Mein verruchter Marquess

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Wie bitte? Ihr Verlobter ist Mitglied im verrufenen Inferno Club? Daphne Starling weiß nicht, ob sie verzweifelt sein soll - oder fasziniert! Sie hatte sich bereits auf eine Vernunftehe mit Max St. Alban, Marquess of Rotherstone, eingestellt, auch wenn sie sich immer eine romantische Hochzeit gewünscht hatte. Zerflossene Träume nach einem Skandal, der ihre Chancen auf eine Liebesheirat zerstört hat! Doch nun sehen für Daphne die Dinge ganz anders aus. Ist es wahr, dass im Inferno Club verruchte Dinge vor sich gehen? Aber statt einer Antwort bekommt sie von Max nur einen leidenschaftlichen Kuss, der sie rat- und atemlos zurücklässt ...


  • Erscheinungstag 12.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738563
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. September 1815

Lieber Lord Rotherstone,

wenn Sie dies hier lesen, dann darf ich Sie mit Freuden wieder in London willkommen heißen, nach all Ihren langen und gefährlichen Reisen. In Ihrer Abwesenheit haben Sie mich mit keiner leichten Aufgabe betraut, aber ich habe nicht gezögert, sie auszuführen, und darf Ihnen nun die Früchte meiner Arbeit präsentieren. Nachdem ich monatelang all die Nachforschungen angestellt habe, die Sie verlangten, und dabei auch die ungewöhnlichen Methoden angewandt habe, die Sie empfahlen, habe ich die von Ihnen gewünschte Liste erstellt – fünf von Londons begehrtesten heiratsfähigen jungen Damen der Aristokratie, die Sie in Erwägung ziehen können.

Seien Sie versichert, dass jede dieser fünf ausgezeichneten jungen Damen exakt Ihrer Lordschafts Anforderungen in Bezug auf Gesundheit, Jugend, Herkunft, Schönheit, guter Familie, angenehmem Wesen und vor allem einem untadeligen Ruf erfüllen. Die Namen Ihrer möglichen Bräute lauten wie folgt:

1. Miss Zoe Simms – neunzehn Jahre alt, ausgezeichnete Singstimme, Nichte des Duke of Rowland.

2. Miss Anna Bright – achtzehn Jahre alt, Tochter des Bischofs von Norwell, eine begabte Autorin. Ihr erstes veröffentlichtes Werk heißt: „Tugenden einer jungen Lady.“

3. Lady Hypatia Glendale – einundzwanzig Jahre alt, bekannt als begeisterte Sportlerin und Jägerin, nimmt an Treibjagden teil.

4. Miss Adora Walker – sechzehn Jahre alt. Obwohl kaum der Schulstube entwachsen, gilt sie als bedeutendste Schönheit, die es seit Jahren in der Gesellschaft gegeben hat, daher wäre sie eine lohnenswerte Partie.

5. The Honorable Miss Daphne Starling – zwanzig Jahre alt, eine anerkannte Schönheit, bekannt für ihre Freundlichkeit gegenüber Fremden – aber schwierig, Mylord. Geben Sie acht! (siehe Postskriptum).

Ich stehe Ihnen zu Diensten mit weiteren Auskünften über die Ergebnisse meiner Nachforschungen, obwohl ich vermute, dass Ihre Lordschaft wünscht, von hier an mit eigenen Ermittlungen fortzufahren. Meine Akten zu dieser Angelegenheit stehen Ihnen zur Verfügung, sobald Sie sie zugeschickt bekommen möchten (Ihren Wünschen entsprechend, habe ich über jede der jungen Damen eine Akte zusammengestellt mit detaillierteren biographischen Informationen sowie etwa bevorstehenden gesellschaftlichen Terminen und typischen Wochenabläufen. Das sollte es für Ihre Lordschaft leichter machen, jedes der Mädchen nach eigenem Gutdünken zu beobachten).

In Erwartung weiterer Anweisungen – und nochmals, Mylord, mit all der Freude Englands über den großartigen Sieg am Ende dieses schrecklichen Krieges –, willkommen zu Hause.

Ihr ehrerbietiger Diener,

Oliver Smith, Esquire,

Rechtsanwalt und Geschäftsmann

Postskriptum: Was Lady Nummer fünf angeht, Sir – Sie möchten Daphne Starling vielleicht von vornherein von Ihrer Liste streichen, denn in den vergangenen Wochen hat es unglücklicherweise einen Skandal um diese junge Dame gegeben.

Da sie kürzlich einen Bewerber abgewiesen hat – einen bekannten Dandy mit Namen Lord Albert Carew –, steht Miss Starling, so fürchte ich, im Begriff, sich den Ruf zu erwerben, etwas schwierig zu sein.

1. KAPITEL

In einem einspännigen Gig traf sie im Reich der verlorenen Seelen ein, begleitet von einem Diener und einer Zofe. Die Sicherheit des belebten Strand ließ sie weit hinter sich, als sie in dieses düstere Labyrinth einbog.

Protestierend warf das Pferd den Kopf zurück, gehorchte aber Williams Hand und schritt nervös durch die schmale Gasse zwischen den engen Häusern. Über ihnen ragten, halb verborgen vom Frühnebel, die großen Blocks der Mietshäuser empor, so abweisend wie mittelalterliche Türme.

Das Klappern der Hufe ihres treuen Wallachs hallte wider von den rußigen Mauern, doch sonst regte sich um diese Zeit kaum etwas. Diese Gegend erwachte nur in der Nacht. Zweifellos waren sie inzwischen sehr weit entfernt von dem gepflegten grünen Rasen, der ihr elegantes Vaterhaus umgab.

Dies war nicht der richtige Ort für eine Dame.

Doch in der letzten Zeit wurde es ihr zusehends weniger wichtig, was die Welt über sie, Lady Daphne Starling dachte.

Ihren guten Ruf zu missachten, bescherte ihr seltsamerweise mehr Freiheiten. Es hatte ihr einen neuen Blickwinkel auf die Dinge ermöglicht und ihr geholfen, sich mehr auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig war.

Wie zum Beispiel, die Kinder aus diesem Albtraum zu befreien.

Nebelschwaden zogen an ihrer kleinen offenen Kutsche vorbei, die beladen war mit Säcken voller Lebensmittel, die sie seit ihrem Besuch im Waisenhaus letzte Woche gesammelt hatte. Obwohl sie schon seit einiger Zeit hierherkam, erschreckten sie die Lebensbedingungen immer noch.

Ein streunender Hund mit hervorstehenden Rippen suchte in einem Haufen Abfall nach etwas zu fressen. Ein ungesunder Geruch erfüllte die Luft, und weder ein frischer Wind noch die Sonne drangen in die schmalen, gewundenen Gassen. Die Häuser hier waren so eng gebaut, dass die Menschen in einem ständigen Zwielicht lebten, und die geborstenen Fenster erinnerten an die zerbrochenen Leben jener, die längst aufgegeben hatten. Hier und da schliefen Obdachlose, formlose Bünde, irgendwo in der Gosse.

Eine Atmosphäre der Verzweiflung hing über diesem Ort. Daphne erschauerte und zog sich die Pelerine ein wenig fester um die Schultern. Vielleicht sollte sie nicht hier sein – manchmal war ihr, als führte sie ein Doppelleben.

Aber sie wusste, wie es war, schon früh eine Waise zu werden. Wenigstens hatte sie noch einen liebenden Vater, ein sicheres Heim und genug zu essen. Doch es war ihre Mutter gewesen, die ihr gezeigt hatte, welche Pflichten eine junge Frau aus guter Familie den weniger Glücklichen gegenüber hatte.

Noch wichtiger aber war, dass sie tief in ihrem Innern wusste: Wenn nicht irgendjemand zu den finsteren Orten auf dieser Welt ging und jenen etwas Liebe gab, die sonst niemanden hatten, dann war das Leben wirklich sinnlos. Vor allem das Leben, wie sie es immer geführt hatte, als einziges Kind eines Viscount mit einem großen Vermögen und einem alten Titel.

Dennoch, wie privilegiert sie durch ihre Geburt auch sein mochte, sie wollte niemals eines dieser selbstsüchtigen, künstlichen Geschöpfe werden, wie einige aus der ton es waren, die sich erst kürzlich aus heiterem Himmel gegen sie gewandt hatten.

Flüchtig dachte sie an Lord Albert Carews schadenfrohe Miene, doch jedes Mal, wenn sie sich an seinen ach so romantischen Antrag erinnerte, hätte sie am liebsten geschrien! Der bekannteste Dandy und die größte Schönheit – ein passendes Paar! Was meinen Sie? Alberts Überheblichkeit schützte ihn vor der Erkenntnis, wie unerträglich er eigentlich war. In Lord Albert Carews Leben gab es nur eine einzige wahre Liebe: ihn selbst. Daphne knirschte mit den Zähnen und verstieß ihren abgewiesenen Verehrer aus ihrer Erinnerung, als William in die Bucket Lane einbog, in der das schreckliche Waisenhaus stand.

Bucket Lane oder „der Abfalleimer“, wie die rauen Einwohner es scherzhaft nannten, war eine Straße, in der die Sünde ganz unverhohlen mit der Tugend kämpfte. Unglücklicherweise schien die Sünde diese Schlacht zu gewinnen.

Obwohl immer noch eine kleine Kirche am Ende der Straße stand, von der ein letzter verfallender Steinengel missbilligend herabschaute, gab es an der Ecke ein großes Bordell, gegenüber einen Pub und nur wenige Türen entfernt eine Spielhölle.

Letzten Monat war hier ein Mord geschehen.

Zwei Bow-Street-Männer waren gekommen und hatten Fragen gestellt. Doch es konnte niemand gefunden werden, der zur Zusammenarbeit bereit war, und die Männer des Gesetzes waren nicht zurückgekehrt.

Das Leben in der Bucket Lane war weitergegangen wie immer.

„Sagen Sie mir noch einmal, was wir hier tun, Miss?“, fragte ihre Zofe Wilhelmina zaghaft, als sie weiter die Straße hinunterfuhren.

„Vermutlich nach Abenteuern suchen“, murmelte William, Wilhelminas Zwillingsbruder.

Obwohl diese Ansicht ein Körnchen Wahrheit enthalten mochte, sah Daphne ihn fragend an. Die beiden, die auf dem Land aufgewachsen waren, hießen im Haus der Starlings nur „die beiden Willies“. Sie waren gutmütig und außerordentlich loyal, was schon dadurch bewiesen wurde, dass sie allwöchentlich zum Waisenhaus mitkamen.

„Sieh zum Fenster, William.“ Mit einer Kopfbewegung deutete Daphne nach oben, während sie die Hand hob und winkte. „Ihretwegen sind wir hier.“

Durch die schmutzigen Scheiben waren aufgeregte Gesichter zu sehen und kleine, winkende Hände.

Er räusperte sich. „Vermutlich haben Sie recht, Miss.“

Daphne lächelte ihren Diener an. „Keine Sorge, Will. Wir bleiben nicht lange. Vielleicht eine Stunde.“

„Eine halbe Stunde?“, bat er, während der Gig weiterfuhr. „Heute haben wir Davis nicht dabei, Miss.“

„Stimmt.“ Gewöhnlich nahm sie zwei Diener mit, aber diesmal hatte ihre Stiefmutter – zweifellos mit voller Absicht – darauf bestanden, dass der stämmige Diener Davis bei ihr im Haus blieb, um ihr zu helfen, die Möbel im Salon umzustellen.

Wieder einmal.

Die umtriebige Penelope war eine Meisterin der sinnlosen Beschäftigungen und die Königin der Einmischung.

Von Anfang an war das ganze Debakel um Albert nur einem Plan ihrer Stiefmutter zu verdanken, ein kühner Versuch der Ehestiftung, geboren aus ihrem Eifer, Daphne aus dem Haus zu bekommen.

„Nun gut“, räumte diese widerstrebend ein. „Ich werde mein Möglichstes tun, mich mit einer halben Stunde zu begnügen.“

William sah sie dankbar an und stellte die Bremse fest.

„Miss Starling! Miss Starling!“, rief eine hohe Stimme, als Daphne ausstieg. Sie sah sich um und bemerkte, wie einer der älteren Jungen, der das Waisenhaus im Jahr zuvor verlassen hatte, auf sie zulief.

„Jemmy!“ Er war dünn und mager, brachte aber dennoch ein strahlendes Lächeln zustande. Sie begrüßte ihn mit einer mütterlichen Umarmung. „Ach, ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Wo bist du gewesen?“

„Da und dort, Miss.“

Sie umfasste seine Schultern und sah, dass er schon beinahe so groß war wie sie. „Du bist so gewachsen, seit ich dich das letzte Mal sah! Wie alt bist du jetzt?“

„Gerade dreizehn geworden“, erklärte er stolz.

Sie lächelte ihn an. „Besteht die Möglichkeit, dass du deine Meinung über eine Lehrstelle geändert hast? Ich kenne einen Stellmacher, der nach einem ehrlichen Jungen sucht.“

Verächtlich verzog Jemmy das Gesicht, doch dann erinnerte er sich gerade noch an die wenigen Manieren, die er besaß. „Tut mir leid, Miss.“ Er senkte den Kopf. „Ich denke darüber nach.“

„Mach das.“ Noch war sie nicht bereit, Jemmy aufzugeben, aber er war auf keinem guten Weg. Von zwei Stellen, die sie ihm beschafft hatte, war er schon fortgelaufen, zu angetan von dem leichten Leben der Kriminellen, die er so bewunderte. „Brich mir nicht das Herz, Jem. Wenn du erwischt wirst, wie du etwas anstellst, dann wirst du nicht viel Mitleid finden. Den Gesetzeshütern ist es egal, ob du noch ein kleiner Junge bist. Sie werden dich trotzdem nach Australien schicken.“

„Ich habe kein Unrecht getan!“, rief er mit der Überzeugungskraft des geborenen Charmeurs. Und er war auch kein schlechter Schauspieler.

„Das will ich dir fast glauben.“ Sie betrachtete ihn eingehend, dann bemerkte sie den Mann gegenüber, der für eine der Banden hier auf Posten stand. Er rauchte eine Zigarre, lehnte an der Tür des Pubs und beobachtete sie.

Als sie hinsah, tippte er sich an den Hut und grinste sie in einer Weise an, die mehr bedrohlich wirkte als freundlich. Sie erstarrte unter diesem Blick und begriff, dass sie besser hineingehen sollte. Dennoch nickte sie kurz zurück, denn sie wagte nicht, sich respektlos zu zeigen.

Gewöhnlich wurde sie nicht belästigt, denn die Männer wussten, dass sie nicht hier war, um Schwierigkeiten zu machen, sondern um deren verstoßenen Kindern zu helfen. Die kleinen Bewohner des Findlingshauses wurden allgemein als Waisen bezeichnet, doch während die Eltern einiger dieser Kinder tatsächlich tot waren, waren die meisten nur allein gelassen worden. Daphne war nicht sicher, was von beidem schlimmer war.

Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, dass sie diese Kinder so schnell wie möglich hier herausbringen musste.

In den letzten anderthalb Jahren hatte sie daran gearbeitet, eine bessere Unterkunft für die Waisen zu finden und deshalb all ihre Freunde gebeten, für diesen guten Zweck zu spenden.

Sie hatte sogar ein ideales Anwesen gefunden, das zum Verkauf stand, eine alte Schule, in der die Waisen untergebracht werden konnten, doch trotz all ihrer Bemühungen reichte die Summe nicht aus.

Nun, mir sollte möglichst bald etwas einfallen, dachte sie, während sie und Wilhelmina jeweils einen Sack aus dem Gig hoben. Die Kleinen hier wuchsen so schnell, und wenn niemand aufpasste, dann würden die Jungen, so wie Jemmy, beinahe zwangsläufig zu Mitgliedern der brutalen Banden heranwachsen.

Ein beinahe noch schrecklicheres Schicksal, das zu furchtbar war, um darüber nachzudenken, wartete auf die kleinen Mädchen. Daphne warf einen hasserfüllten Blick zurück auf das Bordell an der Ecke. In ihren Augen war es noch schlimmer als das Gin-Haus, denn was dort vor sich ging, verhöhnte die Liebe.

Liebe war die einzige Hoffnung für diese Kinder – genau wie für jeden anderen Menschen.

Gott bewahre, keines von ihren kleinen Mädchen würde in jenem Haus enden. Sie musste nur härter arbeiten und irgendeinen Weg finden.

Vor allem anderen durfte sie nicht zulassen, dass Albert ihrem Ruf noch mehr Schaden zufügte, denn sie wusste sehr genau, dass all ihre Bemühungen, das Waisenhaus an einen sicheren Ort zu verlegen, umsonst sein würden, wenn es ihm gelang, die Meinung der Gesellschaft gegen sie zu richten.

Die Kinder waren von ihr abhängig. Sie hatten niemanden sonst. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf hob sie entschlossen den Sack auf ihre Schulter, setzte um der Kleinen willen ein heiteres Lächeln auf und betrat das Haus, empfangen von jubelnder Freude, die ihr Herz höher schlagen ließ.

Was, zum Teufel, macht sie hier? Die mögliche Braut Nummer fünf verwirrte ihn. Eine halbe Stunde. Er zog seine Taschenuhr hervor, um die Zeit zu überprüfen, dann ließ er den Deckel wieder zuschnappen.

Max St. Alban, Marquess of Rotherstone, schüttelte den Kopf, schob die Uhr zurück in seine Westentasche und bezog wieder seinen Posten.

Im Zuge seiner sorgfältigen Nachforschungen war er ihr in diesen Vorort der Hölle gefolgt und hatte auf der gegenüberliegenden Straßenseite Stellung bezogen.

Mit dem kleinen Taschenfernrohr spähte er durch das schmutzige Fenster im dritten Stock des Bordells, ohne die Dirne zu beachten, die an seinem Ohr knabberte.

„Du hast dieses Zimmer für eine Stunde, Süßer, mit allem, was dazugehört. Bist du sicher, dass du es nicht willst?“

„Absolut“, murmelte er und beobachtete Miss Starlings wartende Kutsche sowie den schmalbrüstigen Hänfling von einem Diener, den sie bei den Pferden zurückgelassen hatte.

Ehe sie hineinging, hatte Miss Starling sich seltsamerweise umgedreht und zum Bordell hinübergeblickt, als spürte sie, dass er sie beobachtete. Max’ Körper hatte darauf mit einem erregten Schauer reagiert. Der breite Rand ihres Hutes hatte ihr Gesicht vor seinen Blicken verborgen; natürlich war es klug von ihr gewesen, ihre Reize an diesem Ort zu verhüllen. Zweifellos dienten das einfache, beigefarbene Kleid und die Haube genau diesem Zweck. Aber dieser kurze Moment hatte nur noch seinen Wunsch verstärkt, einen Blick auf diese berühmte goldene Schönheit zu erhaschen.

Im Augenblick erschien es ihm jedoch klug, den einsamen Diener im Auge zu behalten. Himmel, dieser übergroße Farmerjunge war hier offensichtlich fehl am Platze. Der sollte sie beschützen? Nicht einmal Max, der die verschiedensten Kampfstile beherrschte, kam leichtfertig hierher.

Im kreisförmigen Ausschnitt seines Teleskops sah er, wie der junge Diener sich in der engen, schmutzigen Straße unbehaglich umschaute. Der Landjunge hielt treu die Stellung, doch er wirkte ein wenig ängstlich, und das sollte er auch, verdammt.

Zum Glück blieb der Straßenjunge, den Miss Starling umarmt hatte, in der Nähe, vielleicht zur moralischen Unterstützung, bereit, für die Wohltäter zu sprechen, wie Max hoffte, wenn irgendjemand die drei belästigen sollte.

Der Junge wirkte nicht nur härter als der Diener, er erinnerte Max mit einem gewissen Bedauern auch daran, wie er selbst in diesem Alter gewesen war. Nur fadenscheinige Kleidung und leere Taschen, aber dafür Haltung und viel Kühnheit.

Auch er war als armes Kind aufgewachsen, aber es war adelige Armut gewesen, mehr mit Scham als mit Hunger verbunden, wie ihn dieser Straßenjunge wohl kannte.

Doch als er den Jungen betrachtete, konnte er kaum glauben, dass er selbst nicht älter als jener gewesen war, als der Orden ihn rekrutierte. Als sein Vater ihn weggab, damit aus ihm wurde, was er war.

Er verdrängte die Vergangenheit aus seinen Gedanken. Diese verdammte Zeit war vorüber, der mittelalterliche Blutschwur seiner Vorfahren war erfüllt, der heimliche Krieg des Ordens war gewonnen. Jetzt war es Zeit, mit seinem eigenen verdammten Leben weiterzumachen.

Seine erste Aufgabe, die er schon von langer Hand geplant hatte, bestand als Privatmann nun darin, den schlechten Ruf seiner Familie zu bereinigen, der nach mehreren Generationen schwindenden Vermögens und undisziplinierter Taugenichtse Schaden genommen hatte.

Das würde nicht leicht sein, vor allem nicht nach seiner langjährigen Charade als dekadenter Reisender auf der Grand Tour. Außerdem war er dank seiner Verbindung zu dem berüchtigten Inferno Club bei seiner neuen Aufgabe in besonderem Nachteil.

Aber egal. Er wusste, wie man Menschen umschmeichelte. Bald würde die Gesellschaft ihm aus der Hand fressen, denn ihm war bewusst, mit welcher Angriffsstrategie er auf dem schnellsten Wege zu seinem gewünschten Ziel gelangen würde.

Kurz gesagt durch eine Heirat.

Die richtige Braut wäre das perfekte Instrument, um ihm zu helfen, den dunklen Schatten, der auf den Rotherstones lag, in Vergessenheit zu bringen. Und so hatte eine neue Jagd begonnen. Diesmal nicht nach einem feindlichen Agenten. Seine neue Aufgabe lautete, eine Ehefrau zu finden.

Was allerdings nicht erklärte, warum er hier war.

Von einem rein logischen Standpunkt aus betrachtet, vergeudete er nur seine Zeit. Offensichtlich konnte er nicht Daphne Starling wählen, die Letzte auf seiner Liste.

Und doch – nachdem er ihre Akte gelesen hatte, vermochte er der Versuchung nicht ganz zu widerstehen. Er war hierhergekommen, nur um einen raschen Blick auf das Mädchen zu werfen.

Das konnte doch gewiss nicht schaden.

Sobald er seine Neugier befriedigt hatte, würde er – davon war Max überzeugt – nach Hause zurückkehren und die richtige Wahl treffen; vermutlich würde er die außerordentlich tugendhafte Tochter des Bischofs wählen. Oder vielleicht die Reiterin – ein zartes Pflänzchen würde er nicht aushalten. Natürlich würde er nicht die Sechzehnjährige nehmen, denn er war ja beinahe alt genug, um ihr Vater zu sein, aber von den anderen käme jede infrage, die nicht Daphne Starling hieß.

Ein skandalträchtiger Name in der Familie wäre genug, und diesen beanspruchte er bereits selbst. Er brauchte eine Frau mit einem makellosen Ruf, um seinen eigenen schlechten auszugleichen.

Max persönlich war es vollkommen egal, was die Leute von ihm dachten. Aber es war ihm wichtig, dass seine zukünftigen Kinder keine Ausgestoßenen sein würden, wie er es gewesen war. Den Ruf seiner Familie wiederherzustellen bedeutete, seinen Nachfahren jeden Vorteil im Leben zu verschaffen. Das große Vermögen, das er in den vergangenen zehn Jahren angehäuft hatte, war nur ein Teil davon – Geld allein vermochte in der Londoner Gesellschaft weder die Zugehörigkeit noch den Respekt zu erkaufen. Die großen Kaufmannsfamilien konnten das bezeugen.

Nein, entscheidend war es, eine Ehefrau und Mutter für die zukünftigen kleinen Rotherstones zu wählen, die einen makellosen Stammbaum hatte und ein erklärter Liebling der Gesellschaft war.

Bis vor Kurzem hatte das auf Miss Starling zugetroffen. Aber in Anbetracht ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten hatte Oliver vermutlich recht, als er vorschlug, Max sollte sie gleich von seiner Liste streichen.

Max’ Interesse an ihr war ohnehin nichts als eine Laune. Zumindest redete er sich das ein. Es war aufgeflackert, als er die Liste überflogen und das Postskriptum seines Anwalts gelesen hatte.

Zuerst war Max erstaunt gewesen, dann hatte er laut gelacht, als er las, dass ihr abgewiesener Verehrer niemand anders gewesen war als der Erzfeind seiner Kindheit.

Albert Carew.

Belustigt schüttelte er den Kopf, während er noch immer aus dem Fenster blickte und darauf wartete, dass sie das Waisenhaus verließ. Er achtete nicht auf die Dirne, die ihm jetzt die Schultern massierte, das Haar zauste und überhaupt alles tat, was in ihrer Macht stand, um ihn ins Bett zu holen.

Der gute alte Alby! Gern hätte Max behauptet, dass er nach zwanzig Jahren, als jetzt erwachsener Mann, alles über diese Plage seiner Kindheit und ihre hitzige Rivalität vergessen hatte – aber nein, er erinnerte sich nur zu gut daran.

Die Gebrüder Carew waren die Söhne des vorherigen Duke of Holyfield; die außerordentlich reichen Nachbarn hatten auf dem Land gelebt, neben dem Anwesen in Worcestershire, auf dem er groß geworden war. Abgesehen von Hayden, dem stillen Ältesten und jetzigen Duke, waren sie eine Horde kleiner Ungeheuer gewesen, und Max zu quälen war ihr liebster Zeitvertreib.

Und es war leicht für sie gewesen, denn ihr schlossartiges Zuhause hatte nicht weit von dem baufälligen Haus seines Vaters weg gestanden, und Max musste auf dem Weg zum Cottage seines Lehrers jeden Tag daran vorbeigehen.

Meistens hatten sie ihm bei der Kuhweide oder am alten Pinienhain aufgelauert.

Vor allem Albert, der Zweitgeborene und Anführer, war seine Nemesis gewesen. Wieder schüttelte er den Kopf, als er an ihre Kämpfe dachte – und an seinen eigensinnigen Stolz. Obwohl sie immer in der Überzahl gewesen waren, hatte er sich geweigert, einen anderen Weg zu wählen.

Kein Wunder, dass er die Aufmerksamkeit des Ordens auf sich gezogen hatte, war doch der Kriegerinstinkt seiner normannischen Vorfahren schon so offensichtlich gewesen, als er noch ein Junge war.

Nun, zum Glück für den guten alten Alby würde Rache gegen die Regeln des Ordens verstoßen. Die Hoffnung darauf hatte er ohnehin schon längst aufgegeben.

Andererseits, nun, da die ernste Last des Krieges hinter ihm lag, war es ein Luxus, sich solch trivialen Belustigungen hinzugeben. Er konnte nicht anders, es gefiel ihm zu hören, dass Miss Starling den hochnäsigen Albert Carew zurückgewiesen hatte. Ach, wie gern hätte er bei diesem Gespräch Mäuschen gespielt …

Da ihm der Wettkampf nun einmal im Blut zu liegen schien, hatte Max sich sofort gefragt, ob er wohl bei dieser offensichtlich wählerischen jungen Dame besser abgeschnitten hätte.

Aber natürlich hätte ich das, dachte er. Jugendliche Selbstzweifel lagen längst hinter ihm.

Wie verlockend das war! Diese ganze Geschichte war schlicht amüsant.

Sofort hatte er gewusst, dass er dieses Mädchen kennenlernen musste. Das Mindeste wäre, mit ihr vor den Augen des guten alten Alby zu tanzen.

Der Orden mochte Rache verbieten, aber der Codex sagte nichts dagegen, ein wenig an dem Messer zu drehen, das ein anderer hineingestoßen hatte.

Daher hatte er seinem Anwalt sofort zurückgeschrieben und um die Akte über Dame Nummer fünf gebeten. Oliver hatte sie ihm umgehend zugeschickt, aber nachdem Max sich einen Brandy eingeschenkt und sich gesetzt hatte, erfuhr er mehr, als er erwartet hatte.

Tatsächlich war von dem Augenblick an, da er alles gelesen hatte, Hoffnung in ihm aufgekeimt.

Vergangene Nacht hatte er die Akte noch mehrmals studiert und sich mit jeder Einzelheit vertraut gemacht. Besonders eine Sache hatte sich ihm eingeprägt, und das war Miss Starlings Beiname in der Gesellschaft: ‚Die Schutzpatronin der Neuankömmlinge‘.

Sie war dafür bekannt, sich mit Außenseitern anzufreunden und mit jenen, die neu waren in der kühlen ton. Sie nahm sie unter ihre Fittiche, führte sie herum, stellte sie vor und sorgte dafür, dass sie mit einbezogen wurden.

Max war selbst lange genug ein Ausgestoßener gewesen, um solche Freundlichkeit zu schätzen.

Er musste zugeben, dass er bezaubert war. Und er war auch deshalb heute hierhergekommen, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Um herauszufinden, wie sie war, wenn niemand zusah.

Natürlich gab es da noch Schwierigkeiten mit ihrem Ruf, aber jetzt, da er wusste, dass Albert damit zu tun hatte, bezweifelte Max ernsthaft, dass irgendetwas davon ihre Schuld war. Er kannte Alberts heimtückische Art und wusste, dass der aufgeblasene Bursche alles tun würde, um seine verletzte Eitelkeit wiederherzustellen, wenn er nicht bekam, was er wollte.

Das war der Augenblick, in dem ihm dieser fatale Gedanke kam. Falls Miss Starling ungerechterweise angegriffen wurde – vielleicht brauchte sie dann Hilfe.

Ach, verdammt, hatte er gedacht, als er den unwiderstehlichen Drang verspürte, einer Jungfer in Not zu helfen, vor allem, da er doch wusste, wie es war, die Zielscheibe von Carews Bösartigkeit zu sein.

Von jenem Moment an konnte er Daphne Starling nicht mehr aus seinen Gedanken verdrängen. Dass die Ehre einer unschuldigen, freundlichen Lady von jemandem wie Albert Carew beschmutzt wurde, diese Ungerechtigkeit nagte an jeder Faser seines Körpers, die zu einem Kavalier gehörte, und das hatte ihn letzte Nacht eine Weile wach gehalten. Er hatte an die Decke gestarrt und den Wunsch verspürt, irgendjemanden zu schlagen.

Und jetzt war er hier. Obwohl er wusste, dass die Wahl einer Ehefrau etwas zu Wichtiges war, um sie nur nach dem Gefühl zu treffen.

Es zeigte sich allerdings, dass Miss Starling einen besorgniserregenden Einfluss auf seinen Verstand hatte. Bisher hatte er sie noch nicht einmal getroffen, und dennoch war es ihr irgendwie gelungen, seine Entscheidungsfähigkeit zu vernebeln.

Kein Wunder, dass er beschlossen hatte, sie an diesem Tag aus sicherer Entfernung zu beobachten, sodass er wie ein Schatten verschwinden konnte. Sie würde nie erfahren, dass er da gewesen war.

Nachdem er den Halunken gesehen hatte, war er natürlich doppelt froh, gekommen zu sein. Irgendjemand musste schließlich ein Auge auf das Mädchen haben.

Wusste denn Lord Starling nichts über den Zustand des Ortes, an dem seine Tochter ihre wohltätige Arbeit verrichtete? Das konnte Max nicht durchgehen lassen.

Genau nach Plan, so wie es in ihrer Akte berichtet wurde, war sie zur üblichen Zeit zu ihrem wöchentlichen Besuch im Waisenhaus erschienen – Freitagmorgen um Punkt neun. Offensichtlich war Daphne Starling ein Mensch, der einen regelmäßigen Ablauf schätzte.

Max mochte zuverlässige Frauen. Andererseits machte ihre Zuverlässigkeit es sehr leicht für andere, ihre Ankunft vorherzusagen, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Tausend Fragen über sie gingen ihm im Kopf herum, während seine stark geschminkte Gastgeberin in dem Bordell zusehends unzufriedener wurde über seine mangelnde Aufmerksamkeit.

„Warum beobachtest du diese Lady?“, fragte sie.

„Weil“, sagte Max gedehnt und in leicht spöttischem Ton, während er weiterhin durch das Teleskop aus dem Fenster schaute, „ich in Erwägung ziehe, sie zu heiraten.“

Die Dirne lachte laut und überrascht und schlug mit ihren Röcken nach ihm. „Du führst mich an der Nase herum!“

„Nein, nein“, wehrte er ab, obwohl er selbst nicht genau wusste, wie ernst es ihm damit war.

„Du hast eine seltsame Art, sie zu umwerben, findest du nicht?“

„Alte Gewohnheiten legt man nicht so leicht ab“, meinte er.

Sie stupste ihn mit dem Finger an und wusste nicht recht, was sie von ihm halten sollte.

Das ging vielen Menschen so.

„Sir, keine Frau mag einen Ehemann, der ihr nachspioniert.“

„Im Augenblick ist es mir egal, was sie mag.“

„Wie abgebrüht“, schalt sie.

„Nein, pragmatisch“, gab er zurück und schenkte ihr ein zynisches Lächeln. „Man möchte schließlich wissen, woran man ist.“

Sie schnaubte verächtlich. „Das kannst du laut sagen.“

„Entspann dich. Du bekommst dein Geld.“

„So wie du aussiehst, würde ich es mir lieber verdienen.“ Sie rückte näher und legte eine Hand auf seine Schulter. „Männer wie du kommen nicht allzu oft hierher.“

Fragend sah er sie an und überlegte, wen sie damit meinte – ausgebildete Mörder, die für eine Organisation arbeiteten, die offiziell gar nicht existierte, oder elegante Marquesses mit einem jahrhundertealten Titel. „Vielleicht solltest du darüber froh sein.“

Sie verstummte einen Moment und musterte seine verschlossene Miene. „Wer sind Sie überhaupt?“

Kommt darauf an, wen du fragst. Ein wenig missbilligend sah er sie an. „So etwas solltest du deine Kunden nicht fragen.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Fenster. „Kennst du sie?“

„Miss Starling? Jeder hier in der Gegend kennt sie. Ich nehme an, sie versucht, Seelen zu retten. Zeitverschwendung.“ Ihr kurzes Lachen sprach Bände. „Solche wie mich mag sie nicht.“

„Das habe ich auch nicht angenommen.“ Verdammt, wie lange dauerte es denn, ein paar billige Spielsachen zu verteilen? Er unterdrückte den Schmerz der Erinnerung, der ihn so etwas wie Verbundenheit fühlen ließ mit den mittellosen, ungeliebten Kindern hinter jenen Mauern, während er darauf wartete, dass Daphne Starling wieder auftauchte.

Gewöhnlich war er so geduldig wie eine Spinne, die in ihrem Netz lauerte, aber er hatte schon so viel Zeit verloren – zwanzig Jahre seines Lebens, die er dem Orden gewidmet hatte.

Unruhig trommelte er mit den Fingern auf die Fensterbank und unterdrückte ein Stöhnen. „Wie lange bleibt sie normalerweise?“

„Woher soll ich das wissen?“, meinte die Dirne, dann streckte sie tapfer eine Hand aus und berührte seinen Arm. „Ich könnte dich unterhalten, während du wartest.“

Max erstarrte und beobachtete ihre Bewegungen. Er hatte das Eckzimmer im dritten Stock des Bordells gewollt, von dem aus er die Straße überblicken konnte, nicht die Frau, die dazugehörte. Dennoch erlaubte er sich einen Moment lang, ihre Berührung zu genießen.

An so etwas war er gewöhnt, wenn es um das Bett ging. Von gelangweilten Ehebrecherinnen der Oberklasse über teure Kurtisanen bis hin zu hübschen Mädchen in irgendeinem Freudenhaus, am Ende war es immer dieselbe käufliche Liebe. Bisher hatte er sich zufrieden geben müssen mit anonymen Liaisons dieser Art, oder um seiner Arbeit willen, wenn er eine Frau aus reiner Berechnung verführen musste. Das führte ihn gewöhnlich zu der Frage, wer eigentlich die Dirne war.

Jetzt, da der Krieg vorüber war, war er gezwungen, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass er geradezu schmerzhaft einsam war. Die Jahre hatten an seiner Seele gezehrt, die Wanderungen von Ort zu Ort, immer allein. Er sehnte sich danach, etwas anderes zu finden. Etwas, bei dem er sich hinterher nicht schmutzig fühlte.

In diesem Augenblick jedoch begrüßte er das köstlich verruchte Gefühl, das ihm vertraut war. Als die Dirne ihre Hand bewundernd über seine Brust gleiten ließ, stand Max reglos da, verlockt von der Versuchung, während seine möglicherweise zukünftige Frau in dem Waisenhaus gegenüber ihren angeschlagenen Ruf aufpolierte.

Vielleicht nicht der beste Anfang für eine Ehe.

Im nächsten Moment lenkte eine Bewegung draußen seine Aufmerksamkeit wieder zum Fenster zurück. Daphne Starling trat aus dem Waisenhaus.

Er schob die Hand der Dirne weg und beugte sich vor, um aufmerksam zwischen den Vorhängen hinauszuspähen.

Als sie durch die schweren Türen trat, trug Miss Starling ihren Hut in der Hand, und während sie, gefolgt von ihrer Zofe, zu ihrer Kutsche hinüberging, erhaschte er einen kurzen Blick auf ihre engelsgleichen Züge.

Weder die schmutzige Straße noch das mattgraue Licht des bedeckten Morgenhimmels konnten den Glanz ihres Haares dämpfen, als verströmte es ein eigenes Licht.

Dann setzte sie die Haube wieder auf, offenbar in dem Bestreben, ihre Schönheit zu verbergen, ehe sie an diesem Ort unerwünschte Aufmerksamkeit erregte. Max blinzelte nicht einmal.

Über seine Schulter hinweg starrte auch die Dirne hinaus. „Hübsch“, sagte sie.

„Hm“, machte er nur, sah jedoch weiterhin fasziniert aus dem Fenster.

Daphne Starling ahnte nicht, dass sie so genau beobachtet wurde. Sie bewegte sich zügig und blieb dann stehen, um mit ihren Dienstboten zu sprechen, als vom unteren Teil der Straße her ein Ruf ertönte.

Die junge Dame und ihr Diener drehten sich gleichzeitig um, genau wie Max, der die Straße hinunterspähte.

„Hey!“

Schwierigkeiten.

Max kniff die Augen zusammen, als fünf gefährlich aussehende Gestalten aus dem Pub traten und sich ihrer Kutsche näherten.

Die Männer der Bucket Lane grinsten sie an.

„Das ist ja unser wohltätiger Engel, was, Süße?“

„So viele Geschenke für die Kleinen. Und uns hast du gar nichts mitgebracht? Gleich muss ich weinen!“

Max runzelte die Stirn. Ein Wachtmeister war nicht zu sehen, falls die es überhaupt wagten, hier auf Streife zu gehen. Von seinem Platz aus glaubte er beinahe zu hören, wie der junge Diener ängstlich schluckte und wie Miss Starlings Herz schneller schlug.

Die Männer schlenderten heran. „Komm schon, meine Hübsche, du musst auch noch etwas Süßes für uns haben.“

„Einen Kuss zum Beispiel.“

„Genau!“

Max sah sich um und versuchte, die Lage einzuschätzen. Die Männer näherten sich ihrer Kutsche von vorn und versperrten ihr damit den Fluchtweg, denn die Straße war so eng, dass sie den Gig nicht schnell genug wenden könnte, um unbeschadet zu entkommen.

Er musste sie ablenken. Wenn er die Männer von ihr weglockte, dann könnte sie entkommen und zur Kirche fliehen.

Das wäre natürlich leicht zu schaffen, aber verdammt, eigentlich hatte er sie nur aus der Ferne beobachten wollen. Jetzt wurde er hineingezogen. Sein Verstand sagte ihm, dass er nicht einmal hier sein sollte, um wider besseres Wissen eine junge Dame in Erwägung zu ziehen, die nicht seinen Interessen entsprach. Aber in diesem Moment war ihm das egal. Sie brauchte Hilfe, und schließlich war diese Art von Schwierigkeiten seine Spezialität.

„Entschuldige mich.“ Er schob die Dirne beiseite, stand auf und strich sich den schwarzen Rock glatt, als er zur Tür ging.

„Sir, warten Sie!“

„Was gibt es?“ Er blieb stehen und blickte zurück.

„Seien Sie vorsichtig! Dies hier ist ihre Gegend. Jeder Laden hier zahlt ihnen Schutzgeld!“

„Hm“, antwortete Max. Er nickte ihr zu und ging weiter. Beim Hinausgehen warf er ein paar Goldguineen extra auf das schmutzige Bett.

Gleich darauf, als er durch den dunklen Gang schritt, hörte er die Freudenschreie der Frau, als sie die Münzen zählte.

Mit finsterer Miene stieg Max die Treppen hinunter. Als er durch die Halle ging, erhaschte er jedoch einen Blick auf sein Spiegelbild. Er blieb stehen.

Zeit, das Chamäleon zu spielen.

Ein altvertrautes Spiel.

Im Nu hatte er seine Haltung verändert, die Krawatte hing lose um seinen Hals, er hatte die Weste aufgeknöpft und mit ein paar Fingerstrichen sein Haar zerzaust. Dann nahm er eine leere Weinflasche, die irgendjemand in der vergangenen Nacht auf der Fensterbank hatte stehen lassen.

Verdammt, dachte er, als er sein verändertes Selbst im Spiegel betrachtete, jetzt sehe ich wirklich aus wie der verwöhnte, vergnügungssüchtige Grand Tourist, den die Welt als den nichtsnutzigen Marquess of Rotherstone kannte.

So hatte er sich seine erste Begegnung mit Daphne Starling nun wirklich nicht vorgestellt. Ein erster Eindruck konnte lange nachwirken. Aber das war egal. Sie war in Gefahr, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich einzumischen.

Er zog seine Geldbörse heraus und lockerte die Schnüre daran. Das sollte als Köder genügen.

Ohne weiteres Zögern ging er zum Ausgang, hob die Arme und stürzte sich hinaus, willens und in der Lage, einen Aufruhr zu verursachen.

2. KAPITEL

Mit Rufen und Pfiffen, unter Lachen und Grinsen hatte die Bucket-Lane-Gang begonnen, ihre Kutsche einzukreisen. Daphne erkannte schnell, dass die Männer noch von der Nacht betrunken waren.

Sie versuchte, mit ihnen zu verhandeln, aber ihre Stimme begann zu zittern. „Kommen Sie, bitte! Lassen Sie uns durch“, begann sie. „Wir müssen wirklich gehen.“

Als einer von ihnen die Zügel des Pferdes packte, rief William: „Loslassen!“

„Und was willst du dagegen tun?“ Der Übeltäter trat auf ihn zu, doch im selben Moment ertönte aus einiger Entfernung wüstes Gebrüll.

„Bringt mir meine verdammte Kutsche – jetzt gleich!“

Beim Klang dieser Stimme hielten alle inne.

Die rauen Burschen, die den Gig umringt hatten, sahen sich um. Daphne und ihre Dienstboten taten dasselbe.

Ein Mann, hoch gewachsen und gut aussehend, fein gekleidet, ganz in Schwarz und offenbar, nach seinem schwankenden Gang und der Flasche in seiner Hand zu urteilen, ziemlich betrunken, war gerade aus dem Bordell getorkelt und hielt jetzt eine Hand über seine Augen, als er blinzelnd ins Tageslicht spähte.

„Au.“ Sein Schmerzensschrei war unüberhörbar, als er die Augen mit seiner Hand schützte und die Straße hinunterblickte. „Du da!“ Plötzlich zeigte er mit der Flasche auf das Mitglied der Bande, das die Pferde an den Zügeln hielt.

„Du da!“, wiederholte er, etwas undeutlich, aber noch immer sehr bestimmend. „Bring mir meine Kutsche. Ich bin hier fertig“, fügte er mit einem leisen Lachen hinzu, welches anzudeuten schien, dass er dieses schlecht beleumundete Haus nicht verlassen hatte, ehe er jede Frau darin besessen hatte.

Gütiger Himmel.

Daphne starrte ihn an, offensichtlich abgestoßen von dem schockierenden Benehmen dieses wohl hochgeborenen Freigeistes und vor allem davon, dass sie sofort auf seine männliche Ausstrahlung reagierte.

Seine Anziehungskraft war unverkennbar, trotz der Tatsache, dass er schrecklich aussah mit seinem offenen Hemd und dem dunklen Haar, das in alle Richtungen abstand, als wäre er gerade von einem windumtosten Schiffsdeck gekommen. Er trug einen kurzen Kinnbart, der seinen harten Mund umgab, sein kantiges Kinn betonte und ihm einen, wie sie fand, beinahe satanischen Ausdruck verlieh.

Als sie ihn so anstarrte, erschien er Daphne mehr als gut aussehend. Er war betörend. Gefährlich. Ein seltsames Gefühl durchströmte ihren Körper, und sie senkte erschrocken den Blick, als er auf sie zutrat und den Halunken herausforderte, der noch immer ihr Pferd hielt.

„Sind Sie taub, Mann?“, fragte er und riskierte seinen Hals, indem er diese Männer so offen angriff.

Der Mann, den er angesprochen hatte, lachte laut auf, sah seine Kameraden an und fragte: „Wer, zur Hölle, ist dieser Dummkopf?“

„Verweigern Sie einen Befehl?“, fragte der betrunkene Lord herausfordernd, und sein aristokratischer Tonfall triefte förmlich vor Verachtung.

„Oh nein“, flüsterte Daphne und wagte noch einen Blick auf den betrunkenen, gut aussehenden Verrückten.

Gleichzeitig packte Wilhelmina sie am Arm, genauso ängstlich wie Daphne. Die beiden Frauen tauschten einen Blick. Will er sich umbringen?

Dies war nicht der Ort für ein sicheres Duell mit Pistolen aus zwanzig Schritt Entfernung, wie dieser Wahnsinnige es gewohnt sein mochte. Dies war ein Ort, an dem ein Mann einem anderen die Kehle durchschnitt, wenn er glaubte, schief angesehen zu werden.

„Redest du mit mir?“, gab das Bandenmitglied zurück, ließ die Zügel los und trat ein paar Schritte auf den Mann zu.

„Natürlich rede ich mit dir, du Abschaum“, lallte der andere mit der Würde des Betrunkenen. „Ich rede mit euch allen! Jemand soll mir mein – verdammt!“

Mit einer durch seine Trunkenheit ungeschickten Bewegung hatte er seine Geldbörse fallen lassen. Eine Flut funkelnder Goldmünzen ergoss sich über den Boden, rollte hierhin und dorthin, um seine glänzenden schwarzen Stiefel herum.

Während er sich bückte, fluchte der Mann in verschiedenen fremden Sprachen und versuchte umständlich, die Münzen wieder aufzuheben.

Die Mitglieder der Bucket-Lane-Gang stürzten sich mit Eifer auf das Geld.

Sofort hatten sie Daphne vergessen.

Ein böses Grinsen zeigte sich auf ihren Gesichtern, so froh waren sie über die leichte Beute. Wie eine Herde Wölfe bewegten sie sich auf den Mann zu.

Er schien davon nichts zu bemerken.

„Sir!“, rief Daphne plötzlich.

Wieder packte Wilhelmina ihren Arm. „Sind Sie verrückt? Machen wir, dass wir hier wegkommen!“

„Ja“, ergänzte ihr Bruder, noch immer bleich von dem Streit, und schwang sich auf den Kutschersitz.

„Aber wir können ihn doch nicht einfach hierlassen“, rief Daphne und sah die beiden beunruhigt an. „Sie werden den armen Narren umbringen! Er ist zu betrunken, um sich verteidigen zu können!“

„Das ist nicht unser Problem“, meinte William. „Machen wir, dass wir hier wegkommen, ehe sie sich uns wieder zuwenden.“

Daphnes Herz schlug wie rasend. „Sie wollen sein Gold“, überlegte sie. „Sollen sie es haben. Wir können ihm aber das Leben retten, indem wir ihn in unserer Kutsche mitnehmen. Sir!“, rief sie wieder.

„Nein, Miss! Seien Sie nicht dumm“, flüsterte ihre Zofe und zog sie neben sich auf den Sitz. „Selbst wenn es uns gelingt, ihn in den Gig zu holen, können Sie nicht mit einem solchen Mann herumfahren. Ihr Ruf wäre sofort ruiniert.“

„Sie hat recht“, stimmte William zu. „Er kam gerade aus einem … einem …“

„Einem unaussprechlichen Etablissement“, ergänzte Wilhelmina schnell und warf ihrem Bruder einen strengen Blick zu.

„Aber wir müssen ihm helfen!“

„Wir sind hierhergekommen, um den Kindern zu helfen, Mistress! Sie wissen, dass Sie nicht jedem helfen können. Bitte lassen Sie nicht zu, dass man uns umbringt.“

Daphne sah ihre verängstigte Zofe an und begriff, dass sie nicht das Leben ihrer Diener gefährden durfte.

„Er wird zurechtkommen“, erklärte William, wenn auch nicht sehr überzeugend. „Sie werden ihn nicht töten, Miss. Er wird ein wenig Prügel beziehen, aber er ist so betrunken, dass er nicht viel davon merken wird.“

„Vielleicht wird ihn das lehren, was geschieht, wenn man solche Orte besucht“, murmelte seine Schwester.

„Oh, seht nur!“ Besorgt blickte Daphne zurück und sah, wie die Bandenmitglieder auf ihn zugingen. „Um Himmels willen, was tut er jetzt?“

Der betrunkene Herr wich langsam zur Bordellmauer zurück, aber er trug ein so seltsames Lächeln zur Schau, dass sie schon fast befürchtete, er wäre zu betrunken, um auch nur die Gefahr zu erkennen, in der er sich befand. Tatsächlich sah er jedoch aus, als amüsierte er sich.

Als er plötzlich seine Weinflasche gegen die Mauer schlug, zuckte sie zusammen, aber jetzt hielt er eine Waffe in der Hand. Er hob sie gegen die Bande, die sich näherte und lächelte dabei in einer Weise, die Daphne niemals vergessen würde.

„Sieht aus, als könnte er auf sich selbst aufpassen“, meinte William tonlos. „Außerdem steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, dass er von Stand ist. Nicht einmal diese Schufte würden es wagen, den Henker herauszufordern, indem sie einen Peer umbringen.“

William hat recht, dachte sie. Nur ein Aristokrat würde am Vormittag aus einem Bordell torkeln und Passanten seine Befehle entgegenbrüllen. Offensichtlich war er verrückt.

„Kommen Sie, Miss, wir müssen gehen, solange die Kerle abgelenkt sind. Ihr Vater würde es mir nie verzeihen, wenn Ihnen etwas zustößt.“

„Na gut.“ Daphne nickte William zu, mit einem Kloß in der Kehle. „Wir gehen und holen sofort den Wachtmeister. Los!“

„Das müssen Sie mir nicht zwei Mal sagen.“ William schlug dem aufgeregten Pferd mit der Peitsche auf das Hinterteil, und sofort schoss der Gig nach vorn. Das Pferd schien ebenfalls froh zu sein, von hier fortzukommen.

Bei dem plötzlichen Ruck flog Daphne die Haube vom Kopf, doch das Band um ihren Hals hinderte die Kopfbedeckung daran, fortzufliegen. Der Hut hing ihr über den Rücken, als ihr Wagen auf die kleine Kirche zufuhr.

Hinter ihnen waren Rufe und ein Tumult zu hören, und während sie sich an den Seitengriffen festklammerte, drehte Daphne sich um, um nachzusehen, was vor sich ging.

Sie hatte erwartet, dass die Bandenmitglieder sich auf den Trunkenbold gestürzt hatten, aber tatsächlich sah sie genau das Gegenteil: Der Mann aus dem Bordell verprügelte die Bande!

Er versetzte einem der Kerle einen Hieb auf das Kinn, dann drehte er sich mit einer fließenden Bewegung herum und sprang hoch, um einen anderen gegen die Brust zu treten. Bei der Landung rammte er einem Dritten, der versucht hatte, sich von hinten anzuschleichen, den Ellenbogen in den Hals, dann hob er mit der Präzision eines Uhrwerks die Faust und versetzte dem Mann einen Hieb, sodass er zu Boden sank. Kühl und methodisch brachte er sie alle zu Fall, einen nach dem anderen, ohne jede Spur von Trunkenheit.

Da kam ihr plötzlich ein erstaunlicher Gedanke.

Es war ein Trick.

Er war überhaupt nicht betrunken! Er hatte nur so getan, um – um die Kerle von ihr wegzulocken!

Erstaunt starrte sie ihn an.

Das Letzte, was sie sah, ehe die Kirche ihr die Sicht versperrte, war, dass alle anderen Bandenmitglieder aus dem Pub stürmten, alle auf einmal. Mit wildem Gebrüll kamen sie ihren Kameraden zu Hilfe.

Sie erbleichte, als sie merkte, dass sich das Blatt so plötzlich wendete, und blickte wieder nach vorn. „Schneller, William! Ach, egal – rück beiseite!“

Sie entriss ihrem erschrockenen Diener die Zügel und fuhr, so schnell sie konnte, bis sie wieder beim geschäftigen Strand ankam und den ersten Wachmann sah.

„Wohin soll ich gehen?“, wiederholte der alte Konstabler, nachdem sie ein paar Minuten später die Situation geschildert hatte.

„Bucket Lane! Das sagte ich doch schon!“

„Nun, ich werde mehr Männer zusammenrufen müssen.“

„Was immer Sie tun müssen, beeilen Sie sich! Ich sage Ihnen, sein Leben ist in Gefahr!“

„Wessen Leben?“

„Ich habe keine Ahnung, wer er ist. Einfach … irgendein Verrückter!“

„Ach, verdammt“, flüsterte Max, als er sah, wie der Rest der Bucket-Lane-Gang aus dem Pub kam. Es waren mindestens vierzig Mann.

Manchmal war Kühnheit angebracht, aber ein Gentleman musste auch wissen, wann er sich zurückziehen sollte. In der Gasse hatte er ein kleines Vermögen fortgeworfen, und das Gold hatte seinen Zweck erfüllt. Aber da Miss Starling nun aus der Gefahrenzone entfernt war, musste er nichts mehr beweisen.

Zeit zu gehen.

Beeindruckend, wie schnell ein Mann laufen konnte, wenn er eine Horde zorniger Wilder hinter sich wusste. Zum Glück für Max war er in der Kunst der Flucht genauso gut ausgebildet wie in der des Faustkampfs. Ein bisschen Verstecken, ein bisschen Klettern, ein bisschen Springen von Dach zu Dach, dann wieder zurück auf die Straße, und dann musste er nur noch eine Droschke anhalten. Ein Gefährt, mit dem er auch hierhergekommen war.

Eine hielt an, und er stieg ein, aber als sie anfuhr, sah Max eine Gruppe uniformierter Gesetzeshüter Richtung Bucket Lane laufen.

Er runzelte die Stirn und wandte den Kopf, um sie durch das schmutzige Rückfenster der Kutsche zu beobachten. Gerade erst hatten sie sich geprügelt. Woher sollten die Männer des Gesetzes wissen …?

Außer, sie hatte es ihnen gesagt.

Er hielt inne, plötzlich erstaunt.

Sie hatte Hilfe geholt. Verdammt. Miss Starling musste direkt zum Wachtmeister gegangen sein, um ein paar Polizisten zu rufen, die ihm halfen. Sie … sie hatte sich um ihn gesorgt?

Einen Moment lang starrte Max ins Leere, fühlte nicht einmal das Rütteln und Schaukeln der schlecht gearbeiteten Kutsche, die über das Pflaster rumpelte. Das verwirrte Gefühl in seinem Kopf rührte nicht von dem Schlag her, der ihn getroffen hatte. Er schüttelte den Kopf, als er voller Unbehagen begriff, dass er schon vor langer Zeit aufgehört hatte zu erwarten, dass irgendjemand sich dafür interessierte, was aus ihm wurde.

Ohne Vorwarnung schmolz etwas in seinem Inneren, dort, wo er sich sonst immer sehr verschloss.

Dass Miss Starling auch nur einen Gedanken an seine Sicherheit verschwenden könnte, war ihm gar nicht gekommen.

Meine Güte, dachte er erstaunt, vielleicht habe ich hier wirklich etwas gefunden …

Als er gleich darauf ein wenig angeschlagen sein Haus am Hyde Park betrat, begrüßte ihn der alte Butler Dodsley mit einem kurzen Blick auf seine unordentliche Erscheinung. „Guten Tag, Sir. Soll ich den Verbandskasten holen?“

„Nein danke, alter Junge. Eine kleine Prügelei. Tun Sir mir einen Gefallen. Falls der Konstabler anklopft, sagen Sie ihm, ich wäre den ganzen Morgen hier gewesen, ja?“

„Haben wir wieder jemanden umgebracht?“

„Niemals vor dem Mittagessen, Dodsley. Und es ist noch recht früh.“

„Zweifellos, Mylord.“

Max sah ihn belustigt an und begab sich dann umgehend in sein Arbeitszimmer. Dort nahm er die Akte über Daphne Starling zur Hand, die noch auf seinem Schreibtisch lag.

Offensichtlich musste er sie wiedersehen, und zwar bald.

Er schlug die Akte auf und wandte sich dem Plan mit den gesellschaftlichen Veranstaltungen zu, den Oliver so sorgfältig zusammengestellt hatte, und ließ den Finger über die Liste gleiten.

Da.

Der Ball bei Edgecombe. Morgen Abend.

Max’ Augen leuchteten auf.

Vielleicht hatte er die ganze Sache völlig falsch angefangen. Hier ging es schließlich um die Suche nach einer Braut, nicht um die Jagd auf einen feindlichen Agenten. War eine Frau nicht mehr als nur ein Mittel für eine seiner Strategien? Vielleicht durfte er diesmal mehr Mensch sein und nicht nur ein Spion.

Zu viele Jahre hatte er offensichtlich im geheimen Krieg des Ordens gegen die Prometheusianer verbracht, aber musste jede Wahl, die er traf, so kaltblütig entschieden werden?

Miss Starling mochte ‚problematisch‘ sein, aber warum sollte ihn das kümmern? Also war die Gesellschaft das Hindernis? Nun, er war geübt darin, zu manipulieren, zu betrügen, die Menschen das sehen zu lassen, was sie sehen wollten, und die Wahrheit nur dann zu offenbaren, wenn er es wollte.

Wenn sich herausstellte, dass er sie wirklich wollte, dann, so vermutete Max, konnte er sie wohl auch haben. Er musste nur härter dafür arbeiten, als er es je beabsichtigt hatte, würde ein wenig tiefer einsteigen müssen, als er es eigentlich geplant hatte – oder als es ihm angenehm war.

Tatsächlich war er mehr gewöhnt an die Regeln der Geheimhaltung, die ihm durch seinen Eid auferlegt worden waren. Andere auf Armeslänge von sich fernzuhalten war ihm zur zweiten Natur geworden, sodass ihn nur noch seine Mitstreiter – und vielleicht sein alter Butler – wirklich kannten.

Diese Geheimhaltung, diese Isolation war eine Tatsache seines Lebens, doch nachdem er ihre Akte gelesen und einen Blick auf ihre Schwierigkeiten geworfen hatte, war er nicht sicher, ob eine Frau wie Daphne Starling so leicht über seine Vergangenheit und seine wahren Aktivitäten für den Rest ihres Lebens im Dunkeln gelassen werden konnte. Das könnte sich als schwierig erweisen.

Er war noch nicht sicher, ob es das wert war. Aber in jedem Fall musste er sie wiedersehen.

In diesem Moment erschien Dodsley an seiner Seite, stumm, wie durch Zauberei. Auf einem Tablett bot er Max Whisky an.

Überrascht sah Max auf und bemerkte, dass Dodsley die ganze Flasche mitgebracht hatte. „Sehe ich so schlimm aus?“

„Sie sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen, Sir“, erwiderte der Butler ungerührt.

„Cheers“, murmelte Max, als er den Whisky trank, um die Anspannung nach dem Kampf abzuschütteln. „Das tut gut.“

„Dieser Highlander schickte ihn vor einer Weile, als Sie fort waren, Sir.“

„Virgil? Ausgezeichnet.“ Vergangene Nacht hatte Max Virgil die Nachricht geschickt, dass er zurück war. „War ein Brief dabei?“

„Hier ist er, Sir.“ Dodsley reichte ihm die kleine versiegelte Karte, die zusammen mit der Flasche Scotch Whisky gekommen war. Max öffnete sie schnell und las: „Ein guter Malt zu Ehren Ihres Sieges. Willkommen zu Hause, mein Junge. Habe Ihre Nachricht aus Belgien erhalten. Hervorragende Arbeit in Sachen Wellington. Gut gemacht. Die anderen sind noch nicht zurück, aber ich rechne bald mit ihnen. Kommen Sie in den Club, wenn Sie Zeit haben. Wir haben einiges verbessert, das könnte Ihnen gefallen. V.“

Max musste lächeln, als er die Nachricht seines alten Mentors las. Verbesserungen, ja? Lieber Himmel, was war Virgil jetzt wieder eingefallen? Erfindungsreich wie alle Schotten, bastelte der grauhaarige alter Kämpfer ständig an seinen Maschinen und Geräten herum und erfand neue Dinge für Dante House, das Londoner Hauptquartier des Ordens. Max konnte nur ahnen, was die neuesten Veränderungen sein mochten.

Im Moment war die beste Nachricht, dass er es noch vor den anderen Mitgliedern seiner Gruppe zurück in die Stadt geschafft hatte. Er konnte es kaum erwarten, seine Mitstreiter zu treffen.

Andererseits gab ihm der Umstand, dass Warrington und Falconridge noch nicht zurück waren, einenVorteil bei seiner Brautsuche, den er nicht zu verschenken gedachte. Schließlich, so dachte er mit einem schiefen Lächeln, sind die beiden meine einzig wahren Konkurrenten, wenn es um Frauen geht.

Genau wie er hatten seine Mitkämpfer eine Heirat aufgeschoben wegen ihrer Verwicklung in den Orden, aber so wie seiner machten auch ihre Titel es erforderlich, eine Frau zu nehmen und Erben zu zeugen. Ob es ihnen gefiel oder nicht, sie alle würden sich binden müssen.

Max konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als ihm bewusst wurde, dass er ihnen gegenüber einenVorsprung hatte.

Passend zu dem berechnenden Teil seines Wesens hatte er dies alles vorausgeplant, so wie er es auch mit jeder anderen Mission getan hätte. Jetzt konnte er unter den besten Bräuten auf Londons Heiratsmarkt wählen, und damit wanderten seine Gedanken direkt zurück zu Daphne Starling.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Sir?“, fragte Dodsley, der ihn aufmerksam beobachtete.

„Eine Einladung zum Ball bei den Edgecombes.“ Max trank noch einen Schluck und verzog das Gesicht, weil der Whisky ihm in der Kehle brannte, während der Butler die weißen Brauen hochzog. „Was ist, Dodsley?“

„Sie, Sir? Und auf einen Ball gehen?“, brachte der alte Bursche schließlich verblüfft heraus.

„Ich weiß“, meinte Max. „Mal sehen, ob diesmal jemand in Ohnmacht fällt, wenn ich hereinkomme.“

Dodsley senkte den Blick und dachte an die seltenen Auftritte seines Herrn in der Gesellschaft. Als Oberster des Personals war ihm die Brautsuche seines Herrn nicht entgangen, und es war nie nötig gewesen, dass er dem tapferen, exzentrischen Marquess gegenüber seine Gefühle ausdrückte, dem er schon so lange diente.

Doch jetzt fiel es ihm schwer, seine Aufregung zu unterdrücken, als er begriff, dass Seine Lordschaft ernsthaftes Interesse an einer jungen Miss gefunden haben musste.

Er konnte kaum atmen, als er vorsichtig fragte: „Dürfen wir hoffen, dass es bald eine Dame des Hauses geben könnte, Mylord?“

„Die Tochter eines gewissen Viscount erscheint mir reizvoll“, gab Max zu. „Aber noch steht nichts fest, fürchte ich.“ In Daphne Starlings Augen war er jetzt ein Herumtreiber, ein Trunkenbold und ein Hurenbock.

Zweifellos passte das, was sie von ihm gesehen hatte – wie er aus dem Bordell getorkelt kam –, zu all dem, was sie bald von ihm hören würde, wenn sie seinen Namen erfuhr und in der Gesellschaft nach ihm fragte.

Unglücklicherweise konnte er sich nicht einfach mit ihr hinsetzen und ihr die Wahrheit erzählen. Nein, ganz und gar nicht, Miss Starling, ich war nicht da, um mich mit den Huren herumzutreiben. Ich war dort, um Sie auszuspionieren.

Das würde seiner Sache nicht helfen.

Welcher Sache? Er würde sie nicht zur Frau nehmen. Nein, das würde er nicht.

Er runzelte die Stirn. „Wenigstens ganz kurz will ich diesen Ball besuchen und sehen, ob es ihr gut geht“, murmelte er. „Und sie soll sehen, dass mir nichts passiert ist, damit sie sich keine Vorwürfe machen muss.“

Dodsley, der ihn ansah, hatte keine Ahnung, wovon er sprach. „Natürlich, Sir.“

„Sie wissen, wie Frauen sind. Sie machen sich Sorgen.“

„Wenn sie ein Herz haben“, erwiderte der Butler.

„Sie hat eines. Bei Gott, sie hat eines“, flüsterte er kaum hörbar und starrte ins Leere, als er daran dachte, wie sie sich geweigert hatte, den Schauplatz des Kampfes zu verlassen. „Sir!“, hatte sie gerufen.

Zwei Mal. Hatte ihre eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt bei dem Versuch, ihm zu helfen, obwohl er gerade selbst versucht hatte, sie zu retten.

„Nun denn.“ Dodsley nahm ihm das leere Glas ab und reckte das Kinn. „Ich werde Lady Edgecombe benachrichtigen, dass sie Eure Lordschaft morgen zum Ball erwarten darf. Da er erst kürzlich aus dem Ausland zurückgekehrt ist, ist es nur verständlich, dass Mylord seinen Verwandten seine Aufwartung machen will.“

„Ah – meine Verwandten. Das gefällt mir, Dodsley. Beinahe hätte ich es vergessen. Wir sind entfernte Cousins, nicht wahr?“

„Von Seiten Ihrer Mutter, Mylord. Cousins zweiten Grades.“

Max lächelte seinen Butler an, der schon lange Jahre bei ihm diente. „Gut. Denn ich werde mich mächtig reinknien müssen.“

„Bei den Edgecombes, Sir?“

„Bei dem Mädchen“, erwiderte Max und verzog das Gesicht. „Ich fürchte, ich muss einiges richtigstellen.“

„Jetzt schon?“, fragte Dodsley verwundert.

Max seufzte nur.

Daphne würde Strand erst in einer halben Stunde verlassen. Unter den Augen ihrer besorgten Diener ging sie aufgeregt hin und her und wartete auf die Männer, die ihr Nachricht von ihrem geheimnisvollen Retter bringen sollten – wenigstens um herauszufinden, ob die Bande ihn umgebracht hatte.

Gern hätte sie seine Identität erfahren, aber als der alte Wachtmeister zurückkehrte, sagte er, dass sie keinen solchen Mann gefunden hätten, nur ein Dutzend Halunken mit blutigen Nasen, schmerzenden Rippen und einigen bösen blauen Flecken.

Die anderen Polizisten hatten ein paar der Männer wegen ungebührlichen Benehmens verhaftet und ihre Gefangenen mitgenommen, aber wie es in der Bucket Lane üblich war, hatte keiner etwas gesehen.

Niemand hatte etwas zu sagen gehabt.

Diese Neuigkeiten beunruhigten Daphne nur noch mehr. Während es einerseits bedeuten konnte, dass der verrückte Lord entkommen war, konnte es genauso gut heißen, dass sie ihn schon umgebracht und seine Leiche irgendwo versteckt hatten. Sie waren erheblich in der Überzahl gewesen.

Die Polizisten hatten den Pub und die erste Etage des Bordells durchsucht, aber die anderen Gebäude in der dunklen Gasse konnten sie nicht ohne einen Gerichtsbeschluss durchsuchen. Selbst die Bucket-Lane-Gang hatte ihre Rechte.

„Ich bin sicher, dass er entkommen konnte, wer immer er gewesen sein mag“, sagte William mit einem besorgten Blick vom Kutschbock herab, als sie zu dritt nach Kensington zurückfuhren, in den grünen und angenehmen Vorort Londons.

„Das Wichtigste ist, dass wir das Richtige getan haben“, stimmte Wilhelmina zu.

„Ach, und wenn sie ihn nun umgebracht haben?“

„Wenn ein Gentleman an einen solchen Ort geht, Miss, dann sollte er wohl wissen, worauf er sich einlässt. Er hatte keinen Grund, sie so herauszufordern, wie er es getan hat.“

„Ich glaube, er hat versucht, uns zu helfen.“ Verzweifelt wandte sie sich ihrer Zofe zu. „Um die Bande abzulenken.“

„Das glaube ich auch“, meinte William mit einem finsteren Blick. „Selbst wenn er so betrunken ist, weiß ein Gentleman, wie er einer Dame helfen soll.“

„Himmel!“, flüsterte Daphne. Sie fühlte sich scheußlich bei dem Gedanken, dass ihretwegen vielleicht ein Mann getötet worden war. Ebenso beunruhigend war die Vorstellung, was aus ihnen geworden wäre, wenn er nicht zur gleichen Zeit torkelnd dieses Bordell verlassen hätte.

„Nun, Miss, haben Sie Vertrauen!“, meinte ihr Diener, als er ihr erschrockenes Gesicht sah. „Ich weiß, was unsere Mutter gesagt hätte – die Engel sorgen für Narren, Betrunkene und Kinder.“

Dankbar sah sie ihn an, schüttelte aber dennoch den Kopf. „Trotzdem – ich frage mich, wer er wohl ist.“

„Vielleicht wird er auf dem Ball bei den Edgecombes sein“, sagte Wilhelmina und zuckte die Achseln.

Plötzlich sah Daphne sie an.

„Ja, wenn er aus vornehmer Familie stammt – warum nicht?“

Überrascht dachte Daphne darüber nach, doch obwohl ihr Herz bei diesem Gedanken schneller klopfte, war sie nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn sie diesem gut aussehenden Verrückten im Ballsaal begegnen würde.

Der Gedanke war so beunruhigend, dass sie ihn beiseiteschob. „Ich bitte euch beide, mir zu verzeihen“, sagte sie mit einem scheuen Blick auf die Zwillinge. „Ich hatte kein Recht, euch in Gefahr zu bringen, wie nobel die Absichten auch gewesen sein mochten.“

„Ach, das macht nichts, Miss. Ende gut, alles gut“, entgegnete William, als der Gig vor der großen Villa der Starlings zum Stehen kam.

„Danke. Ihr beide seid so gut zu mir. Äh …“ Daphne zögerte und drehte sich noch einmal zu den Geschwistern um, als ihr plötzlich etwas einfiel. „Es ist doch nicht nötig, diesen unglücklichen Zwischenfall gegenüber Lord oder Lady Starling zu erwähnen, nicht wahr?“

Die Zwillinge sahen einander unbehaglich an.

„Nein, Miss“, erwiderte die Zofe. „Aber wir werden nicht mehr dorthin gehen.“ Der entschlossene Ausdruck auf beiden Gesichtern verriet Daphne, dass sie es ernst meinten.

Ihr heftiger Widerstand überraschte Daphne nicht sehr in Anbetracht all dessen, was sie schon von ihnen verlangt hatte, und sie senkte den Blick. „Das ist nur richtig.“ Für die kommende Woche musste sie sich etwas Neues ausdenken.

Gemeinsam gingen sie hinein und waren sofort in dem üblichen Durcheinander gefangen: Das Hämmern des Pianofortes, als Sarah pflichtschuldig alle Tasten anschlug, während Anna lachend durch den Korridor tobte und die Katze ärgerte.

Daphnes Stiefschwestern, die beiden jungen, verwöhnten Wildfänge von zwölf und vierzehn Jahren, stammten aus der früheren Ehe der verwitweten Penelope mit einem Marinekapitän.

„Anna, wo ist Papa?“, rief sie dem jüngeren Mädchen zu, das den armen Whiskers plagte.

„Oben!“

Daphne nickte, blieb dann stehen und warf einen Blick in den Salon, in dem die Arbeit des Dieners Davis an den verstellten Möbeln erkennbar war. Dann machte sie große Augen, als sie sah, dass das Pianoforte ihrer Mutter jetzt an der falschen Wand stand. Sarah hörte auf zu spielen und drehte sich um. „Ich hasse dieses Stück. Es ist zu schwer! Was starrst du denn da so an?“

„Deine Mutter hat das Piano verstellt“, antwortete sie leise.

„Was interessiert dich das? Du spielst doch sowieso nicht mehr.“ Sarah machte sich daran, ein leichteres Stück zu spielen und hämmerte erneut auf die Tasten.

Kopfschüttelnd ging Daphne weiter. Vielleicht hätte sie doch besser Albert heiraten sollen, wenn das bedeutete, aus diesem Irrenhaus zu entkommen. In der Eingangshalle trennte sie sich von den Willies, die nun ihren Aufgaben nachgingen.

Daphne war noch immer erschüttert von dem gefährlichen Zusammenstoß mit den Männern und sehnte sich nach einem Moment in der Gesellschaft ihres Vaters. Er brachte sie immer dazu, sich ruhiger zu fühlen, und sie wollte ihm sagen, dass sie zurück war. In seiner Bibliothek war er nicht, daher suchte sie ihn oben und legte im Gehen Haube und Handschuhe ab.

Als sie sich dem Herrenzimmer im oberen Stockwerk näherte, ging sie jedoch langsamer, und ihre Stimmung sank, als sie durch die angelehnte Tür hörte, wie Penelope dem Vater erneut zusetzte.

Wieder schien es, als wäre die Tatsache, dass Daphne Albert abgewiesen hatte, der Grund für den Ehestreit. Sie verzog das Gesicht und wusste, dass sie ihrem friedliebenden Vater das Leben noch schwerer gemacht hatte.

„Ehrlich, George, du bist zu nachsichtig mit ihr. Wann wird sie endlich erwachsen? Irgendwann müssen alle kleinen Vögel aus dem Nest fliegen.“

„Meine liebe Frau, warum regst du dich so auf? Du weißt, wie sehr ich einen friedlichen Haushalt liebe.“

„Ach, George, du musst etwas unternehmen ihretwegen.“

„Was soll ich denn unternehmen, Liebes?“, fragte er vorsichtig.

„Einen Ehemann für das Mädchen finden. Wenn du es nicht tust, werde ich dafür sorgen.“

„Das hast du schon versucht, Pen. Ich glaube nicht, dass eine Wiederholung nötig ist“, gab er zurück.

„Nun, in der Tat wird ein furchtloser Gentleman nötig sein. Bisher hat sie drei Bewerber abgewiesen.“

Ach, die anderen beiden darfst du nicht mitrechnen, dachte Daphne stirnrunzelnd und lehnte sich gegen die Wand vor dem Schlafzimmer – natürlich nicht, um zu lauschen, sondern nur, um den richtigen Moment abzupassen, sich bemerkbar zu machen.

„George, du hast das Gerede gehört. Die Leute munkeln schon, sie wurde sitzen gelassen.“

„Du musst nicht auf den Klatsch hören, meine Liebe. Sie wird es wissen, wenn der Richtige kommt. Wir alle werden es wissen.“

„Ich hoffe, du hast recht. Sonst wird sie noch als alte Jungfer enden.“

„Unsinn. Dafür ist sie viel zu schön.“

Oh, Papa. Daphne unterdrückte ein Lächeln und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war ihm noch immer aus tiefster Seele dankbar, dass er sie trotz Penelopes Drängen nicht gezwungen hatte, Albert zu heiraten.

Penelope hatte Alberts Antrag an ihrer Stelle schon angenommen, aber zum Glück hatte Daphnes entschiedene Widerrede ihren Vater ausnahmsweise aus seinen Tagträumen gerissen. Wenigstens hatte er ihre Bitten erhört, nicht diesem verwöhnten Burschen übergeben zu werden.

Der gute alte George, Lord Starling, war zu White’s gegangen, seinem Club und zweiten Zuhause, wann immer er dem Drama eines rein weiblichen Haushalts entfliehen wollte, und hatte sich in aller Stille selbst einen Eindruck von Lord Albert Carew verschafft.

Und dann war ihr Vater umgehend mit seinem eigenen Urteil zurückgekehrt. Selten nur zeigte er Stärke, aber wenn er es tat, dann war er so unverrückbar wie der Felsen von Gibraltar. „Nein. Ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter an diesen oberflächlichen, hohlköpfigen Gecken gebunden wird. Es tut mir leid, Penelope. Er kommt nicht infrage. Nicht für mein kleines Mädchen.“

Daphne war außer sich gewesen vor Freude und hatte ihren Vater unter Tränen umarmt. Nach dieser Entscheidung hatte ihr Vater sich wieder hinter seine undurchdringlichen Mauern zurückgezogen.

Penelope hingegen war noch boshafter geworden, nachdem sie dieses kleine Spiel verloren hatte. Seither hatte sie ihren Ehemann jeden Tag dafür büßen lassen.

„Du solltest sie nicht so sehr bevorzugen, George“, sagte sie. „Meine Töchter sind vielleicht noch nicht so hübsch wie sie, aber bald werden sie erblühen. Du hattest Glück, mich zu heiraten, ehe du Daphne völlig verwöhnen konntest“, fügte sie hinzu. „Du verhätschelst sie schon jetzt viel zu sehr.“

Das tut er nicht.Verstohlen spähte Daphne durch den Türspalt und erhaschte einen Blick auf ihre Stiefmutter, die auf und ab schritt. Penelope Higgins Peckworth Starling war eine bemerkenswert energische Frau, die in der Lage war, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun.

Sie war klein, dunkelhaarig und Anfang Fünfzig, aber das anstrengende Leben als Frau eines Marineoffiziers, das sie geführt hatte, ehe sie Daphnes Vater heiratete, war in ihren angespannten Zügen zu erkennen, dem trotzig aufgeworfenen Mund und dem reizbaren Temperament, das sich in ihrem stets rastlosen, besorgten Blick spiegelte.

Daphne fragte sich zuweilen, ob ein Teil von Captain Peckworths Kampfgeist in seiner Witwe weiterlebte, denn sie schätzte es, Befehle zu geben, und ein falsches Wort konnte leicht als Kriegserklärung verstanden werden.

Manchmal tat sie Daphne leid, denn es war offensichtlich, dass Penelope sich nie ganz in ihre neue, sehr viel höhere Stellung als Viscountess eingefunden hatte. Manche Mitglieder der Gesellschaft sahen sie als unwürdig an, aber für Lord Starling hatte ihre niedere Herkunft nie eine Rolle gespielt.

Die beiden konnten kaum unterschiedlicher sein. Ihr Vater war gelassen, Penelope angespannt.

Durch und durch, bis in die Fingerspitzen, ein englischer Gentleman, waren Viscount Starling sein alter Titel und sein enormes Vermögen so selbstverständlich, dass er sich von Rang und Reichtum eines anderen noch nie hatte beeindrucken lassen, oder umgekehrt vom Fehlen derselben. Er sah die Menschen so, wie sie waren, und hatte Daphne gelehrt, dasselbe zu tun.

„Wirklich, George, ich werde niemals verstehen, warum du nicht darauf bestanden hast, dass sie Lord Albert heiratet. Denk an die Vorteile, die er unserer Familie gebracht hätte. Er ist ein zweitgeborener Sohn – wenn der ältere Bruder stirbt, wäre sie Duchess geworden.“

„Um Himmels willen, Penelope! Der junge Holyfield mag nicht wie ein Duke wirken, aber immerhin ist er jung und gesund.“

„Er ist am Leben, ja, aber gesund würde ich ihn nicht nennen. Vielmehr ist er eine arme, schwache kleine Marionette. Ich möchte schwören, dass er schwindsüchtig ist. Gewiss würde Lord Albert einen besseren Duke abgeben als sein älterer Bruder. Ach, aber es ist zu spät, darüber zu sinnieren. Diese Gelegenheit ist vertan.“

„Die Gelegenheit, dass meine Tochter vom Tode eines armen Kerls profitieren könnte?“, fragte Lord Starling trocken angesichts des dramatischen Tonfalls seiner Frau. „Komm schon, Penelope. Daphne hat den arroganten Lackaffen von Anfang an durchschaut, und nun, da Lord Albert sein wahres Gesicht gezeigt und all diese Gerüchte über meine Tochter verbreitet hat, preise ich ihre Weisheit umso mehr.“

„Diese Gerüchte – ach, George! Du denkst doch nicht daran, ihn zu fordern?“, fragte Penelope plötzlich entgeistert.

Daphne erstarrte.

„Frau, sei keine Närrin!“, wehrte er ab. „Dafür bin ich viel zu alt. Außerdem hat sich kein Starling jemals für dumme Duelle hergegeben.“

„Gut. Ich hoffe nur, du wirst nicht eines Tages bereuen, dass du ihr so viele Freiheiten gelassen hast.“

„Freiheiten? Meiner Daphne? Das Mädchen hat keinen einzigen wilden Zug an sich. Daphne ist eine Dame, durch und durch.“

„Was soll das heißen?“, fuhr Penelope ihn an. „Du verachtest mich, weil ich nie auf einer Schule für höhere Töchter war?“

„Nein, nein …“

„Nur weil ich nicht von so hoher Abkunft bin, bedeutet das nicht, dass meine Töchter oder ich weniger wert …“

„Meine Liebe, so war das nicht gemeint!“

„Nun, wenn du mit der Bezeichnung Dame auf ihren kostspieligen Lebenswandel anspielst, dann muss ich dir recht geben. Wir können sie uns nicht leisten, George! Wir müssen dem Mädchen einen reichen Ehemann suchen, der all diese Ballkleider bezahlt. Und dann ihre Wohltätigkeit! Die Hälfte unseres Geldes verschenkt sie an die Armen!“

„Na, na, du übertreibst schon wieder. Außerdem ist es nur Gold.“

„Nur Gold?“, rief sie entgeistert. „Ach, du weißt nicht, was Armut ist, George.“ Plötzlich schluchzte sie auf, und es klang überraschend echt. „Ich weiß, wir werden noch im Armenhaus enden.“

„Aber, aber, meine Liebe, du musst doch nicht weinen.“ Durch den Türspalt sah Daphne, wir ihr grauhaariger Vater zu seiner Frau trat und sie liebevoll umarmte. „Ich weiß, du hast gelitten nach dem Tod von Captain Peckworth, aber diese Tage sind lange vorbei, und ich schwöre dir, dass ihr in Sicherheit seid, du und die Mädchen. Komm. Ich sagte dir, du musst dir keine Sorgen machen. Aktien steigen und fallen, bald wird alles wieder gut sein.“

„Ja, das weiß ich, aber meine Nerven halten das nicht aus, George. Wirklich nicht.“

„Ich werde nach einem der Dienstboten schicken. Er soll dir Tee bringen.“

„Sie sind alle zu nichts nütze.“ Penelope schniefte. „Na schön.“

Daphne erkannte, dass ihr Vater jeden Augenblick das Zimmer verlassen konnte, und huschte in ihr eigenes ein paar Türen weiter. Es war ihr peinlich, das Gespräch mitangehört zu haben, und sie wartete, bis er vorbeigegangen war. Schließlich wollte sie sich nicht vorwerfen lassen, spioniert zu haben.

Dann lehnte sie die Stirn an die geschlossene Tür und überlegte, was von Penelopes Behauptungen zu halten war, dass ihnen das Geld knapp wurde.

Sie wusste, dass ihr Vater Geld verloren hatte bei dem großen Börsenkrach, der London nach der Schlacht bei Waterloo überrascht hatte, aber er wurde nicht müde zu beteuern, dass alles in Ordnung sei. Warum also fühlte sie sich schuldig?

Wenn ihr Vater seiner Familie die Lage nicht ehrlich schilderte, was sollte sie dann tun? Seine Gedanken lesen? Er war ihr Vater, und sie war dazu erzogen worden, sein Wort als Gesetz anzusehen. Wenn er sagte, alles sei in Ordnung, dann würde sie ihm das glauben.

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