Fleisch

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Ein neuer Fall für Profilerin Maggie O'Dell!

Der Geruch von verbranntem Fleisch hängt noch in Nebraskas Herbstluft, als FBI-Profilerin Maggie O'Dell den Tatort erreicht. Eine grausige Szene: Teenager liegen auf dem Waldboden, weit aufgerissene Augen, Brandwunden, zwei Tote. Von explodierenden Lichtern ist die Rede, von einem Biest mit roten Augen - Halluzinationen nach einer Drogenparty? Oder Realität? Maggie versucht, diesem Hexenkessel auf den Grund zu gehen. Aber sie ist nicht schnell genug: Jemand nimmt die Überlebenden ins Visier, ermordet einen nach dem anderen. Wen Maggie jetzt dringend bräuchte, sind ihr Partner R.J. Tully und Dr. Benjamin Platt vom Medical Research Institut. Doch die sind an der Ostküste in einen ähnlich verstörenden Fall verwickelt...


  • Erscheinungstag 10.10.2012
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783862785889
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alex Kava

Fleisch

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Carla Altenkirch

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Hotwire

Copyright © 2011 by S. M. Kava

erschienen bei: Doubleday, a division of Random House, Inc., New York

and in Canada by Random House of Canada Limited, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Thinkstock /Getty Images, München; pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-588-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

DONNERSTAG

7. Oktober

1. KAPITEL

Nebraska-Nationalforst

Halsey, Nebraska

Dawson Hayes blickte über das Lagerfeuer hinweg. Er erkannte die Versager sofort. Es war beinahe zu einfach, sie auszumachen.

Er hätte so tun können, als habe er eine Art Superradar, mit dem er die Leute durchschauen konnte, aber in Wahrheit erkannte er sie, weil er … wie ging der Spruch noch mal? … aus dem gleichen Holz geschnitzt war. Vor nicht allzu langer Zeit hätte es ihn noch dort drüben zu ihnen hingedrängt, hätte er sich gefragt, warum er eingeladen worden war, schwitzend und voller Neugier, was der Preis für diese Einladung sein würde.

Sie taten ihm nicht leid. Sie hätten nicht zu kommen brauchen. Niemand hatte sie in einen Kofferraum geworfen und hierhergeschafft. Also würde alles, was hier geschah, gewissermaßen ihre eigene Schuld sein. Der Preis, den sie zahlen mussten für den Wunsch, jemand sein zu wollen, der sie nicht waren. In den Klub der Coolen wurde man nicht aufgenommen, ohne ein Opfer zu bringen. Und falls sie anders darüber dachten, dann waren sie wirklich hoffnungslose Versager.

Dawson akzeptierte wenigstens, wer er war. Oder besser gesagt: Es machte ihm nichts aus. Er unterschied sich gerne von seinen Mitschülern, und manchmal trug er auch seinen Teil dazu bei. An den Freitagen, an denen Football gespielt wurde und alle in den Schulfarben herumliefen, trug er Schwarz. Als Außenseiter wurde er wenigstens bemerkt. Trainer Hickman verdrehte jetzt sogar die Augen, sowie er ihn sah – bevor er anfing, freitags schwarze Sachen anzuziehen, hatte der Trainer sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich seinen Namen zu merken.

Zu Beginn eines jeden neuen Schuljahrs, wenn der Trainer vor dem Geschichtsunterricht die Namensliste durchgegangen war, hatte er „Dawson Hayes“ gerufen und sich im Klassenzimmer umgesehen. Er schaute über Dawson hinweg und manchmal direkt in sein Gesicht. Wenn Dawson dann die Hand hob, schnellten die Augenbrauen des Trainers überrascht in die Höhe, als hätte er niemals vermutet, dass sich hinter einem so lässigen Namen wie Dawson Hayes jemand mit pickligem Gesicht und zögerlichem, dünnem Arm verbarg. Dawson machte es nichts aus. So langsam wusste man, wer er war, und es spielte keine Rolle, wie es dazu kam.

Doch Dawson war auch klar, dass er einzig und allein deshalb regelmäßig zu diesen exklusiven Versammlungen im Wald eingeladen wurde, weil Johnny Bosh mochte, was er zu der Party mitbrachte. Jetzt brannte dieses Etwas gerade ein Loch in seine Jackentasche. Er versuchte, den Gedanken daran zu verdrängen. Versuchte, nicht daran zu denken, wie er es vorhin aus dem Holster seines Vaters mitgehen ließ, während dieser geschlafen hatte, weil er keine Nachtschicht hatte. Genau – er hatte es mitgehen lassen, nur ausgeliehen, nicht geklaut. Seinen Dad würde es wahrscheinlich gar nicht mal stören, solange er nicht erfuhr, dass Dawson sich mit Johnny B. traf. Okay, das stimmte nicht. Sein Dad wäre stinksauer. Aber ermunterte er Dawson nicht dauernd dazu, Freunde zu finden und Dinge zu tun, die andere in seinem Alter auch machten? Anders ausgedrückt: Er sollte zur Abwechslung mal ein ganz normaler Teenager sein.

Und genau das war Teil des Problems: Er war einfach zu normal. Er war kein Sport-Superstar wie Johnny B. oder ein harter, Tabak kauender Cowboy wie Lucas oder ein Genie wie Kyle. Doch schon den X26-Taser einfach nur zu halten, mit dem leichten leuchtend gelben Gehäuse, das perfekt in seiner Hand lag, gab Dawson eine ganz neue Identität und Selbstvertrauen. Er musste nur zielen, und wham!, schossen 50.000 Volt pure Elektrizität heraus. Und mit einem Mal war Dawson Hayes jemand. Eben noch schwach, jetzt stark. Mit diesem kleinen Stück Technik in seiner Hand konnte er alles erreichen.

Gut, vielleicht lag es nicht nur an dem Taser. Vielleicht hatte auch das Salvia ein bisschen damit zu tun. Er kaute jetzt seit etwa einer Viertelstunde darauf herum und konnte die Wirkung schon spüren. Aber das war nur einer der Höhepunkte heute Abend.

Dawson suchte die Kamera, die hinter einigen niedrig hängenden Kiefernästen verborgen war. Sie war gut versteckt, und er konnte das blinkende grüne Licht nur deshalb ausmachen, weil er Johnny vorhin geholfen hatte, sie aufzustellen. Sie hatten darauf geachtet, dass das Stativ mit den Zweigen verschmolz. Sonst wusste niemand, dass es die Kamera gab. Es hatte seine Vorteile, der geduldete Außenseiter zu sein.

Dawson blickte über den Zeltplatz, den sie in diesem abgeschiedenen Teil des Kiefernwaldes aus dem Boden gestampft hatten. Wahrscheinlich hätten sie hier am Waldrand nicht mal ein verdammtes Feuer machen dürfen. Johnny B. sagte, diese Stelle könne weder von der Straße noch vom Aussichtsturm aus gesehen werden, aber eigentlich spielte das keine Rolle. Dort würde ohnehin niemand sein. Auf der einen Seite war offenes Feld, leicht hügeliges Land mit hohem Gras, das mit einem Stacheldrahtzaun abgegrenzt war. Auf der anderen Seite begann das Gelbkiefern-Dickicht, und ein Stück entfernt schlängelte sich der Dismal River vorbei. Dawson konnte das Wasser hören, wie es leise über die Steine plätscherte.

Ihre Autos hatten sie etwa eine Viertelmeile entfernt stehen lassen, auf einem verlassenen Parkplatz, zu dem ein Feldweg durch das kniehohe Gras führte. Um in den Wald zu gelangen, hatten sie sogar über den Stacheldrahtzaun klettern müssen. Die kleine Wanderung war nur der erste Test dieser Nacht, allerdings fand Dawson, dass er ziemlich viel über die heutigen Gäste aussagte: wie sie damit zurechtkamen, über die scharfen Stacheln zu steigen, ob sie sich anschließend umdrehten, um dem Nächsten zu helfen, über den Zaun zu kommen oder drunter durch, ob sie sich selbst nach Hilfe umsahen – oder, schlimmer noch, ob sie Hilfe erwarteten.

Das war noch etwas, wodurch sich Dawson von anderen Gleichaltrigen unterschied: Er beobachtete gerne, wie Menschen aufeinander reagierten, auf ihre Umgebung, und vor allem, wie sie mit Unvorhersehbarem umgingen. Seine Generation bestand doch nur aus hirnlosen Zombies, die einander nachahmten und kopierten, gefangen in ihrer kleinen Welt. Sie beschäftigten sich bloß mit der Frage „Was ist?“, nicht mit „Was wäre, wenn?“. Das war es, was ihn wahrscheinlich am meisten an Johnnys Experimenten interessierte.

Heute waren nur sieben von ihnen da, und trotzdem standen sie noch in Cliquen herum. Johnny war von den Tussis umgeben, Courtney und Amanda. Sogar Nikki hatte sich heute den coolen Mädels angeschlossen. Das fand Dawson enttäuschend. Er hatte gehofft, Nikki wäre besser. Die drei Mädchen sahen aus, als hingen sie an Johnnys Lippen. Sie lachten, warfen ihr Haar zurück und neigten dann ihre Köpfe, so, wie Mädchen es taten, um ihr Interesse auszudrücken.

Alles nur Illusion. Jeder, der nur ein bisschen Verstand besaß, konnte sehen, wer hier das Sagen hatte, wer wen kontrollierte.

Doch das war in Ordnung. Johnny war gut darin, so zu tun, als wäre es sein Klub, seine Party. Als würde er bestimmen, wo es langgeht. Er war Quarterback und Ballkönig, und er hatte Charme, verfügte aber auch über eine ausreichend harte Ausstrahlung, sodass niemand ihn anmachte. Es war besser, Johnnys Freund zu sein, als jemand, der ihn nervte.

Dawson wusste nicht genau, warum Johnny den Taser wollte. Er hatte ihn nicht nötig. Johnny strotzte vor Selbstbewusstsein, sogar in diesen albernen Cowboystiefeln. Die Rocker-Lederjacke war ein bisschen dick aufgetragen, passte allerdings zu seinem Image. Die anderen nannten ihn Johnny B., und das war der coolste Spitzname überhaupt. Dawson hatte gehört, wie sogar Mr Bosh bei einem Footballspiel „Johnny be good“ gerufen hatte, und dann hatte er gelacht, als erwarte er alles andere von seinem Sohn, als brav zu sein, und als fände er das völlig in Ordnung.

Der erste Lichtblitz kam geräuschlos. Jeder drehte sich um, aber nur kurz.

Der zweite Blitz zerbarst über ihren Köpfen. Dawson dachte zuerst, es wäre ein Gewitter, doch vor seinen Augen verschwamm er zu blauen und violetten Adern, die sich über den Baumwipfeln ausbreiteten wie Risse im Abendhimmel.

Dawson hörte die anderen „Ohh“ und „Ahh“ ausrufen und musste lächeln. Sie waren auf einem Trip und genossen das Feuerwerk. Bei ihm war es wohl auch schon so weit.

Früher hatte er kein Salvia genommen, aber Johnny hatte gemeint, es sei besser als alles aus dem Medizinschrank zu Hause und viel stärker als normales Gras. Johnny sagte, es sei „enorm cool“, wie ein „Rock-’n’-Roll-Feuerwerk, das dir das Gehirn zerquetscht und dich glauben lässt, du könntest fliegen“.

Das Zeug sah ja harmlos aus. Grün, von der gleichen Farbe wie normaler Salbei, mit breiten Blättern. Es hätte einfach in einem der alten Blumenbeete seiner Mutter wachsen können. Verdammt, wie er seine Mom vermisste! Dawson drückte etwas mehr von den Blättern zu einem kleinen Päckchen zusammen und steckte es in den Mund, zwischen die Zähne und die Backe, als würde er Tabak kauen. Der bittere Geschmack machte ihm nichts mehr aus.

Johnny hatte die Pflanze als „Sally D.“ bezeichnet und ihnen gesagt, dass die Indianer sie als Heilpflanze verwendeten. „Es macht die Nebenhöhlen frei, säubert den Darm, lindert Schmerzen und dämpft das Rauschen im Gehirn“, hatte er ihnen erklärt.

Trotzdem hatte er letzte Woche auch recht aufgeregt geklungen, während er sie alle das Oxycontin schnupfen ließ, das er zu Pulver zerstoßen hatte. Er hatte nur zwei Pillen aus dem Medizinschrank seiner Mutter entwenden können, und weil sie auf ein Dutzend Leute verteilt worden waren, war nicht ganz die Wirkung eingetreten, die Johnny ihnen versprochen hatte. Aber dennoch, da war er wieder, klang wie der Moderator einer Verkaufssendung, ließ seinen Zauber wirken und brachte sie dazu, es zu versuchen, in der Hoffnung, sich gut zu fühlen und cool zu sein.

Es war noch nicht einmal eine Minute her, seit Dawson noch was genommen hatte, doch er fühlte schon die Leichtigkeit in seinem Kopf. Der Kick koppelte ihn von den anderen ab. Er sah zwar, wie sie herumstolperten und lachten und auf den Himmel deuteten, aber es war, als würde er sie von einem anderen Raum aus betrachten, aus einer anderen Zeitzone heraus, wie in Zeitlupe von einer anderen Galaxie. Oder vielleicht in einem riesigen Flachbildfernseher.

Dawson stellte sich eine Verkaufssendung vor, hörte blödsinnige Rapjingles, die von einem tiefen Bass begleitet wurden, der wummerte, wummerte, wummerte, tief in seinem Schädel. Die Äste der Bäume begannen zu schwingen. Die Stämme vermehrten sich, verdoppelten sich, verdreifachten sich.

Dann sah er die roten Augen.

Sie verbargen sich in einem Busch, hinter Kyle und Lucas, genau hinter Amanda.

Glühende Punkte, die beobachteten und hin und her zuckten.

Warum sehen die anderen dieses Wesen nicht?

Dawson öffnete den Mund, um sie zu warnen, aber es kam kein Ton heraus. Er hob seinen Arm, um zu deuten, doch er konnte seine Hand nicht erkennen, gelb und grün, beinahe fluoreszierend in dem blitzenden Stroboskoplicht, das aus den Baumwipfeln kam. Das Licht sprang und wogte, wurde zu Violett und Blau und prasselte durch die Zweige.

In dem Moment roch Dawson die Hitze. Fast, als hätte jemand ein Bügeleisen zu lange angelassen. Plötzlich wurde der Geruch stärker. Er erinnerte ihn an versengte Hotdogs an einem Lagerfeuer – schwarzes, knuspriges, verbranntes Fleisch. Ihm fiel ein, dass sie gar nichts zum Grillen mitgebracht hatten.

Als Erstes fühlte er ein Kribbeln. Elektrizität breitete sich aus. Die anderen spürten es auch. Die Ohhs und Ahhs waren verstummt. Stattdessen torkelten alle herum, die Gesichter nach oben gerichtet, die Baumwipfel absuchend.

Dawson schaute wieder zu dem Gebüsch und suchte die roten Augen. Weg.

Er drehte den Kopf. Seine Augen scannten die Gegend, seine Blicke schossen hin und her. Er vernahm ein mechanisches Klicken in seinem Kopf, als wären seine Augen zu einer Maschine geworden. Jedes Blinzeln war wie die Blende einer Kamera, auf und zu. Jede Bewegung rief ein Ticken hervor, das in seinem Schädel widerhallte. Seine Nasenflügel blähten sich auf, sogen Luft ein, die seine Lunge zu versengen schien. Einen metallischen Geschmack im Mund.

Der nächste Lichtblitz zischte vorüber und hinterließ einen Schweif aus Funken.

Dieses Mal hörte Dawson erstaunte Rufe. Und dann Schmerzensschreie.

Plötzlich kamen die glühenden roten Augen aus dem Gebüsch. Sie rasten direkt auf Dawson zu, über den Platz hinweg. Ein vermummter Wolf, gleißend, die weißen Zähne gefletscht, Lichtfunken schossen aus seinen ausgestreckten Armen.

Dawson hob seinen eigenen Arm, zielte mit dem Taser und drückte ab.

Das Wesen taumelte zurück, fiel und stürzte ins Gebüsch. Glühende Sterne stoben aus einem Bett von Kiefernnadeln heraus. Dawson wartete nicht, bis das Wesen wieder auf die Füße sprang. Er drehte sich um und rannte, zumindest seine Beine taten es. Der Rest von ihm fühlte sich an, als würde er getragen, gestoßen, in den Wald gedrängt von einer Kraft, die viel stärker war als seine eigenen Füße.

Alles, was er tun konnte, war, die Arme zu heben und das Gesicht vor den Zweigen zu schützen, die an seinen Kleidern zerrten und seine Haut aufrissen. Er konnte nichts sehen. Das Wummern in seinem Schädel übertönte jedes andere Geräusch. Die Blitze hinter ihm waren heiß und hell. Vor ihm die vollkommene Dunkelheit.

Der Stacheldrahtzaun erwischte ihn hart, und der Stromschlag riss ihn von den Beinen. Er schwankte und spürte die Stiche in seiner Haut. Er fühlte sich wie ein Fisch an der Angel, nur dass die Angel tausend Haken hatte. Der Schmerz umgab seinen ganzen Körper, durchbohrte ihn von allen Seiten.

Als Dawson Hayes heftig auf dem Boden aufschlug, war sein T-Shirt blutdurchtränkt.

2. KAPITEL

Fünf Meilen entfernt

„Überhaupt kein Blut?“ Special Agent Maggie O’Dell versuchte, nicht allzu sehr außer Atem zu klingen. Sie ärgerte sich, dass sie sich so anstrengen musste, um mitzuhalten. Ihre Kondition war gut, sie joggte regelmäßig, aber in den sanft ansteigenden Sanddünen mit dem wogenden hohen Gras fühlte sich das Gehen an wie Wassertreten. Dass ihr Begleiter fast einen Kopf größer war und seine langen Beine an das Gelände der Sandhügel von Nebraska gewöhnt waren, machte die Sache nicht gerade besser.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, verlangsamte State Patrol Investigator Donald Fergussen sein Tempo, damit sie aufschließen konnte. Erst dachte sie, er wäre übertrieben höflich, als er anhielt, doch dann sah sie den Stacheldrahtzaun, der ihnen den Weg versperrte. Fergussen hatte sich die ganze Zeit über wie ein Gentleman verhalten, bis es ihr beinahe auf die Nerven ging. Ärgerlich fand Maggie O’Dell es deswegen, weil sie die letzten zehn Jahre ihres Berufslebens damit zugebracht hatte, ihre männlichen Gegenüber und Kollegen unauffällig dazu zu bringen, sie nicht anders zu behandeln als einen Mann.

„So etwas Merkwürdiges habe ich noch nie gesehen“, antwortete er schließlich.

Maggie hatte schon fast vergessen, dass sie ihn etwas gefragt hatte. So war er schon, seit sie von Scottsbluff losgefahren waren. Er antwortete langsam, bedachte sorgfältig jede Frage und gab dann eine wohlüberlegte Antwort. „Aber es stimmt, kein Blut am Tatort. Gar keins. War bisher immer so.“

Ende der Erklärung. Das war auch eine seiner Angewohnheiten. Er benutzte nicht nur wenige Worte, sondern schien Worte auch abzuwägen und zu verwenden, als wären sie ein wertvolles Gut.

Er deutete auf den Zaun.

„Seien Sie vorsichtig. Könnte geladen sein“, sagte er. Er zeigte auf einen dünnen, beinahe unsichtbaren Draht, der von Pfosten zu Pfosten lief, ungefähr fünfzehn Zentimeter über dem obersten der vier Stacheldrahtstränge.

„Geladen?“

„Die Rancher verwenden manchmal zusätzlich Elektrozäune.“

„Ich dachte, das Land wäre in Staatsbesitz?“

„Der Nationalforst wird schon seit den 1950ern an Viehzüchter verpachtet. Das kommt beiden Seiten zugute: Die Rancher haben frisches Weideland, und die Erlöse können zur Aufforstung verwendet werden. Außerdem verhindert das Abgrasen die Ausbreitung von Bränden.“ Er sagte das ohne innere Überzeugung, ganz sachlich, und klang dabei, als verläse er eine öffentliche Bekanntmachung. Unterdessen begutachtete er den Draht. Sein Blick verfolgte ihn von Pfosten zu Pfosten, während er einige Schritte an ihm entlangging. Er hielt warnend seine Hand hoch, damit Maggie wartete, bis er ihn überprüft hatte.

„1994 haben wir über fünftausend Morgen dadurch verloren. Blitzschlag“, fuhr er fort, immer noch nach dem Draht sehend. „Es ist erstaunlich, wie schnell sich Feuer in dem Grasland hier draußen verbreitet. Zum Glück sind nur rund zweihundert Morgen Kiefernwald vernichtet worden. Woanders mag das nicht viel sein, aber wir haben hier das größte von Hand aufgeforstete Waldgebiet der Welt. Gut zwanzigtausend der insgesamt rund neunzigtausend Morgen sind mit Kiefernwald bewachsen. Wurde alles der Natur abgetrotzt.“

Maggie schaute über ihre Schulter. In ungefähr einer Meile Entfernung konnte sie eine deutliche Linie erkennen. Dort endeten die mit Gras bewachsenen Sanddünen abrupt, und üppiger, grüner Kiefernwald begann. Sie dachte daran, dass sie stundenlang gefahren war und kaum Bäume gesehen hatte. Wie seltsam, dass es hier überhaupt einen Nationalforst gab.

Donald Fergussen hatte an einem der Pfosten etwas entdeckt.

Er ging in die Hocke, um es genauer betrachten zu können.

„Die meisten Forstbehörden sagen, Feuer kann gut für das Land sein, weil es den Wald verjüngt“, erklärte er, ohne sie anzusehen. „Aber hier muss alles, was zerstört wird, wieder neu angepflanzt werden. Daher gibt es für den Wald sogar eine eigene Baumschule.“

Für einen Mann der wenigen Worte hatte er viel gesagt, aber vielleicht hielt er es für wichtig. Maggie hatte nichts dagegen. Er hatte eine sanfte, beruhigende Art und eine volle, tiefe Stimme, die wahrscheinlich auch „Krieg und Frieden“ so vorlesen konnte, dass man gebannt jedem Wort folgte.

Als sie einander begrüßt hatten, hatte er darauf bestanden, dass sie ihn Donny nannte. Sie hatte beinahe lachen müssen, denn unter Donny stellte sie sich eher einen Jungen vor. Sein massiges, wettergegerbtes Gesicht war das genaue Gegenteil. Sein Lächeln hatte zwar etwas Jungenhaftes, doch die Fältchen an seinen Augen und das grau melierte Haar ließen den erfahrenen Ermittler erkennen. Aber wenn er dann den Hut abnahm – wie er es jetzt tat, damit die Spitze seines Stetsons nicht an den Draht kam – und der Haarwirbel am Anfang seines perfekt gekämmten Seitenscheitels in die Höhe stand, dann sah er wieder aus wie ein kleiner Junge.

„Die Rancher hassen das Feuer.“ Donny hielt inne, um den Pfosten genauer in Augenschein zu nehmen. Er senkte den Kopf und reckte den Hals. Mit den Händen stützte er sich auf den Knien auf, damit er nicht den Draht oder den Pfosten berührte. „Das mit der Verjüngung können sie nicht nachvollziehen. Aus ihrer Sicht ist es Zerstörung und Verschwendung von wertvollem Rohstoff.“

Schließlich erhob er sich wieder, setzte den Hut auf und verkündete: „Alles in Ordnung. Er ist nicht geladen.“ Trotzdem tippte er mit der Fingerspitze an den Draht, als wäre es eine Herdplatte und als wolle er sichergehen, dass sie nicht mehr heiß war.

Zufrieden griff er mit seinen großen Händen in den Stacheldraht und zog zwei Stränge auseinander, damit Maggie hindurchklettern konnte.

„Sie zuerst“, erwiderte sie.

Es dauerte eine kleine Weile, bis aus dem Gentleman, der eine Dame begleitete, ein Polizeibeamter und Kollege wurde. Zunächst dachte sie, er hätte sie nicht verstanden. Doch schließlich verschwand der Protest aus seinem Gesicht. Er nickte und griff nach zwei höheren Strängen, um mit seinen langen Beinen besser hindurchsteigen zu können.

Maggie sah genau zu, wie er seinen massigen Körper hindurchwand, ohne einen einzigen Stachel zu berühren. Dann kopierte sie seine Bewegungen und folgte ihm mit angehaltenem Atem. Als sich ein rasiermesserscharfer Dorn in ihrem Haar verfing, zuckte sie zusammen.

Auf der anderen Seite des Zauns gingen sie weiter durch das kniehohe Präriegras. Die Sonne stand schon unterhalb des Horizonts und tauchte den Himmel in ein wunderbares rosa-violettes Licht, das in das tiefe Blau der Dämmerung überging. Maggie war versucht, stehen zu bleiben und das Schauspiel zu beobachten, aber das Gras schien dichter und höher zu werden, und der sandige Untergrund wurde immer unebener. Sie hatte jetzt schon Mühe, mit Donny Schritt zu halten.

Er war ein Riese von einem Mann, mit einem starken Nacken und einer breiten Brust. Es kam Maggie vor, als trüge er eine kugelsichere Weste unter seinem Hemd, doch da war keine Weste, nur feste Muskeln. Er musste fast zwei Meter groß sein, nach ihrer Schätzung vielleicht sogar mehr, da er leicht gebeugt ging, die Schultern etwas nach vorne gestreckt, als stemme er sich gegen den Wind. Vielleicht fühlte er sich auch unwohl mit seiner Größe.

Für einen seiner Schritte musste Maggie zwei machen. Sie schwitzte, obwohl es kühl geworden war. Die untergehende Sonne nahm rasch die Hitze des Tages mit sich, und Maggie wünschte sich, sie hätte ihre Jacke nicht in Donnys Pick-up gelassen. Das allmähliche Einsetzen der Dämmerung schien Donnys schnelle Gangart noch zu erhöhen.

Wenigstens hatte sie bequeme, flache Schuhe angezogen. Immerhin war sie schon einmal in Nebraska gewesen, und sie hatte angenommen, sie wäre bestens vorbereitet, aber ihre anderen Besuche hatten sie ganz in den Osten in die Nähe von Omaha geführt, die einzige Großstadt des Bundesstaats, die sich über ein grünes Flusstal erstreckte. Hier, gut hundert Meilen vor der Grenze nach Colorado, sah die Landschaft völlig anders aus, als sie es erwartet hatte. Während der Fahrt von Scottsbluff hierher hatte es nur wenige Bäume gegeben und sogar noch weniger Ortschaften. Und die waren in kurzer Zeit wieder vorüber gewesen; kaum hatte man gebremst, konnte man schon wieder Gas geben.

Donny hatte ihr erzählt, dass es hier mehr Rinder gab als

Einwohner, und sie hatte es zunächst für einen Witz gehalten.

„Sie waren noch nie hier draußen“, hatte er mehr festgestellt als gefragt. Er hatte ihre Befremdung bemerkt, doch sein Tonfall war höflich wie immer, nicht etwa verteidigend.

„Ich war mehrmals in Omaha“, hatte sie erwidert. An seinem Lächeln hatte sie abgelesen, dass es ein bisschen so war, als hätte sie auf die Frage, ob sie Little Bighorn, den Schauplatz der berühmten Indianerschlacht, gesehen habe, geantwortet, sie sei einmal im Smithsonian-Museum gewesen.

„Es dauert neun Stunden, um in Nebraska von Grenze zu Grenze zu fahren“, erklärte er ihr. „Hier wohnen 1,8 Millionen Menschen. Rund eine Million davon lebt in einem Umkreis von fünfzig Meilen um Omaha.“

Wieder erinnerte Donnys Stimme sie an einen Cowboydichter, und sie hatte nichts gegen den Erdkundeunterricht.

„Lassen Sie es mich in ein Verhältnis setzen, mit dem Sie etwas anfangen können – ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen.“ Er hielt inne und warf ihr einen Blick zu, um ihr die Gelegenheit zu geben, Protest einzulegen. „Cherry County, ein Stück nordwestlich von uns, ist das größte County in Nebraska. Es hat ungefähr die Größe von Connecticut. Dort leben sechstausend Menschen auf fünftausendsiebenhundert Quadratmeilen – also etwa ein Einwohner pro 2,5 Quadratmeilen.“

„Und Rinder?“, hatte sie lächelnd wissen wollen.

„Davon gibt es etwa zehn Mal so viele wie Einwohner.“

Nun war sie von den sanften Sandhügeln noch mehr fasziniert und fragte sich auf einmal, was sie tun sollte, wenn sie auf Toilette musste. Aber was noch schlimmer war: Donnys Nachhilfe hatte Maggies Theorie bestätigt, dass dieser Einsatz – so wie mehrere zuvor – wieder eine Bestrafung vonseiten ihres Chefs war.

Vor ungefähr einem Monat hatte Assistant Director Raymond Kunze sie hinunter nach Süd-Florida geschickt, mitten in einen Hurrikan der Kategorie 5. In dem knappen Jahr, in dem er den Posten offiziell innehatte, hatte Kunze sie immer wieder zu aussichtslosen Einsätzen beordert. Gut, vielleicht beruhigte er sich langsam und ersetzte Gefahr nun durch Langeweile. Es war schon so lange her, dass sie einen richtigen Tatort besucht hatte, dass sie schon gar nicht mehr sicher war, ob sie wüsste, was sie zu tun hatte. Würde sie sich überhaupt noch an die übliche Vorgehensweise erinnern? Auch dieser Tatort hier zählte nicht wirklich, außer vielleicht für die Kühe, wenn sie hier schon in der Überzahl waren.

Während sie weiter durch das Gras stapften, versuchte Maggie, sich auf etwas zu konzentrieren, das jenseits der frischen Temperatur und der drohenden Dunkelheit lag. Sie dachte wieder einmal an die Tatsache, dass es kein Blut gab, und fragte: „Wie ist es mit dem Regen?“

Fast automatisch schaute sie zurück, wo sich am Himmel Gewitterwolken ballten. Die grauen Wolkenungetüme wurden von dem violetten Licht beleuchtet und sahen dadurch noch unheilvoller aus. Sie drohten das restliche Licht zu verschlucken. Schon ihre bloße Erwähnung brachte Donny dazu, sein Tempo noch zu beschleunigen, und wenn er noch ein bisschen schneller gegangen wäre, hätte Maggie neben ihm herjoggen müssen.

„Es hat seit voriger Woche nicht geregnet“, antwortete er.

„Deshalb dachte ich auch, es wäre wichtig für Sie, dass Sie es sich ansehen können, bevor das Gewitter kommt.“

Sie hatten Donnys Pick-up an einem Feldweg abseits der Hauptverkehrsstraße geparkt, neben einem verlassenen, staubigen schwarzen Transporter. Donny hatte gesagt, dass er den Rancher gebeten habe, sie am Tatort zu treffen, aber es gab hier kein Anzeichen von ihm oder sonst einem Lebewesen. Nicht einmal von Rindern, wie sie lächelnd feststellte.

Das Auf und Ab der Sanddünen verhinderte den Blick auf die Straße. Maggie erklomm eine hinter Donny und benutzte dieses Mal ihre Hände, um die Balance zu halten. Donny hielt jäh an und wartete oben auf sie. Noch bevor sie ihn erreichte, bemerkte sie den Geruch.

Donny zeigte hinab in ein Sandloch, das etwa die Größe eines Swimmingpools hatte. Er hatte ihr zuvor schon erklärt, dass Wind und Regen an bestimmten Stellen das Gras weggeschwemmt hätten. Die Löcher wurden immer größer, wenn die Viehzüchter nichts dagegen unternahmen.

Der Gestank des Todes schlug ihr entgegen. Mitten im Sand lag die verstümmelte Kuh, ihre vier Beine ragten steif in den Himmel. Trotzdem erinnerte dieses Wesen Maggie an nichts, was sie jemals gesehen hatte.

3. KAPITEL

Auf den ersten Blick kam Maggie die Szenerie vor wie eine archäologische Grabungsstätte, an der ein prähistorisches Tier freigelegt wurde.

Das Gesicht des Tieres war weggeschnitten worden – die Kieferknochen und Zähne ohne Fleisch ließen es permanent makaber grinsen. Das linke Ohr fehlte, das rechte war hingegen intakt und schien unberührt. Die Augäpfel waren entfernt worden, und leere Augenhöhlen starrten in den Himmel. Obwohl der Kadaver halb auf der Seite, halb auf dem Rücken lag, die steifen Beine ausgestreckt, war der Hals verdreht, und die Nase zeigte genau nach oben. Maggie schien es beinahe, als hätte das Tier versucht, einen letzten Blick auf denjenigen zu werfen, der ihm dies angetan hatte.

Sie versuchte, das Geschlecht zu bestimmen. Alles, was das Tier als männlich oder weiblich hätte identifizieren können, war abgeschnitten worden und fehlte. Trotzdem war, wie Donny gesagt hatte, kein Blut zu sehen. Nicht ein Fleck, kein Spritzer. Was da geschehen war, war präzise, überlegt und brutal ausgeführt worden. Dennoch musste sie nachhaken.

„Entschuldigen Sie die Frage“, meinte sie, als sie sich langsam und vorsichtig näherte, so wie sie es bei jedem anderen Tatort auch getan hätte. „Aber warum sind Sie sich so sicher, dass das keine Raubtiere waren?“

„Weil Rotluchse und Kojoten kein Skalpell benutzen“, erklang eine Stimme von oben. „Zumindest nicht dass ich wüsste.“

Ein Mann kam den Hügel herunter. Er rutschte mit seinen Cowboystiefeln ein Stück, bis er Halt an einem Grasbüschel fand, und rutschte dann weiter. Sogar in der Dämmerung bewegte er sich in dem Gelände, ohne hinzusehen oder aufzupassen. Er trug Jeans, ein Basecap und eine leichte Jacke. Inzwischen wünschte Maggie sich, sie hätte auch eine dabei.

„Das ist Nolan Comstock“, sagte Donny. „Sein Vieh beweidet dieses Land hier seit … Wie lange schon, Nolan?“

„Fast vierzig Jahre sind es jetzt wohl. Und ich habe noch nie ein Tier verloren, das so aussah wie das hier. Also hoffe ich, dass Sie nicht meine und Ihre Zeit damit verschwenden, mir einreden zu wollen, dass das ein beschissener Kojote war.“

„Nolan!“ Donnys sonst so ruhige, sanfte Stimme wies den Rancher scharf zurecht. Maggie sah, wie sein Nacken errötete. Dann änderte er seinen Tonfall, wie um sich selbst zu korrigieren, und sagte: „Das ist Maggie O’Dell vom FBI.“

Nolan zog eine buschige Braue hoch und tippte sich an die Kappe. „Wollte nicht unhöflich sein, Ma’am.“

„Es wäre mir lieber, wenn Sie diesen Begriff nicht verwenden würden.“

„Was? Wird beim FBI heutzutage nicht mehr geflucht?“

„Ich meinte ‚Ma’am‘.“

Die Männer tauschten einen Blick aus, aber offenbar hatten sie ihren Versuch, einen Witz zu machen, nicht verstanden. Sie wandte sich wieder um und ging vor dem Kadaver in die Knie, wobei sie sich vergewisserte, dass der Wind von hinten kam. Sie hatte diese ganze Reise nicht unternommen, um einem Schwanzvergleich zwischen einem alten Rancher, dem eine FBI-Agentin völlig egal war, und einem Polizisten, der darauf bestand, dass er sie respektierte, beizuwohnen.

„Gehen wir die Einzelheiten durch“, schlug sie vor, ohne einen der beiden anzusehen. Das Licht nahm schnell ab, und mit ihrer Geduld würde es bald ähnlich sein.

„Es ist genau wie bei all den anderen“, antwortete Donny. „Augen, Zunge, Genitalien, linkes Ohr und Teile des Gesichts.“

„Linkes Ohr“, unterbrach sie ihn. „Hat das eine Bedeutung?“

„Da werden die Marken befestigt“, antwortete Nolan.

Als Maggie nichts dazu sagte, fuhr Donny fort: „Alle Schnitte wurden präzise ausgeführt. Kein Blut an den Rändern. Es ist, als wäre sämtliches Blut entfernt worden. Aber es gibt keine Abdrücke von Füßen oder Reifen.“

„Und auch keine Tierspuren“, ergänzte Nolan. „Nicht einmal von den toten Rindern selbst. Das Kalb der Kuh hier hat nach ihr geschrien. Sie wäre unmöglich von ihm weggelaufen. Der Rest der Herde steht etwa eine halbe Meile westlich von hier. Ich schätze, dass sie seit zwei Tagen hier liegt, doch sehen Sie sich das an: Die Geier haben sie nicht angerührt.“

Und auch weder Fliegen noch Maden, dachte Maggie. Ohne Blut dauerte es länger, bis ein Kadaver die üblichen Insekten anzog.

Sie stand auf, ging um das Tier herum und hockte sich wieder hin. Einige Minuten lang ließ sie ihre Blicke über den Kadaver schweifen und untersuchte ihn. Die völlige Stille fiel ihr auf. Die beiden Männer schwiegen beinahe ehrfürchtig. Sie sah auf. Die beiden standen ein paar Meter entfernt und schauten erwartungsvoll zu.

„Jetzt müsste gleich die Titelmelodie von Akte X kommen, stimmt’s?“, fragte sie.

Keiner der Männer verzog eine Miene.

Sekunden verstrichen, bis Nolan sich an Donny wandte und sagte: „‚Akte X‘? Was ist das denn?“

„Das war mal eine Fernsehserie.“

„Eine Fernsehserie?“

„Sie hat einen Witz gemacht“, erklärte Donny. Wenigstens hatte er ihn als solchen erkannt, auch wenn er immer noch nicht lächelte.

Sie unterhielten sich, als wäre Maggie nicht anwesend.

„Einen schlechten Witz“, sagte sie zu ihrer Entschuldigung.

„Halten Sie das hier denn für einen Witz?“

Es war zu spät. Sie hatte wohl einen wunden Punkt berührt.

Nolan entblößte Zähne, die vom Kaffee gelb verfärbt waren, aber es war ein sarkastisches Lächeln. Dazu kniff er die dunklen Augen zusammen.

„Das ist kein Dummejungenstreich“, presste er hervor. „Und es ist nicht das erste Tier. Nach meiner Zählung ist es das siebte in drei Wochen, und das nur hier im Forstgebiet. Das, was wir aus Colorado hören, nicht mitgerechnet – und auch nicht die Kadaver, die nicht gemeldet wurden. Ich kenne zumindest einen Rancher, der letzten Monat einen Black-Angus-Ochsen gefunden hat, es aber nicht gemeldet hat, weil die Versicherung bei Viehverstümmelung nicht zahlt.“

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, lenkte Maggie ein. „Ich wollte nur sagen, dass es merkwürdig ist. Mehr als merkwürdig.“

„Dieser Stotter, dieser Kerl aus dem Radio“, richtete Nolan das Wort an Donny, „der meint wohl auch, dass es UFOs waren. Man kann diese Typen einfach nicht erwischen – aber ich weiß ja nicht mal, ob es wirklich Leute sind, nach dem, was ihr Experten da so erzählt. Ich will damit nur sagen, dass ich langsam keine Lust mehr habe auf billige Erklärungen und faule Ausreden.“

„Was glauben Sie denn, wer es war?“, fragte Maggie und stand auf, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte.

Der alte Viehzüchter schien überrascht, dass sie ihn nach seiner Meinung fragte.

„Ich persönlich?“

Sie nickte und wartete.

Nolan schaute Donny an, nicht um sich die Erlaubnis zu holen, sondern beinahe, als könne das, was er nun vorbringen würde, den Polizisten beleidigen.

„Ich glaube, es ist unser Steuergeld, das hier arbeitet.“

„Du denkst, es ist die Regierung“, entgegnete Donny, „wegen der Lichter und der Hubschrauber.“

„Hubschrauber?“, fragte Maggie.

„Die Leute hier draußen sehen in der Nacht oft seltsame Lichter am Himmel. Manche erzählen, sie hätten Hubschrauber gesehen“, erklärte Donny. „Es gibt in Cherry County einige Rancher, die ihre Herden mit Hubschraubern hüten.“

„Das sind keine Hubschrauber von Ranchern.“ Nolan schüttelte den Kopf. „Die sind laut. Ich rede von Helikoptern, wie man sie für Geheimoperationen verwendet.“

„Und andere haben behauptet, sie hätten Raumschiffe gesehen“, fügte Donny hinzu, aber in einem Tonfall, der klarmachte, dass er das eine wie das andere für Unsinn hielt.

„Die von Kampfflugzeugen verfolgt wurden“, fuhr Nolan fort und ignorierte Donny, der die Augen verdrehte und die Arme vor seiner breiten Brust verschränkte.

„Das hat es nur einmal gegeben“, erwiderte er. „Wir liegen hier in der Mitte zwischen NORSTAD und STRATCOM“, erläuterte er Maggie. Dann sagte er zu Nolan: „Keiner der beiden Militärstützpunkte hat Flüge hier in der Gegend bestätigt.“

„Natürlich nicht.“

Maggie trat zurück und hörte den beiden zu. Ganz offensichtlich fehlten in ihrem eigenen Akte-X-Fall eine Menge Informationen. Nolan sah mit einem scharfen Blick zu ihr herüber, gerade als sie sich gegen die Kälte die Schultern rieb. Wie er sie anstarrte, ließ sie zusätzlich frösteln.

„Vielleicht können Sie es uns ja sagen“, meinte er. „Gibt es da ein geheimes Regierungsprojekt?“

Sie blickte noch einmal auf das hingeschlachtete Tier. Die Wundränder sahen im Zwielicht immer noch frisch aus. Dann schaute sie dem Rancher in die Augen.

„Warum glauben Sie, dass mir die Regierung das sagen würde?“

Genau in dem Moment begann das Funkgerät an Donnys Gürtel zu quäken.

Auch in den Sandhügeln von Nebraska erkannte Maggie die Codes. Da stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht.

4. KAPITEL

Zehn Meilen entfernt auf der anderen Seite des Nationalforsts

Wesley Stotter kämpfte mit der Heckklappe seines 1996er Buick Roadmasters. Das Funkmikrofon stach in seinen Adamsapfel, aber es saß fest am Kragen seines Flanellhemds. Er war sich bewusst, dass er live im Internet auf Sendung war, doch jetzt war er sprachlos. Seine Augen waren starr auf den Himmel gerichtet. Seine Knie wurden ein wenig wacklig.

In der Ferne explodierten Lichter. Sie waren blau und weiß, bewegten sich nach oben, dann nach unten, nach links und rechts wie kein Luftfahrzeug, das Stotter je gesehen hätte. Allerdings hatte er ähnliche Lichter schon einmal gesehen.

„Verdammte Scheiße!“ Er war abgerutscht und schrie es laut heraus, wobei es ihm plötzlich völlig egal war, ob ihm die FCC wieder mal ein Bußgeld wegen unflätiger Ausdrucksweise aufbrummen würde. „Ihr werdet es nicht glauben, meine Freunde!“

Der Kofferraum öffnete sich mit einem Krachen. Metall schabte über Metall. Seine Hände fanden die Reisetasche, und ohne hinzuschauen, durchsuchte er den Inhalt, zog und zerrte hastig, bis er die Kamera endlich gefunden hatte.

„Am Nachthimmel sieht man noch mehr Lichter“, begann Stotter seinen Bericht, während er versuchte, seine zitternden Finger unter Kontrolle zu bringen. Irgendwann in den letzten Jahren hatte er Arthritis bekommen, und sie ließ jede Handlung zu einer kleinen Herausforderung werden. Er wischte seine feuchten Handflächen nacheinander an seiner Kakihose ab und fummelte dann weiter an den Knöpfen seiner Kamera herum.

„Leute, ich bin heute Abend in den Sandhügeln von Nebraska, nur ein kleines Stück von Halsey entfernt. Heilige Scheiße! Da kommen sie wieder!“

Die Lichter machten eine scharfe Kurve und hielten direkt auf Stotter zu. Es waren drei, wie helle Sterne, die in einer engen Formation flogen, jedes für sich, aber doch zusammen als eine Einheit.

Er riss die Kamera hoch und stellte erleichtert fest, dass die Lichter im Sucher zu erkennen waren und die Nachtsicht funktionierte. Das Aufnahmelicht leuchtete hellrot. Aber Stotters Hände zitterten immer noch. Er musste sich sehr konzentrieren, um sie zur Ruhe zu bringen.

„Die Stottercam-Abonnenten unter euch sollten jetzt ein etwas wackliges Bild von diesem unglaublichen Anblick sehen können. Für alle anderen werde ich versuchen, es zu beschreiben: Sie sind jetzt fast über mir. Leute, sie sehen so aus wie die Venus und zwei Begleiter, was die Größe und Helligkeit angeht, nur dass sie sich über den Himmel bewegen – jetzt recht langsam. Sie sehen aus, als gehörten sie zusammen, aber gerade eben noch sind sie auf und ab geschossen, jedes für sich. Unregelmäßig. Fast diametral entgegengesetzt.“

Wesley Stotter war hinter Lichtern am Nachthimmel her, seit er alt genug war, um Auto zu fahren. Als er ein Junge war, hatte ihm sein Vater Geschichten aus seiner Militärzeit erzählt. John Stotter war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Raketenbasis von White Sands stationiert gewesen, wo im Rahmen eines geheimen Programms Teststarts von deutschen V2-Raketen durchgeführt wurden. In der Nähe befand sich das Atombomben-Versuchsgelände von Alamgido, und auch der Militärflugplatz von Roswell, New Mexico, war nicht weit entfernt. Die Geschichte, die Wesley Stotter am liebsten mochte, war die, die sich während einer nächtlichen Patrouille im Sommer 1947 zugetragen hatte. Da hatte sein Vater beobachtet, wie ein außerirdisches Raumschiff vom Nachthimmel gestürzt und in die Wüste gekracht war. John Stotter war einer der Ersten gewesen, die die Absturzstelle erreicht hatten. Wenn Wesley Stotter an die Beschreibung dessen dachte, was sein Vater da erblickt hatte, bekam er auch heute noch eine Gänsehaut.

Nächstes Jahr wurde er sechzig, und er hatte viele merkwürdige Dinge gesehen, aber nie etwas, das dem Erlebnis seines Vaters auch nur nahekam. Vielleicht heute Nacht.

Die Lichter verharrten, bevor sie Stotter erreichten, und schwebten über den Sanddünen. Stotter wusste, dass sich dort irgendwo der Dismal River durch das Weideland schlängelte. Er trennte die Futterwiesen vom Wald, aber sämtliches Land gehörte zum Nationalforst. Stotter überlegte, ob er näher heranfahren könnte, doch dort gab es keine Straßen mehr. Nur Sand und holprige Viehwege. Er konnte es nicht riskieren, dass er mit dem Stottermobil im Sand stecken blieb oder wieder den Auspuff verlor wie vor zwei Wochen.

Er liebte sein Auto. Das hölzerne Armaturenbrett hatte nur eine kleine Abschürfung, das war alles, und davon abgesehen war die Innenausstattung immer noch in tadellosem Zustand. Jedes Jahr sagte er sich von Neuem, dass er sich vielleicht besser einen Geländewagen zulegen sollte, allerdings war das Geld knapp. Die Radioshow, die auf mehreren Sendern ausgestrahlt wurde, brachte nicht viel ein. Stotter trauerte den Zeiten nach, als der Komet Hale-Bopp oder Sekten wie Heaven’s Gate im Zentrum des öffentlichen Interesses standen. Wie konnte man wiederholen oder gar übertreffen, was damals geschehen war? Dass sich junge Anhänger nagelneue Nike-Turnschuhe anzogen, ihre Köpfe in Plastiktüten steckten und sich dann hinlegten und auf das Raumschiff warteten, das hinter dem Kometen kommen und sie auf eine höhere Entwicklungsstufe überführen sollte – so etwas Abgefahrenes vermochte man sich gar nicht auszudenken.

Heutzutage konnten sich UFO-Junkies ihren Stoff jederzeit im Internet holen. Sie waren nicht mehr so sehr auf Leute wie Wesley Stotter angewiesen. Aber so wie die Wirtschaft in Konjunkturzyklen verlief, war es auch mit dem Interesse an den Außerirdischen. Je unsicherer und chaotischer die Welt wurde, desto mehr suchten die Menschen nach einer Projektionsfläche für ihre Furcht. Stotters Investition in eine Webcam verhalf der Stottermania zu neuem Leben.

Stotter fuhr mit seinem Bericht für die Radiohörer fort, wobei er die kleinen Leckerbissen aus Geschichte und Mythologie einfließen ließ, die für ihn so typisch waren und die seine Anhänger nur so aufsogen.

„Dies ist heiliger Boden“, sagte er leise und ehrfurchtsvoll und auch ein wenig theatralisch. „Die Cheyenne versteckten sich in den Dünen und überstanden hier den extrem harten Winter 1878/79, als sie von Soldaten von Fort Robinson gejagt wurden. Die wollten sie ins Gefängnis stecken, und als das nicht funktionierte, schlachteten sie über sechzig Männer, Frauen und Kinder ab, genau hier in dieser Gegend. Man sagt, der Dismal River hätte sich von ihrem Blut rot verfärbt. Man kann hier also mit Fug und Recht von heiligem Boden sprechen. Ist es nur ein Zufall, dass eine fremde Zivilisation am Himmel über genau jenem Tal erscheint, aus dem in der Dämmerung die Energie der Geister der Cheyenne aufsteigt? Nein. Das glaube ich nicht.“

Stotters Hände waren nun ruhig, und die Kamera verfolgte die Lichter. Wie lange waren sie schon dort? Sie blieben jetzt schon so lange still an einer Stelle, dass jeder, der sie nun zum ersten Mal sehen würde, sie einfach für Sterne halten musste.

Dann schossen sie auf einmal los, genauso plötzlich, wie sie am Himmel erschienen waren. Es geschah so schnell, dass Stotter nicht rasch genug mit der Kamera hinterherkam. Sie flitzten über ihn hinweg, schossen nach oben und verschwanden wie Meteore, nur dass sie keinen Schweif hinter sich herzogen. Ohne ein Geräusch waren sie verschwunden.

Stotter stand wie festgewachsen an der Seite seines Autos, an die er sich gelehnt hatte. Seinen Kopf in den Nacken gelegt, sein Gesicht dem Himmel zugewandt, den Mund offen. Erst jetzt bemerkte er, dass sein Flanellhemd an seinem schweißüberströmten Rücken klebte. Sein Bart juckte, und auf seinem kahl werdenden Kopf kribbelte es. Seine Finger zitterten wieder. In seinen Ohren rauschte es, und es fühlte sich an, als wäre ein Stromstoß durch ihn hindurchgefahren. Er warf einen Blick zurück und erwartete, die Blitze ganz in der Nähe zu sehen. Aber die Gewitterwolken waren immer noch am Horizont. Im Zwielicht sahen sie mehr nach Bergen als nach Wolken aus.

Er meldete sich ab und schaltete sein Mikrofon aus. In diesem Moment hörte er eine Stimme in seinem Auto.

„… alle verfügbaren Rettungskräfte …“

Es war das Gerät, mit dem er den Polizeifunk abhörte. Hatten sie die Lichter auch gesehen?

„… berichten von Verletzungen. Südlich des Forsts am Highway 97 …“

Wesley Stotter fuhr herum und schaute in den Himmel über dem Wald. Es war in der entgegengesetzten Richtung der Lichter, aber es musste irgendwie miteinander zusammenhängen. Das konnte kein Zufall sein!

Er sah auf die Uhr. Stopfte seine Kameraausrüstung zurück in die Tasche. Schlug den Kofferraumdeckel zu, wofür er drei Versuche brauchte. Er war nah genug dran, dass er als einer der Ersten dort eintreffen konnte. Diesmal würde er es sich ansehen können, bevor man es vertuschte.

5. KAPITEL

Maggie kannte den Geruch, aber es war lange her. Verbranntes Fleisch, versengtes Haar. So hatte auch ihr Vater gerochen, als er im Sarg lag. Er war Feuerwehrmann gewesen und im Einsatz ums Leben gekommen. Maggie würde diesen Geruch niemals vergessen, den auch die Plastikfolie, die um seine Arme und Beine gewickelt worden war, nicht hatte unterdrücken können.

Der Geruch war beunruhigend, doch es war das Stöhnen – halblaute Schreie von Verwundeten, die in der Dunkelheit erklangen –, das Maggie am meisten zusetzte. Sie war eigentlich keine Ersthelferin. Obwohl sie etwas von Wiederbelebungsmaßnahmen verstand, brauchten sie die meisten der Opfer, mit denen sie es zu tun hatte, nicht mehr. Normalerweise waren alle tot, wenn Maggie an einem Tatort ankam.

Die Lichtkegel starker Taschenlampen erfassten zusammengedrängte Gestalten, die auf dem Boden kauerten, Schutz suchend. Trockene Blätter knirschten. Kiefernnadeln wurden aufgewirbelt und stoben davon wie aufgeschreckte Tiere.

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