Julia Ärzte zum Verlieben Band 71

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LUCYS SÜßES GEHEIMNIS von MCARTHUR, FIONA
Von diesem Tag hat Lucy geträumt! Sie beginnt als Hebamme auf der Babystation. Wenn bloß ihr neuer Boss Dr. Nikolai Kefes nicht so umwerfend attraktiv wäre! Mit seinen dunklen Augen scheint er direkt in ihre Seele zu schauen. Und wenn er nun ihr größtes Geheimnis entdeckt?

WINTERHOCHZEIT IN SWALLOWBROOK von GORDON, ABIGAIL
Julianne kann es kaum fassen: Dr. Somerton ist wieder da. Als junges Mädchen hat sie hoffnungslos für ihn geschwärmt - nur leider war er da mit ihrer Schwester Nadine verlobt. Die aber brach ihm das Herz. Kann Julianne ihn jetzt überzeugen, dass sie anders ist als Nadine?

KOMM AUF MEIN SCHLOSS, GELIEBTE von NEIL, JOANNA
Ross Buchanan ist nicht nur Arzt - er ist auch ein schottischer Adliger mit einem Schloss. Kein Wunder, dass alle Frauen mit ihm flirten. Nur eine nicht: Dr. Isabel McKinnon. Doch gerade sie kann Ross sich wunderbar als Schlossherrin vorstellen. Und als seine Braut …


  • Erscheinungstag 19.12.2014
  • Bandnummer 0071
  • ISBN / Artikelnummer 9783733702786
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Fiona McArthur, Abigail Gordon, Joanna Neil

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 71

FIONA MCARTHUR

Lucys süßes Geheimnis

Das ist also Lucy Palmer, unsere neue Hebamme auf der Babystation, denkt Dr. Nikolai Kefes. Sie jung, bezaubernd – aber erschreckend blass. Und warum ist ihr so übel? Da kommt dem erfahrenen Arzt ein Verdacht: Hat sie etwa ein süßes Geheimnis? Wenn das so ist, braucht Lucy dringend jemanden, der sich um sie kümmert, der liebevoll für sie da ist … Vielleicht ihn?

ABIGAIL GORDON

Winterhochzeit in Swallowbrook

Das ganze Dorf ist in die hübsche Miss Julianne Marshall verliebt! Dr. Aaron Somerton, soeben nach Swallowbrook zurückgekehrt, versteht es nicht. Er ist überzeugt, dass Julianne genauso durchtrieben ist wie ihre Schwester, die ihn damals vor dem Altar stehen ließ. Doch nach Juliannes erstem zärtlichen Kuss beginnt er zu ahnen: Ein ganzes Dorf kann nicht irren …

JOANNA NEIL

Komm auf mein Schloss, Geliebte

Seit einer schrecklichen Tragödie sind die Buchanans und die McKinnons erbitterte Feinde. Das weiß jeder in dem kleinen schottischen Ort in den Highlands. Trotzdem muss Dr. Isabel McKinnon eng mit Dr. Ross Buchanan zusammenarbeiten. Und als Ross sie eines Tages heiß küsst, sagt sich Isabel: Vergiss die Feindschaft – und gib endlich der Liebe eine Chance!

GOLD COAST CITY HOSPITAL

DAS TEAM:

 

Dr. Callie Richards

Neonatal-Spezialistin

Lucy Palmer

Hebamme

Dr. Cade Coleman

Pränatalchirurg

Dr. Nikolai (Nick) Kefes

Chefarzt der Gynäkologie u. Genurtshilfe

Flora May

Lucys Vorgesetzte

Cass

Hebamme

Dr. David Donaldson

Gynäkologe und Geburtshelfer

Simon

Oberarzt

Jaqui

Ultraschalldiagnostikerin

Meg

Hebamme

Chloe Kefes

Krankenschwester

   

PATIENTEN:

 

Sally Smith

 

Zac

ihr Sohn

Bonny Shore

 
   

UND:

 

Dr. Alex Rodriguez

Neurochirurg (Angel Mendez Children’s Hospital)

Lil und Clem

Freunde von Lucy

Mrs Jones

Nicks Haushaltshilfe

1. KAPITEL

Lucy Palmer war so aufgeregt, dass ihr während der Fahrt im Aufzug flau wurde.

Ab heute gehörte sie offiziell zum Gold Coast City Hospital, dem hochmodernen Krankenhaus an einer der herrlichsten Küsten Australiens. Sie hatte es geschafft. Drei Jahre harter Arbeit mit Bergen von Lernstoff und unbezahlten Praktika lagen hinter ihr. Vor vierzehn Wochen hatte sie ihr Examen gemacht, und jetzt wurde ein Traum wahr!

Lucy konnte es kaum erwarten, sich bei ihrer ersten Geburt am Gold Coast City zu bewähren. Sie wollte die beste Hebamme sein, die sie hier je gesehen hatten.

Ihre Vorgesetzte Flora May war früher Sanitäterin bei der Armee gewesen und entsprechend knapp und zackig in ihrem Auftreten. Lucy war jedoch sicher, dass sich hinter der strengen Miene ein Herz aus Gold versteckte. Sie hatte Flora schon während einiger Praktika kennen- und schätzen gelernt.

Nachdem Flora sie auf der Station herumgeführt hatte, blieb sie am Empfang stehen. Unerwartet glitt ein warmes Lächeln über ihre hageren Züge. „Also, willkommen in der Truppe, Palmer. Für den ersten Monat habe ich Sie für den Tagdienst von Montag bis Freitag eingeteilt. Ich werde da sein, wenn Sie einen Rat brauchen.“

Ein vertrautes Gesicht während der Einarbeitungszeit. Was könnte sie sich mehr wünschen? „Vielen Dank.“

„Hm.“ Keine Gefühlsäußerungen, bitte, schien das zu heißen. Die Stationsschwester ging zur Tagesordnung über. „Kümmern Sie sich um Sally Smith, Teenager-Mum, verfrühte Wehentätigkeit in der dreiunddreißigsten Woche.“ Noch ein paar kurze Informationen, dann: „Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie zu mir. Jederzeit.“

Flora marschierte davon. Zum ersten Mal hatte Lucy das Gefühl, dass ihr außer ihren Mitschülerinnen noch jemand zutraute, eine gute Hebamme zu werden.

Es wäre schön gewesen, wenn sie auch von ihrer Mutter statt verbitterter Kommentare Unterstützung bekommen hätte. Lucy schob den Gedanken beiseite. Sie wollte sich nicht den Tag verderben – und vor allem nicht ihr mühsam erworbenes Selbstvertrauen zerstören lassen.

Da war es wieder, das unangenehme Flattern im Magen. Lucy holte tief Luft. Nur nicht nervös werden, sagte sie sich. Du kannst das. Für sie war die Arbeit als Hebamme nicht nur Beruf, sondern Berufung.

Sie klopfte an die Tür von Geburtsraum eins und trat ein. Die Kollegin von der Nachtschicht sah nicht auf, sondern schrieb weiter ihre Notizen nieder. Lucy war versucht, sich zu räuspern oder wieder hinauszugehen und noch einmal, etwas lauter diesmal, anzuklopfen.

Stattdessen lächelte sie der Schwangeren zu. Die wich Lucys Blick aus und schloss die Augen. Na toll, dachte Lucy, atmete wieder tief durch und trat ans Bett. Die andere Hebamme beachtete sie immer noch nicht. Lucy versuchte, sich vorzustellen, wie sich ihre Patientin fühlen musste: mit siebzehn, schwanger und voller Furcht, dass ihr Baby viel zu früh auf die Welt kommen könnte.

„Hallo, Sally, ich bin Lucy“, begann sie. „Ich löse meine Kollegin ab und werde mich heute während des Tages um Sie kümmern.“ Sie sah sich im Zimmer um. Außer ihnen dreien war niemand hier. Nicht der Freund, nicht die Mutter des Mädchens, nicht einmal eine Freundin. Vielleicht ist ihre Mum vom selben Schlag wie meine. Lucy wusste, wie es sich anfühlte, wenn jeder familiäre Rückhalt fehlte.

Die werdende Mutter öffnete kurz die Augen, nickte und drehte sich auf die andere Seite. Die Leitungen des CTGs spannten sich.

Lucy schluckte. Nette Stimmung hier.

Endlich legte die Kollegin den Stift hin und sah sie an. „Ich bin Cass. Das war meine fünfte Nacht, und ich kann es kaum erwarten, hier wegzukommen.“

Puh. Lucy warf einen Blick auf Sallys abweisenden Rücken. Von einer Hebamme im Gold Coast City hätte sie etwas mehr Feinfühligkeit erwartet.

Ohne ihre Patientin auch nur anzusehen, spulte diese monoton die Übergabe herunter. „Das ist Sally, siebzehn, dreiunddreißigste Woche, erstes Kind. Klagt seit drei Uhr morgens über Rückenschmerzen. Fruchtblase noch intakt, Wehenschreiber verzeichnet alle fünf Minuten Kontraktionen.“

Ein kalter, nüchterner Bericht in einem Raum, in dem Zuwendung und Fürsorge so wichtig waren.

Cass seufzte verdrossen, und Lucy hätte sie am liebsten gebeten zu gehen. Ablesen konnte sie die Notizen auch selbst.

Aber es kam noch schlimmer. „Der Test auf fetales Fibronektin konnte nicht durchgeführt werden, weil sie in den letzten vierundzwanzig Stunden Sex hatte.“

Wie rüde! Lucy sah, wie Sally erstarrte, und schwor sich, dass sie niemals so mit einer Patientin umgehen würde. Hoffentlich verschwand die Kollegin bald.

Cass schien nichts von allem zu bemerken, sondern fuhr im selben gelangweilten Tonfall fort: „Keine Harnwegssymptome, kein Ausfluss, aber wir haben Urinprobe und Abstrich ans Labor geschickt.“

Okay, Lucy war klar, dass sie das wissen musste. Infektionen konnten verfrühte Wehentätigkeit und Fehlgeburten auslösen.

„Medikation: drei Mal oral ein Tokolytikum, das die Kontraktionen verlangsamt hat, dazu vierstündig Antibiotika, und der fetale Herzton …“ Ohne ihre Patientin anzusehen, studierte sie den langen Papierstreifen, den der Cardiotokograph ausspuckte, und setzte schulterzuckend hinzu: „Ich denke, sie ist stabiler als bei ihrer Einlieferung. Die erste Dosis Steroide hat sie um halb vier bekommen. Die nächste ist dann morgen früh um die gleiche Zeit dran – falls sie dann noch hier ist.“ Cass blickte auf. „Noch Fragen?“

Lucy wollte Cass auf keinen Fall länger als nötig aufhalten. „Wann war zuletzt ein Arzt bei Sally?“

„Steht alles in den Notizen.“ Cass sah sich die Eintragungen an. „Der Oberarzt um vier, ihr Geburtshelfer Dr. Kefes …“ Ihre unbewegte Miene veränderte sich unerwartet, bekam etwas Katzenhaftes. „Nikolai ist süß.“

Lucy wand sich innerlich, als die Kollegin schwärmerisch seufzte.

„Er wird sie sich bei der Visite heute Morgen ansehen“, erklärte Cass. „Pünktlich wie immer um acht Uhr, also seien Sie bereit. So, ich bin weg.“ Sie schlug die Akte zu, stand auf und drückte sie Lucy in die Hand. „Bye, Sally“, warf sie in Richtung Bett und verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, aus dem Zimmer.

Als die unfreundliche Hebamme weg war, überlegte Lucy, wie sie Sallys Vertrauen gewinnen und die Atmosphäre im Raum ändern könnte. Sie entdeckte einen kleinen schwarzen Rollhocker, zog ihn auf die andere Bettseite, damit sie ihrer Patientin ins Gesicht sehen konnte, und setzte sich.

Nach einer Weile öffnete Sally die Augen.

„Wie fühlen Sie sich, Sally?“

„Bescheuert.“

Kurz und knapp. Lucy lächelte. „Das verstehe ich. Können Sie es etwas genauer beschreiben? Rückenschmerzen?“ Sally nickte, und Lucy fragte weiter: „Schlimmer oder besser, seit Sie hier ankamen?“

„Viel schlimmer.“ Ihre Augen schimmerten verräterisch.

„Dann kümmern wir uns am besten erst einmal darum“, antwortete Lucy aufmunternd. „Während ich mir Ihre Werte ansehe, kann der Gürtel des CTGs für ein paar Minuten ab. Danach untersuche ich Ihren Bauch und lege Ihnen den Gürtel wieder um. Und dann überlegen wir mal, wie wir es Ihnen bequemer machen können.“

Lucy blickte auf die kleine Uhr, die ihr die Freundinnen und Freunde zum Examen geschenkt hatten. Hübsch und praktisch, so wie du, hatten sie gesagt. Alle hatten gewusst, dass ihre Mutter nicht zur Feier kommen würde, und versucht, Lucy die Enttäuschung erträglich zu machen.

Einer besonders. Vielleicht kam alles zusammen: euphorische Stimmung, ein Mojito zu viel, ungestillte Sehnsucht nach Zuwendung und Anerkennung. Jedenfalls hatte sie sich im Überschwang der Gefühle an jenem Abend mit Mark eingelassen. Im Nachhinein betrachtet eine dumme Entscheidung.

Lucy schüttelte das Bedauern ab. Wozu sich Vorwürfe machen für etwas, das nicht mehr zu ändern war? Reine Zeitverschwendung. Sie war bei ihrer Mutter in eine bittere Lehre gegangen und hatte am eigenen Leib erfahren, wie zerstörerisch Reue sein konnte.

Es war halb acht. Ihr blieb also noch eine halbe Stunde, bevor Sallys Arzt kam. Bis dahin wollte Lucy sich ein vollständiges Bild von ihrer Patientin machen. Physisch und psychisch. Doch in erster Linie musste sie Sallys Vertrauen gewinnen, denn nur dann konnte sie dafür sorgen, dass sie die beste medizinische Betreuung bekam.

Nikolai Kefes, Chefarzt der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe am Gold Coast City Hospital und von seinen weiblichen Kollegen hinter vorgehaltener Hand schwärmerisch „Adonis“ genannt, lebte nach strengen Grundsätzen. Siebzig Prozent seiner Zeit widmete er der Arbeit, zwanzig Prozent seiner Schwester Chloe, und die restlichen zehn Prozent teilte er gleichermaßen zwischen Sport und flüchtigen Affären mit kultivierten Frauen auf.

Nikolai legte großen Wert darauf, pünktlich mit der Visite anzufangen. Heute jedoch hatte ihn Chloe verzweifelt angerufen, und er konnte das Telefonat nicht nach zwei Minuten beenden. Als er seinen Wagen auf dem Krankenhausparkplatz abstellte, war er eine halbe Stunde zu spät dran.

Er machte sich Sorgen um Chloe. Schon seit sie sechzehn war und in mehr Schwierigkeiten steckte, als er es sich jemals hätte vorstellen können. Es hatte ihr und sein Leben radikal verändert. Trotzdem bereute er es bis heute nicht, dass er sie unterstützte, wann immer sie ihn brauchte.

Nicht dass sie seine Fürsorge immer begrüßt hätte. Dabei war es bitter notwendig gewesen, sie zu beschützen, nachdem sie viel zu jung und ohne einen Penny in die Welt hinausgejagt worden waren. Ihm wurde immer noch mulmig bei dem Gedanken, wie Chloe überlebt hätte, wenn er nicht gewesen wäre.

Es war eine Schande, dass ihren Eltern das völlig egal gewesen war. Nikolai hatte es jedoch schon vor Jahren aufgegeben, das zu verstehen.

Heute Morgen war Chloe fest entschlossen gewesen zu tun, was sie für richtig hielt – trotz ihrer letzten katastrophalen Beziehung. Er wünschte sich nur, dass sie zur Vernunft kam und sich von Männern eine Weile fernhielt.

Zum Glück hatte er, was ihn selbst betraf, in der Hinsicht alles im Griff. Kurz und süß, so lautete sein Motto, wenn es um Affären ging. Die Frauen, mit denen er ausging, wussten von vornherein, dass sich ihre Wege bald wieder trennen würden. Also konnte auch niemand verletzt werden.

Die Fahrstuhltüren glitten auseinander, und er betrat die Entbindungsstation. Sein Oberarzt stand am Stationstresen. Zum Anziehen schien er nicht viel Zeit gehabt zu haben – Nikolai bemerkte, dass Simons Hemd auf links gedreht war, die Nähte nach außen, die Brusttasche am Körper, wenn er den Schatten auf Herzhöhe richtig deutete.

Vielleicht sollte er dankbar sein, dass seine Position ihm in der Regel ungestörte Nächte bescherte. Nikolai lächelte, blendete alles aus außer der Arbeit. Das vertraute Gefühl beruhigte ihn, seine Schultern entspannten sich.

„Na, was liegt heute Morgen an, Simon?“ Er betrachtete ihn mit einem nachsichtigen Lächeln. „Und danach möchten Sie sich bestimmt ins Personalzimmer zurückziehen und Ihr Hemd auf rechts drehen.“

Acht Uhr fünfunddreißig.

In der letzten Viertelstunde war Lucy klar geworden, dass Sally ihr Baby auf jeden Fall heute noch bekommen würde. Kurz nach acht waren die Wehen so stark und regelmäßig gewesen, dass Lucy zur Schwesternstation lief, um den Oberarzt anzurufen, weil der Chefarzt noch nicht aufgetaucht war.

Leider war auch der Oberarzt nicht zu erreichen. Jetzt, zwanzig Minuten später, wurde sie ungnädig. Eine geschlagene halbe Stunde Verspätung bei der Visite – das ging gar nicht! Also musste sie ihre Patientin wohl oder übel ein zweites Mal verlassen, um Flora May Bescheid zu sagen, dass sich noch immer keiner der Ärzte hatte blicken lassen.

Am Stationstresen sah sie zwei Männer stehen, einer davon hochgewachsen, athletisch gebaut. Tadelloser dunkler Anzug, der seine breiten Schultern betonte, schwarzes welliges Haar, akkurat geschnitten. Seine selbstsichere, souveräne Haltung ließ Lucy sofort vermuten, dass sie den Chefarzt der Abteilung vor sich hatte. Dass er der attraktivste Mann war, den sie je gesehen hatte, vergaß sie gleich wieder, obwohl sie sich flüchtig eingestehen musste, dass die schreckliche Kollegin nicht ganz unrecht gehabt hatte.

„Dr. Kefes?“

Beide drehten sich zu ihr um, aber sie ging auf den zu, der unbestritten Autorität ausstrahlte.

„Ja?“ Ruhige Stimme, mit einem leicht rauen Akzent, der sie an Mittelmeerstrände, Sommerhitze und lässige Lebensart denken ließ. Verführerisch irgendwie … aber darüber wollte sie später nachdenken – wenn überhaupt!

„Es tut mir leid, dass ich störe. Ich bin die Hebamme von Sally Smith. Sie ist siebzehn, in der dreiunddreißigsten Woche, eingeliefert mit vorzeitigen Wehen. Die Geburt hat eingesetzt, und Sie sollten sich die Patientin bald ansehen.“ Lucy reichte ihm die Akte, wandte sich ab und fügte über die Schulter hinzu: „Hier entlang, bitte.“

Während er die Eintragungen studierte und ihr folgte, fragte sich Nikolai kurz, warum er sich so herumkommandieren ließ, wenn er doch normalerweise alle Informationen von seinem Oberarzt erhielt und dann Visite machte.

Sicher, die junge Hebamme wirkte sehr besorgt, hatte also einen guten Grund, ihn zu einer Patientin zu zerren. Weshalb ich ja auch mitgehe, dachte er und musste insgeheim lächeln, als er auf den energisch schwingenden Pferdeschwanz der zierlichen Brünetten vor ihm blickte.

Nikolai war achtvollen Respekt und höflich formulierte Vorschläge gewohnt, doch dieser Tag hatte schon ungewöhnlich angefangen. Anscheinend ging er auch so weiter.

Fünf Minuten später entspannte sich Lucy langsam. Dr. Kefes schien das genaue Gegenteil ihrer Kollegin vom Nachtdienst zu sein. Der große, schlanke Mann nahm sich Zeit für den Teenager, behandelte Sally respektvoll und gleichzeitig auf eine angenehme Art mitfühlend und zuversichtlich.

Schließlich streifte er die Handschuhe ab, wusch sich die Hände und kehrte ans Bett zurück, wo Lucy Sally geholfen hatte, sich aufrecht hinzusetzen.

Dr. Kefes lächelte. „Wie es aussieht, hat Ihr Baby beschlossen, sich heute zum ersten Mal die Welt anzusehen. Der Muttermund ist zur Hälfte erweitert. Wir werden der Intensivpflegeschwester Bescheid sagen, dass sie einen Neuzugang erwarten kann.“

Sally wurde blass, ein ängstlicher Ausdruck verdunkelte ihre Augen. Dr. Kefes setzte sich auf Lucys Hocker. „Ist das ein Schock für Sie?“

Das Mädchen nickte, sagte aber nichts. Lucy sah, wie ihre Unterlippe zitterte, und streckte die Hand aus. Zu ihrer Erleichterung griff Sally danach, klammerte sich förmlich an Lucys Finger.

„Sie sind hier sicher“, versuchte Dr. Kefes, ihr die Angst zu nehmen. „Ihr Baby ist sicher. Wenn Sie sich Sorgen machen, hören Sie auf Ihre Hebamme.“ Er deutete auf Lucy. „Diese hier, die mich noch vor meiner Visite praktisch in Ihr Zimmer geschleift hat.“

Jetzt lächelte er Lucy an, und sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Von einem umwerfenden Mann wie ihm ein Lob zu bekommen, das machte sie mehr als verlegen. Aber das Schönste war, dass auch Sally lächelte.

„Wir alle werden dafür sorgen, dass es für Sie und Ihr Baby ein ganz besonderer Tag wird.“ Dr. Kefes stand auf. „Okay?“

Sally nickte vertrauensvoll. Ja, dachte Lucy, sie ist nicht die Einzige in diesem Zimmer, die davon überzeugt ist, dass sie Nikolai Kefes ihr volles Vertrauen schenken kann.

Drei Stunden später kam Sallys Baby zur Welt. Dr. Kefes war sanft und geduldig, Sally ganz bei der Sache und sichtlich entschlossen, alles gut zu machen.

Lucy hatte die stationseigene Kamera geholt und gleich nach der Geburt berührende Bilder geknipst. Viel zu tun hatte sie nämlich nicht. Das Neonatal-Team wartete auf das Baby, Dr. Kefes begleitete die Geburt, und Flora May überwachte alles mit Argusaugen.

Stylish mit ihrer schimmernden Bob-Frisur, wandte sich Dr. Callie Richards, die Neonatal-Spezialistin, der jungen Mutter zu. „Wir sehen uns Ihren Kleinen noch auf der Intensivstation an, aber ich bin sicher, dass er dort nicht lange bleiben muss.“ Aufmunternd fügte sie hinzu: „Kommen Sie gern jederzeit und besuchen Sie ihn.“

Sally lächelte erschöpft, bedankte sich und sah zu Lucy, als der kleine Zac in seinem Bettchen davongerollt wurde.

„Es ist alles gut“, flüsterte Lucy. „Er ist sehr klein, aber ein kräftiges Kerlchen.“

Nachdem sie Sally beim Duschen geholfen hatte, betrachteten sie zusammen die Fotos, und Lucy war froh, dass sie sie gemacht hatte. Ein Bild zeigte Sally, wie sie ihren Sohn voller Liebe anblickte, eine andere in Nahaufnahme eine winzige Hand in Sallys Fingern und eine dritte, wie das Neugeborene sich an die Brust seiner Mutter schmiegte.

Lucy druckte die Fotos am Stationscomputer aus, damit Sally ihr Baby wenigstens immer ansehen konnte, wenn es schon nicht bei ihr im Zimmer war.

„Ich bin froh, dass Sie bei mir waren“, sagte Sally.

„Ich auch – und dankbar, dass ich bei der Geburt dabei sein durfte.“ Ihre erste Entbindung als examinierte Hebamme.

Fünf Stunden später hatte Lucy Dienstschluss und holte ihre Tasche aus dem Personalzimmer.

Es war ein guter erster Tag gewesen, und sie hätte euphorisch gestimmt nach Hause gehen können. Stattdessen fühlte sie sich miserabel, als sie am Schmutzraum vorbei Richtung Fahrstuhl ging.

Die Übelkeit, die im Lauf des Tages immer schlimmer geworden war, schwoll zu einem unkontrollierbaren Brechreiz an. Ihr Magen revoltierte, und Lucy rannte in ihrer Not in den Schmutzraum, wo sie es gerade noch zum Waschbecken schaffte.

Zur selben Zeit war auch Nikolai auf dem Weg nach Hause und sah, wie die tüchtige neue Hebamme die Hand auf den Mund presste und in höchster Eile im Schmutzraum verschwand.

Er konnte sich vorstellen, was los war, und blickte sich um, ob außer ihm noch jemand in der Nähe war, der ihr beistehen konnte. Niemand in Sicht. Nikolai seufzte unterdrückt und näherte sich der Tür.

„Alles in Ordnung?“, fragte er, während er sie aufschob.

Sie hing kraftlos über dem Spülbecken, das Wasser lief. Nikolai sah auf ihren zarten blassen Hals und zog sein Herrentaschentuch heraus. Er hielt es unter den kalten Wasserstrahl, wrang es aus und reichte es ihr.

Amüsiert beobachtete er, wie sie ihre heißen Wangen abtupfte und sich bedankte, ohne sich zu ihm umzudrehen. Erst dann blickte sie zögernd an ihm vorbei zur Tür, als erwarte sie eine neugierige Kollegenschar hinter ihm.

„Außer mir hat niemand etwas gesehen.“

Erleichtert ließ sie die Schultern sinken. „Oh, sehr gut“, hauchte sie. Er konnte die Worte nur erahnen, da sie mit seiner Krawatte zu reden schien. „Es ist verrückt. Mir war schon den ganzen Tag schlecht, und jetzt … war es nicht mehr zu halten.“

„Sie sind doch nicht schwanger, oder?“, meinte er lächelnd. Dass sie daraufhin schockiert zu ihm aufsah, hätte er nie erwartet. Ach herrje, dachte er, während ihm sofort der Gedanke an seine Schwester durch den Kopf schoss. Daran, wie es damals gewesen war.

Sicher war das der Grund, dass in ihm plötzlich der Wunsch erwachte, diese welke Blume zu beschützen. Sein Bedürfnis, die junge Hebamme in die Arme zu nehmen, irritierte ihn allerdings sehr.

„Das kann nicht sein“, flüsterte sie. Und doch schwang ein bedrohliches „Oder“ mit. Vielleicht doch?

Wieder blickte sie ihn an, mit großen braunen Augen, in denen grüne Pünktchen schimmerten.

„Also haben Sie keinen Test gemacht?“

„Ich bin nicht einmal auf die Idee gekommen“, murmelte sie und wurde rot. „Es war mein erster und einziger One-Night-Stand, und das ist eine Ewigkeit her.“ Ihre Verbitterung war nicht zu überhören. Sie lehnte sich gegen das Waschbecken und schlug die Hände vors Gesicht.

Nikolai haderte mit den Launen des Schicksals. Vor ihm stand eine Frau, die alles andere als glücklich über ihre Fruchtbarkeit war, während seine Schwester sonst etwas geben würde, um wieder schwanger werden zu können.

Er wusste nicht, wie er hier helfen könnte – ja, nicht einmal, warum er das überhaupt wollte –, aber er konnte nicht einfach weggehen.

„Vielleicht sind Sie gar nicht schwanger.“ Schließlich konnte er sich irren. „Kann sein, dass Sie sich den Magen verdorben haben. Wollen Sie einen Schwangerschaftstest machen? Ich habe welche in meinem Sprechzimmer.“

Hoffnung flammte in ihrem Blick auf. „Danke, das ist eine gute Idee. Wahrscheinlich war es nur die Aufregung, heute an meinem ersten Tag. Dürfte ich mir einen Test …“

„Selbstverständlich. Es ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich Sie so erschreckt habe. Folgen Sie mir.“ Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das sie nach kurzem Zögern zaghaft erwiderte.

Sie verließen den Schmutzraum, betraten den Lift und fuhren zwei Stockwerke höher.

Während Lucy ihm zum Chefarztzimmer folgte, schossen ihr immer wieder dieselben Worte durch den Sinn: Ich bin nicht schwanger, ich bin nicht schwanger!

2. KAPITEL

Zehn Minuten später landete sie krachend auf dem Boden der Tatsachen.

Lucy sank in den Ledersessel in Nicks Büro, nahm das Glas Wasser, das er ihr reichte, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.

Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, schloss einen Moment lang die Augen. „Ich bin genau wie meine Mutter.“

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie den gut aussehenden Arzt lächeln. „Alle Mütter sind wie ihre Mütter.“

Seufzend richtete sie sich auf. „Nicht alle wiederholen ihre Fehler. Ich hab’s geschafft … nach harter Arbeit bin ich endlich in meinem Traumberuf angekommen, und dann ruiniere ich mir alles.“ Sie konnte es immer noch nicht glauben.

„Es war ein Schock für Sie. Wissen Sie, wann …“ Er schwieg rücksichtsvoll.

Lucy spürte, wie ihr wieder das Blut in die Wangen stieg. Das hier wurde immer schlimmer. „Am Abend nach unserem Examen.“ Sie tastete mit einer Hand nach ihrem Bauch, spürte die leichte Wölbung, über die sie sich in den letzten Wochen geärgert hatte. Du bist dick geworden, hatte sie gedacht und bereut, dass sie die XXL-Tafel Schokolade, die sie geschenkt bekommen hatte, an einem Tag aufgefuttert hatte. Milchschokolade, gefüllt mit Marshmallows, türkischem Honig, Kokosnuss und Erdnüssen – köstlich, aber eine wahre Kalorienbombe.

Doch das Bäuchlein hatte andere Gründe. Du meine Güte, du bist Hebamme! Lucy konnte sich ihre Naivität nur damit erklären, dass sie aufgeregt gewesen war. Wegen des neuen Jobs, weil sie eine Unterkunft gefunden hatte, die sie so gut wie nichts kostete. Und Aufregung war ihr ein Leben lang auf den Magen geschlagen: Ihr wurde im Auto schlecht, beim Fliegen, vor Prüfungen, vor Geburtstagsfeiern – immer aus Angst, nicht zu gefallen oder den Anforderungen nicht zu genügen. Dabei hatte sie gedacht, dass sie diese Angst inzwischen überwunden hätte.

Bei ihrem empfindlichen Magen grenzte es an ein Wunder, dass sie sich nicht jeden Morgen übergeben hatte. Falls sie wirklich schwanger war. „Ich kann nicht schwanger sein. Es muss etwas anderes sein.“

„Soll ich kurz einen Ultraschall machen, um den Test zu bestätigen?“, fragte er sanft, und sein mitfühlender Blick verriet, dass er das Ergebnis für gültig hielt. Natürlich hatte Dr. Kefes Erfahrung mit solchen Situationen. Sie nicht.

Nein, wollte sie antworten, das ist mir zu real. Sie wollte nicht wissen, wie weit sie war. Wusste sie auch so … ungefähr vierzehn Wochen, denn so lange war es her, dass sie das erste und einzige Mal Sex gehabt hatte.

„Möchten Sie, dass ich eine Schwester herbitte? Meine Sekretärin ist schon nach Hause gegangen, aber wenn Sie jemanden dabeihaben möchten …?“

Bloß nicht! „Nein, vielen Dank, bitte nicht. Es braucht niemand zu wissen.“ Lucy senkte den Blick. Sie selbst wollte auch nichts davon wissen, aber das konnte sie schlecht sagen.

„Verstehe.“ Seine leise Stimme klang rau, mitfühlend. Als wüsste er genau, wie ihr zumute war.

Lucy gab sich einen Ruck. „Okay, dann mal los.“ Sie legte sich auf die Untersuchungsliege, ängstlich und verlegen zugleich.

Nikolai schaltete das kleine mobile Ultraschallgerät an, das immer in seinem Zimmer stand, und betrachtete Lucy. Mit geschlossenen Augen lag sie da. So musste sich seine Schwester gefühlt haben, als ihr das Schlimmste passiert war, das einem sechzehnjährigen griechisch-orthodoxen Mädchen widerfahren konnte. Er hoffte nur, dass diese junge Frau jemanden hatte, der für sie da war.

Während er seine Vorbereitungen traf, versuchte er zu ignorieren, wie seidig und warm ihre glatte helle Haut aussah.

Lucy zuckte zusammen, als er das Kontaktgel auf ihren Bauch drückte, hatte sich aber schnell wieder im Griff. Nikolai konnte nur bewundern, wie gefasst sie unter den Umständen war. Ob Chloe genauso kontrolliert gewesen war?

Er blickte von ihr zum Bildschirm, und jeder andere Gedanke wurde ausgeblendet, als Nick sich auf die faszinierende Parallelwelt konzentrierte, die ein Ultraschall vom Becken bot.

Unheimlich in Schwarz und Weiß, mit Tiefen und Schatten. Der Uterus. Er zoomte ihn näher. Fetale Wirbelsäule, fetaler Schädel. Umfang messen. Scheitel-Rumpf-Länge feststellen. Plazenta. Nabelschnur. Noch eine Nabelschnur?

Nikolai blinzelte verwundert. „Ich schließe kurz die Jalousien, damit ich besser sehen kann.“ Er drückte auf den Schalter in der Wand über ihrem Kopf, und der Sichtschutz schloss die helle Queensland-Sonne aus. Nick zoomte das Bild noch näher heran. Oh, oh.

Durch die geschlossenen Lider merkte Lucy, wie es im Raum dämmrig wurde. Und dann hörte sie es. Wie das Galoppieren winziger Hufe … Ausgeschlossen, dass ein Pferd durch ihren Bauch flitzte, also konnte es nur eins bedeuten: Da schlug ein Babyherz.

Sie war schwanger.

Lucy traute sich nicht, die Augen zu öffnen. Wollte nicht sehen, was ihre Ohren gehört hatten.

Wie soll ich das nur schaffen? Für diesen Beruf hatte sie intensiv gelernt und gearbeitet, und jetzt? Sollte sie drei anstrengende Jahre einfach wegwerfen, die unzähligen Stunden nebenbei, mit denen sie sich ihren Lebensunterhalt verdient hatte, zusammen mit ihren Träumen, die beste Hebamme zu werden, die das Gold Coast City je gesehen hatte?

Glopp, Glopp, Glopp … Der Herzschlag ihres Babys, das in ihr heranwuchs. Ihr Kind. Mit ihr geschah etwas, ein Gefühl, warm und zärtlich, erfüllte sie.

Sie musste hinsehen. Im selben Moment, als sie die Augen aufschlug, holte Dr. Kefes tief Luft. Lucy sah, wie er die Stirn runzelte, während er den Schallkopf noch immer über ihren Bauch bewegte. Die dunklen Brauen gingen in die Höhe.

Was ist los? „Hat es zwei Köpfe?“ Eine flapsige Bemerkung, obwohl ihr alles andere als locker zumute war. Stimmte etwas nicht mit ihrem Baby? Lucy wunderte sich über sich selbst. Eine Schwangerschaft war doch das Letzte, was sie wollte, geschweige denn gebrauchen konnte. Aber nur der Gedanke, dass mit ihrem Winzling etwas nicht in Ordnung sein könnte, weckte einen überwältigenden Mutterinstinkt in ihr.

„So ungefähr.“ Klick. Er hatte auf den Knopf für eine Aufnahme gedrückt, bewegte den Schallkopf weiter. Und wieder: Klick.

In ihrem Magen bildete sich ein festgezurrter Knoten. Was ist mit meinem Baby?

„Wie bitte?“

„Entschuldigung, so meinte ich es nicht.“ Als er sie anblickte, las sie Anteilnahme und noch etwas in seinen Augen. Verwunderung? „Meinen Glückwunsch, Lucy.“

Das ergab keinen Sinn. Genauso wenig wie der zweite Herzschlag, den sie jetzt hörte – zwar etwas langsamer als der andere, aber dennoch deutlich.

„Zwei gesunde, vierzehn Wochen alte Feten, sagen die Messungen.“

„Verzeihung?“ Er konnte das nicht gesagt haben. „Zwei?“

„Zwillinge.“ Dr. Kefes nickte und hob zwei Finger, für den Fall, dass sie immer noch nicht begriff.

Lucy öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Fing sich, nahm einen neuen Anlauf. „Zwillinge? Vierzehnte Woche?“, stieß sie mit brüchiger Stimme hervor.

Ungläubig folgte sie mit dem Blick seinem Finger, als er auf Arme und Beine zeigte. Von zwei Babys!

„Ich will keine Zwillinge. Ich will nicht mal eins“, flüsterte sie.

Flüchtig dachte sie an Mark, der nach seinem Abschluss in Boston einen Job gefunden hatte. Ein netter Kerl mit großen Plänen. Was in jener Nacht zwischen ihnen geknistert hatte, waren allerdings eher die Funken der Begeisterung über das bestandene Examen gewesen. Mehr nicht.

Hinterher waren sie beide verlegen und unbeholfen gewesen. Willst du einen Kaffee? Kann ich dein Bad benutzen? Am Morgen danach wurde beiden klar, dass bei keinem die Erde gebebt hatte. Sie waren nur Freunde und hätten nie miteinander ins Bett gehen dürfen.

Dr. Kefes unterbrach sie in ihren Gedanken. „Wenn Sie etwas unternehmen wollen, bleibt Ihnen nicht viel Zeit. Höchstwahrscheinlich gar keine.“

Was unternehmen? Wegen ihrer Babys? Nachdem sie ihren Herzschlag gehört, sie gesehen hatte? Lucy wusste zwar nicht, was sie jetzt machen sollte, aber eine Abtreibung kam nicht infrage.

„Sehen sie gesund aus? Sind es eineiige?“ Sie hatte gelernt, dass bei eineiigen Zwillingen ein größeres Risiko bestand.

„Es scheint nur eine Plazenta zu sein, aber genau lässt sich das nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh. Ansonsten ist alles in Ordnung.“ Sein Akzent verlieh den Worten etwas Besänftigendes, wie eine tröstliche Berührung, und für einen Moment verlor sie sich in dem Gefühl. „Beide Babys sind gleich groß. Ich kann nichts Außergewöhnliches erkennen.“ Und dann lächelte er. Wieder vergaß sie die ganze Tragödie, abgelenkt von warmen braunen Augen. Was für ein sympathischer Mann, dachte sie. Etwas verspätet erfasste sie, was er gesagt hatte.

Erleichterung durchströmte sie. Meinen Babys geht es gut.

Erleichterung? Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie das schaffen sollte. Von ihrer Mutter konnte sie keine Hilfe erwarten. Lucy graute schon jetzt davor, ihr die Neuigkeit beizubringen. Aber eins stand fest: Auf keinen Fall würde sie ihren Babys sagen, dass sie ihr Leben ruiniert hätten – so wie ihre Mutter es bei ihr gemacht hatte, tagtäglich. Nein, sie würde so etwas nicht einmal denken!

Doch damit wollte sie sich zu Hause befassen. Ganz in Ruhe. Sie hatte diesen netten Mann schon lange genug aufgehalten.

Ich bekomme Zwillinge.

Wahnsinn.

Sie hatte keinen Schimmer, wie und womit sie anfangen sollte, ihr Leben zu planen, aber sie machte sich besser an die Arbeit. „Danke“, sagte sie.

Nikolai nickte und legte den Schallkopf weg. Während er ihr mit einem Papiertuch das Gel abwischte, empfand er unerwartet Bewunderung für diese junge Frau. Andere hätten nach dem Schock als Allerletztes daran gedacht, sich bei ihm zu bedanken. Wieder verspürte er das Bedürfnis, sie zu beschützen. „Werden Sie zurechtkommen?“

Er war nicht sicher, wie er reagieren sollte, wenn sie Nein sagte. Ihre Blicke trafen sich, und als ihr hübscher Mund sich zu einem Lächeln verzog, wusste er, dass sie das Gleiche gedacht hatte.

„Man könnte nicht viel machen, wenn nicht, oder?“ Sie setzte sich auf, und er half ihr von der Liege. „Doch, ich schaffe das schon. Irgendwie.“

Nikolai dachte an seine Schwester, daran, welche katastrophalen Entscheidungen sie damals in der gleichen Situation getroffen hatte. Und mit welchen Folgen.

Die Vorstellung, dass diese junge Frau wie seine Schwester in die Hände eines Pfuschers geraten könnte, ließ ihn spontan einen Entschluss fassen. „Auch wenn Sie sich darüber so schnell noch keine Gedanken gemacht haben, aber ich würde mich freuen, wenn ich Sie während Ihrer Schwangerschaft betreuen dürfte. Natürlich ohne zusätzliche Kosten.“

„Danke, Dr. Kefes. Wie Sie schon sagten, erst einmal muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, dass ich schwanger bin. Doch Ihr Angebot ist sehr beruhigend.“

Sie zog ihren Kittel zurecht, und Nikolai deutete auf den Besuchersessel. „Warten Sie bitte noch kurz, dann drucke ich Ihnen eine Liste der Untersuchungen aus, die ich Ihnen empfehlen möchte. Die Ergebnisse werden an mich geschickt, und wir sehen sie uns gemeinsam an.“

Lucy beobachtete, wie seine langen, schlanken Finger über die Tastatur flogen. Bei ihm fühlte sie sich sicher. Albern eigentlich, denn wer war sie schon? Eine junge Frau, dumm genug, sich schwängern zu lassen … In ihre Gedanken versunken, hätte sie fast verpasst, ihm zu antworten, als er sie nach ihrem vollen Namen, Geburtsdatum und ihrer Adresse fragte.

Zum Glück funktionierte ihr Gehirn auch auf Sparflamme, und sie gab ihm ihre Daten, ohne zu stottern.

Er stand auf. War der Mann groß! „Alles Weitere besprechen wir bei Ihrem nächsten Besuch.“

„Danke.“ Lucy nahm das Blatt, faltete es und stopfte es in ihre Handtasche. „Puh, was für ein Tag“, entfuhr es ihr.

„Für Sie auf jeden Fall.“ Nikolai fand, dass sie immer noch ein bisschen benommen wirkte, und widerstand dem Wunsch, sie kurz an sich zu drücken. Er hätte Chloe umarmt, aber bei Patienten oder Mitarbeitern wäre das schon sehr ungewöhnlich.

Es entstand ein verlegenes Schweigen, und er suchte nach den richtigen Worten.

„Stationsschwester May hat mir gesagt, dass heute Ihr erster Tag war. Sie haben Ihre Sache gut gemacht, und ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“

Das klang ein bisschen gönnerhaft, doch er wollte peinliche Momente vermeiden, wenn sie ihm morgen auf der Station begegnete.

„Selbstverständlich werde ich Ihre Neuigkeiten vertraulich behandeln.“

Sie nickte, und er sah, wie sie tief durchatmete, als sie zur Tür blickte. Dann straffte sie die Schultern.

Nikolai war mit zwei langen Schritten an der Tür und streckte die Hand nach der Klinke aus. „Erlauben Sie?“

Ein schwaches Lächeln, sie wandte sich ab und ging.

Sie ist stark, dachte er beruhigt und nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass sie und ihre Babys gesund blieben. Sie kommt zurecht.

Warum wirkte sie dann so herzzerreißend allein …?

Eine halbe Stunde später stieß Lucy die Tür zu dem Gartenhäuschen auf, in dem sie wohnte. Alles sah noch genauso aus wie heute Morgen, bevor sie zur Arbeit gegangen war.

Aber sie hatte sich verändert. Dramatisch verändert. Und sie war ganz allein damit. Andererseits – war sie das nicht gewohnt? Das Schöne war, dass sie in ungefähr sechs Monaten nie mehr allein sein würde.

Das Schöne? Woher kam dieser Gedanke? Wo blieb die Furcht, die sie spüren müsste? Eine Furcht, die sie ihr Leben lang begleitet hatte … wenn Lucy sich ängstlich bemühte, das Richtige zu tun. Wenn sie dachte, nicht gut genug zu sein.

Und sollte sie nicht wütend sein, enttäuscht und verbittert?

Warum bin ich nicht böse auf meine Babys? fragte sie sich. Hat meine Mutter nicht das gefühlt, was ich jetzt empfinde? Diese Zärtlichkeit, den innigen Wunsch, das werdende Leben in ihr zu beschützen?

Ich werde Mutter. In sechsundzwanzig Wochen. Wahrscheinlich eher, weil Zwillinge meistens früher kamen.

Sie fühlte sich schon ein bisschen wie von einer Dampfwalze überrollt … und ihre erste Schwangerschaftsvorsorge hatte sie auch schon hinter sich. Bei dem attraktiven Dr. Nick.

Komm nicht auf dumme Gedanken, ermahnte sie sich. Der Mann hatte zusehen müssen, als ihr Magen rebellierte, und er kannte auch ihre erbärmliche Geschichte von dem One-Night-Stand, der ihr eine ungewollte Schwangerschaft beschert hatte.

Lucy legte eine Hand liebevoll auf ihren Bauch. „Alles okay, Babys, ich will euch ja, aber hättet ihr nicht einen besseren Zeitpunkt abwarten können?“ Sie seufzte leise. „So in zehn Jahren ungefähr, wenn ich einen Mann gefunden habe, der euer Vater sein will. Vorzugsweise nach der Hochzeit.“ Jemand wie Dr. Kefes? Lucy tätschelte die sanfte Wölbung. „Keine Sorge, ich gebe euch alle Liebe, die ich nie hatte, und es wird auch nicht einen Onkel nach dem anderen geben, der über Nacht bleibt. Wenn ich nicht den perfekten Daddy für euch finde, schaffen wir’s auch allein.“

Ihre Stimme erstarb, Lucy blickte sich im leeren Zimmer um. Selbstgespräche, dachte sie. Du wirst wunderlich. Dr. Kefes hielt sie sicher für verrückt. Zweiundzwanzig, alleinstehend und schwanger. Mit Zwillingen. Aus der Traum von der Karriere, für die sie so hart gearbeitet hatte.

Nicht dass er sich etwas hatte anmerken lassen. Im Gegenteil, er war sehr nett und fürsorglich gewesen, obwohl er sie doch überhaupt nicht kannte. Lucy verstand plötzlich, warum manche Schwangere sich ein wenig in ihren Arzt verliebten. Wenn alle Geburtshelfer so waren wie er …

Obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass es viele hochgewachsene, dunkelhaarige, atemberaubend gut aussehende Ärzte mit einem so süßen Akzent gab.

Aber letztendlich würden die Babys in ihren Armen landen. Sie machte sich lieber keine großen Hoffnungen, dass ein Halbgott in Weiß auf ihrer persönlichen Bildfläche auftauchte und ihr die Hand reichte.

Nein, für ihre Babys war sie ganz allein verantwortlich und niemand sonst.

Wieder sah sie sich in dem kleinen Gartenhaus um, das sie umsonst bewohnen durfte, während sie auf die Villa der Eigentümer aufpasste. Sie konnte wirklich dankbar sein.

Ihren Babys sollte es gut gehen. Dafür würde sie schon sorgen. Als Erstes musste sie jeden Penny zurücklegen, den sie entbehren konnte. Zum Glück wurde ihr der Mutterschutz bezahlt. Oder hatte sie gar kein Anrecht darauf, weil sie an ihrem ersten Arbeitstag schon in der vierzehnten Woche schwanger war? Das musste sie herausfinden.

Aber im Gold Coast City gab es einen hauseigenen Kindergarten. Sie könnte also weiterarbeiten. Falls Flora May sie noch haben wollte, sobald sie von den Neuigkeiten erfuhr. Lucy stützte den Kopf in die Hände. Und wie sollte sie es ihrer Mutter erzählen?

Einen guten Kilometer entfernt warf Nikolai seine Schlüssel auf das Flurtischchen in seinem Apartment und löste seine Krawatte. Was für ein Tag.

Er war nicht sicher, warum die Begegnung mit der neuen Hebamme ihn so stark beschäftigte. Vielleicht, weil ihn schon der morgendliche Anruf seiner Schwester durchgeschüttelt hatte. Die beiden Frauen hatten einiges gemeinsam.

Das erklärte sicher das seltsame Gefühl von Verbundenheit mit der jungen Lucy. Jung, genau, das war sie. Anfang zwanzig, während er gut zehn Jahre älter war. Er könnte ihr Onkel sein oder ein älterer Bruder, deshalb der Beschützerinstinkt.

Pass auf, dass sie nicht auf dumme Ideen kommt. Ob es klug war, sie als Patientin anzunehmen, würde sich zeigen. Als er ihr das Angebot machte, war es ihm selbstverständlich erschienen. Nikolai wollte wirklich sichergehen, dass sie die beste Betreuung bekam.

Doch am nächsten Tag sah er Lucy nur von ferne. Sie winkte ihm zwar verhalten zu, hatte aber anscheinend genauso viel zu tun wie er. Und am Ende seines Dienstes kamen ihm seine Bedenken grundlos, ja fast albern vor.

Die hohe Arbeitsbelastung hielt gut zehn Tage lang an, auf der Station jagte eine Geburt die nächste. Jeder fragte sich inzwischen, was vor zehn Monaten gewesen war … eine Sonnenfinsternis, Stromausfall? Beim Personal herrschte bald ein inoffizieller Wettbewerb, wer die beste Erklärung für diese Häufung an Geburten hatte.

Nach fünf Diensten in Folge fand es Lucy zunehmend schwierig, um sechs Uhr früh aufzustehen.

„Hoch mit dir, du Faulpelz“, murmelte sie schläfrig, als sie sich wieder einmal aus dem Bett quälte. „Wenn du jetzt schon schlapp machst, wie soll das werden, wenn du alle drei Stunden zwei hungrige Mäuler stopfen musst?“

Sie stand auf und rieb sich den Rücken. „Sie sagen, dass es bei der Arbeit bald ruhiger wird. Du schaffst das.“ Allerdings hatte sie immer noch nicht mit ihrer Mutter gesprochen. Nur mit Mark. Er hatte ihr Geld angeboten, aber keine Ansprüche gestellt. Lucy war froh darüber. Eine Beziehung mit ihm wäre nicht gut gegangen, und ihre Babys sollten nicht in unglücklichen Verhältnissen aufwachsen – mit einem Vater und einer Mutter, die nur aus Pflichtgefühl heraus die traute Familie spielten.

3. KAPITEL

Nikolai fiel auf, dass Lucy die Hektik auf der Station mehr und mehr zusetzte. Sie schlug sich tapfer, aber sie wirkte längst nicht mehr so energiegeladen wie anfangs, und sie lächelte seltener.

Als er sie das nächste Mal sah, fand er sie besorgniserregend blass. Dabei fiel ihm ein, dass er von den Tests, die er ihr vor vierzehn Tagen verordnet hatte, noch keine Ergebnisse bekommen hatte.

Er schrieb „Mit Lucy sprechen“ auf seine To-do-Liste und machte sich nach Dienstschluss auf die Suche nach der jungen Hebamme.

„Lucy?“

Sie drehte sich zu ihm um und lächelte matt. „Ja, Doktor?“

Nikolai war drauf und dran, ihr einen Stuhl zu holen. Achtete denn niemand auf die junge Frau? Er fragte sich, ob sie sich auch richtig ernährte.

„Entschuldigung“, sagte er, als ihm bewusst wurde, dass sie auf seine Antwort wartete. Nikolai sah sich um, niemand war in der Nähe. „Ich weiß nicht, warum, aber ich habe die Laborwerte noch nicht erhalten.“

Lucy überlegte. Ihre Schicht endete erst in einer Stunde, aber sie war schon jetzt hundemüde. Leider hatte sie auch keine Ahnung, wovon er sprach. Laborwerte? Für welche Patientin? „Sollte ich Ihnen Werte mitteilen?“

„Ja, Ihre. Von der Vorsorgeuntersuchung.“ Er musterte sie so intensiv, dass sie sich wie unter einem Mikroskop vorkam. „Sie sind blass.“

Sie fühlte sich auch, als ob ihr plötzlich alles Blut aus dem Gesicht gewichen wäre. Ich habe die Tests vergessen. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass er ihr eine Liste gegeben hatte, die sie in ihre Handtasche gestopft hatte – wo sie immer noch lag. Väterchen Freud hätte seine wahre Freude daran gehabt …

Lucy seufzte. „Ich muss sie erst machen. Vielleicht war ich noch nicht so weit, es an die große Glocke zu hängen.“

„Es wäre gut, wenn Sie sich noch heute darum kümmern. Falls es Ihnen lieber ist, auch außerhalb des Krankenhauses. Allerdings würden Ihnen hier keine Kosten entstehen.“

Und da sie an allen Ecken und Enden sparen musste … „Guter Einwand.“ Lucy nickte zustimmend. „Ich gehe gleich nach der Arbeit hin.“

Dr. Kefes blieb stehen. Ruhig und gelassen, tadellos gekleidet, ganz der erfolgreiche Chefarzt. Lucy fühlte sich erbärmlich. Ihr tat alles weh, der Rücken, die Beine. Was wollte er noch von ihr?

„Könnten Sie sich auch bitte einen Termin bei mir holen, für übermorgen? Ich sage meiner Sekretärin Bescheid.“

Zum ersten Mal seit Tagen musste Lucy lachen, und es fühlte sich wundervoll an. So als wäre eine Last von ihren Schultern geglitten. Sie nahm sich vor, öfter zu lachen. Ihre Mutter hatte wenig gelacht, vor allem nicht mit ihr.

„Übermorgen? Das ist ein Sonntag. Ihre Sekretärin wird nicht einverstanden sein. Aber ich mache gleich für Montag einen Termin.“

Nick erwiderte ihr Lächeln, und ihre Wangen glühten. So sollte er gefühlvolle, hormongesteuerte Frauen nicht anlächeln. Erst recht nicht solche, die sich gerade seelisch darauf einstellten, alleinerziehende Mutter von Zwillingen zu werden.

„Danke, dass Sie mich erinnert haben. Ich muss los.“ Damit wandte sie sich ab, um zum Stationstresen zu gehen. Sie hörte ihn weggehen, stellte ihn sich vor: lange Schritte, aufrechte Haltung, breite Schultern, rabenschwarzes Haar. Lass das, ermahnte sie sich.

„Alles klar, Palmer?“ Flora May musterte sie unter zusammengezogenen Brauen und warf dann einen finsteren Blick in Richtung Dr. Kefes. „Macht er Ihnen das Leben schwer?“

„Nein, überhaupt nicht. Er ist sehr nett zu mir.“ Sie lächelte ihre Beschützerin an. „Ich bin nur müde.“ Flora May schien damit nicht zufrieden zu sein. „Vielleicht habe ich mir etwas eingefangen“, fügte Lucy hinzu.

„Sie sehen kaputt aus. Blass und schlapp.“

Die wenig charmante Beschreibung brachte Lucy zum Lächeln. „Danke, Schwester.“

„Wenn Sie sich nicht fühlen, gehen Sie in die Notfallambulanz. Keiner will sich etwas einfangen. Wie auch immer, hinterher gehen Sie nach Hause. Ich mache Ihre Übergabe. Sie sind jeden Tag fünfzehn Minuten eher hier und gehen als Letzte. Sie haben sich eine Auszeit verdient.“

Eine himmlische Vorstellung.

Floras Mundwinkel zuckten. „Aber erwarten Sie es nicht jede Woche.“

„Natürlich nicht.“ Lucy blickte ihre Vorgesetzte an. Vielleicht sollte sie den Augenblick nutzen …? Es wäre ihr sehr unangenehm, wenn Flora May es von anderen erfuhr oder – noch schlimmer – durch Gerüchte. „Kann ich Sie einen Moment sprechen, Schwester? Unter vier Augen?“

„Sicher.“ Flora deutete auf ihr Büro.

Lucy holte tief Luft.

Was der Stationsschwester nicht entging. „Heraus mit der Sprache, Palmer“, befahl sie, als sie allein waren.

„Ich bin schwanger.“ Sie erwartete Enttäuschung, Ärger, Ablehnung. Bestimmt hatte Flora Pläne mit ihr, die sie mit ihrer Schwangerschaft jetzt durchkreuzte. Aber zu ihrem Erstaunen blickte Flora sie ungewohnt milde an.

Dann trat sie einen Schritt vor, legte Lucy den Arm um die Schulter und drückte sie kurz, bevor sie wieder Haltung annahm.

„Das erklärt einiges“, antwortete sie rau, räusperte sich und lächelte. „Sie kamen mir ein bisschen abwesend vor. Und Dr. Kefes kümmert sich um Sie? Er weiß es also?“

Lucy nickte. „Ich hatte vergessen, ein paar Tests zu machen, und er hat mich daran erinnert.“

„Er ist ein guter Mann.“ Unerwartet setzte sie hinzu: „Verlieren Sie nicht Ihr Herz an ihn. Kann leicht passieren, bei diesen Geburtshelfern.“

Ein Bild von Dr. Kefes tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und Lucy erinnerte sich zu genau an das verwirrende Gefühl, das sie durchrieselt hatte. Vorhin, als er sie anlächelte. „Natürlich nicht. So dumm bin ich nicht.“

Flora schnaubte leise und blickte sie weiterhin durchdringend an. „Gibt es einen Mann? Haben Sie Hilfe?“

Lucy schüttelte den Kopf.

„Familie?“

Wieder schüttelte sie den Kopf. Klar, sie konnte davon träumen, dass sich ihre Mutter urplötzlich in eine mitfühlende, fürsorgliche Mummy verwandelte, die sie nach Kräften unterstützte. Aber das würde nicht passieren. Eher das Gegenteil. Deshalb hatte Lucy sich auch noch nicht dazu aufraffen können, ihre Mutter anzurufen.

„Ich halte Ihnen den Rücken frei, Palmer. Gehen Sie nach Hause. Ruhen Sie sich aus. Und wenn Sie Hilfe oder einen Rat brauchen – fragen Sie!“

Lucy hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Was für ein Glück, dass sie Flora May als Vorgesetzte hatte! Weil ihre Stimme ihr nicht gehorchte, nickte sie nur.

Flora lächelte. „Passen Sie auf sich auf, Palmer. Ich habe immer noch Großes mit Ihnen vor.“

Jetzt war sie drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Sie musste schnell weg von hier, bevor sie sich lächerlich machte … indem sie sich schluchzend an die gestärkte Kittelbrust der Stationsschwester warf.

Fast fluchtartig verließ Lucy die Station, vorbei an Cass, die für ein paar Wochen im Tagdienst arbeitete und ihr jetzt neugierig nachsah.

Sie vergaß die Bluttests, hastete zum Fahrstuhl und drückte ungeduldig den Knopf.

Die Türen öffneten sich. In der Kabine stand ein einziger Fahrgast – Nikolai. „Gehen Sie jetzt ins Labor?“

Ach, du Schande, dachte sie. Schon wieder vergessen. Nie im Leben hätte sie das zugegeben. „Verfolgen Sie mich?“ Angriff war die beste Verteidigung.

Er zog spöttisch die schwarzen Brauen hoch. „Dürfte schwierig sein, aus einem Fahrstuhl heraus. Ich kann nicht durch Wände sehen.“

Lucy zuckte insgeheim zusammen. Im Nachhinein kamen ihr ihre Worte unhöflich und undankbar vor. Dr. Kefes konnte ja nichts dafür, dass sie fix und fertig war. „Entschuldigung.“ Sie seufzte. „Ja, ich bin auf dem Weg zum Labor.“

Der Lift hielt, ein Arzt und eine Ärztin, beide im weißen Kittel, beide mit ausdruckslosem Gesicht, betraten den Aufzug.

Lucy erkannte Callie Richards, die Kinderärztin, die Sallys Baby betreute. Sie und ihr Kollege nickten Dr. Kefes zu, würdigten einander jedoch kaum eines Blickes. Die Luft schien plötzlich zu knistern, so angespannt war die Stimmung.

Auch für andere ist das Leben nicht nur eitel Sonnenschein, dachte Lucy. Der Mann sah Nick fragend an, der verzog keine Miene. Dr. Richards schenkte Lucy ein gezwungenes Lächeln, das sie verlegen erwiderte.

Zwei Etagen tiefer verließen die beiden den Fahrstuhl wieder. Als die Türen sich schlossen, atmete Lucy hörbar aus. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hatte. „Wer war der Mann?“, fragte sie.

Nick lächelte. „Cade Coleman, der Pränatalchirurg aus New York.“

„Ich hatte ihn noch nicht kennengelernt.“

Sie erreichten das Erdgeschoss, und das Lämpchen für „Aufwärts“ fing an zu blinken. Lucy fiel erst jetzt auf, dass sie ja den Knopf für das Untergeschoss nicht gedrückt hatte.

Nikolai schüttelte den Kopf und erledigte das für sie. „Arbeiten Sie am Montag?“

„Ab ein Uhr mittags.“

Er verließ den Lift, hielt aber mit einer Hand die Türen offen. „Kommen Sie vorher zu mir, damit wir die Resultate besprechen können? Zwölf Uhr dreißig in meinem Büro? Nur für den Fall, dass Sie vergessen, sich einen Termin zu holen.“

Oh, oh. „Ja, natürlich, danke.“ Als er die Hand wegnahm, damit sich die Türen wieder schließen konnten, fügte sie hinzu: „Sind Sie bei all Ihren Patientinnen so hilfsbereit?“

Nick zuckte mit den Schultern, seine Miene war nicht zu deuten. „Nur bei denen, die ständig ihre Bluttests vergessen.“

„Da haben Sie recht“, entgegnete sie kess und wurde mit einem Lächeln belohnt, bei dem ihr ganz heiß wurde. Lucy blickte Dr. Kefes nach, bis sich die Türen schlossen. Der Lift schwebte nach unten. Na gut, sie hatte wieder nicht an die Tests gedacht, aber sie war wirklich fertig. Wenn sie erst zu Hause war, wollte sie sofort ins Bett. Endlich ausschlafen!

Nachdem sie drei Stunden lang wie ein Stein geschlafen hatte und das Gespräch mit Flora May ihr zusätzlich Mut machte, beschloss Lucy am Abend, ihre Mutter anzurufen. Sie sah zur Uhr. Freitagabends verabredete sich ihre Mutter mit ihren Freundinnen zum Essen, bevor die Frauen dann durch die Nachtklubs zogen. Lucy hoffte nur, dass sie den richtigen Zeitpunkt erwischte und ihre Mutter nicht mehr in der Badewanne lag oder sich die Nägel machte. Eine aufwendige Prozedur, die vor jeder Verabredung stattfand und bei der sie sich ungern stören ließ.

„Mum? Hier ist Lucy.“

Die Reaktion war, milde ausgedrückt, verhalten. Lucy seufzte. Warum hoffte sie eigentlich immer wieder darauf, dass ihre Mutter sich nur ein bisschen freute, weil sie anrief?

„Ich weiß, dass du noch ausgehst. Kann ich kurz mit dir reden?“

Sie hatte kaum ausgesprochen, dass sie schwanger, da brach ein Gewitter verbitterter Beschimpfungen über sie herein. War ja klar, dass du deine Mutter enttäuschst … natürlich musst du genau das tun, wovor ich dich immer gewarnt habe … schamloses, dummes Mädchen … bilde dir bloß nicht ein, dass ich mit deinen Bälgern etwas zu tun haben will … ich werde bestimmt niemandem erzählen, dass ich Großmutter werde … was für eine Schande …

Und so ging es weiter. Lucy rollte sich Schutz suchend zusammen, während ihr die Kälte in alle Glieder kroch und ihr Kopf sich wie betäubt anfühlte. Sie merkte kaum, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Als ihre Mutter Luft holen musste, flüsterte Lucy nur: „Ich bekomme übrigens Zwillinge.“

Die Schockstarre am anderen Ende war durch die Leitung hindurch zu spüren, und Lucy legte einfach auf. Genug ist genug.

Es war genauso schrecklich gewesen, wie sie befürchtet hatte. Sogar noch schlimmer. Sie holte tief Luft, versuchte, ihre Schultern zu lockern, die sich anfühlten, als hätte man sie in einen Schraubstock gezwängt.

Mit einer Hand tastete sie nach ihrem Bauch. Ihr seid keine Bälger, dachte sie. Ihr seid meine wundervollen Babys und bestimmt besser dran ohne eine giftige Großmutter.

In dieser Nacht schlief Lucy überraschend tief und so fest wie seit einer Ewigkeit nicht mehr.

Am Samstag erledigte sie an Hausarbeit nur das Nötigste, faulenzte und tat, was ihr Spaß machte, um ihre Akkus aufzuladen. Die kommende Woche würde wieder anstrengend werden.

Sie begann, Tagebuch zu schreiben. Sie notierte ihre Gedanken und alles, wofür sie dankbar sein konnte. Und sie sprach mit ihren Babys. Es war ein herrliches Gefühl.

Sonntagmorgen fühlte sie sich wunderbar ausgeruht. Es ging ihr besser, viel besser. Vielleicht, weil sie den gefürchteten Anruf endlich hinter sich gebracht hatte.

Nachts war sie aufgewacht und hatte zum ersten Mal eine unbändige Vorfreude auf die kommende Zeit verspürt. Ihr Weg lag klar vor ihr. Sie würde nicht hadern mit etwas, das sie sowieso nicht ändern konnte, sondern das Beste daraus machen. Dazu war sie fest entschlossen.

Ihre Arbeit als Hebamme musste vorerst hintenanstehen, aber ihr Beruf bereitete sie wenigstens auf Schwangerschaft und Geburt vor. Etwas, wofür sie auch dankbar war.

Lucy war felsenfest davon überzeugt, dass ein tieferer Sinn darin lag, dass sie ausgerechnet jetzt Zwillinge erwartete. Auch wenn dieser sich ihr noch nicht erschlossen hatte.

Heute war ein traumhafter Tag, sie hatte seit Wochen zum ersten Mal wieder Appetit, und sie lebte an einem paradiesischen Flecken Erde mit dem Ozean direkt vor der Nase. Na, wenn das kein Grund zum Feiern war!

Erfüllt von neuer Energie räumte Lucy ihr Häuschen auf und machte sich dann auf dem Grundstück nützlich. Sie zupfte vertrocknetes Laub aus dem verschnörkelten schmiedeeisernen Zaun, reinigte den Aquariumfilter und putzte mit dem Dampfreiniger die Terrasse, auf der der Sturm vor einigen Tagen eine Salzkruste hinterlassen hatte.

Sie liebte die vordere Terrasse. Von hier aus konnte man direkt auf den schneeweißen Sand hinter dem Zaun blicken, die Surfer beobachten und gelegentlich einen Wal oder einen Delfin entdecken.

Lucy summte einen Countrysong vor sich hin, während sie den Abfall nach draußen brachte. Das Gartentor quietschte, also holte sie die Sprühdose mit dem Schmiermittel und sang auf dem Rückweg munter ein paar Worte des Songs. Am Tor angekommen, tätschelte sie ihren Bauch. „Wir schaffen das schon, Kinder.“

Nicks Sonntagmorgen fing nicht gut an. Er hatte bei Chloe geklopft, um zu fragen, ob sie mit ihm frühstücken wollte. Praktischerweise wohnte sie im Apartment nebenan. Nick hatte einen Bärenhunger und hätte nebenbei auch gern gehört, wie es seiner Schwester ging.

Leider kam auch nach dem dritten Klopfen niemand an die Tür. Entweder war Chloe nicht da, oder sie hatte keine Lust auf Besuch. Er beschloss, eine Runde joggen zu gehen, vielleicht hatte er hinterher mehr Glück.

Ihm war langweilig, was selten genug vorkam, und auch gegen die innere Unruhe war Laufen die beste Medizin.

Es war großartig, den Strand entlangzujoggen, die Sonne im Gesicht zu spüren und die salzige Luft tief einzuatmen. Seine Stimmung hob sich, die innere Ruhe kehrte zurück. Dafür knurrte sein Magen immer lauter, und Nick lief das Wasser im Mund zusammen, wenn er an das sagenhafte Sonntagsfrühstück dachte, das hier an der Gold Coast angeboten wurde. Lokale, die das üppige Schlemmermahl mit Blick auf den Ozean anboten, gab es genug. Die Aussicht, allein essen zu müssen, war jedoch weniger verlockend.

Natürlich waren überall Leute. Am Wasser trainierte eine Gruppe Kinder Lebensrettungsmaßnahmen. Die Kleinen trugen die typischen, unterm Kinn gebundenen gelben Kappen der Rettungsschwimmer und bunte Schwimmflügel. Surfer paddelten auf ihren Brettern weit raus, um die perfekte Welle zu erwischen. Nick wünschte, er hätte sich ein Surfboard gekauft, musste aber gleich an die spöttische Bemerkung seiner Schwester denken. Na, dann betätigst du dich zur Abwechslung mal körperlich, ohne dass Sex im Spiel ist.

Ich weiß gar nicht, was sie hat, dachte er. Zugegeben, er führte ein ziemlich sorgloses Liebesleben. Nicht dass er die Frauen wechselte wie seine Hemden, aber er verspürte nun einmal nicht das Bedürfnis, zu jemandem zu gehören.

Seine Arbeit war ihm das Wichtigste, und warum nicht Spaß haben mit Frauen, die ähnlich dachten wie er? Er brauchte keine Beziehung.

Allerdings hätte er jetzt nichts gegen einen netten Flirt. Seine Gedanken gingen auf Wanderschaft, während seine Sportschuhe rhythmisch auf dem Asphalt federten. Wie von seiner Fantasie heraufbeschworen, entdeckte er ein hübsches Surfergirl, das neben der Auffahrt zu einer der Villen kniete und sich am Tor zu schaffen machte. Heller Minirock, luftiges, zartfließendes Top – Nick lächelte anerkennend, während er näher kam.

Die Sonne zauberte Glanzlichter in die langen rotbraunen Locken, die das Gesicht verbargen, und so wie sie sich vorbeugte, erahnte man üppige Kurven. Rundungen, die Männer mochten und Frauen nicht.

Nick war nicht auf den Schock gefasst, als sie aufblickte. Diesen Rosenknospenmund und die goldbraunen Augen kannte er. Kein süßes Surfergirl. Es war Lucy. Lucy mit Zwillingen.

„Sonderbar.“ Sein Verstand schien auszusetzen. Warum sonst sprach er seine Gedanken laut aus? „Hallo“, fügte er wenig originell hinzu, aber ihm fiel nichts Besseres ein.

Sie lächelte, musterte ihn von oben bis unten. „Ist ja noch die Frage, wer hier sonderbar ist. Ich trage keine schwarzen Socken zu Laufshorts und Turnschuhen.“

„Autsch.“ Nick blickte an sich herunter und beschloss, die schwarzen Socken wegzuwerfen. Obwohl sie kaum zu sehen waren. „Sie sollten wissen, dass das der neueste Trend ist.“

„Aha.“ Sie richtete sich auf und strich sich dabei das Haar aus dem Gesicht. Die rote Mähne leuchtete im Sonnenlicht wie Feuer. Seltsam, dass ihm bei der Arbeit nicht aufgefallen war, was für tolle Haare sie hatte. „Und wo rennen trendige Jogger hin?“

„Meistens zum Strand und wieder zurück. Zum Krankenhausgebäude, wo viele trendige Mitarbeiter wohnen.“ Du hörst dich an wie ein Idiot. Nick wandte sich ab und zeigte auf den Apartmentblock in der Ferne.

„Hatte mich schon gefragt, wo das ist.“

Er blickte sie wieder an, als sie gerade den Kopf drehte, um in die von ihm gezeigte Richtung zu sehen. Die Brise spielte mit ihren Haaren. Bisher hatte er für Rothaarige nichts übrig gehabt, aber diese hier fand er faszinierend. Hieß es nicht immer, dass Frauen mit flammend roten Haaren besonders feurig und leidenschaftlich waren? Er stellte sich eine temperamentvolle Lucy vor und musste lächeln.

„Ich wusste nicht, dass es dicht beim Krankenhaus ist. Wohnen Sie schon lange dort?“

Seine Gedanken waren zu fünf Prozent bei der Unterhaltung. Der Rest befasste sich mit dem zauberhaften Anblick vor ihm. „Seit zwei Jahren. Tür an Tür mit meiner Schwester. Sehr praktisch.“

„Jemand hat erzählt, dass Sie eine Schwester haben, die am Gold Coast City als Krankenschwester arbeitet.“

Nick versuchte, ihr nicht in den Ausschnitt zu starren. „Ja, der Tratsch.“ Mehr fällt dir nicht ein? „Früher haben wir zusammengewohnt, aber sie wollte etwas Eigenes.“ Du plapperst. „Es ist nahe genug am Krankenhaus, sodass ich zu Fuß zur Arbeit gehen kann. Oder laufen, bei einem Notfall. Meistens fahre ich jedoch mit dem Auto, weil ich hinterher noch ausgehe.“

Sie lächelte, und er hatte das Gefühl, die Sonne ging auf. Sein Mund war ganz trocken. Bestimmt vom Joggen. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, ihm einen Drink anzubieten. „Ist das Ihr Haus?“ Er wollte nicht so überrascht klingen und war froh, als sie anfing zu lachen. Nichts lag ihm ferner, als sie zu kränken.

„Na klar.“ Ihre Mundwinkel zuckten. „Ich habe heimlich ein paar Millionen gehortet.“ Sie lachte wieder. „Nein, ich passe auf das Haus auf. Die Besitzer sind Freunde eines älteren Ehepaars, das sich oft um mich gekümmert hat, als ich noch ein Kind war.“

„Schönes Anwesen. Wohnen Sie in der Villa?“

„Nein.“ Wenn sie den Kopf schüttelte, war der Anblick noch besser. Sie hatte wirklich tolle Brüste.

Nick wusste, dass er verschwinden sollte, aber er genoss den Plausch mit ihr. Sie war unbefangen und bezaubernd lebhaft. Die Frauen, mit denen er ausging, waren anders. Jeder Blick, jedes Lachen gekonnt eingesetzt, um ihm zu gefallen. Lucy legte es gar nicht erst darauf an. Gut so, denn eine Affäre war das Allerletzte, was sie gebrauchen konnte. Und mehr kam für ihn nicht infrage.

„Ich wohne hinten im Gartenhäuschen, genau das Richtige für mich. Alle zwei Tage lüfte ich im Haupthaus, gieße die Blumen und füttere die Fische.“

Hörte sich entspannt an. Er stellte sich vor, wie sie vor sich hin summte, während sie ihre Aufgaben erledigte. „Oder ölen das Tor?“

Sie schwenkte die Spraydose. „Genau. Praktisch und handwerklich geschickt – Lucy hat alles im Griff.“

„Nett.“ Nick stellte sich vor, wo er gern hingegriffen hätte, und gab sich mental einen Klaps auf die Finger. „Hätten Sie Lust, frühstücken zu gehen?“

Wo kam das auf einmal her? Er glaubte nicht, dass er das gesagt hatte. Und doch hörte er sich sagen: „Vielleicht Eier mit Schinken drüben im Surfklub beim Elephant Rock? Ich lade Sie ein. Wir könnten versuchen, auf der Veranda einen Tisch zu bekommen, um ein bisschen Vitamin D zu tanken.“

Was war in ihn gefahren? Ein Teufel, der seinen Mund benutzte? Sie ist deine Patientin – und eine Kollegin. Mit dieser Einladung konnte er sich in arge Schwierigkeiten bringen!

Ein Leuchten glitt über Lucys Gesicht. Es war das glücklichste Lächeln, das er in dieser Woche gesehen hatte. Zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Und dass sie sich so sehr über seinen Vorschlag freute …

„Natürlich bezahle ich selbst“, sagte sie da. „Aber ich liebe dieses Lokal!“

Auf ihre Unabhängigkeit bedacht. Er hatte nichts anderes vermutet. Allerdings wäre er jede Wette eingegangen, dass sie im Moment genauso einsam war wie er.

„Und Sonnenlicht ist für Schwangere sehr wichtig.“ Sie strahlte ihn an. „Ein Frühstück am Strand, himmlisch! Gut, dass ich wieder Appetit habe.“

Nick war sehr zufrieden mit sich. Er bekam ein warmes Frühstück, musste es nicht allein essen, und er hatte eine Frau glücklich gemacht – und das mit einer einzigen Eingebung. Teuflisch? Nein, großartig! „Ich hole meinen Wagen und hole Sie in …“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „… sagen wir fünfzehn Minuten ab?“

„Wunderbar.“

Nick hob grüßend die Hand und joggte los, auf das Wohnhaus weiter oben an der Straße zu. Dahinter erhob sich der mächtige Krankenhauskomplex.

Gut für die Patienten, wenn die Chefärzte ganz in der Nähe wohnen, dachte Lucy.

Also joggte Dr. Kefes regelmäßig an ihrem Haus vorbei. Heute Morgen hatte sie ihre Ohrstöpsel dringehabt und ihn nicht kommen hören. Als er stehen blieb, hielt sie ihn erst für einen dieser gut gebauten, athletischen Jogger und hatte nichts dagegen, den Anblick zu genießen. Als sie ihn dann erkannte, war sie so verblüfft gewesen, dass ihr Verstand sich verabschiedete.

Sonst hätte sie wohl kaum die blöde Bemerkung über seine Socken gemacht. Sie hätte sich die Zunge abbeißen mögen, nachdem ihr das herausgerutscht war.

„Nur der Versuch, ihn menschlich zu machen“, murmelte sie und musste ein Lachen unterdrücken.

Sie verpasste den Torangeln einen letzten großzügigen Sprühstoß und stand auf. Du wirst nicht nervös werden, weil du mit Nikolai frühstücken gehst, sagte sie sich. Dr. Kefes, korrigierte sie sich. Schließlich hatte er ihr nicht ausdrücklich angeboten, Nick zu ihm zu sagen. Wie auch immer, sie fühlte sich beschwingt und so gut wie seit Wochen nicht mehr. Lucy beschloss, einfach den Tag zu genießen – er versprach, aufregend zu werden!

Autor

Abigail Gordon
Abigail Gordon ist verwitwet und lebt allein in einem Dorf nahe der englischen Landschaft Pennines, deren Berggipfelkette auch das „Rückgrat Englands“ genannt wird.
Abigail Gordon hat sich besonders mit gefühlvollen Arztromanen einen Namen gemacht, in denen die Schauplätze meistens Krankenhäuser und Arztpraxen sind.
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