung?“

„Von diesem Linquist?“

„Nein, verdammt! Von dem mutmaßlichen Mörder!“

Kasab verzog zerknirscht das Gesicht und blätterte weiter. Offensichtlich war das seine Lieblingsbeschäftigung. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte. „Klar, hier ist sie.“

Pakula rieb sich die Augen, um seine Ungeduld und die Müdigkeit abzuschütteln.

„Laut Zeugenaussage ist der TV jung und etwa einsachtzig groß. Er soll ausgewaschene Jeans und eine Baseballcap getragen haben. Linquist hat angegeben, der Bengel sei direkt in ihn reingerannt. Er hat's wohl eilig gehabt, war auf dem Weg nach draußen, und zwar genau in dem Augenblick, als Linquist reinkam. Dann sah der Zeuge die Leiche und das ganze Blut auf dem Fußboden. Er machte sich auf den Weg, um Hilfe zu holen. Als er aus der Toilette kam, war der Bengel bereits weg.“

„Bengel? Wie alt war er denn?“ Pakula hatte Zweifel, dass es sich um den Täter handelte. Vermutlich eher um einen Jugendlichen, der unter Schock stand oder nicht in die Sache hineingezogen werden wollte. Gut möglich, dass er vielleicht Schiss hatte, man könne ihm die Tat anhängen.

„Dazu konnte er keine genauen Angaben machen“, gestand Kasab, ohne von seinen Notizen aufzusehen. „Ach ja, hier steht's. Er hat ausgesagt, dass er das Gesicht des Jungen nicht habe sehen können.“

„Woher will er dann wissen, dass es ein junger Kerl war?“

Kasab musterte Pakula, als wolle er sich versichern, dass das keine Fangfrage war, um ihn auf die Probe zu stellen. „Aufgrund seiner ganzen Art … und seiner Statur, schätze ich mal.“

Na toll! dachte Pakula. Jetzt verlegt sich dieser Anfänger auch noch aufs Raten. Wirklich erstklassige Polizeiarbeit. Am liebsten hätte er sich seine nicht vorhandenen Haare gerauft, doch stattdessen wandte er sich zu Terese Medina um. Sie war jetzt über die Leiche gebeugt und zupfte mit der Pinzette etwas vom Polohemd des Toten. Vielleicht hatten sie ja Glück, und sie entdeckte irgendeine interessante Hinterlassenschaft. Etwas in dieser Art jedenfalls könnte er jetzt gut brauchen, damit seine Stimmung nicht vollständig in den Keller sackte. Genau in diesem Moment hielt Medina die Pinzette hoch und betrachtete mit höchster Konzentration etwas.

„Ist ja komisch“, murmelte sie.

„Was haben Sie denn da?“ erkundigte sich Pakula und machte einen Schritt auf die Beamtin zu, die den Krümel in eine Plastiktüte steckte und dann einen zweiten vom Polohemd des Monsignore zupfte.

„Ich kann mich natürlich irren“, sagte sie und hielt sich die Spitze der Pinzette vorsichtig unter die Nase. „Aber es sieht mir ganz nach Brotresten aus.“

Ehe Pakula etwas erwidern konnte, meldete sich sein Handy mit einem Gebimmel wie von einem ganzen Glockenturm. Er hätte sich das verdammte Ding nicht von seiner Tochter Angie programmieren lassen sollen, dachte er. Aber im Gegensatz zu ihr war er kein Technikfreak und hatte nicht die geringste Ahnung, wie man einen anderen Klingelton einstellte. Er riss sich das Telefon vom Gürtel und war nach dem zweiten Klingeln dran – seine neue persönliche Bestzeit.

„Pakula!“ meldete er sich, doch als Antwort bekam er nichts als Rauschen. „Augenblick!“ Er machte ein paar Schritte in die Halle hinaus, in der Hoffnung, ein stärkeres Signal zu bekommen. „Ich höre.“

„Pakula? Carmichael hier!“

„Verdammt noch mal, wo steckst du denn? Ich könnte dich gut hier am Flughafen gebrauchen!“

„Bin noch im Präsidium.“

„Ich habe einen aufgeschlitzten Priester auf dem Herrenklo liegen, und alle möglichen Pappnasen latschen munter drumrum zum Pinkeln. Anscheinend futtern die sogar ihre Sandwiches über der Leiche.“

„Wie bitte?“

„Ach, vergiss es.“

„Wie du meinst. Ich dachte ja nur, dich würde vielleicht ein Anruf interessieren, den ich gerade bekommen habe. Ein gewisser Bruder Sebastian vom erzbischöflichen Sekretariat Omaha hat sich nämlich eben nach dem Zustand der Leiche von Monsignore William O'Sullivan erkundigt.“

„Ich werd verrückt! Woher zum Teufel weiß der denn schon davon? Wir haben ihn doch selbst erst vor einer Stunde identifiziert.“

„Er habe einen anonymen Anruf gekriegt, hat er gesagt.“

„Ach, einen anoymen Anruft, tatsächlich?“

Pakula konnte hören, wie Detective Jim Carmichael kaute, während sie mit ihm sprach. Eine ihrer schlechten Angewohnheiten, die ihr mit der Zeit sichtlich auf die Hüften schlug.

„Hör zu, Pakula. Bruder Sebastian schien außerordentlich besorgt bezüglich der persönlicher Habe des Monsignore, insbesondere einer ledernen Aktenmappe. Und zweitens hat er uns wissen lassen, dass Erzbischof Armstrong uns in jeder Hinsicht unterstützen werde. Es sei also nicht nötig, das FBI einzuschalten.“

„Das FBI?“ Pakula musste lachen. „Okay, Carmichael. Furchtbar witzig, aber ich hatte einen langen Tag und bin jetzt nicht in der Stimmung für …“

„Ich mache keine Witze. Das hat er wörtlich gesagt. Ich hab's mitgeschrieben.“

„Warum zum Teufel sollten wir denn bei einem stinknormalen Mordfall das FBI einschalten?“

„Er schien sehr bemüht, die Sache herunterzuspielen“, erwiderte Carmichael. „Aber ich hatte den Eindruck, dass er ziemlich nervös war und äußerst bedacht in der Wahl seiner Worte.“

Pakula ließ sich gegen die Wand sacken. Von einer Aktenmappe wusste er nichts. Bislang war er von einem Zufallsmord ausgegangen, vielleicht ein Raubüberfall, obwohl sie in der Brieftasche des Paters jede Menge Euros gefunden hatten. Aber mit Euros konnte ein kleiner Ganove in dieser Gegend nicht viel anfangen. Was jedoch, wenn der Mörder gar nicht auf schnelle Beute aus gewesen war? Wenn er genau gewusst hatte, wem er da in die Herrentoilette folgte? Damit würde der Fall eine ganz neue Dimension bekommen.

„He, Pakula! Bist du noch da?“

„Tu mir einen Gefallen, Carmichael. Ruf Bob Weston an und setz ihn ins Bild.“

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“

„Der Erzbischof will also nicht, dass wir das FBI einschalten. Vielleicht sollte ich mich dort mal erkundigen, ob es dafür einen Grund gibt.“

7. KAPITEL

Newburgh Heights, außerhalb von Washington, D.C.

Maggie war kaum nach Hause gekommen, als ihr Handy klingelte. Sie hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, Harvey richtig zu begrüßen. Seit sie den wunderschönen weißen Labrador bei sich aufgenommen hatte, gebärdete er sich bei ihrer Rückkehr jedes Mal so, als sei sie Ewigkeiten weg gewesen. In seinen traurigen braunen Augen lag dann ein Ausdruck, als würde er sie mahnen wollen, ihn nicht ebenso zu behandeln wie sein vorheriger Besitzer, der ihn einfach im Stich gelassen hatte. Sie hockte sich hin und tätschelte ihn mit der einen Hand, während sie mit der anderen ihr Mobiltelefon hervorzog.

„Maggie O'Dell“, meldete sie sich und versuchte, Harvey davon abzuhalten, ihr Gesicht abzuschlabbern.

„O'Dell? Racine hier … Kommt mein Anruf ungelegen?“

Maggie fragte sich, ob Detective Racine wohl die schmatzenden Geräusche hören konnte, die Harvey verursachte, und diese anders deutete, oder ob sie vielleicht nur die späte Stunde meinte.

„Ich komme gerade nach Hause. Was gibt's?“

„Es ist schon spät, ich weiß. Tut mir Leid.“

Keine Frage, Julia Racine kriegte das feuchte Geschlabber am Telefon mit. Doch anstatt den Vierbeiner abzuwehren, tätschelte sie ihm auffordernd den Kopf. Vielleicht war es ja wirklich mal an der Zeit, dass ein paar pikante Gerüchte über ihr angeblich nichtexistentes Liebesleben die Runde machten.

„Schon in Ordnung. Legen Sie los!“

„Das Handy hat sich als Fehlanzeige erwiesen.“

„Gestohlen“, vermutete Maggie auf blauen Dunst, wobei sie Harvey weiterhin zwischen den Ohren kraulte.

„Genau. Am Washingtoner Flughafen. Vorige Woche. Da jedenfalls hat er's das letzte Mal gesehen, meint der Besitzer. Scheint zu stimmen, er hat den Verlust seiner Telefonfirma gemeldet. Bis heute Morgen wurde das Ding nicht benutzt.“

„Lässt sich irgendwie feststellen, wo es sich befand, als der Anruf getätigt wurde?“

„Nur insofern, als es irgendwo in der Stadt gewesen sein muss. Inzwischen liegt es wahrscheinlich irgendwo in einem Müllcontainer.“

Maggie fragte sich, wieso Detective Racine sie nach Mitternacht anrief, nur um ihr mitzuteilen, dass sie keinen Schritt weiter waren. Ihr Anruf musste noch einen anderen Grund haben, und das Schweigen am anderen Ende bestätigte diese Vermutung. Doch Maggie ließ sie schmoren.

„Ich hab mit Chief Henderson über die anderen beiden Fälle gesprochen. Sowohl er als auch Stan sind der Meinung, dass wir einen forensischen Anthropologen hinzuziehen sollten.“

Na also, sie hatte ihren Rat tatsächlich befolgt. „Das wird uns mit Sicherheit weiterhelfen“, stimmte sie zu.

„Stan meint, er könne nächste Woche einen auftreiben. Allerdings fahre ich am Sonntag rauf zu meinem Vater. Wir wollen Angeln gehen. Ich hatte gedacht, vor Sonnenaufgang aufzubrechen, so gegen fünf vielleicht. Ach, übrigens, Stan sagte, er macht sich gleich morgen früh als Erstes an die Autopsie.“

Detective Racine machte eine Pause, als erwarte sie an dieser Stelle von Maggie einen Kommentar. Die aber versuchte sich gerade vorzustellen, wie es Racine wohl hinkriegen wollte, beim Angeln lange genug still zu sitzen.

„Wie dem auch sei“, fuhr Julia Racine fort. „Ich habe ihm vorgeschlagen, die beiden anderen Köpfe mit raufzunehmen und sie mal Professor Bonzado vorzulegen. Er und mein Dad sind ja die dicksten Kumpel, seit … na, Sie wissen schon!“

Dabei beließ sie es, und Maggie war es recht so. Sie konnte sich in der Tat bestens daran erinnern, wie sie Professor Bonzado und dessen neuen Busenfreund, Luc Racine, aus der Kühltruhe eines Irren befreit hatte.

„Meinen Sie denn nicht, dass sich einer aus dem hiesigen Bezirk finden lässt?“ Maggie war erstaunt über ihre eigene Frage, denn sie hatte ja selbst vorgehabt, den Professor vorzuschlagen. Aber sie durfte bei Racine auf keinen Fall den Eindruck zu erwecken, sie wolle Bonzado unbedingt wiedersehen.

„Bestimmt gäbe es einen, nur nicht gerade am Nationalfeiertag.“ Wieder machte Racine eine Pause. „Passen Sie auf, O'Dell, ich will offen zu Ihnen sein. Mir sitzen die Reporter im Nacken. Jetzt, wo es ein drittes Opfer gibt, brauche ich Antworten, und zwar so schnell wie möglich. Ich habe schon mit Bonzado gesprochen. Er hat zugesagt, sich die Schädel anzusehen, und da ich ja sowieso da hoch fahre, nehme ich sie mit. Vielleicht ist das nicht besonders pietätvoll, aber Stan meinte, immerhin hätten sie durch mich ja quasi Begleitschutz. Ich bin die Strecke schon oft gefahren, die lässt sich gut in vier Stunden schaffen.“

Was redet sie da, fragte sich Maggie. Wieso scheint sie zu meinen, sie sei mir eine Erklärung schuldig?

Sie stemmte sich hoch und hockte sich auf die unterste Treppenstufe. Harvey streckte sich neben ihr aus, den Kopf auf ihre Füße gebettet.

„Da wir ein Feiertagswochenende haben, kann man sich Fliegen ohnehin abschminken“, fuhr Racine fort. „Und außerdem will ich mir wirklich nicht vorstellen, mit zwei abgetrennten Schädeln durch die Sicherheitsschleuse zu müssen.“

Ihr Lachen verriet einen Hauch von Nervosität. Offenbar war da noch etwas, und Maggie fragte sich, wann sie endlich zur Sache kommen würde.

„Deshalb wollte ich fragen, ob Sie nicht vielleicht Lust hätten, mitzufahren.“

Das war es also. Maggie war verblüfft, und noch bevor sie den unerwarteten Vorschlag verdauen konnte, ließ Racine den nächsten Wortschwall los.

„Adam meinte, bis zu unserer Rückfahrt könne er bestimmt schon etwas sagen. Und es wäre ja nur für den einen Tag, auch wenn der natürlich nicht gerade kurz werden wird.“ Maggie entging nicht, dass Professor Bonzado auf einmal Adam hieß. „Mein Vater würde sich über ein Wiedersehen bestimmt sehr freuen. Er erkundigt sich unentwegt nach Ihnen – na ja, jedenfalls wenn er sich erinnert. Aber die letzte Zeit ging es ihm ganz gut. Obwohl die Ärzte sagen, das könne sich auch von einem auf den anderen Tag wieder ändern.“

„Es wäre tatsächlich schön, Ihren Dad mal wiederzusehen“, bekundete Maggie, wobei ihr einfiel, dass sie vor einigen Wochen ohnehin mit dem Gedanken gespielt hatte, dieses Wochenende in Connecticut zu verbringen. Sie war kurz davor gewesen, ihren neuen Stiefbruder Patrick anzurufen und ihm vorzuschlagen, etwas zusammen zu unternehmen. Aber dann hatte sie doch befürchtet, er könne sich vielleicht zu sehr bedrängt fühlen, und es gelassen. Außerdem hatte er bestimmt seine eigenen Pläne, und die drehten sich sicherlich nicht um eine Schwester, von der er erst seit einem knappen Jahr wusste. Nein, Patrick brauchte Zeit, um sich an seine neue Familie zu gewöhnen. Er würde sich schon bei ihr melden, wenn er soweit war.

Patrick war allerdings nicht der einzige Grund, weshalb sie die Idee gehabt hatte, nach Connecticut zu fahren. Natürlich hätte sie wirklich gern Adam Bonzado wieder gesehen. Nun bot sich ihr eine ideale Gelegenheit dazu. Allerdings ließ sie der Gedanke an vier, ach was, acht Stunden Autofahrt mit Julia Racine erschaudern.

8. KAPITEL

23:50 Uhr

Venezuela

Er drehte die Vivaldimusik, die aus seinem billigen Radiorekorder tönte, auf volle Lautstärke und zerklatschte einen Moskito. Das Biest hatte ihn voll erwischt. Er verschmierte das Blut, sein Blut wohlgemerkt, auf seiner Haut, die ihm schon beinahe vorkam wie die eines blatternarbigen Leprakranken. Vater Michael Keller hatte gelernt, das permanente Jucken zu ignorieren, genauso wie er sich daran gewöhnt hatte, ständig in Schweiß gebadet zu sein, selbst nach seiner abendlichen Dusche. Er konzentrierte sich ganz auf die wenigen Freuden, auf die man sich immer verlassen konnte, wie beispielsweise Vivaldi. Mit geschlossenen Augen genoss er die Streicherklänge, hier triumphierte wahrhaftig der Geist über die Materie!

Jeden Abend zelebrierte er das gleiche Ritual. Er entzündete einige Citronellakerzen zur Abwehr der Moskitos und sah nach dem Teekessel auf der Herdplatte. Sein weißes Hemd, das eine der Frauen aus dem Dorf gewaschen und gebügelt hatte, klebte ihm am Rücken. Er spürte, wie ihm der Schweiß den Brustkorb herunter rann, freute sich aber dennoch auf seine allabendliche Tasse heißen Tees. Heute entschied er sich für Kamille aus dem Paket, das ihm jemand geschickt hatte, den er über das Internet kennen gelernt hatte. War das eine Überraschung gewesen, dieser Karton gefüllt mit verschiedenen Teesorten, marmeladegefüllten Keksen und Mürbeteigplätzchen! Er hatte alles fein säuberlich portioniert und sich eingeteilt, um möglichst lange etwas davon zu haben – nicht nur von den Köstlichkeiten selbst, sondern auch von der Vorstellung, dass ihm jemand, den er persönlich nie kennen gelernt hatte, ein so wunderbares Geschenk machte.

Er gab eine exakt bemessene Menge Teeblätter in das kugelförmige Sieb der Teezange, tauchte sie in das siedende Wasser, deckte den Becher ab und ließ den Sud ziehen. Dann hob er den Deckel leicht an, sodass ihm der Dampf ins Gesicht stieg und er das köstliche Aroma einatmen konnte. Er zog die Teezange wieder heraus und tippte mehrmals sacht mit dem Sieb gegen den Becherrand, damit es auch noch den letzten Tropfen preisgab.

Ein Moskito, der sich auch von dem Citronelladuft nicht abhalten ließ, sirrte um seinen Kopf. Draußen ging ein nächtlicher Schauer nieder, der die drückende Hitze in feuchte Schwüle verwandelte. Keller aber lehnte sich behaglich zurück mit seinem Tee und seiner Musik, und für einen kurzen Moment fühlte er sich beinahe wie im Himmel.

Er hatte kaum die erste Tasse geleert, als ein von draußen kommendes Geräusch ihn aufhorchen ließ. Er setzte sich auf und wartete auf ein Klopfen. Doch an der Tür blieb es still. Sonderbar. Dass man ihn um diese nachtschlafende Zeit brauchte, war eher ungewöhnlich, und ohne Einladung besuchte ihn auch niemand. Die Leute achteten seine Privatsphäre und entschuldigten sich sogar, wenn sie ihn zu einem Notfall rufen mussten.

Vielleicht war es bloß der Wind gewesen. Vater Keller ließ sich wieder zurücksinken und lauschte dem Regen, der leise und sanft auf das Blechdach pladderte. Und auf einmal fiel ihm auf, dass sich kein Windhauch regte.

Er stellte die Teetasse ab und stand auf, hielt dann aber einen Moment inne, weil er ein leichtes Schwindelgefühl spürte. Die Hitze. Langsam ging er auf die Tür zu, und dort angekommen lauschte er, ob sich nicht vielleicht doch jemand draußen befand. Albern, dachte er, du bist doch nicht paranoid! Nein, nicht paranoid, vorsichtig. Auch etwas, das er hatte lernen müssen – notgedrungen.

Er entriegelte die Tür und zog sie mit solchem Schwung auf, dass der Junge erschrocken zusammenfuhr.

„Arturo?“ Keller erkannte ihn, es war einer seiner Ministranten. Er war ein gutes Stück kleiner als seine Altersgenossen, dünn und zartgliedrig und hatte traurige dunkle Augen. Wie er da im strömenden Regen stand, den braunen Pappkarton vor sich haltend, wirkte er noch verletzlicher.

„Was hast du denn da?“ fragte Vater Keller und wiederholte seine Frage auf Spanisch, als er Arturos verständnislosen Blick bemerkte. „¿Arturo! Qué hace usted aquí?“

„Sí, para usted, Padre!“ Der Junge hielt ihm das Paket mit ausgestreckten Armen hin und schien offenbar stolz, dass man ihn mit der Aufgabe betraut hatte, es ihm zu überbringen.

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