Mein verwegener Duke

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Rohan Kilburn, Duke of Warrington, wird niemals einer Frau seine Gunst schenken! Als Mitglied im berüchtigten Inferno Club genießt er die Freuden des Fleisches, ohne sich Gefühle zu erlauben. Bis Kate vor ihm auf dem Boden liegt - eine geheimnisvolle Schöne, als Geschenk von seinen Untergebenen überbracht. Anstatt sie zu nehmen und danach zu vergessen, spürt Rohan etwas Ungewohntes in sich: Das stolze Mädchen rührt sein Herz. Doch so sehr das Verlangen nach echter Liebe auch in ihm brennt: Er darf Kate nicht küssen. Denn die Männer seiner Familie sind dazu verflucht, ihre Herzdamen zu töten ...


  • Erscheinungstag 12.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738570
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Cornwall, 1816

Sie sollte ihm als Geschenk überreicht werden – ein Spielzeug für irgendeinen mächtigen, mysteriösen Fremden. Kate vermochte kaum zu verstehen, wie ihr Leben eine solche Wendung hatte nehmen können. Ihr Zorn über dieses entsetzliche Schicksal wurde jedoch gedämpft durch die Droge, die die Entführer ihr eingeflößt hatten.

Die Mohntinktur hatte jeden Kampfgeist schnell zum Erlöschen gebracht.

Innerhalb einer halben Stunde, nachdem sie gezwungen worden war, das Gebräu hinunterzuschlucken, war Kate ruhig geworden, ihr Verstand umnebelt, ihre für gewöhnlich scharfen Proteste erstickt. Die Hände, die sie eben noch zu Fäusten geballt hatte, fühlten sich kraftlos an, als die Frauen der Schmuggler hereinkamen, um sie für ihr Verhängnis vorzubereiten.

Kaum mehr als halb bei Bewusstsein, nur noch fähig, Ja oder Nein zu sagen, war sie ganz untypisch gehorsam, als die Frauen sie grob wuschen und sie kleideten wie eine Hure für ihren Freier.

Kate wusste nicht, was die Schmuggler getan hatten, um den Duke of Warrington zu verärgern, aber nach dem, was sie vermutete, sollte sie die geopferte Jungfrau sein, mit der sie seinen Zorn zu besänftigen hofften.

Er war dafür bekannt, einen unersättlichen Appetit auf Frauen zu haben.

Das und der Umstand, dass er sich mit allen Formen der Gewalt auskannte, waren die Gründe, warum ihn die Leute in der Umgebung als „das Biest“ bezeichneten.

Nichts davon schien wirklich zu sein. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, dieses schamlos offenherzige und sehr durchsichtige weiße Musselingewand, in das man sie gekleidet hatte, lachte sie bitter auf. Halb nackt, wie sie war, zitterte sie heftig – weniger vor Kälte als vielmehr aus Angst vor der bevorstehenden Nacht.

Nur das beruhigend wirkende Mittel tröstete sie ein wenig, vertrieb ihre Ängste wie der Winterwind, der durch das Küstendorf heulte und den Rauch von den Schornsteinen mit sich nahm.

Die Frau, die ihr die Kletten aus dem langen braunen Haar kämmte, skalpierte sie beinahe dabei. Anschließend bespritzte man sie mit billigem Parfüm, dann traten die Frauen zurück, um ihr Werk zu begutachten.

„Ganz hübsch“, erklärte eine der Schmugglerfrauen, die alle wettergegerbte Gesichter hatten. „Besonders jetzt, wo sie gewaschen ist.“

Aye, so sollte sie dem Biest gefallen“, erwiderte eine andere.

„Aber sie is’ immer noch zu bleich“, meinte eine Dritte. „Leg ihr etwas Rot auf, Gladys!“ Gladys war die zweite der Frauen, die sie wie eine Hure herausgeputzt hatten.

Das alles schien einer anderen zuzustoßen. Nicht gerade sanft rieb man ihr jetzt rosafarbene Paste auf die Wangen und auf ihre Lippen.

„So, fertig!“ Sie zogen Kate auf die Füße und schoben sie in Richtung Tür.

Trotz ihrer Benommenheit weckte die Aussicht, den engen Raum zu verlassen, der bisher ihr Gefängnis gewesen war, Kate ein wenig aus ihrer Trägheit.

„Halt“, murmelte sie. „Ich … ich habe keine Schuhe.“

„Deswegen kannst du ja auch nich’ weglaufen, Miss Schlaukopf“, fuhr Gladys sie an. „Hier, trink den Wein aus. Ich würde es an deiner Stelle machen. Er wird nich’ gerade sanft mit dir umspringen.“

Kate starrte sie an, machte bei dieser Warnung große Augen, aber sie widersprach nicht. Sie nahm den Becher, in den man auch die Mohntinktur hineingegeben hatte, und trank den letzten Schluck des Rotweins. Die grobschlächtigen Frauen lachten, wohl, weil sie dachten, dass sie ihren Willen endlich gebrochen hätten.

Wäre da nicht die starke Dosis Laudanum gewesen, sie hätte sich jetzt mit aller Kraft gewehrt, hätte geschrien, so wie in jener Nacht vor einem Monat, als sie entführt worden war.

Stattdessen trank sie ohne Widerstand den Becher leer und reichte ihn den Frauen mit einem ebenso finsteren wie verlorenen Blick zurück.

Die wiederum fesselten ihr mit einem Strick die Handgelenke und führten sie ins Erdgeschoss des schäbigen kleinen Hauses.

Dort warteten der alte Caleb Doyle und die übrigen Anführer des Schmugglerrings darauf, sie zum Schloss hinaufzubringen. Kate wagte es nicht, einem von ihnen in die Augen zu sehen. Es war ihr peinlich, dass man sie wie eine Hure gekleidet hatte – sie, die immer stolz auf ihren Verstand gewesen war und nicht auf ihr Aussehen.

Zum Glück machte sich niemand über sie lustig. Das hätte sie nicht ertragen, wenn man sie in ihrem Stolz noch weiter verletzt hätte; er war sowieso schon gebrochen.

Trotz ihres vernebelten Kopfes bemerkte sie die ernste Stimmung der Männer. Keine Spur von vulgärer Heiterkeit, die sie von den Bewohnern des Schmugglerdorfs erwartet hätte.

In dieser Nacht war ihre seltsame Furcht beinahe greifbar, und das steigerte ihre eigene noch um ein Vielfaches.

Himmel, zu was für einem Mann brachten sie sie, dass diese sicherlich sonst raubeinigen Verbrecher zitterten wie geprügelte Hunde vor ihrem grausamen Herrn?

„Habt ihr aus der kleinen Wilden endlich eine Dame gemacht?“, fragte Caleb, der Anführer, seine Frau.

Aye. Sie zeigt jetzt endlich Manieren“, sagte Gladys und fügte hinzu: „Keine Sorge, Mann. Sie wird seinen Zorn schon besänftigen.“

„Hoffen wir, dass der Köder funktioniert und er anbeißt“, meinte Caleb. Er wandte sich ab, aber Gladys packte ihn am Arm und zog ihn zur Seite.

„Bist du sicher, dass du das riskieren willst?“

Er lachte verächtlich. „Welche Wahl hab ich sonst?“

Obwohl das Paar flüsterte, stand Kate so nahe bei ihnen, dass sie den Wortwechsel hörte – allerdings konnte sie sich keinen Reim darauf machen, denn ihr gewöhnlich so klarer Verstand setzte einfach aus. Was zweifellos beabsichtigt war.

„Warum sprichst du nich’ einfach mit ihm, Caleb? Er wird wütend sein, das schon, aber wenn du ihm erklärst, was passiert ist …“

„Ich bin’s leid, vor ihm zu kuschen“, gab ihr Mann ärgerlich zurück. „Denk mal an die Antwort, die der vornehme Duke uns geschickt hat, als wir ihn das letzte Mal um Hilfe gebeten haben. Der kaltherzige Bastard! Trifft sich mit Prinzen und Zaren und is’ auf dem Kontinent in wer weiß was für dunkle Geschäfte verwickelt. Seine Hoheit is’ zu beschäftigt, um sich mit unsereinem abzugeben“, fügte er bitter hinzu. „Ich kann mich nich’ mal mehr erinnern, wann er sich das letzte Mal die Mühe gemacht hat, nach Cornwall zu kommen. Weißt du es noch?“

„Das is’ lange her“, räumte sie ein.

„Ja, und diesmal is’ er auch nur wegen dem verdammten Wrack gekommen. Er schert sich einen Dreck um uns, auch wenn wir seine Leute sind. Wenn du mich fragst, hat er vergessen, woher er stammt. Aber diese kleine Lektion wird ihm helfen, sich daran zu erinnern.“

„Caleb!“

„Ich hab keine Angst vor ihm! Keine Sorge. Wenn er das Mädchen gehabt hat, wird er bis zum Hals mit drinstecken, ob er will oder nich’. Dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als uns zu unterstützen.“

„Aber wenn du dich irrst, dann wird die Hölle los sein.“

„Dann is’ das eben so“, erwiderte er, und in seine alten, müden Augen trat ein harter Glanz. „Die Alternative is’ nich’ besser, Gladys. Da wähl ich doch den Teufel, den ich kenne.“

„Na schön, wenn du dir da so sicher bist. Ab mit dir.“ Gladys verschränkte die Arme vor der Brust.

Caleb Doyle drehte sich um, das von Sonne, Sturm und Regen gezeichnete Gesicht angespannt, und deutete auf seine Männer. „Los jetzt. Bringt das Mädchen zu ihm. Wir sollten den vornehmen Herrn nicht warten lassen.“

Zwei der Schmuggler fassten Kate an den Armen und schoben sie ohne zu zögern hinaus in die eiskalte Januarnacht.

Ihr tat der Kopf weh, während sie versuchte, in der Unterredung der Doyles einen Sinn zu erkennen. Der Inhalt des Gesprächs war eine erste Erklärung für das, was hier geschah, aber durch das Laudanum arbeitete ihr Gehirn zu langsam, um damit etwas anfangen zu können. Sie schwankte zwischen Angst und befremdlicher Euphorie. Es war klar, nur einem einzigen Gedankengang zu folgen, das war in ihrer momentanen Situation zu anstrengend. Viel einfacher war es, sich treiben zu lassen …

Inzwischen hatten die Schmuggler ihren kraftlosen Körper hochgehoben und sie in die zweite von drei zerbeulten Kutschen gesetzt, die vor dem Haus bereitstanden. Caleb warf ihr eine zerfetzte Decke zu, damit sie sich nicht den Tod holte. Er sah sie wachsam an, als ahnte er, dass sie gelauscht hatte.

Gleich darauf fuhren sie los nach Kilburn Castle, dem Familiensitz des Biests.

Als die kleine Karawane aus dem windumtosten Dorf hinausfuhr, starrte Kate aus dem Kutschenfenster, ohne Einzelheiten wahrzunehmen.

Am Himmel lugte die Sichel des Mondes durch die Wolkenfetzen, und ab und zu blitzten die Sterne hindurch. Doch letztlich schienen die Sternbilder des Winters im schimmernden Dunkel des Kanals zu verschwinden.

Im Hafen schaukelten schwach erkennbar die Laternen der Schmugglerschiffe, die während der kalten Nacht vor Anker lagen.

Vor ihnen schlängelte sich die Straße einen Hügel hinauf, der die kleine Kolonne langsam folgte. In der Ferne erhob sich der schwarze Turm von Kilburn Castle.

Einen Moment lang lehnte Kate ihre Stirn gegen das Kutschenfenster und starrte wie benommen zum Schloss hinauf. Sie hatte genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was sie dort wohl erwarten würde. Durch das Fenster des kleinen Raumes, der in den vergangenen Tagen ihre Zelle gewesen war, hatte sie den Turm sehen können, der in einigen Meilen Entfernung oben auf der Klippe stand.

Der Legende zufolge spukte es in dem Schloss, denn die Familie des Schlossherrn war verflucht.

Verstimmt schüttelte sie den Kopf. Purer Aberglaube der Bauersleute. Der Duke of Warrington war nicht verflucht, sondern einzig und allein grausam. Das hätte sie diesen ungebildeten Schmugglern erklären können, wäre sie dazu nur in der Lage gewesen. Einzig ein grausamer Mann würde sich zu einem solch schrecklichen Unterfangen, wie es ihr jetzt bevorstand, hinreißen lassen. Etwas anderes konnte sie sich nicht vorstellen.

Wenn sie dem Klatsch glauben durfte, den sie in den vergangenen Tagen von den Frauen der Schmuggler gehört hatte, gehörte der Duke zur schlimmsten Sorte, die es unter den Aristokraten gab – reich, mächtig, korrupt. Tief in Ausschweifungen verstrickt. Sie hatte auch gehört, dass die Frauen sich erzählten, der Duke gehörte einer Gesellschaft von Wüstlingen und Libertins an, die sich Inferno Club nannte.

Womit er sich dort vergnügte, ließ sie erschauern, wenn sie nur daran dachte.

Ihn zu hassen erschien ihr allerdings ebenso sinnlos, wie sich zu fragen, was ihr wohl auf Kilburn Castle zustoßen würde.

Von Anfang an hatte sie nicht ganz verstanden, warum sie überhaupt entführt worden war. Sie lebte zurückgezogen am Rande des Moors, mit ihren Büchern und Schriften. Sie blieb für sich und belästigte niemanden. Soweit sie wusste, hatte sie keine Feinde.

Allerdings auch keine Freunde, wie sie zugeben musste.

Warum sollte irgendjemand es auf sie abgesehen haben?

Seit ihrer Kindheit hatte sie eine Vorliebe für Rätsel – aber dieses konnte sie nicht lösen. Jedoch hatte sie ihre eigenen Schlüsse gezogen, die auf den wenigen Fakten beruhten, die sie kannte.

Die Schmuggler hatten auf dem Schwarzmarkt gehandelt, der mit Ende des Krieges jedoch verschwunden war. Jetzt, in Friedenszeiten, wurden keine Steuern mehr auf französische Luxusgüter erhoben.

Über Cornwall waren schwere Zeiten hereingebrochen. Daher mussten die Schmuggler, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, auf noch dubiosere Geschäfte zurückgreifen.

Oh, sie hatte früher schon über sogenannte weiße Sklaven gelesen. Die Zeitungen berichteten immer wieder über kriminelle Organisationen, die junge Frauen ohne Familie entführten und sie heimlich an dekadente Adlige verkauften oder andere reiche Perverse, die sie vergewaltigten, als wäre es eine besondere Art von Vergnügen, ihnen Angst und Schrecken einzujagen.

Obwohl es in den Journalen schwarz auf weiß stand, hatte Kate es nicht geglaubt. Die Verbreitung derartiger Geschichten hatte sie für einen Mythos gehalten, für einen Stoff, aus dem Schauerromane bestanden. Ihnen gehörte ihre heimliche Leidenschaft. Doch jetzt war sie zu ihrem Entsetzen selbst als eine Gefangene hier gelandet – und das, was sie erlebte, war Realität.

Eine derartige Entführung war die einzige Erklärung, die zu passen schien.

Das Gespräch, das die Doyles eben leise geführt hatten, bot ihr neue Erkenntnisse, doch in ihrer Verwirrung war sie nicht in der Verfassung, sie mit ihren Theorien zu vereinbaren. Was immer die Worte bedeuten mochten, es hatte nicht gut geklungen.

Aber wichtiger, als die Frage nach dem Warum zu beantworten, war es, einen Weg aus diesem Dilemma zu finden.

Allmählich näherten sie sich dem Schloss. Ihre Angst wuchs mit jedem Yard, den die Kutschen zurücklegten. Auf einmal wollte sie sich mit aller Kraft gegen die Wirkung des Laudanums zur Wehr setzen. Kate richtete sich auf und fasste nach dem Türgriff. Sie rüttelte daran, aber er ließ sich nicht bewegen.

Selbst wenn es ihr gelang, sich zu befreien, das erkannte sie jetzt, wäre sie halb nackt den Elementen ausgesetzt. Die erbarmungslose Kälte würde sie innerhalb weniger Stunden töten.

Verzweiflung stieg in ihr auf. Sie konnte nicht einmal darauf hoffen, dass eines Tages Gerechtigkeit walten würde. Jeder ging davon aus, dass der Duke praktisch immun war gegen eine gerichtliche Verfolgung, unabhängig davon, welche kriminellen Handlungen er begangen hatte.

Außerdem – wem sollte sie davon erzählen? Und wer würde ihr glauben? Sie konnte es ja selbst kaum fassen. Es sah so aus, als könnte dieser Mann sie umbringen, wenn es ihm Spaß machte.

Nein, zu diesem Zeitpunkt bestand ihre einzige Hoffnung darin, dass er sie am Leben ließ, wenn er mit ihr fertig war, und dass sie vielleicht sogar nach Hause gehen konnte.

Der Gedanke an ihr gemütliches, reetgedecktes Cottage am Rande von Dartmoor trieb ihr vor Heimweh die Tränen in die Augen. Das Opium verstärkte all ihre Gefühle. Sollte sie jemals wieder nach Hause gelangen, so würde sie, das nahm sie sich fest vor, sich nie wieder über ihre ländliche Einsamkeit, draußen auf der Heide, beschweren. Sie hatte entdeckt, dass es weitaus schlimmere Dinge gab als Einsamkeit.

Am schlimmsten war der Gedanke, dass der Dummkopf O’Banyon nicht einmal das richtige Mädchen geraubt hatte!

In der Nacht ihrer Verschleppung hatte O’Banyon, der Anführer dieser Aktion, sie immer wieder bei diesem falschen Namen genannt – Kate Fox statt Kate Madsen.

Sie hieß Kate Madsen.

Mit schwindender Zuversicht dachte sie, dass sich das alles vielleicht als Verwechslung herausstellen könnte. Vielleicht könnte sie den Duke davon überzeugen, dass dies nie hätte passieren dürfen, jedenfalls nicht ihr.

Und doch – eine vage Kindheitserinnerung, ein kleiner Zwischenfall, den sie beinahe vergessen hatte, bohrte ein Loch in ihre Theorie über die weißen Sklavenhändler und weckte damit Angst und Verwirrung, die sie bis ins Innerste erschütterten.

Aber es war keine Zeit, weiter über dieses Problem nachzudenken.

Ihr Schicksal war besiegelt. Sie hatten Kilburn Castle erreicht.

Inmitten einer Landschaft aus kahlen, eisbedeckten Felsen, war die steinerne Fassade des Schlosses in silbernes Mondlicht getaucht und umgeben von nachtschwarzen Schatten.

Kate drehte sich herum, blickte hierhin und dorthin, als die drei Kutschen über die Zugbrücke und unter dem barbarisch anmutenden Torbogen mit seinem gefährlich aussehenden Gitter hindurchfuhren.

Zwei kräftige Wachposten winkten sie durch, ohne die Kutschen anzuhalten.

Aha. Wir werden erwartet.

Sie blickte durch das Fenster auf die Außenmauern des Schlosses. Diese erstreckten sich zu beiden Seiten und verschwanden in der Nacht, gleichsam eine stählerne Umarmung, aus der sie niemals entkommen würde.

Ihr Puls hämmerte. Von hier flüchten? Nein. Das war unmöglich. Selbst wenn sie warm angezogen wäre und bei vollem Bewusstsein – überall standen bewaffnete Männer.

Warum? Warum hat er so viele Wachen?

Das schien ihr nur noch deutlicher zu zeigen, dass der Duke viel zu verbergen hatte.

Sie hatte bereits einige Schlüsse über seinen Handel mit den Schmugglern gezogen. Sie nahm an, dass der Duke als Adliger und Herr über diese Kriminellen den Schmugglern gestattet hatte, sich frei an der Küste zu bewegen, zweifellos im Austausch gegen ihre widerrechtlich erworbenen Gewinne. Vermutlich besorgten die Schmuggler die Mädchen, mit denen die Mitglieder des Inferno Clubs ihren Appetit stillten.

Kein Wunder, dass er so viele Wachen hat, dachte sie. Selbst in ihrem benommenen Zustand begriff sie, dass es nur logisch war, wenn ein reicher Peer, der sich mit der Unterwelt abgab, Maßnahmen ergriff, um für seine Sicherheit zu sorgen.

Vielleicht ist er nur so übervorsichtig, überlegte sie weiter, weil er wie einer jener Tyrannen war, die es ständig in der Geschichte gegeben hatte. Augenblicklich vermisste sie ihre Geschichtsbücher. Cäsar und seine Prätorianergarde, auch der moderne Kaiser Napoleon mit seiner Grande Armée – oder was nach der Schlacht von Waterloo letzten Sommer davon übrig geblieben war.

Wenn der Duke wirklich so paranoid war, dann war ihre Lage vermutlich noch schlimmer, als sie angenommen hatte.

Vor ihr erhob sich die Festung vor dem nächtlichen Himmel. Die Kutschen hatten jetzt den Innenhof erreicht und kamen zum Stehen.

Als das Klappern der Pferdehufe aufhörte, wurde Kate von einer neuen Welle der Panik erfasst, und jede Hoffnung auf eine wundersame Rettung löste sich in nichts auf.

Rasch sprangen die Schmuggler aus den drei Kutschen. Die Tür des mittleren Gefährts wurde aufgestoßen, und kalte Luft wehte herein.

„Raus mit dir!“, befahl Caleb schroff, griff in die Kutsche und zog Kate heraus.

Sie umklammerte die viel zu kleine Decke und versuchte, sich vor den Blicken zu schützen, doch der Mann entriss sie ihr, sodass sie in ihrem freizügigen Gewand nahezu entblößt dastand. „Das brauchst du nicht.“

Als sie mit den Füßen den Boden des Innenhofs berührte, stieß sie einen kleinen Schmerzensschrei aus, denn die dünnen weißen Strümpfe boten keinen Schutz vor der frostigen Kälte der Pflastersteine.

Doyle winkte mit einer Kopfbewegung seine Untergebenen herbei. „Helft ihr!“

Aye, Sir.“ Die beiden Männer packten sie an den Ellenbogen und zerrten sie weiter zu dem gotischen Eingang.

Ihr klapperten die Zähne, und sie fröstelte heftig, während sie sich nach Kräften bemühte, sich aufrecht zu halten. Doch ihre Knie waren weich vor Angst, und die beinahe nackten Füße schmerzten bei jedem Schritt.

Orientierungslos und taumelig, wie sie war, ging es ihr durch den Kopf, dass jetzt vermutlich jeder, der sie sah, sie tatsächlich für eine betrunkene Dirne halten würde. Himmel, ihre vornehme Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie sie so erblicken würde.

Zum Glück erfüllte die Kälte einen Zweck. Sie vertrieb einen Teil der Benommenheit, sodass Kate verhältnismäßig wach war und ihre Umgebung bewusst wahrnehmen konnte.

Sie hielt nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau, entweder für diesen Moment oder für später. Sie musterte die Schmuggler, die mit ihr gekommen waren, entdeckte jedoch keinen der drei, die in der Nacht ihrer Entführung in ihr Cottage eingedrungen waren.

Mehr als alle anderen hasste sie O’Banyon. Der schmutzige, lüsterne Grobian.

Sie hatte den Namen in der Nacht ihrer Entführung gehört, als einer der beiden jüngeren Männer ihn um die Erlaubnis gebeten hatte, ihr Haus zu plündern, nachdem sie sie gefangen genommen hatten. O’Banyon hatte seinen Helfern großzügig gestattet, sich zu nehmen, was sie an Geld und Schmuck finden konnten. Es war ohnehin nicht viel gewesen.

Die Besitztümer, an denen Kate am meisten hing, standen auf ihrem Bücherregal, aber diese Schurken waren zu ungebildet, um sich um Aristoteles oder Shakespeare zu kümmern.

Mitten in dem mächtigen Eingang gab Caleb Doyle plötzlich den Befehl zum Anhalten. „Nehmt ihr die Fesseln ab“, befahl er seinen Untergebenen.

Die Männer, die sie festhielten, sahen ihren Anführer überrascht an.

„Das gefällt dem Duke vielleicht nich’“, meinte Caleb Doyle. „Soll er sie selbst fesseln, wenn er will. Keine Sorge, sie wird nirgendwohin gehen. Im Augenblick kann sich die Kleine kaum an ihren eigenen Namen erinnern. Los, macht schnell!“, befahl er und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Handfesseln. „Ich frier mir hier den Hintern ab.“

Zu Kates Erleichterung gehorchte der Mann, den Doyle angesprochen hatte, und löste den verknoteten Strick von ihren Handgelenken.

Ehe er weiterging, deutete Doyle jedoch mit ausgestrecktem Finger auf ihr Gesicht und stieß eine ernste Warnung aus: „Sei nich’ vorlaut, Mädchen, sonst wirst du dir wünschen, wieder in deiner Zelle zu sein! Hörst du mich? Er schätzt Beleidigungen nicht besonders. Er ist ein mächtiger Mann. Wenn du klug bist, hältst du den Mund und machst, was er dir sagt. Verstanden?“

Sie nickte matt und rieb sich die wunden Handgelenke.

Der Anführer der Schmuggler wirkte erstaunt, dass ihr der sonstige Kampfgeist fehlte. Seine Miene verfinsterte sich. „Ach, sieh mich nich’ so an – wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird!“, fuhr er sie an. „Dutzende Mädchen hier in der Gegend würden ihren rechten Arm hergeben, um ein paar Nächte in seinem Bett zu verbringen. Du wirst es überleben.“

Kate erstarrte, aber mit seinem rauen Tonfall war es ihm gelungen, die Tränen zu vertreiben, die hinter ihren Lidern brannten: Und er hatte ihr neuen Mut geschenkt. Sie wappnete sich, so gut sie es vermochte, straffte die Schultern, fest entschlossen zu überleben. Wahrhaftig, sie würde sich nicht geschlagen geben und gebeugt das Schloss betreten.

„Kommt schon“, murmelte Doyle zu seinen Männern. „Geben wir dem Teufel, was sein ist.“ Damit betätigte er den schweren Türklopfer an der massiven, eisenbeschlagenen Tür.

Sofort öffnete ihnen ein hagerer, ganz in Schwarz gekleideter Butler.

„Guten Abend, Mr Eldred“, grüßte Caleb Doyle mit so viel Charme, wie er nur aufzubringen vermochte, und trat ein.

Der Butler verneigte sich wie ein schwarz gewandetes Skelett. „Mr Doyle.“ Er hatte tief liegende Augen, ein knochiges Gesicht und wirkte sehr ruhig. Hinter dem zurückweichenden Haaransatz ragte eine wilde Wolke von grauem Haar in alle Richtungen.

Als der Butler Kate ansah, war seine Miene ausdruckslos, und offensichtlich war er zu schlau, um Fragen zu stellen. „Hier entlang, bitte. Der Herr erwartet Sie.“

Die ganze Gruppe folgte Eldred durch einen langen, schummrigen Gang aus Stein mit einer dunklen Holzdecke. Kate stolperte auf ihren eiskalten Füßen hinterher. Sie war noch nie in einem Schloss gewesen, aber nachdem sie sich umgeblickt hatte, war es für sie schwer vorstellbar, dass irgendjemand an einem solchen Ort leben konnte.

Es war kein Zuhause, es war eine Festung, eine mächtige Burg aus der Zeit der Ritter und Drachen.

Alles war dunkel und ohne Liebreiz, wirkte kalt und bedrohlich. Alte Waffen, Schilde, Teile von Rüstungen und zerfetzte Kriegsflaggen hingen anstelle von Gemälden an den Wänden. Nichts wirkte hier heimelig, und doch war es so, dass die historische Bedeutung des Schlosses sie für einen Moment ihre Furcht vergessen ließ, obwohl es so abweisend wirkte. Geweckt war ihre unersättliche Neugier, wie ein Gelehrter dachte sie an all die Schlachten, die diese Mauern gesehen hatten, an all die Geheimnisse, die hier während vieler Jahrhunderte überdauert hatten.

Dann bemerkte sie, dass ihre Wärter zusehends nervöser wurden.

„Hey, Eldred!“ Caleb Doyle wandte sich an den Butler, als sie durch einen dunkel getäfelten Korridor schritten. „Wie is’ seine Stimmung heute?“

„Wie bitte, Sir?“

„Das Biest!“, flüsterte Caleb Doyle jetzt. „Ist er schlechter Laune?“

Der Butler sah ihn missbilligend an. „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Das heißt also ja.“

Eldred erwiderte darauf nichts und führte sie in eine große Halle mit einer hohen, gewölbten Decke. Der Raum wirkte wie eine Höhle.

Zwischen den schwarzen Balken, die den Raum stützten, lauerte die Dunkelheit. Hier und da hingen Teppiche an den Wänden. Aus der direkt gegenüberliegenden Mauer sprang ein kleiner Balkon hervor – die Galerie. In der Nähe boten schwere alte Möbel spärlichen Komfort.

Zwei Wachen, ähnlich schwarz angezogen wie die am Torhaus, standen in den nächstgelegenen Ecken. Sie hatten Posten bezogen, so reglos wie die Rüstungen, die in der Halle aufgestellt waren.

Das einzig Lebendige ging von einem flackernden Feuer aus, das in dem riesigen Kamin brannte, weit weg am anderen Ende der Halle – und dort war es auch, wo Kate das Biest zum ersten Mal erblickte.

Sie wusste sofort, dass er es war.

Seine Gegenwart war so machtvoll, dass er den Raum nahezu ausfüllte, noch ehe er sich zu ihnen umgedreht hatte. Der Duke of Warrington stand am Feuer, mit dem Rücken zu ihnen, eine hoch aufragende Silhouette vor den Flammen.

Er spielte mit einer fremdartig aussehenden Waffe, die eine lange, schartige Klinge aufwies, eine Mischung aus Lanze und Schwert. Äußerst tödlich aussehend. Er balancierte sie auf der Spitze und drehte sie auf eine seltsame Art langsam im Kreis.

Eldred kündigte die Besucher mit einem höflichen Hüsteln an. „Hoheit – Caleb Doyle und Begleitung.“

Er hob die Waffe hoch und ließ den langen Griff auf seiner breiten Schulter ruhen.

Das Herz schlug Kate bis zum Hals, als der Riese sich herumdrehte und sie ansah. Dabei hielt er in der Bewegung inne und musterte sie vom anderen Ende der Halle her.

Dann kam er langsam auf sie zu, mit großen Schritten, ohne Eile und doch unaufhaltsam. Ein mittelalterlicher Kriegsherr in moderner Kleidung. Jeder Schritt seiner schlammbefleckten Stiefel hallte laut durch die weite Leere der Halle.

Kate starrte ihn an, voller Angst und mit einem gewissen Maß an Ehrfurcht.

Caleb Doyle riss sich den Hut vom Kopf und trat ein paar Schritte vor, wobei er seinen Männern bedeutete, dasselbe zu tun.

Die Gruppe der Schmuggler trat vorsichtig näher, Kate in der Mitte.

Ihr Blick blieb unverwandt auf den kriegerischen Duke gerichtet, während dieser weiter heranschlenderte.

Vergeblich suchte sie nach einer Spur von Sanftheit bei diesem Mann, stattdessen strahlte er eine rücksichtslose Kraft aus, als kenne er keine Gnade. Er war stark, dunkel und gefährlich.

Offensichtlich war er gerade erst eingetroffen, seine ungebändigte, windzerzauste Mähne dichten schwarzen Haars trug er zu einem Zopf gebunden. Sie sah ihn aus aufgerissenen Augen an. Das dunkle Tuch, das er um den Hals geknotet hatte, wirkte nicht sehr förmlich. Das weite weiße Hemd stand am Hals ein wenig offen, darüber hatte er eine schwarze Weste angezogen, die seinen sehnigen Oberkörper umschloss.

Auf seiner schwarzen Reithose waren noch Nässe- und Schlammspuren zu erkennen, während sich der rötliche Schein des Feuers auf der Klinge spiegelte, mit der er nun nachlässig spielte. Es sah aus, als wäre er mit der Waffe in der Hand geboren.

Kates Herz klopfte wie wild, doch sie vermochte den Blick nicht von ihm zu lösen.

Er schien Mitte dreißig zu sein, und als er noch näher getreten war, konnte sie sein Gesicht betrachten. Er hatte dichte dunkle Brauen, und über der linken eine Narbe in Form eines Blitzes. Seine Haut war ungewöhnlich braun, als hätte er viele Jahre in einem wärmeren Klima verbracht. Seine Nase war breit, aber gerade, und der finstere Zug um den Mund von feinen Linien umrahmt.

Seine Augen waren es, die ihr Angst machten.

Sie waren graublau wie Stahl und wirkten ebenso hart, als er sie misstrauisch zusammenkniff. In ihren Tiefen schimmerte unterdrückter Zorn, der sich, das spürte Kate, gleich über die Schmuggler entladen würde – und vielleicht auch über sie, noch ehe die Nacht vorüber war.

Gütiger Himmel, er könnte sie mühelos umbringen, das erkannte sie sofort. Der Mann war fast einen Meter neunzig groß, mit Armen wie aus Eisen und Schultern so breit wie die Klippen von Cornwall. Es sah aus, als könnte er mühelos ein Pferd hochheben, und sie reichte ihm nur bis zur Brust.

Kein Wunder, dass die Schmuggler ihn fürchteten, obwohl Caleb Doyle noch im Dorf das Gegenteil behauptet hatte. Warrington besaß den Körperbau eines Eroberers und die geballte Macht eines hohen Adligen – die nur von der der königlichen Familie übertroffen wurde.

Sie versuchte zurückzuweichen, als der Duke den Blick über sie hinweggleiten ließ.

„Was ist das?“, sagte er leise zu Doyle und deutete mit einer Kopfbewegung auf sie. Sie reagierte prompt auf seine unwillkommene Aufmerksamkeit und wand sich in ihrer Panik, um den Griffen ihrer Wächter zu entkommen, zu fliehen.

Doch sie hielten sie fest.

„Ein Geschenk, Hoheit!“, rief Caleb Doyle in gespielter Heiterkeit.

Als die Schmuggler sie zu ihm zerrten, musterte Warrington sie wie ein hungriger Wolf.

„Ein Geschenk?“, wiederholte er.

Mit breitem Grinsen stieß Caleb Doyle sie zu ihm. „Aye, Sir! Ein Zeichen unseres Respekts, um Sie nach so langer Zeit in Cornwall willkommen zu heißen! Ein hübscher junger Bettwärmer für eine kalte Winternacht. Sie is’ eine kleine Schönheit, nich’ wahr?“

Einen Moment lang schwieg der Duke, betrachtete sie weiterhin prüfend, dann sagte er, wobei seine tiefe Stimme wie ein fernes Donnergrollen vibrierte: „In der Tat.“

Kate war wie erstarrt unter seinem Blick. Sie vermochte sich nicht zu bewegen. Sie hatte Glück, dass sie nicht zu atmen vergaß.

Als Doyle in diesem Moment nervös auflachte, taten es die anderen ihm nach, aber Warrington bemerkte sie kaum. Stattdessen ließ er erneut seine Augen über Kate gleiten.

„Sehr aufmerksam von Ihnen, Doyle“, murmelte er und betrachtete lüstern die Teile ihres Körpers, die durch die Kälte besonders deutlich zu sehen waren.

Sein dreister Blick beseitigte auch die letzten Zweifel, dass er vielleicht kein Krimineller und erst recht kein Libertin war. Natürlich war er das.

Sie war für ihn nichts anderes als eine Ware.

„Wir dachten, sie könnte Ihnen gefallen, Sir. Wir haben aber auch noch ein paar andere Sachen mitgebracht, als Zeichen unserer Wertschätzung …“ Hastig winkte Doyle seinen Gefolgsleuten. „Zeigt sie ihm, schnell!“ Die Männer beeilten sich und holten eine Kiste mit dem besten Brandy heran und eine Auswahl feinster Tabaksorten.

Doch Warrington warf kaum einen Blick auf diese Angebote, sondern betrachtete immer noch Kate mit einem neugierigen Glanz in den Augen.

Sie wusste kaum, was sie tun sollte. Noch nie zuvor hatte ein Mann sie so angesehen – prüfend, nein abschätzend.

Der Duke ließ den Blick von ihrem noch immer feuchten Haar zu den bestrumpften Füßen gleiten, überprüfte sie von oben bis unten und schaute ihr dann, zu ihrer Überraschung, direkt in die Augen – aber nur für einen Moment.

In diesem flüchtigen Augenblick war sie nicht sicher, was sie in diesen intensiv dreinblickenden Augen entdeckte – außer einem beunruhigenden Maß an Klugheit, wie bei jemandem, der eine Schachpartie spielte.

„Das Geschenk is’ doch – äh – annehmbar, Hoheit?“, fragte Caleb Doyle zögernd.

Der Duke lächelte, und die Wirkung dieses Lächelns war weitaus stärker als das Laudanum.

„Das werden wir bald herausfinden“, sagte er. Ohne den Blick von ihr zu wenden, nickte er seinen Wachtposten zu. „Bringt sie in mein Gemach!“

2. KAPITEL

Kate schrie leise auf, als zwei schwarz gewandete Posten sie aus den Händen der Schmuggler rissen. Sie kämpfte, um die Arme zu befreien, und versuchte, trotz ihres dumpfen Zustands wütend auszusehen. Verdammt!

„Lasst mich los!“ Ihre Worte, so zornig sie diese auch aussprechen wollte, klangen verschwommen.

„Gibt es ein Problem?“, fragte der Duke und sah sich verwirrt nach ihr um.

„Nein, Sir“, erwiderte der Mann zu ihrer Rechten ein wenig einfältig und griff wieder nach ihrem Ellenbogen.

„Fassen Sie mich nicht an!“ Kate riss sich los, dabei hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren. Doch sie fing sich wieder, fuhr herum und sah Warrington an, wobei ihr ein Fluch auf der Zunge lag.

„Gehen Sie nach oben und warten Sie dort auf mich!“, befahl er.

Kate hielt inne, überrascht von dem samtweichen Klang seiner tiefen Stimme. Einen Moment lang vergaß sie ihren Zorn, gebannt von dem Versprechen, das in seinen grauen Augen lag. Sie stand reglos da, sah ihn an, war verwirrt, als die Droge jene Nebenwirkung zeigte, die sie am meisten verstörte.

Erregung. Faszination.

Eine seltsame Anziehung ging von ihm aus. Er war schön, zweifellos, doch er war ihr ein Rätsel. Eines, das sie plötzlich lösen wollte, so wie sie schon immer besessen davon gewesen war, Antworten, die im Verborgenen lagen, aufzudecken. Sie spürte einen seltsamen Hunger, von seinen Lippen zu kosten. Es war ein stürmisches Gefühl, das da durch ihren Körper fuhr. Sie wusste, dass sie nicht wirklich bei Sinnen war, neben sich stand, und dass dies natürlich eine absolut verrückte Reaktion war.

Sie schien diese merkwürdige Empfindung nicht beherrschen zu können. Verdammt, diese teuflische Tinktur entfachte in ihr geradezu eine Sehnsucht, missbraucht zu werden! Wie demütigend!

Gleichzeitig weckte der zufriedene Ausdruck in seinen Augen, als wäre er es gewohnt, von Frauen begehrt zu werden, zusammen mit seiner stolzen Haltung ihren Kampfgeist.

Wie kann er es wagen, solch eine Wirkung auf mich zu haben?

Für wen hielt er sich eigentlich, dieser grobe, überhebliche Klotz? In einem erneuten Anflug von Wut kam sie wieder zu Verstand. Doch während sie das absurde Gefühl von Lust abschüttelte, fiel ihr Caleb Doyles Warnung ein. Halten Sie den Mund. Tun Sie, was er sagt. Kate unterdrückte ein Stöhnen. Leichter gesagt als getan, dachte sie, aber zumindest war ihr Selbstschutz wieder erwacht.

In Anbetracht der Tatsache, dass Warringtons Stolz vermutlich noch größer war als sein Schloss, erkannte sie, dass es dumm wäre, ihn in Gegenwart seiner Männer zu brüskieren. Nur eine Närrin würde ihm einen Grund geben, sie zu bestrafen. Mach es nicht noch schlimmer, als es sowieso schon ist.

„Parker?“, sagte er in gequältem Tonfall.

„Jawohl, Hoheit. Verzeihung, Sir.“ Der Mann zu ihrer Rechten, offensichtlich Parker, packte abermals ihren Arm. „Kommen Sie, Miss. Seine Hoheit hat mit diesen Burschen noch etwas zu besprechen.“

Kate gab die Gegenwehr auf, hatte sie doch erkannt, dass eine direkte Auseinandersetzung mit einem unbezwingbaren Gegner sie nicht weiterbringen würde. Die Chance, den beiden Wächtern zu entkommen, war weitaus größer, wenn sie nicht in Reichweite des Biests war.

Warte ab, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist, sagte sie sich im Stillen. Hab Geduld.

Sie warf einen letzten Blick auf die Schmuggler, wehrte sich aber nicht, sondern ließ sich von den schwarz gekleideten Handlangern des Dukes aus der Halle geleiten.

Sie gingen durch den Ausgang unterhalb der Galerie.

Sofort führten die zwei Männer sie eine steinerne Treppe hinauf. Durch ein hohes, spitz zulaufendes Fenster an einer Wendung erhaschte sie einen Blick zu den Sternen am Himmel.

Obwohl ihr Verstand noch immer langsam arbeitete, suchte sie nach einer List, die ihr helfen würde, den Wachen zu entwischen. „Ich – ich brauche den Abort“, platzte sie plötzlich heraus.

„Beschmutzen Sie ja nicht unseren Boden“, sagte der Mann, den der Duke Parker genannt hatte, in strengem Ton. „Warten Sie, das geheime Gemach ist gleich hier.“

„Geheimes Gemach?“, wiederholte sie matt.

Im oberen Stockwerk führten sie sie zu einer Art Schrank am Ende des Ganges. Von einem Haken an der Wand nahm Parker eine Laterne und reichte sie ihr.

„Nehmen Sie das. Und passen Sie auf, dass Sie nicht in den Graben fallen.“ Er öffnete die Tür zum Abort. Kate wich augenblicklich zurück, so heftig war der Gestank – unerträglich!

Sie presste eine Hand gegen Mund und Nase, dabei schüttelte sie heftig den Kopf. „Nicht nötig!“

Die Männer lachten. „Das wird Ihnen den Kopf klären, nicht wahr?“, sagte der, dessen Namen sie nicht kannte.

„Ach, lass sie in Ruhe, Wilkins. Sie kann nichts dafür. Kommen Sie“, meinte Parker. „In dem Zimmer gibt es einen Nachttopf, falls Ihnen übel wird.“

Tatsächlich hatte Kate bisher keine Übelkeit empfunden, doch der Gestank des Aborts hatte für den Moment jeden Gedanken an Flucht erstickt.

Sie war so froh, wieder atmen zu können, dass sie kaum wahrnahm, wie sie nun an der Treppe vorbeigingen und die entgegengesetzte Richtung einschlugen.

Ehe sie einen neuen Plan fassen konnte, wie sie ihnen entfliehen konnte, hallte plötzlich lautes Gebrüll vom unteren Stockwerk zu ihnen herauf.

„Wie können Sie es wagen, sich meinen Befehlen zu widersetzen! Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?“

Kate erstarrte. Die Augen weit aufgerissen, drehte sie sich um und blickte zurück zur Treppe. Sie erbleichte. Nicht jedes der Worte konnte sie verstehen, doch ganz offensichtlich las das Biest den Schmugglern die Leviten.

„Meine Zeit zu vergeuden … meinen Namen so in den Schmutz zu ziehen! Dummköpfe! Ich sollte euch dem Henker übergeben!“

Die Wachen sahen einander besorgt an, dann murmelte Parker, sie solle nicht trödeln. Damit das nicht geschah, fassten sie sie an den Armen und eilten mit ihr den dunklen Gang hinunter, bis sie eine massive Eichentür erreichten.

Parker öffnete, und Wilkins stieß Kate in den Raum.

„Ab mit Ihnen. Machen Sie es sich bequem.“

Kate stolperte ins Zimmer, dann drehte sie sich mit wild klopfendem Herzen herum. „Warten Sie! Sie können mich doch hier nicht so allein lassen!“

„Tut uns leid, Miss. Wir befolgen nur unsere Befehle. Seine Hoheit wird in Kürze bei Ihnen sein.“

„Aber ich will …“

Sie schlugen ihr die Tür vor der Nase zu.

„Hey!“

„Das Mädchen redet gegen die Wand“, hörte sie Wilkins murmeln.

„Na, das geht uns nichts an.“

Kate hörte, wie der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde, und sprang vor, warf sich gegen die Tür. „Kommen Sie zurück! Sie verstehen nicht!“ Sie trommelte gegen die Tür. „Lassen Sie mich raus!“

Niemand antwortete.

Waren sie schon fortgegangen? Rasch kniete sie sich hin und spähte durchs Schlüsselloch.

Da war nichts als Finsternis. Sie hörte den gleichmäßigen Rhythmus der Schritte, mit dem die Gehilfen des Biests davongingen.

„Oh weh“, flüsterte Kate, schloss die Augen und lehnte den schmerzenden Kopf an die Tür. Zum Glück beruhigte sich bald das Hämmern hinter ihren Schläfen.

In diesem Moment bemerkte sie auch, dass das Zimmer, in das sie gebracht worden war – angenehm warm war.

Sie spürte, dass ihre Füße nicht mehr taub und gefühllos vor Kälte waren. Noch immer zitterte sie, aber nicht mehr so heftig wie zuvor. Langsam öffnete sie die Augen, hob den Kopf und richtete sich vorsichtig an der schweren Holztür auf.

Als die Wärme allmählich ihren halb erfrorenen Körper durchströmte, betrachtete sie das Gemach des Dukes.

Überraschend stellte sie fest, dass es ganz passabel aussah. Auf jeden Fall war es keine Zelle in einem dunklen Verlies. Sie konnte keine Folterwerkzeuge entdecken. Auch keine Blutflecken auf dem Boden.

Ein lichterloh flackerndes Feuer brannte im Kamin und erhellte den dunkel getäfelten Raum mit einem rötlich-gelben Licht, wodurch er unerwartet gemütlich wirkte.

Das Feuer zog sie in seinen Bann, lockte sie an. Sie ging über einen dicken Teppich mit satten Farben und blieb erst stehen, als sie direkt vor dem Kamin stand. Sie seufzte vor Dankbarkeit. Wärme – endlich!

Während sie weiterhin die Arme um ihren Körper geschlungen hatte, blickte sie zu dem Sessel, der nicht weit vom Feuer entfernt stand und über dem ein flauschiges weißes Fell lag.

Das war eine zu große Versuchung, als dass sie widerstehen konnte.

Im nächsten Augenblick hatte sie sich in den Sessel gesetzt und in das Fell hineingekuschelt. Nach einem Fluchtweg, so sagte sie sich, würde sie suchen, wenn sie erst einmal aufgewärmt war.

Der Gedanke an die bitterkalte Winternacht hätte sie beinahe zum Weinen gebracht. Für den Moment würde sie einfach hier sitzen bleiben, nur ein paar Minuten, um wieder zu Kräften zu kommen.

Gleich – gleich würde sie sich einen Plan ausdenken.

Sie vergaß, dass es nur die Kälte gewesen war, die sie wach gehalten hatte. Allein die Kälte hatte die volle Wirkung des Laudanums hinausgezögert. Die Wärme, die sie jetzt umfing, betäubte ihre Sinne.

Mehrere Minuten vergingen, bis sie aufschreckte, denn sie hatte nicht sofort bemerkt, dass sie im Begriff war einzuschlafen.

Eine Katastrophe!

Mit einer ärgerlichen Bewegung warf sie das Fell beiseite – sie hielt einen Moment lang inne, holte tief Atem und dachte daran, welches Verhängnis sie erwartet hätte, wäre sie nicht wieder zur Besinnung gekommen.

Himmel, konnte sie es ihm nicht noch einfacher machen? Mochte er so gut aussehen, wie er wollte, sie hatte nicht vor, sich ihm in dieser Nacht zu unterwerfen. Sie war nicht sicher, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, daher richtete sie sich auf und suchte nach einer Uhr.

Und so bemerkte sie das riesige Bett am anderen Ende des Zimmers.

Eine Weile betrachtete sie es. Die reich verzierten Bettpfosten, die mit den Jahren dunkel geworden waren, die karmesinroten Bettvorhänge. Sie erschauerte. Das sollte der Ort ihres Verderbens sein! Dennoch war sie keineswegs immun gegen die Faszination, die davon ausging.

Das Bett des Dukes strahlte mit seinen vielen Kissen und Decken etwas Weiches und Vertrauenerweckendes aus. Ähnlich verlockend wie das Feuer oder das Fell. Vielleicht sogar noch verlockender.

Nein. So schwach war sie nicht. Sie riss sich vom Anblick des Betts los, schüttelte den Kopf, versuchte, ihre Benommenheit abzuschütteln, selbst als das Laudanum sie beinahe überwältigte und sie ihrem Schlafbedürfnis nachzugeben drohte.

Sie zwang sich regelrecht dazu, das Bett zu ignorieren. Abermals ließ sie sich in den Sessel zurücksinken, zog die Felldecke wieder um sich und nahm sich vor, nach einem Ausweg zu suchen. Doch als sie ins Feuer sah, bezauberten sie die tanzenden Flammen.

Jetzt schien nichts mehr eine Rolle zu spielen.

Mit einem matten Lächeln und einem Anflug von Traurigkeit zugleich erinnerte sie sich daran, wie ihr Vater sie als kleines Mädchen am Bug hatte stehen lassen, als wäre sie sein Bootsmann. Er hatte ihr gesagt, welche Worte sie wählen sollte, und sie hatte seine Befehle wiederholt und mit ihrer hohen Kinderstimme der Mannschaft zugerufen: „Ahoi, ihr Faultiere! Das Toppsegel setzen! Das Hauptsegel einholen!“

Seltsam, dass der Gedanke an Papa ihr ein Gefühl von Schutz gab, selbst in einer Situation wie dieser.

Zu schade, dass er nicht mehr am Leben war und nichts tun konnte, um ihr zu helfen. Sie war ganz allein auf sich gestellt.

Wie immer.

Ich muss aufstehen. Ich muss hier weg. Schnell. Finde einen Ausweg! Ehe er kommt …

Sie hatte versucht, sich aus dem Sessel zu erheben, doch ihr Körper war schwer wie Blei. Eine Minute noch flehten ihre müden Sinne. Nur kurz die Augen schließen …

Rohan Kilburn, Duke of Warrington, war sicher, dass er seine Missbilligung genügend zum Ausdruck gebracht hatte. Die große Halle schien immer noch von seinem Zorn erfüllt zu sein. Verdammt, das hier war reinste Verschwendung kostbarer Zeit.

Er sehnte sich danach, nach London zurückzukehren und den Agenten Dresden Bloodwell zu jagen, der in der Stadt gesehen worden war. Tätig für die Geheimgesellschaft des Heiligen Erzengels Michael, sah er es als seine Pflicht an, die Gegner des Ordens, die Prometheusianer, zu töten. Und Bloodwell gehörte den Prometheusianern an.

Fast noch schlimmer war, einer der besten Agenten des Ordens war gefangen genommen worden.

Solange Drake sich in den Händen der Feinde befand, standen ihrer aller Identitäten als Mitglieder der alten Kriegerbruderschaft auf dem Spiel.

Unglücklicherweise gab es keinen Ausweg.

Ein Schiffswrack war erst kürzlich entdeckt worden, das von seinen Pächtern ausgeraubt worden war, vor seinem englischen Küstenstreifen; daher war es sein Problem.

Also saß er hier, mit Anweisung von seinem Verbindungsmann in London, erst zurückzukommen, wenn der Schmugglerring keine Gefahr mehr darstellte.

Zum Glück für Caleb Doyle und seine Gefolgsmänner waren sie für die geheime Kommunikation des Ordens immer noch wichtig.

Jahrelang hatten die Dukes of Warrington und die örtlichen Schmuggler in einer Symbiose gelebt. Wie sein Vater vor ihm hielt Rohan die Pacht im Dorf niedrig und sah nicht genau hin bei ihren Schwarzmarktaktivitäten – innerhalb gewisser Grenzen.

Als Gegenleistung sorgte der alte Caleb Doyle, der gegenwärtige Anführer der Schmuggler, dafür, dass die codierten Nachrichten des Ordens in verschiedenste ausländische Häfen gebracht wurden, so schnell wie der Wind und ohne Fragen zu stellen.

Die kühnen Kapitäne auf den Schmugglerschiffen hatten ein Talent dafür, den Zoll zu umgehen, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass die Prometheusianer Spione hatten, die sämtliche Häfen Europas überwachten. Den Schmugglern gelang es, in jeden Hafen ein- und wieder auszulaufen, ohne dass der Feind es auch nur bemerkte.

Das Ende des Krieges gegen Napoleon allerdings hatte die Handelstarife steigen lassen und so dem lukrativen Schwarzmarkt ein Ende gesetzt, der zwanzig Jahre lang die Einkommensquelle der Schmuggler gewesen war. Zum Teufel mit ihnen! Wie oft hatte er sie davor gewarnt, das Vermögen zu vergeuden, das sie in den guten Zeiten erworben hatten? Ihnen geraten, etwas für später auf die Seite zu legen? Hatten sie auf ihn gehört?

Natürlich nicht. Stattdessen hatten sie ihn vor einigen Monaten um mehr Geld gebeten.

Der Brief, den er ihnen als Antwort geschickt hatte und in dem er sie mit strengen Worten ermahnte, war mehr als deutlich gewesen – zumindest hatte er das geglaubt. Offensichtlich hatte er sich getäuscht. Gier, Ehrgeiz und Verzweiflung hatten seine Pächter dazu getrieben, die Grenzen zu überschreiten, die er ihnen gesetzt hatte.

Jetzt hatten sie mit ihren Aktivitäten die Aufmerksamkeit der Küstenwache auf sich gelenkt, und er allein stand zwischen ihnen und dem Galgen.

Nun, eine Regel war eine Regel. Wenn er nicht im Stillen auf seine Art mit ihnen abrechnete, würde es einen öffentlichen Skandal geben, und das konnte der Orden sich nicht leisten.

Es gab einen alten Küstentrick, eine List, die die englischen Schmuggler seit Jahrhunderten bei ihren Geschäften angewandt hatten.

Durch den geschickten Einsatz mehrerer großer Laternen konnten sie einen Leuchtturm simulieren und Schiffe anlocken, die dann an den Felsen zerschellten. Danach rannten sie hinunter zum Strand, stahlen, was immer an Land gespült wurde, oder ruderten sogar hinaus und nahmen sich, was sie an Beute aus dem Wrack holen konnten.

Es war eine gnadenlose und verbrecherische Vorgehensweise und natürlich absolut verboten. Offenbar mussten sie daran erinnert werden, wem gegenüber sie Rechenschaft schuldig waren.

Er schritt die Reihe der zerlumpten Gestalten ab, die vor ihm standen, und sah jeden von ihnen ernst an. Noch immer hielt er das seltsame Schwert so lässig in der Hand wie ein Dandy seinen Spazierstock.

Schließlich blieb er stehen, um den Größten von ihnen mit seinem Blick zu bezwingen; es war der, den sie Ochse nannten. Der riesige Schmuggler schaute auch tatsächlich zu Boden.

„Wie oft habe ich euch alle vor so etwas gewarnt?“, fuhr Rohan fort und ging weiter. „Ich habe euch eine Grenze gesetzt und euch gebeten, sie nicht zu überschreiten, und doch habt ihr die Kühnheit besessen, meine Befehle zu missachten. Und jetzt das!“ Er stieß ein kurzes, hartes Lachen aus, bei dem alle zusammenzuckten, während er am Ende der Reihe stehen blieb. Dann machte er kehrt. „Ihr bringt mir eine eurer betrunkenen Dirnen und glaubt, das würde euch helfen! Versteht mich nicht falsch, sie ist ein hübsches Ding und ich kann sie gebrauchen. Aber wenn ihr glaubt, dass eine willige Hure und ein paar Flaschen Brandy all das wiedergutmachen, was ihr verbrochen habt, dann erfasst ihr nicht den Ernst der Lage. Es gibt so etwas wie Konsequenzen, meine Herren!“, fügte er hinzu. Er warf ihnen einen strengen Blick zu, obwohl er sich zorniger gab, als er tatsächlich war.

Die, die ihn wirklich wütend gesehen hatten, lebten danach in der Regel nicht mehr lange.

„Das Komischste daran ist, dass ihr offensichtlich wirklich geglaubt habt, ich würde es nicht herausfinden. Ah ja! Ihr müsst geglaubt haben, ich wäre noch im Ausland. Offensichtlich habt ihr euch getäuscht.“

Er war vor Monaten schon von einer blutrünstigen Mission aus Neapel zurückgekehrt.

Natürlich wussten sie nichts davon. Niemals gab er irgendjemandem für seine langen Abwesenheiten eine Erklärung. Er überließ es ihnen, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, und wie üblich glaubten sie, dass er nur zu seinem Vergnügen reiste, neue Weidegründe suchte, neue Frauen, die er noch nicht in seinem Bett gehabt hatte.

Vielleicht lag darin ein Körnchen Wahrheit, aber irgendwie musste ein Mann seinen Ausgleich finden.

„Ich hielt mich in meinem Haus in London auf, als ich einen interessanten Besuch von einem hochrangigen Offizier der Küstenwache bekam, der gekommen war, um mich über die Streiche meiner Pächter zu informieren. Oh ja – sie wissen alles über euch“, erklärte er in schneidendem Tonfall. „Als Höflichkeit gegenüber einem Peer hielt der Offizier es für angebracht, mich zu warnen, ehe das Dorf gestürmt wird. Ihr hättet sehen sollen, wie sehr es ihn nach eurem Blut gelüstet.“

Die Schmuggler sahen einander unbehaglich an.

„Wir wissen alle, dass eure Bande der Küstenwache ein Dorn im Auge ist. Und jetzt haben sie Zeugen …“

„Aber Hoheit …“

„Ruhe!“

Sie zogen die Köpfe ein.

„Ich will eure Ausreden nicht hören!“, brüllte er jetzt. „Selbst wenn einer dieser Seeleute ertrunken wäre, hätte ich mich nicht einmischen sollen, um eure Haut zu retten. Erwähnte ich schon, dass die Küstenwache sogar erwogen hat, eure Frauen einzusperren? Und auch die meisten eurer kleinen Söhne. Es ist kein Geheimnis, dass an diesen Schiffsplünderungen meistens das ganze Dorf beteiligt ist. Dennoch“, der Duke nahm sein Auf-und-ab-Gehen wieder auf, „in Anbetracht der Tatsache, dass niemand zu Tode gekommen ist, konnte ich den Offizier der Küstenwache mit einer großen Summe Goldes bestechen, und ich versprach ihm, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er war mit einer einfachen Regelung einverstanden. Ich versprach, die Männer auszuliefern, die für den Schiffsuntergang verantwortlich sind. Sie allein werden vor Gericht gestellt. Dafür wird der Rest des Dorfes verschont bleiben.“

Er bemerkte, wie erleichtert sie aussahen.

„Gentlemen, ich weiß, es gehört zu eurer Tradition, einander mit Schweigen zu schützen. Ich bewundere euren Zusammenhalt. Doch die Zeiten haben sich seit dem Ende des Krieges geändert“, erklärte er und sah sie langsam nacheinander an. „Die Küstenwache muss nicht mehr nach Napoleon Ausschau halten. Sie kann sich jetzt auf Leute wie euch konzentrieren.“

Einige von ihnen erbleichten.

„In jedem Fall war die Küstenwache mit meinem Vorschlag einverstanden, und Mr Doyle war klug genug, um ebenfalls einverstanden zu sein.“

Ehe er London verließ, hatte Rohan an den Anführer der Schmuggler geschrieben und ihm die Gelegenheit gegeben, sich zu rehabilitieren, indem er die Schuldigen vor seiner Ankunft ausfindig machte.

Er warf dem alten Caleb Doyle einen finsteren Blick zu. „Ich nehme an, Sie sind bereit, sie jetzt zu übergeben?“

Aye, Sir.“

Rohan nickte kurz. „Bringen Sie sie herein.“

Doyle blickte seine Leute an. Sie sollten die Gefangenen holen, die unter Bewachung draußen bei den Kutschen warteten. Die Schmuggler verließen die Halle, einzig Doyle blieb zurück. Als Rohan ihn ansah, entging ihm nicht, wie erschöpft der alte Mann wirkte, und vielleicht schämte er sich sogar.

Zweifellos war Caleb Doyle bedrückt, immerhin waren zwei seiner Neffen an der Sache beteiligt gewesen. Das bedeutete für sie entweder den Galgen oder irgendeine Strafkolonie.

Welche Verschwendung. Rohan vermutete aber auch, dass Doyles schuldbewusster Blick daher rührte, dass ihn als Anführer der Schmugglerbande eine Mitschuld traf, weil es ihm nicht gelungen war, seine Männer unter Kontrolle zu halten.

Rohan wusste, dass Doyle den Befehl nicht gegeben hatte. Dieses Verbrechen war ein Einfall einiger jüngerer Männer gewesen, die ihren Mut unter Beweis stellen wollten.

Das war ein Teil des Problems. Doyle wurde älter, schwächer und verlor nach und nach seine Autorität. Es war unvermeidlich, dass seine Rolle als Erster des Dorfes irgendwann von den Jüngeren infrage gestellt werden würde. Zweifellos hatte Doyles Stolz darunter gelitten, aber Rohan hatte nicht vor, ihn den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Der alte Mann war zu wertvoll, um ihn zu verlieren. Obwohl er von Natur aus gerissen war, hatte Caleb Doyle sich sowohl seinem Vater als auch ihm gegenüber all die Jahre als treu erwiesen.

Nachdem er so viele geheime Kommuniqués übermittelt hatte, vermutete der graubärtige Anführer der Schmuggler inzwischen wohl einiges über die lange Verwicklung der Warringtons in geheime Regierungsangelegenheiten.

Zum Glück war Caleb Doyle zu gerissen, um durchblicken zu lassen, wie viel er wusste. Oder ahnte. Tatsächlich beruhte ein Teil von Doyles Geschicklichkeit darauf, genau zu wissen, welche Fragen er nicht stellen sollte.

Die Stimmung in der großen Halle war angespannt, als sie hörten, wie Eldred die Vordertür aufmachte, um die schuldigen Schmuggler hereinzulassen.

Rohan nahm auf dem thronartigen Stuhl Platz, der in der Mitte der Halle stand, und trommelte voller Ungeduld auf den Griff seines Schwertes.

Je schneller er nämlich hier fertig war, desto eher konnte er gehen und sein kleines Geschenk auspacken. In seine Augen trat ein freudiger Glanz, als er sich einen Moment lang gestattete, an sie zu denken. Selbst jetzt reagierten seine Sinne. Er fühlte sich hellwach, wenn er daran dachte, dass sich eine Frau im Haus befand.

Die in seinem Bett auf ihn wartete.

Er hatte gewollt, dass sie die Halle verließ. Das war wichtig, falls strengere Maßnahmen nötig gewesen wären, um seine Pächter an seine Autorität zu erinnern. Er wollte nicht, dass eine Frau mit ansah, zu welcher Gewalttätigkeit er fähig war.

Außerdem konnte er die Ablenkung durch diese wunderschönen Brüste nicht gebrauchen. Bald genug würde er sie besser kennenlernen, jeden Zentimeter ihrer seidenweichen Haut.

Seine Männer wussten, was ihm gefiel. Und ihr Friedensangebot gefiel ihm außerordentlich. Dieses üppige junge Geschenk, das sie ihm als Entschuldigung überreicht hatten, weckte in ihm – trotz aller gegensätzlichen Beteuerungen – die Bereitschaft zu verzeihen. Augenblicklich erschien ihm die Aussicht, die nächsten Nächte in diesem abscheulichen Schloss zu verbringen, das nichts anderes war als eine steinerne Gruft, entschieden erfreulicher.

Als er hier mitten ins Nirgendwo gekommen war, hatte er erwartet, ohne seine tägliche Dosis Sex ausharren zu müssen, bis er endlich wieder abreisen konnte – etwas, das einem Mann von seiner Natur sehr unangenehm war. Doch immerhin hielt er sich an sein Gebot, sich nicht mit den Frauen der Gegend einzulassen.

Er wollte, dass man ihn fürchtete, nicht hasste. Aber wenn sie ihm dieses Mädchen auf dem Silbertablett servierten, dann würde er ein leckeres Häppchen nicht verschmähen.

Andererseits musste er dabei zynischerweise ständig an das Trojanische Pferd denken. Wie hieß es doch? „Hütet euch vor den Gaben der Griechen!“

Zweifellos war diese Schönheit, die geschickt worden war, um ihm das Bett zu wärmen, von den Schmugglern außerdem beauftragt, ihn auszuspionieren. Ein solcher Plan wäre dem gerissenen alten Caleb durchaus zuzutrauen.

Vermutlich nahmen die Schmuggler an, dass eines ihrer Mädchen sie informieren könnte, wann ihr Herr aufkreuzte und wieder verschwand, damit sie ihre nächsten Pläne besser vor ihm verheimlichen könnten.

Belustigt schüttelte Rohan den Kopf. Was immer sie sich dabei gedacht hatten, deswegen machte er sich keine Sorgen. Tatsächlich wäre es vielleicht sogar ganz unterhaltsam, ein kleines Spiel zu spielen und ihnen falsche Informationen zukommen zu lassen, wenn sie wirklich glaubten, sie wären klug genug, ihn zu täuschen.

Was nun das Geschenk in Gestalt der jungen Hure anging, so würde er sich trotzdem mit ihr amüsieren. Ob sie nun eine Amateuragentin war oder nicht, er würde sich den Spaß nicht entgehen lassen.

Während er zusah, wie die Schmuggler drei ihrer Leute hereinführten, gefesselt und in Ketten, fiel es ihm schwer, die grünäugige Dirne aus seinen Gedanken zu verbannen.

Tatsächlich stimmte es, dass es schwer war, eine Frau zu finden, die ihm nicht gefiel. Ihn verlangte es nach allen – ob groß, klein, üppig, schlank, blond, brünett, von einfacher Herkunft oder von Adel. Aber diese hier hatte etwas Besonderes. Ihre vollen roten Lippen und die aufgerichteten Brustwarzen, die sich unter ihrem Kleid abgezeichnet hatten, hatten sein Verlangen geweckt. Und doch – ihre großen Augen hatten so verletzlich und einsam gewirkt – beinahe ein wenig verloren –, dass ein noch tieferes Gefühl in ihm geweckt worden war: der Wunsch, sie zu beschützen.

Merkwürdig.

Etwas an der zitternden, barfüßigen und nicht mehr nüchternen Kleinen hatte beinahe den Stein zum Erweichen gebracht, der einst sein Herz gewesen war. In diesem Moment hatte er nicht genau gewusst, was ihm lieber gewesen wäre – sie auf seinen Schoß zu ziehen und zu trösten oder sie auf den Rücken zu legen und in süße Ekstase zu versetzen.

Achselzuckend schob er diese Frage beiseite. Er beschloss, beides zu tun, sobald er hier fertig war.

Bis er jedoch für sie bereit war, würde sie es in dem Zimmer oben sehr angenehm haben. Offenbar war das Mädchen vollkommen durchgefroren – und vollkommen alkoholisiert. Es hatte ihm nicht gefallen, sie in diesem zugigen Schloss so zittern zu sehen. Was ihre Trunkenheit anging, so hatte er wohl bemerkt, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Er runzelte die Stirn und dachte daran, dass sie sogar ihre Schuhe vergessen hatte. Was war nur mit diesen Huren los, dass sie nie wussten, wann sie genug getrunken hatten?

Nun, während er die Sache mit den Schmugglern zu Ende brachte, konnte sie ausnüchtern. Sie war dazu da, sein Bett zu wärmen, und das sollte sie tun, bis er hier fertig war.

Dann würden sie Spaß miteinander haben.

Doch er fragte sich, warum sie ihn so seltsam angesehen hatte – als fürchtete sie sich vor ihm. Diese großen, grünen und ängstlich dreinblickenden Augen. Selbst jetzt dachte er noch an ihr seltsames Verhalten, das in ihm teils Verlangen, teils Unbehagen weckte.

Vielleicht war ihr ihre Mission als Spionin für die Schmuggler plötzlich zu schwierig erschienen, kaum dass sie sich in seiner Gegenwart befunden hatte. Die meisten Menschen bemerkten auf den ersten Blick, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Aber sie dachte doch bestimmt nicht, dass er jemals einer Frau wehtun würde.

Natürlich gab es da noch den alten Familienfluch. Würde man ihn ernst nehmen, könnte man über die Männer in seiner Familie vielleicht etwas anderes behaupten – aber gewiss glaubte sie nicht an solchen Unsinn.

Zumindest wollte er gern glauben, dass dieser Fluch Unsinn war.

Wenn sie Angst hatte wegen seiner Größe, so musste sie sich deswegen keineswegs fürchten. Er wusste mit der übergroßen Waffe, mit der die Natur ihn ausgestattet hatte, umzugehen.

Vielleicht hatte sie nie zuvor mit einem Aristokraten geschlafen? Falls das der Fall war, so sollte sie sich besser daran gewöhnen, dachte er zynisch. Bald würde sie herausfinden, dass ein Duke dieselben Bedürfnisse hatte wie jeder andere Kerl.

Vergiss sie, Mann. Es gibt noch etwas zu tun! Früh genug wirst du bei ihr sein! Damit verbannte er sie aus seinen Gedanken, weigerte sich, wie immer, sich von einer Frau ablenken zu lassen. Sie waren zum Vergnügen geschaffen, ein angenehmer Zeitvertreib, die Belohnung nach einem Tag harter Arbeit, sonst nichts.

Rohan erhob sich, als Doyles Männer die Unruhestifter hereingebracht hatten, von denen manche fluchten und sich wehrten. Der Duke bewahrte vollkommenes Schweigen, bis Caleb Doyle die Übeltäter in einer Reihe aufgestellt hatte.

„Dies sind die Burschen, die hinter dem Untergang des Schiffs stecken, Hoheit“, sagte Doyle.

Rohan stemmte die Hände in die Hüften und ließ seinen Blick über die Gesichter der schuldigen Männer gleiten. Während er die finsteren, zornigen Mienen betrachtete, bemerkte er Pete und Denny Doyle, Calebs Neffen.

Beide waren um die zwanzig Jahre alt, und sie schienen die Einzigen zu sein, die sich in ihr Schicksal ergeben hatten. Die anderen vier sahen aus, als wären sie zum Kampf bereit.

„Bringt sie ins Verlies!“, befahl er einer Gruppe seiner persönlichen Wachen.

„Jawohl, Sir“, sagte Parker. Er und seine Männer packten die jungen Piraten, ließen sie auch nicht los, als diese sich schimpfend und fluchend zur Wehr setzten.

Rohan sah zu, wie seine Soldaten die um sich Tretenden aus der Halle führten.

Also, das war nicht so schwer, oder? Beinahe hätte er dies zu den Schmugglern gesagt, die verschont geblieben waren. Doch als er sie ansah, bemerkte er, wie verzweifelt sie über das Schicksal ihrer Gefährten waren, und es gelang ihm, seine sarkastische Äußerung zu unterdrücken, obwohl sie ihm schon auf der Zunge gelegen hatte.

Er hoffte, sein konsequentes Handeln würde die Übrigen so sehr erschrecken, dass sie sich in Zukunft gut benahmen.

In der Halle war es still, nachdem man die Schuldigen ins Verlies gebracht hatte. Das war ein Ort, an dem nicht einmal er eine Nacht zubringen wollte, nicht nachdem er dort etwas sehr Seltsames gesehen hatte.

Feinde aus Fleisch und Blut waren eine Sache, gegen rachsüchtige Erscheinungen anzukämpfen eine andere. Da hatte selbst ein unbesiegbarer Krieger keine Chance.

Niemandem hatte er bislang von seinen gelegentlichen Begegnungen mit den Toten in diesem verwunschenen Gemäuer erzählt. Die Agenten in London neckten ihn gern wegen seines Aberglaubens, aber er machte sich nichts aus ihrem Spott.

Er wusste: Keiner von ihnen entstammte einer verfluchten Familie. In seiner Lage tat ein Mann gut daran, wenigstens auf so etwas zu achten.

Wie auf ein Zeichen hin erfasste ein aufheulender Wind das Schloss, als hätte ein Alchemist einen Zauber gesprochen. Rohan schüttelte die Kälte ab, die jetzt in das Gebäude eindrang. Angesichts seiner düsteren Gedanken war er umso froher, dass sie ihm das Mädchen gebracht hatten. In einer derart schlimmen Nacht tat es gut, einen warmen Körper neben sich im Bett zu haben. Unter sich und über sich …

Er konnte es kaum noch erwarten, sie zu berühren.

„Mr Doyle, meine Herren, Sie können gehen“, sagte er nach einem Räuspern zu den verbliebenen Schmugglern. „Es war klug von Ihnen zu kooperieren. Wir können diese Angelegenheit jetzt als erledigt betrachten. Doch wenn ich in Zukunft noch einmal von so etwas höre“, fuhr er nach einer kleinen Pause warnend fort, „dann, das versichere ich Ihnen, werde ich weniger nachgiebig sein.“ Zum Zeichen dafür, dass die Männer aus dem Dorf entlassen waren, winkte er mit der Hand.

„Jawohl, Sir. Und gute Nacht.“ Doyle verbeugte sich vor ihm und nickte seinen Gefolgsleuten zu. Sie alle eilten dem alten Mann nach, zweifellos genauso erleichtert wie er, endlich hinauszukommen.

„Doyle!“, rief Rohan ihm nach.

Der Anführer blieb augenblicklich stehen und drehte sich um. „Ja, Sir?“

„Wegen des Mädchens.“ Rohan sah den Alten an und fragte sich, ob es ihm gelingen würde, Doyle die Wahrheit über dessen Aufgabe zu entlocken. „Sie ist nicht zufällig mit der Beute, die eure Jungs in der Nacht des Schiffsuntergangs eingesammelt haben, an Land gespült worden, oder?“

Caleb Doyle wirkte bei dieser Unterstellung überrascht. „Nein, Sir! Ganz und gar nich’!“

Jetzt lächelte Rohan beinahe. „Wer ist sie?“

„Ein Mädchen aus dem Dorf, Hoheit. Sie is’ es leid, von der Hand in den Mund zu leben, so wie wir alle es leid sind. Aber anders als wir is’ sie hübsch genug, um in der Stadt ein besseres Leben zu finden.“

Rohan kniff die Augen zusammen und musterte den Alten prüfend. Warum war Caleb so nervös?

„Viele Mädchen, die nur halb so hübsch waren, haben in London ein schönes Leben gefunden, in dem sie hochwohlgeborene Gentlemen unterhalten – Sie sind ja auch einer davon“, erklärte der Anführer der Schmuggler hastig weiter.

„Ist das ihr Wunsch?“, fragte Rohan nach.

„Ja, das Mädchen möchte die Freundin eines reichen Mannes sein.“

Er zog eine Braue hoch. „Du erwartest doch nicht von mir, dass ich sie behalte?“ Er hatte schon mehrere Frauen in London – beinahe mehr, als selbst ein Mann wie er brauchen konnte. Er besaß einen ganzen Harem, wie die Skandalblätter es zu nennen pflegten. Was diese Damen in ihm sahen – abgesehen von einem Gefährten fürs Bett –, dessen war er nie sicher.

Keine Versprechungen, das stand jedenfalls für ihn fest.

Doyle schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nich’. Nur, da sie gehört hat, dass Seine Hoheit so gut mit den Damen umzugehen versteht, hofft sie, Sie – äh – könnten ihr etwas beibringen. Natürlich nur, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.“

Einige von Doyles Männern husteten.

„Oh, das wäre in der Tat ein großes Opfer“, meinte Rohan spöttisch, und Doyle lächelte, beinahe erleichtert. „Wie heißt sie?“

„Kate, Mylord.“

„Kate und wie weiter?“

„Madsen.“

„Hm.“ Dieser Name klang nicht vertraut. „Hatte wohl vorher ein bisschen viel getrunken, wie mir scheint.“

„Die Nerven, Hoheit“, erwiderte Doyle, ohne zu blinzeln. „Sir, Sie haben einen gewissen Ruf, Sie gelten als ein Mann von hohem Standard. Aber nach allem, was ich weiß, sollte Kate dem genügen. Das dürfte kein Problem sein. Sie is’ auf einem guten Weg. Wir sind sehr stolz auf sie.“

Rohan lächelte spöttisch. Kriminelle, die stolz darauf waren, sollten ihre Töchter einmal große Kurtisanen werden. „Danke, Mr Doyle. Das wäre alles.“

„Dann überlassen wir Sie Ihrem nächtlichen Vergnügen!“ Doyles Lächeln verschwand, als er sich verneigte und seinen Männern hinterhereilte.

Eldred warf Rohan einen diskreten Blick zu, ehe er lautlos davonging, um den Gast hinauszugeleiten.

Auf einem guten Weg, dachte Rohan und warf einen lüsternen Blick in Richtung Treppe. Das klingt, als wäre sie die Richtige für mich.

3. KAPITEL

Endlich frei, um seine ganze Aufmerksamkeit auf die wartende Gespielin zu richten, legte Rohan die Waffen ab und dachte noch immer spöttisch an das, was Doyle über den Ehrgeiz des Mädchens gesagt hatte.

Die junge Verführerin möchte also eine Anweisung von einem Mann von Welt, um sich in Londons Halbwelt bewegen zu können.

Bei ihrem Aussehen vermochte sie dort ein Vermögen zu verdienen, und ganz gewiss konnte er ihr den Weg zu ihrem Glück weisen. Ach, er kannte ihn nur zu gut. Zufällig war er mit zwei oder drei jener Damen bekannt, die einer besonders ausgesuchten Klientel Huren von ausgesuchter Schönheit anboten.

Eine dieser eleganten „Äbtissinnen“ würde zweifellos froh sein, ein vielversprechendes neues Mädchen zu bekommen, vor allem, wenn er derjenige war, der sie empfahl. Er konnte es kaum erwarten, herauszufinden, ob diese Kate das Geschick für eine große Kurtisane besaß. Wenn nicht, wenn sie sich als unbeholfen erwies, würde er, großzügig, wie er war, bereit sein, als ihr Lehrer zu dienen, bis die Küstenwache eintraf und die Gefangenen abholte.

Natürlich glaubte er immer noch, dass Caleb Doyle das Mädchen als Spionin hierher gebracht hatte. Aber angesichts ihres Hangs zum Trinken hatten die Schmuggler sich eine schlechte Agentin ausgesucht. Bald würde sie sich nur noch um das nächste Glas kümmern.

Hoffentlich war sie inzwischen etwas nüchterner, nachdem sie eine Weile sich selbst überlassen gewesen war.

Während er die Treppe hinaufstieg, fiel sanftes Mondlicht durch die hohen gotischen Fenster mit ihren Spitzbögen und hüllte den steinernen Treppenaufgang in einen silbrigen Schein.

Als er einen Treppenabsatz erreichte und kurz stehen blieb, drangen blaue Schatten durch die Scheiben und warfen mit Sicherheit ein seltsames Muster auf seine Züge. Seine keltischen Vorfahren fielen ihm ein, allesamt wenig schreckhafte Krieger.

Gewohnheitsmäßig blickte er aus dem Fenster, um zu prüfen, ob alles in Ordnung war. Vom Turm seiner Festung aus hatte er einen ausgezeichneten Blick über die Umgebung. In der Ferne konnte er die Lampen an den Kutschen ausmachen, mit denen die Schmuggler zurück ins Dorf fuhren; kleine rote Kreise, die sich die Straße hinunterbewegten.

Etwas näher schien das Licht durch die Fenster des Torhauses. Dort hielten seine Männer Wache – es war ein heiterer Schimmer.

Ehe er sich abwandte, betrachtete er noch einmal die Schönheit dieser kalten Winternacht. Das Schloss war ein Königreich, in dem Kälte und Dunkelheit regierten. Nur im Mondlicht schien es verzaubert zu sein, besonders dann, wenn – wie jetzt – Eis die Statuen im Garten wie Diamantenstaub bedeckte. Ohne Zweifel würde es bis zum Morgen geschmolzen sein, und alles würde wieder abstoßend und grau aussehen.

Als das Glas durch seinen warmen Atem beschlug, sah er sein Spiegelbild: Sein Blick war hart, sein ganzer Körper wirkte durchscheinend wie ein Geist.

Er dachte an die Lage in London, sorgte sich vor allem um den vermissten Agenten.

Rohan kannte Drake nicht persönlich, nur den Anführern einer Gruppe war es gestattet, mit anderen zu kommunizieren, eine Regel, die half, das gesamte Netz zu schützen. Der Orden ging inzwischen davon aus, dass Drake von einem der mächtigsten Mitglieder des Rats der Prometheusianer festgehalten wurde, von James Falkirk. An seiner Seite befand sich sein stets präsenter Leibwächter und Gehilfe, der einäugige Mörder mit Namen Talon.

Er fragte sich, ob es bei der Suche nach Drake Fortschritte gab, seit er London hatte verlassen müssen. Genau in diesem Augenblick spürte Rohan hinter sich einen Luftzug, und seine Nackenhaare stellten sich auf.

Sofort fuhr er herum, sein Herz klopfte wie wild – aber es gab keine Spur von der Grauen Lady, kein Zeichen für eine Erscheinung. Er hatte sie in seinem Leben erst einmal gesehen, und da war er noch sehr jung gewesen.

Aber er spürte – etwas. Doch nein. Da war nichts als Dunkelheit, Leere und die Schuld, die all die früheren Dukes seiner barbarischen Familie auf sich geladen hatten.

Der Fluch der Kilburns.

Nach einer Weile entspannte er sich ein wenig, doch noch immer spürte er das seltsame Frösteln. Mit einem Hüsteln schüttelte er es ab, lachte über sich selbst und ging weiter. Aber je höher er die Treppe hinaufstieg, desto mehr merkte er, wie er die Stirn runzelte.

Absurd. Ein erwachsener Mann, ein gebildeter Mann, ein Aristokrat, der sich in seinem eigenen verdammten Haus erschrecken lässt! Himmel, er war der Beste in einer der kämpferischsten Organisationen der Welt. Man hatte ihm die Kindheit genommen, um ihn zu einem Krieger auszubilden, wie einst die Spartaner.

Und das war er nun – ein Krieger, ein Killer. Es lag ihm im Blut. Die Warringtons hatten schon immer die begabtesten Mörder hervorgebracht.

Aber genau das war sein Problem.

Vor einigen Hundert Jahren hatte ein Vorfahr, ein typischer Warrington, den Zorn eines Hexenmeisters erregt, der zum Orden der Prometheusianer gehörte. Und in der Folge hatte Valerian, der Alchemist, die Familie verflucht.

„Ihr mächtigen Krieger, ihr sollt dazu verdammt sein, das zu töten, was ihr liebt.“

Seither hatten die Warrington-Dukes die unglückliche Neigung an den Tag gelegt, ihre Ehefrauen zu töten – meistens durch einen Unfall, aber gelegentlich auch vorsätzlich.

Das war ihr Schicksal.

Nach der örtlichen Legende sollten die geliebten Opfer seiner Vorväter bei Mondlicht noch immer durch die stillen Hallen des Schlosses geistern, um sich an dem gegenwärtigen Duke rächen zu können – für das Los, das sie durch die Hand ihrer Ehemänner erlitten hatten.

Rohan war sich sicher, dass er dieses unheimliche Schloss so schnell wie möglich verlassen wollte.

Himmel, ihm war jeder Ort auf Erden recht, abgesehen von diesem hier. Wunderbar konnte er in einer Wüste schlafen, ohne sich um Skorpione oder Schlangen zu kümmern, oder in einer Schiffskoje, selbst wenn der schlimmste Sturm toste. Er hatte vor nichts Angst, und er war stolz darauf.

Aber hier, auf seinem Familiensitz, da war ihm bewusst, was es bedeutete, verflucht zu sein. Und wenn es nicht die ermordeten Duchesses waren, die ihm die Ruhe raubten, dann der Gedanke an das, was er für den Orden geworden war.

Das Biest.

Er bezweifelte niemals, dass er auf der Seite der Guten kämpfte, und niemand konnte ihm vorwerfen, dass er seine Pflichten vernachlässigte. Aber ein Mord war ein Mord, und bei seiner abergläubischen Natur konnte er nicht anders, als daran zu denken, dass er eines Tages göttliche Rache erfahren würde für all das Blut, das er vergossen hatte.

Seine Zielpersonen waren nur die gefährlichsten Mitglieder innerhalb des Ordens der Prometheusianer, korrupte Männer in mächtigen Positionen, die beseitigt werden mussten.

Aber einige der Männer, die er in Neapel getötet hatte, waren verheiratet gewesen. Manchmal wachte er nachts schweißgebadet auf, hörte die Schreie der Kinder, die er zu Halbwaisen gemacht hatte.

Vielleicht war auch er verflucht, denn ein Mann wie er, ein Mörder, ein Tier, war nicht gemacht für die Liebe.

Zum Glück hatte er schon vor langer Zeit einen Entschluss gefasst. Der Familienfluch durfte ihn niemals erfassen. Vor allem nicht, nachdem er als Junge miterlebt hatte, wie die Liebe seinen Vater beinahe umgebracht hatte.

Seine eigene Lösung war einfach: Verliebe dich niemals. Gefühlsmäßige Verwicklungen ließen sich leicht vermeiden, wenn ein Mann seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Frauen richtete, die er nicht respektieren und denen er nicht vertrauen konnte. Die Welt war voll von lüsternen Witwen, eitlen Ehebrecherinnen und erlesenen Huren.

Wie die, die ihn jetzt erwartete.

Ja. Solche Frauen erfüllten ihren Zweck. Und auf gar keinen Fall wollte er sich von seinen düsteren Gedanken die so dringend benötigte Entspannung verderben lassen. Daher schüttelte er sie ab wie einen zu schweren Umhang, als er den oberen Korridor erreichte.

Die ganze Zeit über heulte der Wind um die alten Mauern des Schlosses wie ein zorniger Geist. Rohan versuchte dies zu ignorieren, schritt stattdessen den Gang hinunter, bis er an die Tür seines Schlafgemachs kam. Vor ihr blieb er stehen und zog seinen Schlüssel hervor. Viele der mittelalterlichen Türriegel waren schon vor langer Zeit durch moderne Schlösser ersetzt worden. Seine Männer hatten sein Gemach abgesperrt, damit das Mädchen nicht in gewisse Bereiche des Schlosses gelangte, die für fremde Augen nicht bestimmt waren.

Mit einem leisen Klicken gab das Schloss nach. Zeit fürs Vergnügen.

Doch sogar jetzt, da er die Klinke hinunterdrückte, war er auf der Hut. Als Ordensmitglied mit seiner Vergangenheit rechnete er stets damit, dass ihm jemand unerwartet nach dem Leben trachtete. Als er sein Schlafzimmer betrat, war er auf alles gefasst.

Wo war sie? Mit einem Blick erfasste er den gesamten Raum – dann sah er ihren zarten weißen Ellenbogen auf der Armlehne des Sessels, der in der Nähe des Feuers stand.

Aha! Die Beute war entdeckt.

„Kate?“, grüßte er sie leise. Er wollte sie nicht erschrecken. Dann schob er die Tür hinter sich zu und verschloss sie. „Ich glaube, wir sind einander bislang nicht offiziell vorgestellt worden.“

Er steckte den Schlüssel zurück in seine Westentasche. Noch immer hörte er keine Antwort, daher blieb er wachsam, als er langsam quer durch den Raum zu ihr schritt.

Gleich darauf sah er, warum sie ihm nichts erwidert hatte. Das Mädchen lag zusammengerollt in dem Sessel, und zu seinem Missfallen schlief sie tief und fest.

Oder nicht? Er zog eine Braue hoch. In der Welt, die er kannte, war nicht immer alles so, wie es aussah. Vielleicht verstellte sie sich. Sie konnte sogar bewaffnet sein. Auf keinen Fall würde er ihr trauen, angesichts der Halunken, mit denen sie im Bunde war.

„Kate!“ Er sprach nun lauter.

Als er sich auf die Ottomane ihr gegenüber setzte und sie aufmerksam betrachtete, bemerkte er, dass sie das Abbild weiblicher Verletzlichkeit war.

Autor

Gaelen Foley
Gaelen Foley studierte Englische Literatur und Philosophie. Herrlich unverfroren, spritzig, süchtig machend – so beschreiben Literaturkritiker ihre mittlerweile vierzehn Regency-Liebesromane, die es alle auf die New York Times-Bestsellerliste schafften. Die preisgekrönte Autorin lebt mit ihrem Ehemann und ihrem Hund "Mr. Bingley" bei Pittsburgh. Nach dem College ging sie durch die...
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