Riskantes Spiel um Liebe und Leidenschaft
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Es war nun schon das vierte Mal, dass er als Trauzeuge an der Seite seines Vaters Nico vor dem Traualtar stand, während dieser einer weiteren Frau schwor, sie zu lieben und zu ehren bis ans Ende ihrer Tage. Und es war sicher nicht das letzte Mal …
Santos ließ seinen Blick über die Festgemeinde schweifen. Die Gäste schienen angesichts des eigentlich freudigen Anlasses bester Stimmung zu sein. Doch Santos hatte Mühe, Begeisterung für die Leidenschaft seines Vaters aufzubringen, ständig mit einer neuen Frau den Bund fürs Leben zu schließen. Immerhin hatte er das im Laufe der Jahre, seine neueste Braut inbegriffen, schon neun Mal getan.
„Dieses Mal ist es anders, Santos“, hatte Nico ihm wie immer versichert. „Dieses Mal ist es die Richtige.“
Santos hatte es schon lange aufgegeben, mit seinem Vater über dieses Thema zu diskutieren. Nico war ein erwachsener Mann, und wenn Santos der Ansicht war, dass er sich wegen seiner Tendenz, sich in dem Tempo zu verlieben, in dem andere ihre Jobs wechselten, professionelle Hilfe suchen sollte, dann behielt er auch das für sich. Alles, was er tun konnte, war, das Anastakos-Familienvermögen vor den Folgen der unweigerlich folgenden Scheidung zu schützen.
Dass er sich darüber den Kopf zerbrach, noch während Nico neben ihm seiner neuesten Braut die ewige Liebe schwor, mochte unangemessen erscheinen. Aber er hatte einfach zu oft mit angesehen, wie schnell und absolut aus Liebe Hass und Abscheu werden konnte. Seine eigene Mutter war für die nächste Mrs. Anastakos abserviert worden, da war Santos gerade einmal drei Jahre alt gewesen. Danach war er zwischen Vater und Mutter hin und her gereicht worden, bis er – auf nachdrücklichen Wunsch seines Vaters – auf ein Internat geschickt worden war.
Santos verzog das Gesicht, als der Kaplan nun verkündete, dass sich das – zumindest jetzt noch – glückliche Brautpaar nun küssen dürfe. Er hatte sich selbst geschworen, niemals zu heiraten, nachdem Nicos dritte Ehe ein besonders bitteres (und öffentliches) Ende gefunden hatte. Und er würde sich auch nicht verlieben … was immer das bedeutet. Mit seinen vierunddreißig Jahren war Santos bei der Klärung dieser Frage bisher noch keinen Schritt weitergekommen.
Die Ehe war für Narren und hoffnungslose Romantiker. Und er war, das konnte er mit Fug und Recht behaupten, weder das eine noch das andere.
Drei Monate später
„Ja?“
Amelia hätte es nicht für möglich gehalten, dass man ein einfaches, einsilbiges Wort mit so viel Hohn und Ungeduld füllen konnte. Sie blinzelte und konnte den Mann – Santos Anastakos – einige Sekunden lang einfach nur anstarren. Der eigentliche Grund dafür, dass sie ihn auf seinem großartigen Anwesen in der englischen Provinz aufsuchte, war für den Moment völlig vergessen.
Er trug einen schwarzen Smoking und sah darin unglaublich attraktiv und eindrucksvoll aus. Noch eindrucksvoller aber war die Aura von Macht und Charisma, die von ihm ausging.
„Mr. Anastakos?“, versicherte sie sich, obwohl sie eigentlich längst wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Sie hatte sein Foto in den Zeitungen gesehen, kurz nach dem Tod von Camerons Mutter. Damals war er in den Schlagzeilen gewesen, weil er vor sechs Jahren ein uneheliches Kind gezeugt hatte.
„Nun?“ Es klang noch eine Spur ungeduldiger als zuvor.
Eine leichte Brise kam auf und brachte etwas Erleichterung an diesem schwülen Sommerabend. Der Wind fuhr durch ihr langes dunkles Haar und wehte eine einzelne Strähne in ihr Gesicht, die sie sich mit einer unbewussten Handbewegung hinters Ohr zurückstrich.
„Darling, wir müssen langsam los, wenn wir rechtzeitig da sein wollen“, erklang eine Frauenstimme aus dem Inneren des Hauses.
Er runzelte die Stirn.
„Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit“, stieß er ärgerlich hervor. „Haben Sie sich verlaufen? Sind Sie mit Ihrem Wagen liegen geblieben?“
Seine Augen waren mandelförmig und von dichten, dunklen Wimpern umrahmt. Und sie leuchteten in einem herrlichen Blau, wie ein klarer Bergsee, was aufgrund seines dunklen Teints umso auffälliger war.
Er blickte sich um, so als würde er nach einem Wagen oder irgendeinem anderen Indiz dafür suchen, warum sie hier war.
„Nein“, erwiderte sie. „Ich kam, um mit Ihnen zu sprechen.“
Als sein intensiver Blick auf ihr ruhte, flatterte ihr Herz auf eine Art und Weise, die sie nervös machte. Oder vielmehr noch nervöser. Und es wurde nicht besser, als sein Blick weiter nach unten über ihre schlichte pinkfarbene Bluse und ihre cremefarbene Hose wanderte. Dabei lag darin keineswegs Interesse, nein. Es war eher eine Inspektion, um zu prüfen, ob ihr Outfit ihm möglicherweise irgendwelche Hinweise lieferte.
„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, fragte er, und in seiner Stimme schwang Misstrauen mit.
„Nein, Sir. Noch nie.“
„Was kann ich dann für Sie tun?“
„Ich bin Amelia Ashford …“
„Ashford.“ Sie konnte praktisch mit ansehen, wie bei ihm der Groschen fiel. „Die berühmte Miss Ashford?“
„Dazu kann ich nichts sagen.“ Sie lächelte, obwohl ihr der Gedanke alles andere als angenehm war. Diese Berühmtheit war der Grund dafür, dass sie unter dem Familiennamen ihrer Großmutter als Lehrerin arbeitete. Ihre Arbeit war alles, wofür sie sich Anerkennung wünschte, sonst nichts.
„Sie sind Camerons Lehrerin?“
Sie nickte. „Ja. Und ich möchte mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen.“
Er straffte die Schultern. Es schien fast, als würde es ihm nicht passen, als Camerons Vater bezeichnet zu werden. Doch deswegen war Amelia nicht hier. Ganz gleich, was die Gerüchteküche auch behauptete – und es gab eine Menge Tratsch darüber, dass er seine elterlichen Pflichten Cameron gegenüber vernachlässigt und sich geweigert hatte, Camerons Mutter zu unterstützen –, es war nicht ihre Aufgabe zu spekulieren. Ihr einziger Wunsch war es, einem kleinen Jungen zu helfen, den sie sehr gernhatte.
Vielleicht hatte ihre eigene, eher kühle Beziehung zu ihren Eltern damit zu tun, dass sie sich mehr um Cameron kümmerte, als sie es wohl sonst getan hätte. Aber nein. Der Kleine war wirklich etwas Besonderes, und er brauchte Unterstützung bei den Problemen, die ihn belasteten.
„Stimmt irgendetwas nicht?“
Sie presste die Lippen zusammen und bemühte sich, nicht zu feindselig zu erscheinen. Soweit sie wusste, hatte dieser Mann kaum Erfahrung mit Kindern im Allgemeinen und mit seinem Sohn im Besonderen. Vielleicht war ihm nicht klar, dass es keine alltägliche Sache für eine Grundschullehrerin war, am frühen Abend auf der Türschwelle der Eltern eines Schülers zu stehen.
Es war alles andere als alltäglich, doch Amelia hatte ihren Besuch absichtlich so gelegt, dass Cameron möglichst nichts davon erfahren musste. Sie wollte nicht, dass ihr Schüler das Gespräch mit anhörte.
„Ich würde diese Unterhaltung lieber drinnen weiterführen. Darf ich eintreten?“
Er zog die Brauen zusammen. Sicher wirkte er auf viele Menschen einschüchternd. Menschen, die mit ihm zusammenarbeiten mussten oder sonst irgendwie auf seinen guten Willen angewiesen waren. Zum Glück für Amelia traf auf sie weder das eine noch das andere zu.
„Tauchen Sie häufiger ungebeten bei Ihren Schülern zu Hause auf?“
„Nein, keineswegs – was Ihnen einen Hinweis darauf geben dürfte, wie wichtig mir diese Angelegenheit ist.“
„Und was genau ist das für eine Angelegenheit?“
„Ihr Sohn.“
Kurz flackerte Ärger oder Frustration in seinem Blick auf, war im nächsten Moment aber schon wieder verschwunden. „Die Nanny hat Cameron bereits zu Bett gebracht. Wenn Sie ihn sehen wollen …“
Sie musste für einen Moment die Augen schließen, um sich zu sammeln. Cynthia McDowell mochte ihrem kleinen Sohn materiell nicht viel zu bieten gehabt haben, doch sie hatte es wettgemacht, indem sie ihn mit Liebe und Fürsorge regelrecht überschüttet hatte. Und nun befand er sich in der Obhut dieses Mannes, der es einer Nanny überließ, sich um den Jungen zu kümmern, und das, wo seine Mutter vor gerade einmal zwei Monaten gestorben war. Es brach ihr schier das Herz.
„Sie sind derjenige, mit dem ich sprechen will, Mr. Anastakos“, entgegnete sie schließlich.
„Und das kann nicht bis Montag warten?“
Sie dachte einen Moment darüber nach. „Würde Montag Ihnen denn besser passen?“
„Nicht unbedingt.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht, ob es so etwas wie einen günstigen Zeitpunkt überhaupt gibt, denn immerhin weiß ich ja nicht einmal, was Sie überhaupt mit mir besprechen wollen.“
„Sie müssen wohl einfach darauf vertrauen, dass ich, wäre es nicht wichtig, wohl kaum an einem Freitagabend so spät noch nach Renway Hall gekommen wäre.“
„Ich vertraue grundsätzlich niemandem“, erklärte er, trat aber einen Schritt zurück und vollführte eine einladende Geste. „Aber Sie machen mich neugierig.“ Mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügte er hinzu: „Sie haben fünf Minuten.“
Sie biss sich auf die Zunge, um einen scharfen Kommentar zurückzuhalten. Sie durfte sich nicht von ihren Emotionen von ihrem eigentlichen Ziel ablenken lassen.
„Kommen Sie mit.“ Er wandte sich um und ging den Korridor hinunter. Als sie an einem Gemälde vorbeikamen, blieb sie stehen, um es sich anzusehen. „Das ist ein Camareli.“
Ohne in seine Richtung sehen zu müssen, spürte sie, dass er ebenfalls stehen blieb. Es war seine Ausstrahlung, die einen Raum vollkommen auszufüllen schien.
Das Gemälde zeigte eine Madonnen-Szene. Amelia hatte die Handschrift des Künstlers sofort erkannt – seine breiten Pinselstriche, die leuchtenden Farben –, auch ohne seine Signatur am unteren rechten Bildrand zu sehen.
„Ja.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Aber Sie sind nicht hier, um mit mir über Kunst zu diskutieren, oder, Miss Ashford?“
Sie riss ihren Blick von dem Bild los und sah ihn an. Ihr Puls raste, und sie fragte sich, wieso. „Nein, Mr. Anastakos. Das bin ich nicht.“
Er setzte sich wieder in Bewegung und trat durch eine Doppeltür in einen Raum mit Ledersesseln und einem Flügel. Auch hier hingen Kunstwerke berühmter Maler an den Wänden – die meisten davon bekannter als der Camareli. Aber sie hatte schon immer ein Faible für die weniger namhaften Maler der Renaissance gehabt, und zu denen gehörte Camareli zweifellos.
„Maria, Camerons Lehrerin ist hier. Es wird ein paar Minuten dauern.“
Eine atemberaubende Blondine, gekleidet in ein rotes Abendkleid, das ihre perfekten Modelmaße betonte, erhob sich mit der Eleganz einer Ballerina von der weißen Ledercouch. Sie unterzog Amelia der gleichen langsamen Inspektion wie zuvor bereits Santos. Aber während sein Blick sie mit Hitze erfüllt hatte, hinterließ der dieser Frau nur eisige Kälte.
„Aber dann kommen wir zu spät, Darling“, sagte Maria schmollend.
Santos schnaubte abfällig. „Anscheinend kann es nicht warten. Ruf Leo, er wird dir einen Cocktail machen.“
„Okay. Aber hätte ich gewusst, dass der Abend so verläuft, wäre ich nicht gekommen“, beschwerte sie sich, ehe sie sich wieder abwandte.
Amelia konnte sie nur anstarren. Sie war noch nie einer Frau begegnet, die derartig das Bild einer Hollywood-Diva verkörperte. Alles an ihr war Perfektion, von ihrer Figur bis zu ihrem sanft schimmernden Haar, dem makellosen Make-up, den schwindelerregenden Absätzen und den manikürten Fingernägeln.
„Sie ist sehr schön“, bemerkte Amelia, als sie den Raum wieder verlassen hatten.
„Ja.“
Erneut gingen sie über den Korridor, bis Santos vor einer anderen Tür stehen blieb. Diese führte in ein Büro mit moderner Einrichtung und Computern. Auch hier hingen Kunstwerke an den Wänden, außerdem ein großer Spiegel.
Er schloss die Tür hinter ihnen, und Amelia zuckte ein wenig zusammen.
„Nun, Miss Ashford? Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Über was genau möchten Sie mit mir sprechen?“
Er deutete auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. Sie nahm Platz, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände auf ihrem Schoß. Dann beobachtete sie, wie er den Raum durchquerte und vor einem kleinen Barwagen stehen blieb. Er öffnete eine Karaffe mit Scotch und goss jeweils einen Fingerbreit in Kristallgläser, von denen er ihr eins reichte.
„Vielen Dank.“ Sie hielt das Glas in den Händen, ohne einen Schluck davon zu nehmen. Sie hatte die rebellische Teenagerphase der wilden Partys übersprungen und weder Gefallen an Alkohol noch eine Toleranz ihm gegenüber entwickelt. Hin und wieder gönnte sie sich einen Schluck von einem netten Wein zu einem besonderen Dinner oder ein Glas Champagner an Heiligabend, aber das war auch schon alles.
Anders als Santos, nahm sie an, als sie sah, wie er die Hälfte seines Whiskys mit einem Zug hinunterstürzte, bevor er sich ihr gegenüber auf die Ecke seines Schreibtisches setzte. Seine langen Beine waren ihr so nah, dass sie sie berühren konnte, wenn sie die Hand ausstreckte.
Was sie selbstverständlich nicht tat. Wieso auch?
Sie hatte ein paar Dates gehabt, aber es waren für sie mehr wissenschaftliche Experimente gewesen, zu denen ihr bester Freund Brent sie gedrängt hatte und die sie weder interessant noch amüsant gefunden hatte.
„Du musst dir Zeit lassen, Millie“, sagte er stets. „Lern den richtigen Mann kennen, und lass dich einfach mitreißen.“
Aber all ihre Verabredungen hatten damit geendet, dass Amelia zu Tode gelangweilt und fest entschlossen gewesen war, den jeweiligen Mann niemals wiederzusehen. Einmal war es sogar so schlimm gewesen, dass sie beinahe mitten im Restaurant eingeschlafen wäre. Sie ging nicht damit hausieren, aber sie war als Wunderkind nun einmal von Kindesbeinen an von den hellsten Köpfen der Welt umgeben gewesen, und ihre Toleranzschwelle für belanglosen Smalltalk war extrem niedrig. Das galt insbesondere für Männer, die im Grunde nur an einem interessiert waren.
Ihre Erfahrungen mit Männern waren bisher also eher katastrophal gewesen. Warum fühlte sie dann jetzt, wo sie Santos Anastakos gegenübersaß, Hitze in sich aufsteigen?
Besser, sie brachte die Angelegenheit endlich hinter sich. Sie würde versuchen, Cameron zu helfen, und dann gehen – und danach musste sie Santos niemals wiedersehen. Sie holte tief Luft und setzte zum Sprechen an, doch Santos kam ihr zuvor.
„Wie alt sind Sie?“
„Entschuldigung?“
Sie glaubte, Skepsis in seinem Blick zu lesen, vielleicht sogar eine Spur Missbilligung. „Sie sehen aus, als wären Sie zu jung, um Lehrerin zu sein.“
„Ich unterrichte seit etwas über drei Jahren an der Elesmore“, entgegnete sie kühl.
Sie musste ihm nicht erklären, dass sie ihren Abschluss in Physik bereits im Alter von elf Jahren gemacht hatte, ihren zweiten mit dreizehn und mit fünfzehn dann ihren Doktor, ehe sie sich entschlossen hatte, einen völlig anderen Weg einzuschlagen und Lehrerin zu werden. Er musste auch nicht erfahren, dass sie mit sechzehn ihren Abschluss in Pädagogik gemacht hatte, dann ein paar Jahre herumgereist war und als Beraterin für verschiedene Raumfahrtbehörden gearbeitet hatte, bevor sie unter der Bedingung, dass ihre wahre Identität unter Verschluss gehalten wurde, an einer kleinen Schule zu unterrichten begonnen hatte.
Anonymität und weniger Druck waren es gewesen, was sie sich gewünscht hatte. Normalität, nachdem sie ihr ganzes Leben lang nur nach der Pfeife anderer getanzt hatte.
„Was Sie genau wie alt macht?“ Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Scotch.
„Mein Alter ist nicht wichtig“, murmelte sie.
Verflixt, warum war sie so nervös? Damit hatte Amelia nicht gerechnet. Doch er war so energiegeladen und stark … War es da ein Wunder, dass in ihrem Bauch Schmetterlinge aufflatterten?
„Also schön, dann unterhalten wir uns über wichtige Dinge“, entgegnete er mit einem erneuten Aufflackern von Ungeduld.
„Mr. Larcombe hat mir berichtet, dass Sie vorhaben, Cameron von der Elesmore zu nehmen, um mit ihm nach Griechenland zu ziehen.“
Er hob eine Braue. „Und?“
„Und, ist es wahr?“
„Vermuten Sie, der Schuldirektor würde Sie diesbezüglich anlügen?“ Er klang leicht sarkastisch, jedoch auf eine neckende Art und Weise.
Ihre Wangen fingen an zu glühen, doch sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Wie lautete noch das Sprichwort? Mit Speck fängt man Mäuse. „Um ehrlich zu sein, ich habe gehofft, dass es sich um ein Missverständnis handelt.“
„Tut es nicht.“ Santos streckte ein Bein aus und streifte versehentlich ihr Knie. Es war, als würde sie von einem elektrischen Stoß getroffen. Sie blinzelte überrascht. Einen Augenblick später hatte sie sich wieder im Griff, doch ihm war ihre Reaktion nicht entgangen, und er fragte sich nun vermutlich, was dahintersteckte.
Wunderbar.
Sie war so ziemlich das genaue Gegenteil der kultivierten Schönheit, die am Ende des Korridors auf ihn wartete. Maria war atemberaubend und elegant, und im direkten Vergleich fühlte Amelia sich schrecklich altbacken. Und sie war absolut nicht darauf vorbereitet gewesen, auch nur eine Unterhaltung mit einem Mann wie Santos zu führen. Um Himmels willen, sein Knie hatte ihres berührt, und in ihrem Bauch flatterten bereits die ersten Schmetterlinge. Lächerlich!
„Am Ende des Schuljahrs wird Cameron mit mir nach Agrios Nisi ziehen.“ Er sprach, als hätte er die flüchtige Berührung nicht einmal bemerkt, und sein Herz hämmerte auch ganz gewiss nicht wie verrückt.
„Warum?“
„Weil ich dort lebe. Und anscheinend bin ich sein Vater.“
Sie ignorierte die letzte Bemerkung. „Aber was gibt es für ihn auf Agrios Nisi?“, verlangte sie hitzig zu erfahren.
Sie konnte nichts dagegen tun, dass sie so leidenschaftlich reagierte. Es war einfach nicht richtig, Cameron aus seiner gewohnten Umgebung zu reißen. Der kleine Junge verdiente eine solche Behandlung nicht. Sie wusste besser als jeder andere, wie es war, von den eigenen Eltern hin und her gereicht zu werden wie ein Wanderpokal!
„Abgesehen von einer herrlichen Küste und der Gelegenheit, die Art von Kindheit zu verleben, für die so mancher Junge seinen rechten Arm geben würde?“
Sie schnaubte. „Was er braucht, Mr. Anastakos, ist, hier zu sein. Gerade jetzt.“ Sie holte tief Luft und versuchte, ihren rasenden Puls zu beruhigen. Erfolglos. „Er hat dieses Jahr schon so viel verloren. Ihn von seinen Freunden zu trennen und von all den Menschen, mit denen er vertraut ist, wird das erlittene Trauma nur verschlimmern. Ich weiß, dass Cynthia und Sie nicht unbedingt gute Freunde waren, aber das ist noch lange kein Grund, Cameron dafür zu bestrafen. Er verdient es, dass Sie tun, was das Beste für ihn ist – und das ist im Augenblick, ihn hier in England und auf der Elesmore zu lassen.“
„Mein Verhältnis zu Camerons Mutter geht Sie nichts an.“
Amelia runzelte die Stirn. „Nein, aber die Art und Weise, wie Sie Cameron behandeln, sehr wohl.“
„Was Cynthia betrifft“, sprach er weiter, so als hätte er sie gar nicht gehört, „so war unsere Beziehung weder freundschaftlich noch irgendetwas anderes. Wir kannten einander kaum.“
Amelia blinzelte und schüttelte den Kopf. „Wie auch immer, Sie haben einander offensichtlich gut genug gekannt, um Eltern zu werden. Und nun sind Sie alles, was Cameron noch hat, und er verdient, verdammt noch mal, mehr, als wie eine Schachfigur nach Belieben hin- und hergeschoben zu werden.“
Santos starrte sie an. Einmal mehr bemerkte sie, wie streng und scharf sein Gesicht geschnitten war. So, als hätte ein Bildhauer versucht, kaltem Granit menschliche Züge zu verleihen, und dabei nur ein Messer als Werkzeug zur Verfügung gehabt. Es gab keine weichen Kurven, nur harte Ecken und Kanten. Und jetzt lag darin so offensichtliche Abneigung, dass Amelia es fast bereute, überhaupt hergekommen zu sein.
Fast, aber nicht ganz.
Cameron brauchte jemanden, der für ihn eintrat. Er war sechs, und damit zu jung, um wirklich zu begreifen, was um ihn herum geschah. Doch Amelia konnte es, und obgleich sie sich normalerweise nicht in solche Dinge einmischte, würde sie es dieses Mal doch tun.
Weil Cameron ein ganz besonderer Junge war.
Und sie würde ihn nicht im Stich lassen.
„Sie finden also, ich begehe einen Fehler, indem ich ihn mit mir nehme?“ Santos richtete sich zu seiner vollen einschüchternden Größe von über einem Meter neunzig auf und blickte auf die schlanke Lehrerin herab.
Es war im Grunde genommen gar nicht ihre Schuld, dass er so wütend war. Er schleppte diesen Ärger schon seit Wochen mit sich herum – genauer gesagt schon seit dem Moment, in dem er die ganze Wahrheit erfahren hatte. Dass die Frau, mit der er vor sieben Jahren exakt zwei Nächte verbracht hatte, schwanger von ihm geworden war und diese Tatsache ihm gegenüber nicht mal mit einem einzigen Wort erwähnt hatte.
Ihm war jede Chance genommen worden, seinen eigenen Sohn kennenzulernen und sich darauf vorzubereiten, Vater zu sein. Und dann war Cynthia gestorben, und sie beide, Cameron und Santos, waren ins eiskalte Wasser geworfen worden.
„Ja.“ Sie wich seinem Blick aus. Es war eine frustrierende Angewohnheit, die sie schon seit dem Moment zeigte, in dem sie auf seiner Türschwelle erschienen war. In einer Minute war sie schüchtern, beinahe ängstlich, in der nächsten voller Leidenschaft und wilder Vorwürfe und drohte praktisch damit, das Jugendamt zu informieren – oder wer immer in diesem Land sich auch um unzulängliche Eltern kümmerte.
„Und Sie finden, Sie haben das Recht, herzukommen und mir Vorhaltungen wegen der Entscheidungen zu machen, die ich für meinen Sohn treffe?“
„Wenn diese so offensichtlich dem Wohle des Kindes zuwiderlaufen? Ja, Sir, dann finde ich das durchaus.“
Er spürte, wie ein Muskel in seiner Wange zuckte. „Er ist mein Sohn. Ich kann tun, was immer ich will.“
„Auch wenn es Cameron verletzt?“
„Der Tod seiner Mutter hat ihn verletzt“, entgegnete Santos ruhig. „Die Entscheidung seiner Mutter, seine Existenz vor mir zu verschweigen, hat ihn – und mich – verletzt. Ich tue jetzt einfach, was ich vor sechs Jahren schon getan hätte, wenn Cynthia ehrlich zu mir gewesen wäre.“
„Das interessiert mich nicht“, schoss die Lehrerin zurück und presste die Lippen zusammen. Wenn sie die Wahrheit sagte, dann war sie wirklich außergewöhnlich. Bisher hatte noch jeder die Geschichte hören wollen, wie er so plötzlich an ein Kind gekommen war. „Wie dem auch sei“, sprach sie nach einem kurzen Moment weiter. „Ich bin mir darüber im Klaren, dass nicht Sie die Ursache für Camerons Leid sind.“
„Wie überaus gütig von Ihnen.“ Er nahm einen Schluck von seinem Scotch und stellte das Glas dann am Rand des Tisches ab, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte und sie ansah.
„Noch nicht“, fuhr sie fort.
Sie war der Inbegriff von Glanzlosigkeit. So unglaublich „englisch“, genau wie Cynthia es gewesen war, mit dem Akzent und der unterkühlten Art. Doch Cynthia war auffallend attraktiv und aufgeschlossen gewesen, während Amelia Ashford wirkte, als würde sie lieber über glühende Kohlen laufen, als noch eine weitere Minute mit ihm in seinem Büro zu verbringen. Außer …
Ja, außer in dem Moment, in dem sich ihre Knie berührt hatten. Sie war zusammengezuckt, und ihr war ein leises Keuchen entfahren. Konnte es sein, dass diese Frau gar nicht so eiskalt war, wie es zunächst den Anschein machte?
„Unter anderen Umständen hätten Sie ihn vielleicht in Griechenland großgezogen, aber es macht keinen Sinn, sich in Eventualitäten zu verlieren. Cameron ist Engländer. Er hat sein ganzes Leben hier verbracht und ist bisher nicht einmal ins Ausland gereist. Seine ganze Welt steht seit dem Unfall seiner Mutter Kopf. Er stand Cynthia sehr nahe.“
In ihrer Stimme schwangen jetzt Tränen mit, er konnte es deutlich hören.
„Vielleicht, wenn er etwas Zeit gehabt hat, den Schock zu verarbeiten und Sie besser kennenzulernen … Aber jetzt im Augenblick ist es ein viel zu gewaltiger Schritt für ihn. Ich glaube wirklich, dass Sie seine Situation um ein Vielfaches verschlimmern könnten. Und das ist einfach nicht fair, Mr. Anastakos.“
„Fair?“ Er konnte sich nicht bremsen. Obwohl er die Logik in ihren Worten durchaus erkannte, brannte alles in ihm darauf, ihr zu widersprechen. „Und ist es fair, von mir zu erwarten, die richtigen Entscheidungen für ein Kind zu treffen, von dessen Existenz ich bis vor sechs Wochen nichts geahnt habe?“
„Nein“, gestand sie leise ein, „nichts an der Situation ist fair. Aber Sie sind der Einzige, der etwas dagegen tun kann.“
„Mein Sohn ist ein Anastakos. Wir leben und sterben seit Generationen auf Agrios Nisi, und das wird bei ihm nicht anders sein.“
Ihre Augen blitzten angriffslustig, was ihn überraschte.
„Das mag schon sein“, sagte sie. „Aber alles, worum ich Sie bitte, ist ein wenig Zeit. Was würde es schon schaden, alles für ein weiteres Jahr beim Alten zu belassen? Ihn auf der Schule zu lassen, bei den Kindern, die er schon seit dem Kindergarten kennt, und den Lehrern, die …“
„… die ihn gernhaben, ja“, fiel Santos ihr ins Wort. „Das sagten Sie bereits.“ Er musterte sie durchdringend. „Haben Sie meinen Sohn gern?“
„Ich habe all meine Schüler gern.“
„Dann tun Sie so etwas also öfter? Zu ihnen nach Hause gehen, um ihre Eltern zu beschuldigen, egoistisch und selbstgerecht zu sein?“
Ihre Wangen färbten sich rot, als sie sich erhob. Sie schluckte hart.
„Es tut mir leid, wenn ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt haben sollte“, erklärte sie trotzdem mit hochmütig gerecktem Kinn. „Aber ich musste wenigstens versuchen, Sie umzustimmen. Das bin ich Cameron einfach schuldig.“ Sie stand ihm direkt gegenüber, und da sie einen ganzen Kopf kleiner war als er, musste sie zu ihm aufblicken. „Er verdient etwas Besseres als das hier.“
Er hörte den Vorwurf, der in ihren Worten mitschwang, und ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten wollte er sie bei den Schultern packen und schütteln. Glaubte sie denn wirklich, die vergangenen anderthalb Monate seien nicht auch für ihn die Hölle auf Erde gewesen? Plötzlich ein Kind zu haben … Er hatte sich immer geschworen, dass es dazu niemals kommen würde. Er hatte einen Halbbruder, der den Familiennamen weiterführen konnte. Doch dann war völlig unerwartet Cameron in sein Leben geplatzt – das Resultat einer kurzen, hitzigen Affäre mit einer Frau, an die er seitdem nie wieder gedacht hatte –, und plötzlich stand alles kopf.
„Sagen Sie mir, Amelia Ashford: Was macht ausgerechnet Sie zu einer Expertin auf dem Gebiet? Haben Sie Kinder?“
„Nein.“
Sie wollte weitersprechen, doch daran war Santos nicht interessiert. Er legte ihr einen Finger auf die Lippen – um sie zum Schweigen zu bringen, eigentlich. Doch in dem Moment, in dem er sie berührte, war ihm, als würde er hellauf in Flammen stehen.
Sie schien es ebenfalls zu spüren, denn ihre Augen weiteten sich, und sie atmete mit einem leisen Seufzen aus. Ihr Atem war warm, und für einen kurzen Augenblick konnte er nur daran denken, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ihre Lippen sich um seinen Finger …
Christos, was war bloß los mit ihm? Sie entsprach nicht einmal seinem Beuteschema, und zudem hatte sie ihn aufgesucht, um ihn zu maßregeln und zu beleidigen. Aber vielleicht war es auch genau das? Vielleicht wollte er ihre Herausforderung in ganz anderer Weise beantworten – indem er sie an sich zog und küsste, sie dominierte und ihr damit zeigte, mit wem sie sich da anlegte.
„Nein?“ Santos ließ seinen Finger über ihre Wange gleiten, dann hinunter zu ihrem Kinn. Er hob ihr Gesicht an und zwang sie, ihm in die Augen zu blicken.