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Als Sabrina Galloway von den hochtoxischen Schlacken erfährt, die das Unternehmen EcoEnergy in den Fluss abgeleitet hat, glaubt sie noch an ein tragisches Versehen. Dabei ahnt sie nicht, welchem weltweit agierenden Wirtschaftskomplott sie auf die Schliche gekommen ist, das für Geld das Leben von hunderttausenden Menschen aufs Spiel setzt. Bis eine Kollegin tot in einem Klärwassertank aufgefunden wird. Ein Unfall? Und war es Zufall, dass sie Sabrinas Laborkittel trug, als sie starb?

Hilfe suchend wendet Sabrina sich an ihren Bruder Eric - einen Lebemann mit viel Geschmack und wenig Geld. Doch darf sie ihm wirklich vertrauen, jetzt, wo EcoEnergy eine hohe Belohnung auf Hinweise über ihren Verbleib ausgesetzt hat?

Ein packender Ökothriller mit neuer Serienheldin von der Autorin von "Das Böse" und "Das Grauen"!


  • Erscheinungstag 01.10.2007
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781881
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Donnerstag, 8. Juni

EcoEnergy Industriepark

Tallahassee, Florida

Dr. Dwight Lansik vermied es, nach unten zu sehen. Der Gestank, der ihm durch die Stahlroste unter seinen Füßen entgegenschlug, widerte ihn an. Es roch wie eine Mischung aus gebratener Leber, Abwässern und verdorbenem Fleisch. Egal wie oft er duschte und seine Haut schrubbte, bis sie rot und wund war – er würde es immer noch riechen können. Daher machte er normalerweise einen großen Bogen um die Stahlstege, die über die silbergrauen Tanks und das Gewirr von Rohren dazwischen führten. Vor allem hielt er sich von dem Tank unter ihm fern, dessen riesige Klappe weit offen stand wie ein grinsendes Maul, während ein Laster gerade eine der letzten Lieferungen des Tages dort hineinkippte. Aber genau hier hatte Ernie Walker sich unbedingt mit ihm treffen wollen.

So war Ernie nun mal, der seine Anliegen jedes Mal drastisch untermauern wollte. Letzte Woche erst hatte der Mann darauf bestanden, dass Dwight sich direkt am Verdunstungsrohr mit ihm traf, damit Dwight die extreme Hitze selbst erleben konnte. „Du hättest mir doch einfach sagen können, dass das verdammte Ding viel zu heiß ist, Ernie“, hatte er seinen Betriebsleiter gerügt. Der hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint: „Ist doch besser, wenn du es selbst siehst.“

Auch wenn Lansik es nur höchst ungern zugab, hatte Ernie doch recht. Hätte er ihn nicht zum Senkzylinder geholt, hätte Dwight das eigentliche Problem niemals verstanden, und das war immerhin erheblich ernster als ein überhitztes Verdunstungsrohr. Wie sollte er auch? Seine Arbeit fesselte ihn ans Labor, wo er schließlich auch hingehörte und wo er auch viel lieber war. Dort machte er Analysen und Berechnungen über Siedezeiten und Verdunstungstemperaturen. Er hatte nun mal mit Rezepten und Papierkram zu tun.

Seine Frau Adele hatte ihn deswegen immer gern aufgezogen, und die Erinnerung an sie versetzte ihm einen Stich. Sie war jetzt über ein Jahr weg, aber er vermisste sie nach wie vor schrecklich. Ja, sie hatte ihn gern geneckt – oder angespornt? –, er könne einfach alles, das aus Kohlenstoff bestand (sich selbst eingeschlossen), in seinen Einzelteilen kalkulieren, wenn er es nur anschaute. Er musste zugeben, dass er das längst getan hatte. Seine sehnigen fünfundsiebzig Kilo bestanden aus genau fünfzehneinhalb Kilo Öl, drei Kilo Gas und ebenso viel Mineralien sowie knapp vierundfünfzig Kilo sterilisiertem Wasser. Aber solche Dinge musste er nun einmal wissen. Dagegen konnte niemand von ihm erwarten, jederzeit auf dem Laufenden zu sein, ob jedes einzelne Druckausgleichsventil voll funktionsfähig und kein Destillationsrohr verstopft war. Das war Ernies Job.

Andererseits gehörte es nicht zu Ernies Aufgaben, sich mit dem Computerprogramm herumzuschlagen, das die Abläufe regelte und kontrollierte – Fließrichtung und Temperatur, Phasen, die Länge und Geschwindigkeit, mit der der Rohstoff durch die Rohre floss, was abgesenkt und abgespalten und abgelassen wurde. Nein, das gehörte nicht in Ernies Arbeitsbereich. Das war einzig und allein Dwights Aufgabe. Als Programmierer des gesamten Systems war er der Einzige, der es modifizieren und verändern konnte. Aber diese gierigen Bastarde fanden irgendwie einen Weg, es zu umgehen, ihn zu übergehen. Und nun hoffte Dwight, dass Ernie nicht noch ein weiteres verräterisches Anzeichen dafür ausgemacht hatte, bevor Dwight auch nur die Chance hatte, etwas zu unternehmen.

Plötzlich griff Dwight Halt suchend nach dem Geländer. Hatte das Stahlgewirr unter ihm etwa zu vibrieren begonnen?

Er fuhr herum und schaute zu der Leiter am Ende des Laufstegs. Konnte er Ernie überhaupt hören, wenn dieser die wackligen Metallsprossen erklomm? Der Hörschutz dämpfte alle mechanischen Geräusche, das Pfeifen und Klappern der Rohre, die sich von Behälter zu Behälter wanden, das Geräusch der Hydraulik und das Summen der Motoren und Pumpen – und sogar das Blubbern der stinkenden Brühe unter ihm. Trotz des leichten Schaukelns konnte er am Ende des Stegs niemanden sehen.

Er wartete darauf, dass Ernies Hand über dem Ende der Leiter erschien, die nach oben führte. Unter ihm rumpelte noch ein Tanklaster heran und sandte mit quietschenden Bremsen eine Dieselwolke nach oben. Erneut vibrierte der Metallsteg. Aber auf dem Handlauf der Leiter waren keine Finger zu sehen, kein Anzeichen, dass jemand nach oben kam. Vielleicht hatte der Laster die Vibration ausgelöst. Oder Dwight hatte es sich eingebildet.

Er rückte seine Schutzbrille zurecht und sah auf seine Armbanduhr. Die Schicht war zu Ende. Aber wo zum Teufel war Ernie? Dwight hatte gehofft, ein bisschen früher loszukommen, aber nun würde er in den dicksten Verkehr geraten. Und die Männer im „Marriott Hotel“ am Flughafen würden auf ihn warten müssen. War das so schlimm? Doch eigentlich nicht. Ohne ihn konnten sie schließlich sowieso nicht anfangen. Sie brauchten seine Informationen. Nach mehreren kurzen Telefonaten war ihm klar gewesen, dass sie jedes Detail wissen wollten, das er ihnen sagen konnte. Himmel, sie sollten froh sein, dass er sich darauf eingelassen hatte.

Es war seine Großmutter gewesen, die ihn auf den Namen des großen US-Generals Dwight Eisenhower hatte taufen lassen, aber Dwight Lansik hatte noch nicht ein einziges Mal in seinem Leben wie ein wirklicher General gehandelt. Stattdessen war er immer der bescheidene, folgsame Soldat oder Diener gewesen, der eine exzellente, heldenhafte Arbeit vollbrachte und den Ruhm dafür anderen überließ. Es war höchste Zeit, dass er sich einmal selbst kümmerte. Was machte es also schon, wenn er ein bisschen zu spät in dem Hotel aufkreuzte? Es war völlig egal. Diese Leute waren auf jede Kleinigkeit scharf, die er ihnen liefern konnte. Wie die Aasgeier würden sie sich auf alles stürzen und es zerfleischen, wofür er so hart gearbeitet hatte. Sie konnten ruhig ein bisschen warten.

Er zwang sich zu einem Blick nach unten. In dem Zehntausend-Liter-Tank brodelte und gurgelte die suppige Pampe, die sie Rohstoff nannten, und wartete darauf, nach unten und zwischen die riesigen rasiermesserscharfen Klingen gesogen zu werden, die alles auf Erbsengröße zerkleinerten und zu einer breiigen Masse verrührten. Ganz natürlich und ohne jede technische Unterstützung stiegen faulige Gase auf. Nein, diese stinkende Brühe war nicht menschengemacht, sondern bestand aus den Abfällen der Schlachthäuser: schmierigem Gedärm, rostrotem Blut und hellorangefarbenen Lungenstücken, die zwischen verwesenden Hühnerköpfen, deren Augen zu ihm heraufstarrten, auftauchten und wieder verschwanden. Hatten Hühner eigentlich Augenlider?

Lieber Himmel! Dieser Gestank. Trotz seiner Schutzbrille brannten ihm die Augen. Sieh bloß nicht nach unten, sagte er sich und kämpfte gegen den Brechreiz an.

Wieder sah er auf seine Uhr und drehte sie an seinem schmalen Handgelenk hin und her. Die Rolex war mehr wert als sein Auto und war ein übertriebenes Geschenk des Vorstandsvorsitzenden zur Einweihung des Betriebes gewesen. Er trug sie nur, damit seine Mitarbeiter nicht vergaßen, wie wichtig er für das Unternehmen war, auch wenn er so was insgeheim als bloße Geldverschwendung ansah.

Wo zum Teufel steckte Ernie Walker? Wie kam er überhaupt dazu, ihn hier im gleißenden Sonnenlicht und in diesen widerwärtigen Gerüchen warten zu lassen?

Dwight lehnte sich gegen das Eisengeländer und hoffte, das Vibrieren des Steges würde endlich aufhören. Allmählich wurde es unangenehm. Sein Unterhemd klebte wie eine zweite Haut an seinem Rücken. Er schob die sorgfältig aufgerollten Ärmel seines blütenweißen Anzughemdes noch ein Stück weiter nach oben, öffnete den Kragen und lockerte mit zwei schnellen Handgriffen seine Krawatte. Inzwischen vermischten sich die gedämpften Geräusche in seinem Kopf zu einem betäubenden Hämmern. Er nahm den gelben Sicherheitshelm ab und wischte sich die Stirn ab. Er war ein wenig wackelig auf den Beinen, und ihm wurde schwindelig, sodass er den Mann nicht bemerkte, der sich ihm von hinten näherte.

Der erste Schlag warf ihn gegen das Geländer und nahm ihm den Atem. Er krümmte sich vor Schmerz, den Bauch gegen das Metall gedrückt. Aber bevor er auch nur Luft holen konnte, spürte er, wie seine Beine langsam von unten hochgedrückt wurden.

„Verdammt!“, brüllte er und griff nach dem Geländer.

Er bekam es zu fassen und krallte sich fest, während sein Körper schon über dem Abgrund zu schweben schien. Seine Füße stießen gegen den Beton, aber es gab nichts, was ihnen Halt geboten hätte: kein Spalt, kein Absatz. Verzweifelt suchte Dwight mit seinen Gummisohlen die Wand ab. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, und er fühlte, wie das Metall von seinem eigenen Schweiß rutschig wurde.

Er versuchte aufzusehen, versuchte zu rufen, aber seine Stimme war leise und klang wie weit weg, gedämpft durch seinen Ohrenschutz, und sie verlor sich im Klang der Vibrationen und dem Kreischen und Hämmern der Anlage. Aber er flehte weiter zu dem Schatten über ihm, eine riesige Figur, die durch die Sonne in ihrem Rücken nur noch furchterregender wirkte. Dwights Schutzbrille war beschlagen, sein Schutzhelm längst in die Brühe unter ihm gefallen. Nur die Ohrenschützer ließen seine verzweifelten Schreie so klingen, als fänden sie nur in seinem Kopf statt.

Als das Rohr auf Dwights Finger knallte, hätte er schwören können, dass die Knochen zersplitterten. Trotz des Schmerzes klammerte er sich an das Metall, aber dann konnte er sich einfach nicht mehr halten. Die letzte Kontrolle über seinen Körper verlor er, als das Rohr auf seinen Kopf niederging.

Er spürte noch, wie sein Körper in der breiigen Masse versank. Dann verlor er allmählich das Bewusstsein. Er hörte, wie die vibrierende Masse ihn ganz einschloss, fast wie eine Meereswelle, die über ihm zusammenschlug. Zwischen dem Rostrot der schmierigen Brühe und dem Blau des Himmels erkannte er die großäugigen Hühnerköpfe um ihn herum.

Dwight Lansik wusste nur zu gut, dass es eine Sache von Minuten sein würde, bis die Masse ihn nach unten gezogen hatte, ihn vollends verschluckte und ihn zu einem Teil seines eigenen Systems machte. Daher war er dankbar, als er das Bewusstsein endgültig verlor.

 

Colin Jernigan lief durch die belebte Lobby des „Marriott Hotels“ und suchte nach einem ruhigen Ort zum Telefonieren, während das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er lief an zwei müde dahinschleichenden Geschäftsleuten vorbei und wäre fast über die riesigen Koffer gestolpert, die sie hinter sich herzogen.

„Ja?“, raunzte er dann ins Telefon. Keine Antwort. Er drängte sich vor durch die Drehtür, wo nicht mehr Gesprächsfetzen, sondern Motorengeräusche das Hören erschwerten, und versuchte angestrengt, etwas zu verstehen. „Noch mal, bitte.“

„Der Termin wurde soeben abgesagt“, hörte er endlich eine männliche Stimme sagen.

Es spielte keine große Rolle, dass er den Anrufer nicht kannte. Wenn der Mann seine Nummer hatte, dann war er auch für diesen Anruf autorisiert. Colin antwortete nicht. Das war auch gar nicht nötig, denn er hörte nur ein leises Klicken, dann das Freizeichen.

Er steckte das Handy in sein Jackett. Er war weder überrascht noch enttäuscht, denn beide Reaktionen hatte er sich vor langer Zeit als nutzlos abgewöhnt. Trotzdem fanden seine Finger die goldene Krawattennadel, und er fuhr mit dem Daumen darüber wie über einen Glücksbringer, während er gleichzeitig mit einem Blick in eine spiegelnde Glasscheibe die Krawatte zurechtrückte.

Er rieb sich die Augen und betrachtete sich. Er sah grauenhaft aus. Bald würde sein Haar viel zu früh vollständig grau sein. Seine breiten Schultern waren so zusammengesunken, dass er sie unwillkürlich straffte. Der prompt folgende Schmerz zeigte ihm, dass sein Haar vielleicht doch nicht vorzeitig grau wurde.

Die Reise war ein Fehlschlag. Ein ganzer Tag für nichts. Er war nicht scharf darauf, seiner Chefin Bericht zu erstatten. Sie würde stinksauer sein, das stand jetzt schon fest. Für einen Moment dachte er darüber nach, wieso wohl Dr. Lansik in allerletzter Minute abgesagt hatte.

Colin Jernigan zuckte die Schultern und sah auf seine Armbanduhr. Dann hielt er Ausschau nach dem Shuttle-Bus zum Flughafen. Wenigstens konnte er auf dem Heimflug ein wenig schlafen. Vielleicht war er ja sogar noch rechtzeitig zu den Elf-Uhr-Nachrichten zu Hause.

2. KAPITEL

Freitag, 9. Juni

Tallahassee, Florida

Das Telefon riss Sabrina Galloway fast eine Stunde vor ihrem Wecker aus dem Schlaf. Sie schaltete ihn aus und stellte ihn wieder auf die Bettablage. Während sie sich ins Kissen zurücksinken ließ, hoffte sie, ihr Herz würde aufhören zu rasen und ihre Atmung sich wieder normalisieren.

Aber was hatte sie denn erwartet? Immerhin hatte sie genau deshalb ihr ruhiges, vorhersehbares Leben in Chicago aufgegeben und war nach Tallahassee gezogen. Und schließlich hatte sie dem Krankenhaus ausdrücklich gestattet, sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anzurufen. Aber trotzdem erschrak sie jedes Mal zu Tode, wenn das Telefon vor Sonnenaufgang klingelte.

„Habe ich Sie geweckt?“

Der Ton war immer derselbe – herrisch, unvermittelt und ohne jede Entschuldigung. Obwohl es jedes Mal eine andere Krankenschwester war, sagten sie doch alle ungefähr das Gleiche. Unter den häufigen Anrufen hatten ihre Manieren gelitten, was ihren Vater wütend gemacht hätte – früher zumindest. Jetzt nicht mehr so sehr.

„Ich weiß, es ist noch sehr früh“, fuhr die Schwester fort, „aber meine Schicht ist fast zu Ende.“ Auch das war ein gern genannter Grund, ob der Anruf nun kurz nach Mitternacht oder kurz vor sechs Uhr morgens kam.

„Natürlich, ich verstehe“, antwortete Sabrina und biss sich auf die Unterlippe. In Wahrheit verstand sie ganz und gar nicht, wieso nicht jemand von der nachfolgenden Schicht zu einer passenderen Zeit anrufen konnte. Jedenfalls wenn es sich nicht um einen Notfall handelte.

„Er hat wieder mal versucht, das Gelände zu verlassen“, erklärte die Frau ohne große Bestürzung in der Stimme. Sie klang eher verärgert, so als spräche sie über einen Teenager auf Abwegen, der gerade mal wieder über die Stränge schlug. Und dann fügte sie eher beiläufig noch hinzu: „Er verlangt nach Ihnen. Dr. Fullerton meint, es würde ihn wohl etwas beruhigen, Sie zu sehen.“

Sabrina versprach, so schnell wie möglich zu kommen, aber die Schwester erwiderte, der Nachmittag wäre völlig ausreichend. Die Situation sei schließlich nicht außer Kontrolle. Aber warum rissen sie einen dann aus dem Schlaf zu einer Zeit, da ein Anruf eigentlich nur einen Notfall vermuten lassen konnte, und versetzten sie in eine Anspannung, die sie den ganzen Vormittag nicht wieder loswerden würde? Sie verkniff sich die Frage. Sie hatte das längst getan, worauf man sie belehrt hatte, dass man sich schließlich nur an ihre Instruktionen halte, ihre Bitte um Benachrichtigung, sobald er fixiert und sediert werden musste.

„Wir sind nicht verpflichtet, Sie anzurufen“, hatte die diensthabende Schwester am Ende ihrer Belehrung noch streng erklärt. Es handele sich um einen Anruf aus bloßer Gefälligkeit.

Sabrina setzte sich auf den Rand ihres Bettes und wartete darauf, dass das beklemmende Gefühl in ihrer Brust nachließ. Jedes Mal rechnete sie mit dem Schlimmsten oder zumindest mit etwas in der Art wie bei jenem Anruf vor zwei Jahren. Mit dem alles begonnen hatte. Sie rieb sich mit beiden Händen den Schlaf aus den Augen. War das wirklich erst zwei Jahre her? Die Beklemmung in ihrer Brust wich einem dumpfen Schmerz – nicht besser, aber wenigstens vertrauter. Sie vermisste ihre Mutter noch immer.

Sie griff nach ihren Joggingschuhen, die sie abends vor dem Bett stehen gelassen hatte, damit sie im halb wachen Zustand am Morgen nicht lange danach suchen musste. Auch ohne einen Anruf wachte Sabrina jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf. Ihre Tagesroutine gab ihr Halt, brachte ein wenig Ordnung in das Chaos, das in ihrem einstmals so strukturierten, vorhersehbaren Leben das Regiment übernommen hatte. Statt Schlafanzug trug sie nachts Joggingshorts und Sport-BH, damit sie am Morgen gleich als Erstes laufen konnte. Das hatte sie sich angewöhnt, als sie nach Florida gezogen war. In den ersten Wochen damals hatte sie all ihre Kraft aufbieten müssen, um morgens aus den Federn zu kommen. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass sie für ihren Vater stark sein musste. Sie durfte ihn nicht auch noch verlieren.

Sie stand auf, machte sofort das Bett und zog die Ecken glatt. Doch noch bevor sie fertig war, sank sie wieder auf den Bettrand. Schrecklich, dass sie ihn schon wieder fixieren mussten. Als sie ihn zum ersten Mal besucht hatte, nachdem er mit Ledergurten auf seinem Bett festgeschnallt worden war wie ein Krimineller, hatte sie verlangt, ihn mit nach Hause nehmen zu dürfen – ohne auch nur darüber nachzudenken, dass sie sich nicht um ihn kümmern und gleichzeitig arbeiten konnte. Die Schwester – dieselbe, die von dem Gefallen gesprochen hatte, sie anzurufen – machte Sabrinas heroische Geste im Nu zunichte, indem sie darauf verwies, ihr Vater habe mit seiner Unterschrift besiegelt, dass nur er und Dr. Fullerton an der Behandlung etwas ändern konnten. Und Dr. Fullerton würde das selbstverständlich niemals zulassen.

Sabrina griff nach dem zusammengelegten grauen T-Shirt auf dem Stuhl in der Ecke und streifte es über. In Gedanken ging sie bereits ihren Arbeitstag durch und strukturierte ihn neu, um den nicht geplanten Ausflug am Nachmittag darin unterzubringen. Sie würde ihren Chef bitten, früher gehen zu dürfen. Es war Freitag, also sollte das kein Problem sein. Und mit etwas Glück war sie wieder zu Hause, bevor es dunkel wurde. Es mochte lächerlich sein, und sie kam sich auch jedes Mal wie ein dummes Schulmädchen vor, wenn sie es sich eingestand – weil die Gerüchte und Geschichten zu eindeutig nach altem Aberglauben rochen, den man sich am Lagerfeuer erzählte – aber ihr graute nun einmal vor der Vorstellung, nach Einbruch der Dunkelheit irgendwo in Chattahoochee festzuhängen.

Sie hörte, wie in der Küche die erste Zeitschaltuhr klickte, und im Nu verbreitete sich der Duft nach frisch gebrühtem Kaffee. Kurz darauf ließ die Eismaschine ihres Kühlschranks genau die Menge Eiswürfel in den Behälter fallen, die sie für ihren Frühstückssaft brauchte.

Während sie auf ihren Kaffee wartete, holte Sabrina die gerollte Morgenzeitung herein, die vor der Tür lag, und rückte den Blumentopf zurecht, auf den der Zeitungsbote regelmäßig zielte. Ein Blick auf die Schlagzeilen weckte ihre Sehnsucht nach der „Chicago Tribune“. Wer hätte gedacht, dass sie einmal die Mord- und Korruptionsgeschichten den Festen in ihrem County und den sich ständig ändernden Parkregeln in ihrer neuen Heimatstadt vorziehen würde? Vor fast einem Jahr war sie nach Tallahassee in Florida gezogen, aber sie fühlte sich noch immer nicht zu Hause. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass das jemals der Fall sein würde. Aber dafür konnte Florida nichts.

Sie hatte ihr gesamtes Leben in Chicago verbracht. Ihr einziger Ortswechsel in fünfunddreißig Jahren war der Umzug von der Innenstadt an den Stadtrand gewesen. In jener Stadt mit 2,8 Millionen Einwohnern hatte sie sich nie einsam gefühlt, nicht einmal wenn die endlosen Winter einfach nicht vorbeigehen wollten. Natürlich war man dann immer unruhiger geworden. Wie konnte es auch anders sein angesichts des schmutzigen Schnees und Eises, das sich in den Straßen auftürmte? In diesen unwirtlichen Wintern liefen die Menschen auf der Straße eingemummt aneinander vorbei, ohne sich auch nur anzusehen, weil jeder nur an eins dachte – an Wärme und wie man auf dem schnellsten Weg wieder dorthin gelangte. Aber so waren die Winter im Mittleren Westen nun einmal.

Ihr Zeitplan und ihre Routine hielten Sabrina auf Trab, ihre Studenten sorgten daneben für ein wenig Unterhaltung. Und bis vor zwei Jahren war da noch ihre Familie gewesen, der Halt in ihrem Leben: eine etwas neurotische, aber liebevolle Mutter, ein fürsorglicher Vater und ein unsteter, aber einnehmender Bruder, der immer ihr bester Freund gewesen war. Sie hätte sich niemals vorstellen können, dass es damit in weniger als einem Tag vorbei sein konnte.

Nein, das Problem war nicht Florida. Sabrina brauchte keinen Doktortitel, um sich klar darüber zu sein, dass dieses Gefühl tief aus ihr selbst kam, nicht von außen. Aber wenigstens hätte das warme und sonnige Florida als Katalysator dienen können und sollen. Immerhin sahen die Menschen in Tallahassee einander an, wenn sie sich auf der Straße begegneten, auch wenn Sabrina dahinter eher den Wunsch vermutete, sie einzuordnen. Sie mochten es nicht sagen, aber es sprach doch aus ihrem Blick: Sie sind nicht von hier, oder?

Sabrina fragte sich, woran die Leute das merkten. Was genau entlarvte einen als Zugezogenen?

Flüchtig blätterte sie durch die Zeitung und las nicht mehr als die Überschriften, während sie ihren Becher ein Viertel mit fettarmer Milch füllte und dann mit Kaffee aufgoss. Auf Seite drei erregte eine Überschrift ihre Aufmerksamkeit: JACKSON SPRINGS RUFT MINERALWASSER ZURÜCK.

Tag für Tag fuhr sie an dem kleinen Familienbetrieb vorbei, wenn sie zu EcoEnergy fuhr. Wenig überrascht schüttelte sie den Kopf. Als Wissenschaftlerin fand sie die staatlichen Maßnahmen zur Aufsicht der Wasserversorgung lächerlich, weil sie viel zu viel Arsen und andere gefährliche Substanzen im Trinkwasser erlaubten. Es war ein Witz, anzunehmen, dass sie abgefülltes Wasser besser kontrollieren konnten. Während Sabrina an ihrem lauwarmen Kaffee nippte, machte sie sich mehr Sorgen um das Koffein als um das Wasser. Aber auch wenn sie noch keine Nacht gut geschlafen hatte, seitdem sie in Tallahassee lebte, war ihr doch klar, dass Koffein die geringste ihrer Sorgen war. Wäre es doch nur so einfach gewesen.

Ihre Freundin Olivia erinnerte sie gerne daran, dass Sabrina immerhin in weniger als einem Jahr in eine Ecke des Landes gezogen war, in der sie zuvor noch nie gewesen war. Sie hatte einen neuen Job in einer Branche angetreten, mit der sie vorher noch nie zu tun gehabt hatte, und musste sich außerdem noch um einen Kranken kümmern. „Natürlich wirkt das Koffein bei dir ganz besonders und hält dich nachts wach“, folgerte Olivia dann absolut selbstgewiss.

Sabrina stürzte den Kaffee hinunter und stellte den Becher ab. Abwesend strich ihr Finger über ihre Hand, da, wo ihr Diamantring gesessen hatte. Sie hatte ihn nie enger machen lassen, und er war viel zu locker gewesen. Sie hatte immerzu Angst, ihn zu verlieren, weil sie andauernd Latexhandschuhe an- und auszog. Also lag der Ring jetzt sicher verwahrt in dem Kästchen in ihrer Kommode, damit er nicht in irgendeinem Abfluss verschwand.

Wem machte sie eigentlich etwas vor? Tatsächlich hatte sie den Ring abgenommen, weil sich zu viele Hoffnungen mit ihm verbanden, die schon längst im Abfluss verschwunden waren. Ihr Umzug hatte sie in vielerlei Hinsicht mehr gekostet, als sie sich je hätte vorstellen können.

Ihr neuer Job war dagegen eine echte Rettung. Schließlich war sie trotz allem eine leidenschaftliche Wissenschaftlerin. Sie löste für ihr Leben gern Rätsel, fand Lösungen für unlösbare Fragestellungen, fand Alternativen für alte, ausgediente Rezepte. Sie kam fast wie von selbst darauf, instinktiv und mit unbändiger Neugier. Aber es war an der Zeit, dass sie die Herausforderungen der realen Welt annahm, anstatt bequem im Stuhl darüber zu debattieren und zu theoretisieren. In den vergangenen zehn Jahren hatte sie so viel Wert auf Besitzstände gelegt, dass sie ganz vergessen hatte, wie aufregend neue Entdeckungen sein konnten.

Als sie noch ein kleines Mädchen war, wäre ihr dieser Job bei EcoEnergy wie ein Traum vorgekommen. Damals hatte ihr älterer Bruder Eric Football gespielt und Modellautos zusammengebaut, während Sabrina um das Mikroskop ihres Vaters gebettelt hatte, um irgendwelche Schmutzpartikel genauer zu untersuchen. Stunden konnte sie damit zubringen, zu lernen, wie man die Einzelteile dieser Partikel voneinander trennte, und noch ein paar Stunden mehr damit, zu beobachten, was mit ihnen passierte, wenn man ein Tröpfchen Wasser hinzugab. Als Eric sich für Mädchen zu interessieren begann, zerlegte Sabrina gerade Schwefelsäure und Chromphosphat in seine Bestandteile. Als sie eben fünfzehn geworden war, versetzte die Tatsache, dass Sabrina fast jeden Nachmittag mit Bill Snyder verbrachte, ihre Mutter in Aufregung – bis sich herausstellte, dass die beiden ein Blitzlicht konstruiert hatten, das ohne Batterien funktionierte.

Die schärfste Anschuldigung ihrer Mutter lautete: „Du wirst genau wie dein Vater!“

Aber ihre Mutter konnte sich dabei ein Lächeln nicht verkneifen, und Sabrina verstand den Satz mehr als Kompliment denn als Vorwurf. So war ihre Mutter nun einmal, Drama und Sarkasmus waren ihr ebenso wichtig wie ihre Pinsel und ihre Tonerde. Für Sabrina stand außer Frage, dass ihre Eltern sich liebten, sosehr sie sich auch liebevoll aufzogen und neckten. Ihre Mutter bezeichnete Arthur Galloways Erfindungen als „wertlose Apparaturen“, auch wenn ihr vor Stolz Tränen in den Augen standen, wenn er sie vorführte. Und trotzdem waren die Apparaturen ihres Vaters meist die Ursache für familiäre Auseinandersetzungen, jedenfalls nach der Ansicht ihrer Mutter, weil sie für Sorgen und Nöte verantwortlich waren. Aber ihr Vater nahm ihrer Mutter das nie übel, sondern gab ihr stattdessen einen demonstrativen Kuss auf die Wange und betonte, er „liebe sie einfach wahnsinnig, wahnsinnig".

Sabrina konnte sich dagegen weder an Sorgen noch an Nöte erinnern. Sie hatte keine Erinnerung an Engpässe oder Ähnliches in ihrer Familie. Der Lehrstuhl ihres Vaters an der Universität sorgte jederzeit für mehr als genug für sie. Erst nach dem Tod ihrer Mutter wurde Sabrina klar, was ihre Mutter in den Auseinandersetzungen eigentlich gemeint hatte: dass Arthur Galloway längst ein weltberühmter Erfinder hätte sein können, wenn er keine Familie gehabt hätte, für die er sorgen musste; dass er so viel mehr geopfert hatte, als seine Familie ihm je zurückgeben konnte; dass sie nur sichergehen wollte, dass sie ihn darum niemals gebeten hatte – als wollte sie ihm einen Grund geben oder vielleicht eine zweite Chance, seine Meinung zu ändern. Es waren die Selbstvorwürfe einer Frau, die sich als nicht wertvoll genug empfand für dieses Glück. Tatsächlich aber waren Meredith und Arthur Galloway zutiefst verliebt ineinander. Und am Ende waren es nicht die Launen ihrer Mutter, die Arthur Galloway verrückt machten und einen Keil zwischen ihre Kinder trieben. Vielmehr war es die Abwesenheit ihrer Launen, die Abwesenheit ihrer Mutter, die sie verzweifeln ließen.

Plötzlich hörte Sabrina von draußen ein Geräusch und erschrak. Obwohl sie das Geräusch erkannte, machte sie einen Satz und zuckte zusammen, als der zweite Schlag folgte. Dann raste sie zu der großen Glastür in ihrem Wohnzimmer.

„Hey, lass das!“, rief sie und schob die Tür auf.

Zu spät. Die riesige weiße Katze hob ihre Pfote und warf den dritten Tontopf vom Rand der Terrasse.

„Komm, Lizzie, hör auf damit.“

Sabrina griff nach dem Besen, der immer in der Ecke ihrer kleinen Terrasse stand. Sie fuchtelte damit vor der Katze herum, bevor sie den nächsten Pflanzenkübel in Angriff nehmen konnte. Sabrina hatte wochenlang schreien müssen, bis ihr aufgefallen war, dass ihre Katze stocktaub und der Besen nur half, wenn er in Lizzies Sichtfeld kam. An so einem Morgen hatte Sabrina ein Kampf mit Lizzie Borden gerade noch gefehlt.

3. KAPITEL

Kopfschüttelnd verließ Jason Brill die Rezeption. Lächerlich, was in diesem Hotel unter Luxussuite rangierte. Der sogenannte Manager war so unfähig, dass es ihm nicht einmal peinlich war. Bei jeder von Jasons Fragen hob er überrascht die buschigen Augenbrauen, als könne er gar nicht verstehen, was der Unterschied zwischen einer gut sortierten Minibar und einem laut brummenden, aber leeren Kühlschrank war. Jason rückte seine Krawatte gerade und zupfte seine Manschetten zurecht, als sei die Meinungsverschiedenheit mit mehr als nur Worten ausgetragen worden. Er hätte dem Kerl am liebsten eine reingehauen. Und früher hätte er das auch getan. Sein Boss würde sich mit dem Zimmer ohne Weiteres zufriedengeben, aber Jason konnte sich damit nicht abfinden.

Er schloss die Faust um den Zimmerschlüssel zu der jämmerlichen Suite und schob ihn wütend zurück in die Hosentasche. Sein Job war es, dafür zu sorgen, dass der Senator stets das Beste bekam und gut versorgt wurde. Aber heute Morgen war das eine besonders schwierige Aufgabe, denn in diesem Hotel kannte keiner von dem verdammten Personal – von denen nicht ein einziger englischer Muttersprachler war – Senator John Quincy Adams. Na gut, ein weiterer Grund, die Haltung seines Bosses zur Einwanderung zu unterstützen, die mehr oder weniger lautete, die ganze verdammte Bande zurückzuschicken und eine Mauer zu ziehen.

Zuerst hatte Jason erwogen, alles umzuwerfen und in ein anderes Hotel zu wechseln, aber das hätte vermutlich nicht viel geändert. Es gab in der gesamten Stadt kein vernünftiges Vier-Sterne-Hotel. Wenn nur der Senator nicht darauf bestanden hätte, über Nacht zu bleiben. Aber vielleicht konnte er ihn ja noch überzeugen, nach der Tour zurückzufliegen. Und wenn nicht, konnte er ihn wenigstens vor dem noch halb flüssigen Omelett des Hotelkochs bewahren. Jason hatte noch immer diesen widerlichen Geschmack im Mund. Auch die Grütze war viel zu flüssig gewesen, aber Jason konnte sowieso nicht verstehen, wieso das Zeug bei jedem Südstaatenfrühstück dabei sein musste. Das Omelett würde dem Senator nichts ausmachen. Die Grütze schon, auch wenn der Mann sich nicht beschweren würde. Er würde Jason nur einen Blick zuwerfen und leicht nicken, als wolle er sagen: „Mehr konnten Sie wohl nicht herausholen.“

Gott, wie er diesen enttäuschten Blick hasste, der besagte: „So danken Sie es mir also.“ Manchmal wäre es ihm lieber gewesen, sein Boss hätte ihn stattdessen zusammengestaucht. Jasons Onkel Louie sagte immer: „Es ist nicht gut für einen Mann, wenn er nicht damit rausrückt, was er auf dem Herzen hat. Er frisst es in sich hinein, und irgendwann explodiert er.“ Onkel Louie hatte nicht studiert, aber er besaß einen gesunden Menschenverstand. Und das war definitiv etwas, was Jason in Washington D.C. immer wieder vermisste.

Aber Jason kannte auch den Unterschied zwischen Leuten, die ihr gutes Benehmen und ihre Disziplin in die Wiege gelegt bekamen, und solchen, die sich beides erst mühsam aneignen mussten. Denn das war der Unterschied zwischen Senator John Quincy Adams und Onkel Louie. Es war der Unterschied zwischen Jasons erfolgter Reaktion auf den Idioten von Hotelmanager und dem eigentlichen Wunsch, sein Gesicht ein paarmal gegen die Wand klatschen zu lassen.

Er straffte die Schultern und streckte den Hals, aber die Anspannung würde ihn für den Rest des Tages begleiten, das wusste er. Er klappte sein Handy auf, während er zu den Aufzügen ging. Er drückte den Knopf, um nach oben zu fahren. Während er wartete, checkte er die Liste der Anrufe. Dann glitten die Türen des Lifts auf, und zwei plappernde Zimmermädchen traten heraus. Jason machte einen Schritt beiseite. Als sie ihn bemerkten, unterbrachen sie ihre Unterhaltung mitten im Satz – das war unüberhörbar, auch wenn er die Sprache nicht verstand. Die Ältere senkte im Vorbeilaufen den Blick, während die jüngere der beiden ihn anlächelte. Es war ein wunderbar schüchternes Lächeln, als hätte sie keine Ahnung, wie hübsch ihr Hintern war. Aber dann schaute sie über die Schulter zurück, um sicherzugehen, dass er da auch hinschaute. Das erinnerte Jason daran, dass es mit der Disziplin so eine Sache war. Für einen gesunden Mann von sechsundzwanzig konnte das einfach nicht gesund sein.

Es gab zwar kein Handbuch mit Benimmregeln für Bürochefs, und nie war jemand auf Jason zugekommen und hatte ihm erklärt, was sich ein Bürochef erlauben konnte und was nicht. Nein, das hatte er sich ganz allein erarbeitet. Jason hatte nicht allzu lange gebraucht, um herauszufinden, dass Politik hauptsächlich aus einer Serie von Anspielungen bestand, egal ob man nun gerade einen Deal machte oder jemanden vernichtete. Die Andeutungen hatten sogar schmucke Namen oder Ausdrücke wie „politische Liquidation". Aber da, wo Jason herkam, spielte es keine Rolle, wie man es nannte oder wie höflich man sich verhielt – Vernichten blieb Vernichten.

Als er in den Aufzug stieg, klingelte sein Handy.

„Jason Brill“, meldete er sich.

„Brill, hier ist Natalie Richards.“

Unwillkürlich musste er lächeln. Wie war das noch mit dem Vernichten? „Hallo Natalie Richards.“

„Was hat das zu bedeuten mit der Verlegung des Empfangs zum Gipfel?“

„Oh, mir geht's prima. Danke der Nachfrage. Und selbst?“

„Lassen Sie das, Brill. Ich habe jetzt keine Zeit für Ihre Art von Humor. Und ich schätze es ganz und gar nicht, wenn irgendwer „Reise nach Jerusalem“ spielt und unser Büro nichts davon erfährt.“

„Nur die Ruhe, Ms. Richards. Ihre Leute sind für den gesamten Energiegipfel zuständig. Hier geht es nur um einen Empfang. Einen Privatempfang, den Senator Adams für ein paar Freunde und Bekannte gibt, die zufällig an dem Treffen teilnehmen.“ Dabei war er sich ziemlich sicher, dass Richards genau wusste, dass es kein Empfang, sondern eine Party war. Wenn alles gut ging, würde Senator Adams' harte Arbeit belohnt und EcoEnergy der erste US-amerikanische Ölproduzent werden, der den gesamten Fuhrpark der US-Truppen versorgte. Das war schon eine kleine Feier wert, auch wenn es jetzt eigentlich noch etwas verfrüht schien.

„Freunde und Bekannte“, schnaubte Richards, „die allesamt rein zufällig schwere Jungs sind.“

„Keine Sorge. Ihr Chef bekommt auch eine Einladung.“ Obwohl er diesen Deal nach Kräften verhindern wollte. Aber das behielt Jason klugerweise für sich.

„Darum geht es aber nicht, und das wissen Sie ganz genau, Brill.“

„Ich weiß nur, dass Sie ein bisschen viel Aufhebens wegen gar nichts machen.“

„Sie können nicht einfach …“

Jason klopfte mit dem Handy gegen die Wand des Lifts, hielt es wieder gegen sein Ohr und unterbrach die Anruferin: „Ich glaube, unsere Verbindung wird schlechter, Ms. Richards. Ich bin in einem Aufzug in Tallahassee und …“

Er schaltete das Handy aus und schob es in seine Jacketttasche. Er würde es später vermutlich bedauern, aber er hatte gerade Wichtigeres zu tun, als sich mit dem Weißen Haus herumzustreiten. Zum Beispiel eine blöde Minibar zu bestücken.

4. KAPITEL

EcoEnergy

Es war fast Mittag, und Sabrina hatte ihren Chef noch immer nicht gefunden. Sie konnte sicher auch ohne seine ausdrückliche Erlaubnis ein oder zwei Stunden früher gehen, aber sie wollte es ihm wenigstens mitteilen und außerdem sehen, ob er irgendetwas hatte, was sie übers Wochenende erledigen sollte. Dr. Lansik stand zwar auf dem Dienstplan, aber bisher hatte ihn niemand gesehen. Der Mann arbeitete meistens allein und verließ das Labor oder sein kleines Büro dahinter nur selten. Wenn Sabrina nicht nach ihm gefragt hätte, wäre vermutlich niemandem aufgefallen, dass er nicht da war.

„Vielleicht ist ihm zu Hause etwas dazwischengekommen … ein krankes Kind oder so“, meinte Pasha Kosloff mit russischem Akzent. Er schaute dabei nicht einmal von seinen Reagenzgläsern auf, in denen sich irgendeine braune Flüssigkeit befand.

Sabrina sagte nichts, obwohl sie wusste, dass ihr Chef gar keine Kinder hatte. Sie beobachtete, wie Pasha mit seinen langen, schlanken Fingern jedes Röhrchen vorsichtig in die Zentrifuge stellte, seinen großen, hageren Körper über den Apparat gebeugt. Er arbeitete langsam, als wolle er ein Meisterwerk schaffen, jede Bewegung voller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit.

Sabrinas eigene Proben befanden sich gerade im Destillierapparat am hinteren Ende des Labors, ein riesiges Gerät, das noch eine halbe Stunde summen und vibrieren musste, bevor sie wieder einen Blick darauf werfen konnte. Sie sah auf ihre Armbanduhr und steckte die Hände in die ausgebeulten Taschen ihres Laborkittels.

„Vielleicht hat er eine Affäre“, schlug Anna Copello vor. „Sie wissen schon, so eine, bei der man sich heimlich von der Arbeit davonstiehlt, damit die eigene Frau zu Hause nichts davon mitbekommt.“

Sabrina wusste, dass es auch das nicht sein konnte, jedenfalls nicht der Teil mit der Ehefrau. Aber es überraschte sie nicht, dass Anna mit so einer Erklärung aufwartete. Die junge Frau vermutete hinter allem immer nur das Schlechteste. Sabrina sah zu Michael O'Hearn hinüber. Er war der Älteste im Team, ein durchtrainierter, kompakter kleiner Mann mit wirren schwarzen Haaren und Spitzbart, der schon fast ganz grau war. Er kannte ihren Chef wohl am besten. Trotz seiner dicken Schutzbrille konnte sie sehen, wie er in Richtung Anna die Augen verdrehte.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte er dann. „Ich glaube, seine Frau ist letztes Jahr gestorben.“

Sabrina wusste, dass auch das nicht stimmte, und sah O'Hearn verwundert an. Wieso wusste er nicht Bescheid?

„Oh, wie schrecklich“, hauchte Anna, und selbst Pasha schaute kurz von seinen Reagenzgläsern auf. „Warum hat er uns denn nichts davon erzählt?“

„Das ist seine Privatsache“, erwiderte O'Hearn. „Wenn Sie aufgepasst hätten, wüssten Sie, dass er erzählt hat, seine Frau sei nicht mehr da.“

Sabrina flüchtete sich in eine Ecke und tat so, als wolle sie die Kontrollanzeigen des Destillierapparates überprüfen. Sie konnte es kaum fassen, wie wenig ihre Kollegen über ihren Chef wussten. Gerade O'Hearn. So viel sie wusste, waren die beiden schon vor ihrer Zeit bei EcoEnergy Kollegen gewesen. Sabrina arbeitete am kürzesten von allen mit Dwight Lansik zusammen und wusste offenbar als Einzige, dass er keine Kinder hatte und dass seine Frau nicht tot war, auch wenn es sie tatsächlich nicht mehr an seiner Seite gab.

Aber Sabrina hatte die Wahrheit eher zufällig herausgefunden. Kurz nachdem sie ihre Stelle angetreten hatte, war sie an einem Sonntag frühmorgens gekommen, was weder für sie noch für Lansik ungewöhnlich war. An jenem Sonntag jedoch hatte sie Lansik schlafend auf dem blauen Sofa in seinem Büro vorgefunden. Und auch sein Bademantel, seine Zahnbürste und die Hausschuhe waren da gewesen, als ginge das schon seit Längerem so. Er hatte dann auch widerstrebend zugegeben, dass er nicht mehr gern zu Hause war, seitdem seine Frau nicht mehr da war.

Zuerst hatte auch Sabrina vermutet, dass seine Frau gestorben war. Er sprach stockend, aber mehr nach der Art eines Witwers als eines verlassenen Ehemannes. Doch zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch hatte Sabrina auch zerknitterte ziemlich offiziell aussehende Dokumente gesehen, auf denen sie das Wort „Scheidung“ hatte erkennen können.

Allerdings ging es Sabrina rein gar nichts an. Lansik war ihr Chef, kein Freund oder Familienmitglied. Was sich in seinem Privatleben abspielte, war … nun ja, rein privat.

Im Büro nebenan klingelte das Telefon, und alle unterbrachen ihre Arbeit und blickten hoch. Schließlich machte Sabrina die Tür zum Büro auf, sah sich zögernd um und schaute auf das blaue Sofa, bevor sie nach dem Telefon auf dem Schreibtisch ihres Chefs griff.

„EcoLab“, meldete sie sich.

„Ms. Galloway?“, fragte eine Frauenstimme und überraschte Sabrina so sehr, dass sie einen Schritt zurück machte. Wie konnte jemand erwarten, dass ausgerechnet sie ans Telefon ihres Chefs ging?

„Ja?“, sagte sie so vorsichtig, dass sie nicht sicher war, ob die Frau sie überhaupt verstanden hatte.

„Hier ist Anita Fraser vom Büro von Mr. Sidel. Er bat mich, Sie anzurufen. Er erwartet Sie vor Reaktorbereich eins um 13 Uhr. Sie sollen die VIP-Führung übernehmen.“

„Einen Moment. Ich weiß nichts von einer Führung heute. Da muss es sich um einen Irrtum handeln.“ William Sidel war der Vorstandsvorsitzende von EcoEnergy, und Sabrina war sich sicher, dass sie sich an einen Termin mit ihm erinnert hätte, ganz zu schweigen von einer Führung.

„Nein, nein, das ist kein Irrtum. Sie stehen auf der Liste.“

„Welche Liste?“

„Schauen wir mal“, sagte die Frau, und Sabrina hörte Papier rascheln. Sie spähte aus dem Büro ins Labor, wo alle zu ihr herüberstarrten. Keiner machte sich die Mühe zu verbergen, dass er mithörte. „Ja, hier steht es. Ihr Chef hat Sie als Ersatz angegeben, falls er aus irgendeinem Grund nicht verfügbar sein sollte.“

„Hat er sich krankgemeldet?“ Sabrina konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr das absichtlich antun würde.

„Ich weiß nur, dass Dr. Lansik heute nicht im Haus ist. Also noch mal: 13 Uhr, Reaktorbereich eins.“

5. KAPITEL

Jason Brill war hocherfreut. Es war genau so gekommen, wie er es sich vorgestellt hatte. Man brauchte den Senator nur in Zusammenhang mit einem umweltpolitischen Topthema zu bringen, und schon kamen sie alle angelaufen. Mit „sie“ waren natürlich die Medien gemeint. Jason war nachträglich froh, dass er den Senator zu seinem marineblauen Anzug mit blütenweißem Hemd und roter Krawatte überredet hatte, auch wenn sein Chef beim Hemd störrisch gewesen war. Er fand, Weiß sei etwas für ultrakonservative Säcke und nicht für gemäßigte Demokraten.

Jason ließ es ganz beiläufig anklingen. Er erklärte dem Senator, er könne tragen, was er wolle, aber irgendwie mache ihn ein weißes Hemd zu dem blauen Anzug größer. Jason wusste genau, dass er nicht mehr sagen musste, denn es handelte sich um einen Fototermin, bei dem man die ganze Zeit stehen musste. Ohne etwas zu sagen, zog Senator Adams sein blaues Oxfordhemd aus und tauschte es gegen das frisch gebügelte weiße Oberhemd, das Jason für ihn zurechtgelegt hatte.

Die Fahrt von Tallahassee aus gehörte nicht zu den schönsten Strecken in Florida. Der Senator hatte Jason missbilligend einen seiner kurzen Blicke mit zusammengezogenen Augenbrauen zugeworfen, wie sie Jason nur zu gut kannte.

Es sah aus wie das Ende der Welt. Hier am Rand des Apalachicola National Forest gab es mehr Kiefern, als Jason in Florida je erwartet hätte. Die Limousine fuhr nur kurz auf der Interstate und bog dann auf eine schmale zweispurige Asphaltstraße mit unbefestigten Seitenstreifen ab, mit denen der Wagen mehrmals unangenehme Bekanntschaft machte, als ihnen überbreite Tanklaster entgegenkamen. Die Trucks ratterten unbeirrt weiter, offenbar gewöhnt daran, dass die Einheimischen ihnen Platz machten.

Zweimal gab der Chauffeur, der sich als Marek Zelenski vorgestellt hatte, bei der kleinen Machtprobe auf der Straße nach und wich zur Seite aus. Beim zweiten Mal musste er den Wagen zum Stehen bringen, woraufhin ihm eine Schimpftirade entfuhr, die nach Jasons Einschätzung Polnisch sein musste. Der Mann schaute mit bedauerndem Blick und ein paar entschuldigenden Worten in gebrochenem Englisch in den Rückspiegel und manövrierte den Wagen wieder auf die Fahrbahn.

„Sieht so aus, als hätten sie hier ein paar neue Straßen bitter nötig“, versuchte Jason die Situation etwas zu entspannen, aber der Senator schüttelte nur den Kopf.

„Abgesehen von den Lastern haben wir bisher so gut wie keinen Verkehr gesehen“, bemerkte er. „Kein Grund, dafür Zeit und das Geld der Steuerzahler zu verschwenden.“

Jason nickte zustimmend, anstatt zu erklären, dass er nur gescherzt hatte. Aber dann sah er ein Funkeln in den blauen Augen des Senators.

„Und wenig Verkehr bedeutet wenig Wähler“, fügte der Senator lächelnd hinzu. „Kein Grund also, meine Zeit und mein Geld zu verschwenden.“

In diesem Moment überlegte Jason, ob er dieses Fiasko noch bereuen würde. Immerhin war das Ganze auf seinem eigenen Mist gewachsen. Es sollte ein garantiert sicherer Weg sein, um den Senator vor dem Energiegipfel gut in Szene zu setzen und gleichzeitig von der positiven Presse zu profitieren, die EcoEnergy hatte. Und warum auch nicht? Von Anfang an hatte der Senator dem Unternehmen beigestanden. Zunächst, um Bundeszuschüsse für den Bau der Fabrik zu bekommen und später Steuernachlässe, damit die Anlage wachsen und gedeihen konnte. Seit ein paar Jahren war EcoEnergy bei Umweltorganisationen ungeheuer populär und längst ein Liebling der Nachrichtenmedien, eine Art Leuchtfeuer im Krieg um Energie. Warum sollte der Senator daraus keinen Vorteil ziehen? Nach allem, was er getan hatte, verdiente er Lob und Anerkennung als Pionier dieser neuen Schlüsseltechnologie.

Aber aus irgendeinem Grund gefiel Senator Adams Jasons Idee nicht sonderlich. Einmal hatte er sogar überlegt, ob er damit nicht dem Energiegipfel die Show stehlen würde. Aber Jason ging es nicht darum, der Konferenz den Rang abzulaufen, sondern um die Positionierung seines Chefs. Sobald der Gipfel begann, würde das Gerangel um die Medienaufmerksamkeit einsetzen. Normalerweise griff der Senator bei Gelegenheiten wie dieser zu. Jason verstand sein Zögern einfach nicht.

Sie fuhren durch das automatische Tor und hielten nur kurz am Sicherheitsposten. Jason war überrascht, weil der uniformierte Wächter sehr aufmerksam schien und eher wie der Wachsoldat einer Kaserne wirkte als wie ein Sicherheitsposten eines kommerziellen Unternehmens. Die Limousine wurde auch nicht einfach durchgewunken. Die Papiere wurden geprüft, und der junge Mann nahm sich Zeit, als er las und die Fotos mit den Gesichtern abglich.

Erst fast am Ende der Straße – sie war jetzt viel breiter und besser als die Landstraße, die sie inzwischen verlassen hatten – konnte man durch den dichten Baumbestand die Anlage erkennen. Wald umgab das Gelände, das nach Jasons Kenntnis rund vierzig Hektar groß war, von drei Seiten. Die Fabrik wirkte wie eine kleine Stadt. Auf der einen Seite gab es fünf oder sechs moderne Gebäude aus Stahl und Glas, jeweils zwei- oder dreistöckig. Das musste der Bürokomplex sein. Er war von einem kleinen Park umgeben.

Auf der anderen Seite der Anlage befanden sich ungefähr ein Dutzend riesiger Stahlbehälter, die wie Wolkenkratzer in der Sonne glänzten. Statt durch gläserne Röhren waren die Tanks durch stählerne Stege miteinander verbunden. Ein Gewirr von Rohren, manche davon mit einem Durchmesser von gut einem Meter, und riesige Elektrokabel verliefen entlang der Behälter und über sie hinweg – alles war makellos weiß, als wäre die Fabrik gerade erst fertiggestellt worden. Sämtliche Rohre endeten irgendwann bei einem der Behälter auf dem Dach eines Gebäudes auf der Rückseite des Parks, ein massiver Würfel aus Stahl ohne Fenster und mit nur ein paar Türen.

Jason musste zugeben, dass er etwas anderes erwartet hatte. Etwas Düsteres, Schäbiges, schon weil die Tanklaster in der Schlange, vermutlich dieselben wie vorhin auf der Straße, entweder Schlachthofabfälle oder Schweröl geladen hatten. Er war in der Tat beeindruckt und schaute Senator Adams an, in der Hoffnung auf eine ähnliche Reaktion. Aber der Senator saß zurückgelehnt in seinem Ledersitz und zeigte – überhaupt keine Reaktion.

Sie fuhren auf den Bürokomplex zu und erreichten mit einer letzten Kurve den Eingang. In diesem Moment sah Jason sie. Sie parkten auf Gehwegen und bevölkerten den gesamten Weg, alle im Wettstreit um den besten Platz. Jason sah allein neun Übertragungswagen. Die Menschen, die sich vor dem Eingang des Gebäudes drängten, zählte er gar nicht mehr. Als er sich dem Senator zuwandte, saß der Mann ganz vorne auf seinem Sitz und rieb sich die Hände, als wäre er auf dem Weg zu einem Festmahl.

Er gab Jason einen seltenen Klaps auf den Rücken und sagte: „Gut gemacht, Junge.“

6. KAPITEL

EcoEnergy

Sabrina dachte immer noch, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Dwight Lansik hätte doch sie als Letzte ausgesucht, um für ihn einzuspringen. Nicht wegen mangelnder Kompetenz oder Erfahrung, sondern einfach deswegen, weil sie als Letzte zum Team gestoßen war. Immerhin hatte er strenge Ansichten über Betriebszugehörigkeit, die er nur bei mangelnder Loyalität nicht mehr gelten ließ. So gesehen hätte O'Hearn der Nächste sein müssen und dann Anna. Als Sabrina den anderen mitteilte, dass sie für die Führung eingeteilt war, erntete sie fragende Blicke. Auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass einer der anderen wirklich scharf darauf gewesen wäre. Und auch sie hätte den Job nur zu gern wieder abgegeben.

Einzig Anna traute sich, es laut auszusprechen. „Mr. Sidel wollte Sie für die Führung?“ Sie hob eine ihrer vollendet geschwungenen Augenbrauen, um ihrem Missfallen Ausdruck zu verleihen. So machte sie es immer. Ihre Miene zeigte stets, was sie dachte.

Pasha hatte einmal angedeutet, Sabrina und Anna wären sich äußerlich ziemlich ähnlich, aber das hatte Sabrina nicht nachvollziehen können – oder wollen. Anna Copello war um einiges jünger als Sabrina, und trotzdem vermittelte sie ihr ständig das Gefühl, eine von Annas Studenten zu sein. Nach Annas Ansicht benutzte Sabrina andauernd Reagenzgläser, die Anna für sich reserviert hatte, oder setzte für die Dokumentation ihrer Untersuchungsergebnisse veraltete Methoden ein. Aus irgendeinem Grund hatte Sabrina Anna seit dem ersten Augenblick ihrer Ankunft bei EcoEnergy gegen sich aufgebracht. O'Hearn hatte einmal geunkt, dass Anna seit Sabrinas Ankunft nicht mehr die einzige Schönheit unter all den irren Wissenschaftlern war. Sabrina hatte manchmal das Gefühl, dass er damit nicht ganz unrecht gehabt hatte. Denn Anna behandelte Sabrina ganz offensichtlich als Konkurrentin.

„Seine Sekretärin sagt, mein Name stehe auf der Liste“, erklärte Sabrina zu ihrer Verteidigung, weil Anna offenbar eine Erklärung erwartete.

„Welche Liste?“ Anna wandte sich an O'Hearn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gibt eine Liste?“

O'Hearn zuckte nur mit den Schultern und rollte auf seinem Stuhl wieder vor seinen Computerbildschirm, als ginge ihn das Ganze sowieso nichts an. Pasha war schon wieder zurück an seine Arbeit gegangen. Anna sah sich nach den beiden um und hob dann die Arme, als könne man ohnehin nichts ändern. Ohne Sabrina eines weiteren Blickes zu würdigen, stolzierte sie davon.

Sabrina ging zurück in Lansiks Büro. Beim Telefonieren hatte sie einen Ordner gesehen, der die Aufschrift „Info Führung“ trug. Er lag auf seinem Schreibtisch in der Eingangsablage und hatte ihre Neugier geweckt. Es war nicht ihre Art, in anderer Leute Sachen herumzuschnüffeln, schon gar nicht, sie an sich zu nehmen, aber dann überlegte sie, dass Lansik ihr das alles immerhin eingebrockt hatte. Da konnte er sich wohl kaum beschweren, wenn sie einen Blick in die Unterlagen warf.

Sie schob den dicken Ordner, in dem auch ein Spiralblock steckte, in ihre Aktentasche. Sie würde ihn nach der Führung wieder zurücklegen. Dann floh sie vor ihren Kollegen an einen Bistrotisch im „EcoCafé“, dem kleinen in der Ecke, wo sie jeden Tag zu Mittag aß.

Derselbe Tisch, die gleiche Uhrzeit, der gleiche Lunch. Ihr Bruder hatte sie immer als Sklavin ihrer Gewohnheiten bezeichnet und behauptet, die seien einfach zu starr, als dass sie das Leben jemals genießen könnte. Und das sagte ein Kerl, der einen Job oder eine Beziehung nie länger als ein halbes Jahr durchhielt. Sie entgegnete darauf jedes Mal, sie sei vielleicht eine Langweilerin, aber sie habe einen Beruf, den sie liebe, Geld auf dem Konto und ein Dach über dem Kopf. Das war mehr, als Eric je von sich behaupten konnte. Aber woher wollte sie das eigentlich so genau wissen? Immerhin hatte sie ihn seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen.

Während Sabrina ihren obligatorischen Eiersalat aß, sah sie Lansiks Notizen durch. Sie waren in einer krakeligen Handschrift verfasst, die sie kaum entziffern konnte. Sabrina aß nur wenig von ihrem Sandwich, und ihr war klar, dass sie es ausschließlich zur Beruhigung tat. Aber sie hätte nicht sagen können, was sie eigentlich so unruhig machte.

Sie hatte früher an der Universität andauernd Vorträge gehalten und manchmal, wenn auch nicht oft, aus dem Stegreif. Und den Prozess der thermischen Umwandlung konnte sie vorwärts und rückwärts aufsagen. Das Ganze hatte sie von Anfang an so fasziniert, dass sie jedes noch so kleine Detail darüber hatte wissen wollen. Also war diese Führung eigentlich kein Problem für sie. Was also verunsicherte sie? Dass es so plötzlich und unerwartet kam oder dass Lansik sie den anderen vorgezogen hatte?

Den Vorstandsvorsitzenden von EcoEnergy, William Sidel, hatte Sabrina bisher nur einmal getroffen. Obwohl getroffen eigentlich nicht das richtige Wort war. Bei einem Betriebsfest hatte O'Hearn ihn ihr gezeigt. Sidel hatte jedem auf den Rücken geklopft und ein paar Witze gerissen, aber er hatte den Weg zu den Wissenschaftlern nicht gefunden. O'Hearn meinte, das sei nicht persönlich zu nehmen. Sidel wolle sich nur keine Blöße geben. Nach O'Hearns Ansicht war Sidel ein unglaublicher Unternehmer, wenn es um Investoren und Lobbyarbeit bei Politikern ging, hatte aber nicht die geringste Vorstellung oder schlichtweg kein Interesse an den täglichen Abläufen.

Sabrina ging noch einmal ins Labor, um ihre Aktentasche abzustellen, und wäre deswegen fast zu spät gekommen. Während sie sich dann beeilte, um pünktlich zum Reaktorbereich eins zu kommen, dachte sie daran, dass Sidel es kürzlich auf die Titelseiten von „Forbes“, „Time“ und „Discover“ geschafft hatte. Sie überlegte, ob sie noch rasch auf die Toilette gehen sollte, um ihre Zähne auf Essensreste zu kontrollieren, die Hände zu waschen und sich vielleicht zu kämmen. Aber dann strich sie sich nur eine Strähne hinters Ohr.

Sie legte nicht übermäßig viel Wert auf ihr Äußeres – viel zu wenig, wie ihre Mutter immer beklagt hatte. Sie sah an sich herunter: Der Laborkittel war strahlend weiß und frisch gebügelt, auch wenn die Taschen ein wenig ausgebeult waren, weil sie dauernd ihre Hände hineinsteckte. Die schwarzen Hosen gehörten zu ihrer Standardgarderobe. Sie hatte noch sechs weitere von derselben Art, die zu Hause im Schrank lagen. Schon vor Jahren hatte sich Sabrina mit ihrem Mangel an Modebewusstsein abgefunden. Ihre künstlerisch veranlagte und manchmal schillernde Mutter hatte das nur bestätigt und sie gelegentlich sogar als „modisch zurückgeblieben“ bezeichnet. Dagegen hatte sich Sabrina jedes Mal mit dem Hinweis verteidigt, dass Albert Einstein auch nicht anders herumgelaufen sei. Warum also nicht auch sie?

Ihren Schmuck beschränkte Sabrina ebenfalls auf ein Minimum – klassisch, aber schlicht: eine Halskette mit 18-karätigem Gold, die ihrer Mutter gehört hatte, und die Movado-Uhr, ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem Universitätsabschluss. Während sie zum Reaktor eins lief, überlegte Sabrina, dass sie auch dann nichts anderes angezogen hätte, wenn sie schon am Morgen von der Führung gewusst hätte.

Es wird schon schiefgehen, dachte sie und steckte ihre feuchten Hände in die Taschen ihres Laborkittels.

7. KAPITEL

Washington D.C.

Natalie Richards schüttelte den Kopf, während sie auf den kleinen Fernsehschirm in ihrem Büro schaute.

„Glauben Sie diesem Kerl?“ Sie zeigte auf den Bildschirm und sah den Mann auf ihrem Gästestuhl dabei nur flüchtig an. Eigentlich sollte sie ihn genauso missbilligen, wie er so entspannt dasaß, mit überkreuzten Beinen, als wäre er nur ein Besucher. Aber sie sah nur auf den Bildschirm. Ihre Hände lagen auf ihren üppigen Hüften, obwohl sie lieber jemanden gewürgt hätte.

Sie hatte schon durch alle Programme gezappt. Aber auf jedem verfluchten Kanal war gerade Senator John Quincy Adams zu sehen. Und solange in den nächsten Stunden kein Terrorangriff oder irgendeine Naturkatastrophe dazwischenkam, würde er auch das Topthema der drei wichtigsten Abendnachrichten sein.

Sie hatte den Ton leise gestellt, aber nicht aus Höflichkeit gegenüber dem Mann auf ihrem Gästestuhl, sondern weil sie einen Anruf erwartete. Ihr Chef schäumte vermutlich vor Wut, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sich meldete. In dieser Stadt verbreiteten sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer. Aber wenigstens musste Natalie die schlechte Nachricht nicht selbst überbringen.

„Was hat er denn eigentlich vor?“ Sie kam hinter ihrem kleinen Schreibtisch hervor und sah Colin Jernigan in die müden Augen. Er hatte vermutlich seit Tagen nicht geschlafen. Sie hätte schwören können, dass jedes Mal, wenn sie ihn zu Gesicht bekam, seine sonst so strahlend blauen Augen trüber wurden und sein kurz geschnittenes Haar ein paar graue Strähnen mehr hatte. Dabei war er noch nicht einmal vierzig, wenn sie richtiglag. Der arme Kerl, aber so wirklich schadete es ihm nicht. Er sah immer noch gut aus und war durchtrainiert, aber am meisten ärgerte sie, dass er so ruhig war wie immer. Nichts schien ihn je wirklich aus der Fassung bringen zu können. Das war zweifellos einer der Gründe, warum er als einer der Besten galt. Oder jedenfalls gegolten hatte. Verschleißerscheinungen hin oder her – Natalie Richards war stolz darauf, mit ihrem Blick echten Biss von bloßer Angabe unterscheiden zu können. Aber in seinem Fall hatte sie schon seit geraumer Zeit etwas nicht mehr bei ihm gesehen: das Funkeln in seinen Augen.

„Irgendwas“, sagte sie, als er immer noch nicht antwortete. „Ich muss irgendeinen Quatsch parat haben, irgendwas Glaubwürdiges, sonst handele ich mir bösen Ärger ein.“

„Ich habe keine Ahnung, was Senator Adams vorhat.“ Er schenkte ihr eines seiner seltenen Lächeln. „Aber es überrascht mich, dass Sie es nicht wissen. Ich habe Sie immer für die mächtigste Frau in dieser Stadt gehalten.“

„Ich werde Ihnen beweisen, dass ich nach wie vor die mächtigste schwarze Frau in dieser Stadt bin“, gab sie zurück. „Aber das ist so viel wert wie die schönste Frau im Schützengraben. Wir sind hier nicht gerade viele.“

Sie lehnte sich an den Schreibtisch, verschränkte die Arme vor der Brust und wurde wieder ernst. „Hören Sie, wenn der wichtigste Senator von Florida den Energiegipfel ruiniert, werde ich Sie persönlich dafür verantwortlich machen.“

„Mich? Warum nicht ihn?“

„Ihn krieg ich nicht. Sie dagegen schon.“

Sie erwartete nicht, ihn verunsichern zu können, auch wenn sie sich das vielleicht erhoffte. Schließlich hätte sie ihm nicht trauen können, wenn er sich so leicht aus dem Konzept hätte bringen lassen. Was war die Politik nur für ein schmutziges Geschäft geworden.

Das Klopfen an der Tür unterbrach sie.

„Herein!“, rief Natalie.

Ihre Assistentin öffnete. „Entschuldigen Sie, Ms. Richards.“ Dann trat sie zur Seite und ließ einen jungen Mann in schwarzen Jeans, Stiefeln und Lederjacke herein, der einen eingeschweißten Ausweis um den Hals hängen hatte. Sein wirres Haar war platt gedrückt von dem Helm, den er jetzt unter dem Arm trug. In diesem Aufzug hätte Natalie den Mann normalerweise nie in ihr Büro gelassen – hätte er nicht eine Ledertasche dabeigehabt, die er ihr jetzt über den Tisch reichte. Sobald sie sie entgegengenommen hatte, drehte er sich um und verschwand ohne ein Wort. Ihre Assistentin lächelte, nickte und schloss leise die Tür hinter sich.

„Arbeiten Sie neuerdings wieder mit Boten?“

„Wir haben nie damit aufgehört. Sollen doch alle anderen Idioten E-Mails schreiben und sich dann wundern, wenn plötzlich jemand anderes an all die Mails kommt, die sie für gelöscht hielten. Das hier …“, sie öffnete den Beutel und holte einen wachsversiegelten Umschlag heraus, „… kann nicht zurückverfolgt werden. Und selbst wenn jemand den Boten abfangen und den Brief lesen würde, könnte er den Inhalt nicht verstehen.“

„Scheint ein bisschen archaisch in unserer hoch technisierten Welt, finden Sie nicht?“

Sie sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Sind Ihre Methoden nicht auch ein bisschen archaisch?“ Sie griff nach der Fernbedienung auf ihrem Schreibtisch, hielt sie in Richtung Fernseher und schaltete ab. „Dann erklären Sie mal. Was ist schiefgelaufen?“

„Keine Ahnung.“

„Das reicht mir nicht“, erwiderte sie und schüttelte langsam den Kopf. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass ihre Gesten mehr Autorität ausstrahlten als ihre Worte.

„Vielleicht hat Dr. Lansik einfach gekniffen.“

Sie sah ihn an, hob wieder eine Augenbraue und runzelte die Stirn. Ihr stand der Sinn nicht nach Sarkasmus oder irgendeiner anderen Form von finsterem Humor.

„Sie wollen mir weismachen, das alles wäre so eine Art Zufall? Diese Show des Senators keine vierundzwanzig Stunden nach dem geplatzten Treffen? Ein Zufall?“, wiederholte sie und betonte dabei beide Silben.

„Ich glaube nicht an Zufälle.“ Er sagte das ohne Entschuldigung, setzte sich aber etwas in seinem Stuhl zurecht, gerade so, dass sie spürte, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte. Sie hatte ihn genau da, wo sie ihn haben wollte.

„Wir haben keine Zeit mehr, um auf eine weitere Gelegenheit wie diese zu warten. Verstehen Sie mich?“ Sie erwartete keine Antwort. „Sie wissen schon, dass wir das alles noch vor dem Energiegipfel über die Bühne kriegen müssen?“

„Erst will Dr. Lansik nicht reden, dann verschwindet er einfach. Wo nichts ist, ist auch nichts zu holen“, meinte er. Immerhin lächelte er nicht dabei.

„Was ist mit den anderen Wissenschaftlern?“

„Sieht nicht gut aus. So kurz vor dem Gipfel? Darauf würde ich nicht zählen.“

Natalie Richards pochte mit dem Finger auf den Umschlag, den sie aus der Ledertasche gezogen hatte, und reichte ihn hinüber, ohne ihn zu öffnen.

„Dann müssen wir eben zu Plan B übergehen.“ Sie hatte gehofft, er würde einen anderen Vorschlag parat haben, denn Plan B gefiel ihr nicht. „Ihr nächster Auftrag“, erklärte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „William Sidel kann aus Hühnerinnereien Öl machen. Sehen Sie zu, dass Sie die Kuh melken.“

8. KAPITEL

EcoEnergy

Allmählich fragte sich Sabrina, wieso William Sidel unbedingt sie für diese Führung hatte haben wollen. Bisher hatte er sie mehr oder weniger bei jedem Satz unterbrochen. Das überraschte sie, denn Sidel hatte den Ruf eines Charmeurs. Andererseits wusste sie das meiste über ihn aus Zeitschriften und dem Fernsehen. Das „Time Magazine“ hatte ihn als Hexenmeister bezeichnet, als eine Art modernes Rumpelstilzchen, das einen wundersamen Weg entdeckt hatte, aus Müll Öl zu machen. Seinen Ruf würde es sicherlich bestätigen, wenn es EcoEnergy gelänge, einen hundertvierzig Millionen Dollar schweren Vertrag mit der Regierung in Washington über die Versorgung der US-Truppen abzuschließen. Das allein wäre schon ein großer Coup, konstatierte die Zeitschrift, weil dieser Auftrag bisher nie an ein einheimisches Unternehmen, sondern stets an Ölgesellschaften aus dem Mittleren Osten gegangen war. Sabrina wusste, dass mit diesem einen Auftrag EcoEnergy vom lediglich interessanten Newcomer zu einem ernst zu nehmenden alternativen Öllieferanten aufsteigen könnte.

Jetzt wo sie ihn persönlich erlebte, konnte Sabrina an Sidel weder Charme noch etwas Magisches ausmachen. Stattdessen benahm er sich wie das Sport-Ass, das er im College gewesen war. Obwohl er noch immer ein eindrucksvoller Mann war, fiel Sabrina doch auf, dass sich sein Bauch ein wenig über dem Gürtel wölbte und mangelnde Disziplin erkennen ließ. Trotzdem besaß er noch immer eine jungenhafte Ausstrahlung und einige weitere dazu passende Eigenschaften. Sabrina kam er sogar wie ein Student aus dem ersten Semester vor, der sich seiner Stimme und seiner physischen Ausstrahlung nicht recht sicher war und das mit albernen Scherzen, Bemerkungen oder Kommentaren zu überspielen versuchte. Anfangs waren das zusätzliche Informationen gewesen, als wolle er das Rattern und Klappern der Rohre über ihnen überdecken, wenn Sabrina eine Pause machte. Sie überlegte, ob er vielleicht einfach nur genauso nervös war wie sie selbst.

Sabrina fuhr in ihren Ausführungen für die Gruppe von fünfzehn Leuten, darunter potenzielle Investoren und ein Senator, fort: „Die thermische Umwandlung beschleunigt denselben Prozess von massivem Druck und extremer Hitze, mit dem die Natur aus kohlenstoffhaltigen Stoffen Erdöl macht. Wir verwenden dieselbe –“

„Wissen Sie, da muss ich an meine Lehrerin in der Highschool denken“, unterbrach Sidel sie aufs Neue. „Diesen Kram über geologische Prozesse unter der Erdoberfläche habe ich nie verstanden.“ Er lachte. Niemand stimmte ein. Sabrina und die anderen sahen ihn einfach nur an, aber er machte trotzdem weiter. „Wissen Sie, was sie tat, wenn wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht haben? Wir mussten uns mit dem Gesicht zur Tafel hinstellen und unsere Nase in einen Kreidekreis drücken. Und glauben Sie mir, meine Schnauze machte oft Bekanntschaft mit der Tafel.“

Dieses Mal lachten einige aus der Gruppe. Und da sah Sabrina, wie sich Sidel entspannte. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen und verlagerte sein Gewicht aufs andere Bein. Sidel war jemand, der permanente Aufmerksamkeit wollte, das aber auf eine Art erreichte, die niemanden sonderlich störte. Jedenfalls nicht am Anfang und solange er auf seine eigenen Kosten Witze machte und nicht jemand anderes durch den Kakao zog. Sabrina kannte diesen Typ, aber bisher hatte sie mit ihnen eher unter ihren Studenten zu tun gehabt und nicht als Chef. Aber sie wusste, dass ein Typ wie Sidel sehr schnell vom unterhaltsamen zum höchst unangenehmen Zeitgenossen werden konnte.

„Es muss doch unglaublich viel Öl kosten, diese Anlage am Laufen zu halten“, meinte Glenn Owens, einer der potenziellen Investoren.

„In unserem Fall kostet es eine Menge Schlachtabfälle“, witzelte Sidel.

Owens blieb ernst. „Aber mal ehrlich, ist es den Input wert, was hinterher dabei rauskommt?“, wollte er wissen und richtete seine Frage jetzt demonstrativ an Sabrina.

Owens war als Milliardär aus Omaha vorgestellt worden, der den Großteil seines Vermögens vor Jahrzehnten an der Seite von Milliardär Warren Buffet verdient hatte. Der große Gentleman mit grauem Haar trug Freizeitkleidung – Bundfaltenhose und Poloshirt, als hätte ihn die Führung im letzten Moment vom Golfspielen abgehalten. Aber er wollte eine Antwort auf seine Frage, und als Sidel ansetzte, hob er die Hand und brachte ihn zum Schweigen.

„Unsere Energieeffizienz liegt bei 85 Prozent“, erklärte Sabrina nach einer unangenehmen kleinen Pause. „Das bedeutet, dass wir von hundert Einheiten thermischer Energie aus Biomasse nur fünfzehn Einheiten für den Gewinnungsprozess aufwenden. Das gewonnene Öl kann umgehend für den Betrieb der Stromgeneratoren eingesetzt werden. Aber das meiste wird weiterverarbeitet zu Kfz-fähigem Diesel und Benzin.

„Und was ist mit dem Abfall?“ Owens war noch nicht überzeugt.

„Biomasse hinterlässt keine gefährlichen Rückstände, und andere Stoffe verwerten wir nicht. Und wir nutzen fast alle Anteile“, erklärte Sabrina. Die enorme Effizienz von EcoEnergy war einer der Gründe, weswegen sich Sabrina für den Job interessiert hatte. „Was nicht zu Öl verarbeitet werden kann, wird abgeschieden, verkauft und zu Spezialdünger verarbeitet. Die Depolymerisation trennt die Materialien auf Molekularebene –“ Sabrina unterbrach sich. All die Fachbegriffe würden die Gruppe nur langweilen. Sie lächelte und setzte noch einmal neu an. „Alle problematischen Stoffe werden bei hohen Temperaturen rückstandsfrei vernichtet, anschließend wird der Rest verflüssigt und auf Raumtemperatur abgekühlt. Dann entspricht es den Umweltstandards und kann dem nächsten Produktionsprozess zugeführt oder in den Fluss geleitet werden.“

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