Versteigert im Gentleman's Club

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Um der Vermählung mit einem stadtbekannten Lüstling zu entgehen, weiß Georgiana keinen anderen Ausweg: Sie versteigert ihre Unschuld in einem berüchtigten Herrenclub – und endet in den Armen von Frederick Challenger, dem skandalumwobenen Besitzer. Sie denkt, er will sie verführen – stattdessen hält er um ihre Hand an!


  • Erscheinungstag 20.02.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536844
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Tänzer blieben stehen, und die Musiker ließen ihre Instrumente ruhen. Noch nie war Georgiana Knight so erleichtert gewesen, den letzten Ton eines Tanzes zu vernehmen.

„Sie schweben wie ein Engel über das Parkett.“ Ihr Tanzpartner, Sir Nash Bowles, machte keine Anstalten, ihre rechte Hand loszulassen. Stattdessen versuchte er, sich ihre Finger in die Armbeuge zu stecken, um sie von der Tanzfläche zu führen.

Hätte ihre Stiefmutter das Kompliment vernommen, sie hätte sofort eingewandt, dass ihre Stieftochter von allen Mädchen unter der Sonne wohl das letzte war, das man mit einem Engel vergleichen konnte. Nach Mariettas Meinung mangelte es George sowohl an Manieren als auch an gesundem Menschenverstand. In den Jahren nach dem Tod der Mutter hatte das Mädchen sich frei und ungezwungen wie ein Wildfang auf dem Land herumgetrieben, und ihr Vater hatte nichts dagegen unternommen. Der Schaden, den ihr Charakter dadurch genommen hatte, ließ sich vermutlich nicht mehr beheben.

George selbst hatte damit kein Problem. Sie war glücklich, so wie sie war. Und ganz gewiss wollte sie nicht der Engel von irgendjemandem sein. Es war schon schlimm genug, dass sie sich im Umgang mit Sir Nash um ein Mindestmaß an Höflichkeit bemühen musste. Er war Mariettas Cousin. Über jede Ungezogenheit würde er sich umgehend bei der Stiefmutter beschweren, sodass George auf der Heimfahrt in der Kutsche wieder eine von deren ermüdenden Strafpredigten drohte.

Sie befreite ihre Hand so ruckartig aus Sir Nashs Umklammerung, dass er beinahe einen leeren Handschuh in Händen gehalten hätte. Gewiss würde er sich später darüber beklagen, sodass ihr ein weiterer Streit mit Marietta bevorstand.

Vielleicht war es noch nicht zu spät, um den Schaden zu begrenzen. George zwang sich, ihn so freundlich wie möglich anzulächeln, vermied es jedoch, die Hand zurück auf seinen Arm zu legen. „Vielen Dank, Sir. Sie sind ebenfalls ein ausgezeichneter Tänzer.“ Das war einer der vielen Vorzüge –, neben seinem angeblichen Reichtum und den familiären Verbindungen – die Marietta auflisten würde, wenn George seinem unausweichlichen Heiratsantrag eine Absage erteilte.

Erneut griff Sir Nash nach ihrer rechten Hand, als ob er ein Anrecht hätte, sie zu berühren, und diesbezüglich keinen Widerspruch duldete. „Wie wäre es mit einem weiteren Tanz? Wie mir scheint, stimmt das Orchester gerade die Instrumente für einen Walzer.“

Allein die Aussicht ließ sie erschaudern! Selbst bei einem der harmlosesten Reihentänze war es ihm gelungen, ihr viel zu nahe zu kommen. Wer weiß, was er versuchen würde, wenn er sie bei einem Walzer in den Armen hielt! Rasch ließ sie den Fächer als Barriere zwischen sich und ihm aufschnappen. Dann schloss sie ihn wieder und tippte sich damit an das linke Ohr. Es war die Zeichensprache, welche die Damenwelt ersonnen hatte, um unangenehme Szenen zu vermeiden.

Ich will, dass Sie mich in Ruhe lassen!

Um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, nahm sie der Zeichensprache durch eine höfliche Lüge die Schärfe. „Heute Abend fühle ich mich recht müde. Ich denke, ich sollte mich besser eine Weile hinsetzen.“

„Ich werde Sie gleich zu einem Stuhl begleiten“, entgegnete er umgehend und achtete ebenso wenig auf ihren Tonfall wie auf all die anderen Hinweise, mit denen sie ihn in den vergangenen Wochen davon hatte abbringen wollen, ihr den Hof zu machen. Wenn er sprach, lag ein leises Zischen in seiner Stimme, das sie jedes Mal an eine Schlange erinnerte. Auch wenn sein Körper zu stämmig war, um dem Vergleich mit einem dünnen Reptil standzuhalten, waren seine Bewegungen – egal, ob er tanzte oder ging – geschmeidig und geräuschlos. Selbst wenn er nicht in ihrer Nähe war, fürchtete sie sich davor, er könnte ganz plötzlich auftauchen, ihr etwas Unwillkommenes zuraunen oder sie mit einer Berührung belästigen.

Sie legte den Fächer an die linke Wange.

Nein!

„Ich benötige keine Begleitung“, sagte sie, um dem Signal Nachdruck zu verleihen, während sie den Fächer wieder aufschnappen ließ und sich damit Luft zufächerte. „Sie müssen mich entschuldigen. Ich ziehe mich in das Damenzimmer zurück.“ Es wäre leichter gewesen, wenn er ihr unbeholfen auf den Saum getreten wäre. Da sie nicht die Absicht hatte, ihrem Abendkleid selbst einen Riss zuzufügen, musste wohl ein natürliches Bedürfnis als Ausrede herhalten. Es war ihr gleichgültig, welchen Grund er vermutete, solange sie ihm nicht laut ins Gesicht sagen musste, dass sie vor ihm floh.

Er nickte widerwillig und ließ sie ziehen. Als sie sich entfernte, sträubten sich ihr die Nackenhaare. Sie spürte, dass er sie mit seinen Blicken verfolgte.

Nachdem sie die Tür des Damenzimmers hinter sich geschlossen hatte und sich endlich in Sicherheit befand, sank sie erleichtert auf den nächsten Stuhl, ohne auf die Hektik der anderen Frauen um sie herum zu achten. Warum waren die unsympathischsten Männer immer am hartnäckigsten? Die Tatsache, dass Sir Nash zu der Familie ihrer Stiefmutter gehörte, machte die Angelegenheit noch heikler. Unentwegt lobte Marietta ihn über den Schellenkönig in der Hoffnung auf eine eheliche Verbindung zwischen ihm und ihrer Stieftochter. Solange George noch ein Wort mitzureden hatte, kam Sir Nash als Ehemann ganz sicher nicht infrage.

George schüttelte sich. Obgleich sie Marietta nicht ausstehen konnte, musste sie sich ihrem Vater zuliebe bemühen, mit ihr auszukommen. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie sich mehr als einen Höflichkeitstanz mit Sir Nash zumuten musste.

„Georgiana!“ Die schrille Stimme der Stiefmutter durchschnitt das Netz ihrer Gedanken wie eine scharfe Glasscherbe.

„Ja, Marietta“, erwiderte sie seufzend.

„Sir Nash hat angedeutet, dir gehe es nicht gut …“

„Und du willst überprüfen, ob das stimmt“, fiel ihr George ins Wort.

„Ich möchte nicht, dass du im Damenzimmer eine Krankheit vortäuschst, anstatt dich auf dem Ball zu vergnügen.“

„Oh, ich vergnüge mich durchaus“, entgegnete George, ohne mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. „Ich finde es weitaus amüsanter, hier allein zu sitzen, als mit deinem Cousin zu tanzen.“

„Du schreckliches, starrsinniges Mädchen!“ Wie immer beäugte die Stiefmutter sie mit unverhohlener Abscheu. An der Abneigung, die diese Frau für sie empfand, hatte sich auch nach sieben Jahren nichts geändert. Als ihr Vater Marietta geheiratet hatte, war George zwölf Jahre alt gewesen. Schon lange hatte sie aufgegeben, um eine Anerkennung zu ringen, die sie nie erhalten würde.

Jetzt hätte sie am liebsten eine Grimasse geschnitten und sich wie das verzogene Kind verhalten, das Marietta in ihr erblickte. „Ich bemühe mich, höflich zu sein. Da ich nicht an seinem Werben interessiert bin, wäre es grausam von mir, falsche Hoffnungen zu wecken.“

„Wenn du meinst, es sei anständig, ihn grundlos zurückzuweisen, irrst du dich gründlich“, meinte Marietta gereizt.

„Ich habe mehr als ausreichende Gründe“, widersprach sie und sah sich um. Ihr Streit erregte schon genug Aufmerksamkeit, ohne dass sie im Einzelnen aufzählte, weshalb Sir Nash sie anwiderte.

„Wenn ich der Meinung wäre, dass du weiter an den Rockzipfeln deines Vaters hängen willst und deshalb nicht heiratest, würde ich dir zustimmen.“

„Ich bin mehr als willens auszuziehen, aber nicht, wenn ich dafür Nash Bowles heiraten muss.“ Obgleich sie es hatte vermeiden wollen, verzog sie das Gesicht. Allein die Erwähnung seines Namens ließ sie vor Ekel erschaudern.

„Georgiana!“

Das war fraglos der Auftakt für eine heftige Schimpftirade über ihre Charakterdefizite, und die Gegenwart von etwa einem Dutzend von Damen und deren Zofen, die so taten, als ob sie nicht die Ohren spitzten, machte alles noch demütigender. Das wollte sie nicht länger über sich ergehen lassen. Besser sie floh und setzte sich notfalls in die Kutsche. Wenn sie den Kutscher anflehte, würde er sie vielleicht zurück aufs Land bringen. Dort gehörte sie hin, denn seit sie in London angekommen waren, hatte sie keinen Moment mehr Frieden gefunden. Sie sprang vom Stuhl auf, stürmte an Marietta vorbei aus der Tür und schlug sie kraftvoll hinter sich zu.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass der Abend noch schlimmer werden konnte. Doch dann stieß sie ausgerechnet auf die Person, die sie noch weniger sehen wollte als Sir Nash.

Mr. Frederick Challenger lehnte träge an der Wand gegenüber der Tür. Weshalb lungerte er hier vor dem Damenzimmer herum? Oder trieb ihn Niedertracht dazu, ihr ständig seine Missachtung vor Augen zu führen?

Er verhielt sich so wie immer, wenn er sie erblickte. Er grüßte nicht höflich, wie man es sogar von einem Widerling wie Sir Nash erwarten konnte. Stattdessen blickte er sie mit einem unergründlichen Lächeln an und sah durch sie hindurch, als ob sie gar nicht existierte.

So verhielt er sich, seit sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Sofern man eine flüchtige Inaugenscheinnahme, die nicht zu einer Vorstellung geführt hatte, als Begegnung bezeichnen konnte. Das war vor einigen Wochen bei Almack’s gewesen. Marietta hatte sie beinahe an den Haaren zu ihm hingeschleift. „Du musst Mr. Challenger kennenlernen, Georgiana. Er ist der zweite Sohn des Earl of Roston und noch Junggeselle, obwohl er ein Held von Waterloo und reich ist!“ Die Stiefmutter hatte es so laut gesagt, dass alle in der Nähe es hören konnten.

Zumindest hatten die Worte Mr. Challengers Ohren erreicht und beleidigt. Er hatte ausdruckslos in ihre Richtung gestarrt, sich dann abgewandt und war fortgegangen, bevor sie mit ihm reden konnten. Und so war es George seitdem bei jedem Wiedersehen ergangen. Sich zu entschuldigen, war unmöglich, da sie einander nicht vorgestellt worden waren. Außerdem konnte sie sich schlecht für etwas entschuldigen, das sie gar nicht zu verantworten hatte. Wenn er ein echter Gentleman gewesen wäre, hätte er ohnehin so getan, als ob er die Worte überhört hätte, die eindeutig nicht für ihn bestimmt waren.

Seine besondere Begabung schien indes darin zu bestehen, seine hübsche Nase in Dinge zu stecken, die ihn nichts angingen. Ganz gleich, wo George hinging, er war zugegen und beobachtete sie, während er tat, als ob er sie gar nicht bemerkte. Er sprach nicht mit ihr, lächelte aber immer, wenn er sah, dass ihr ein Fauxpas unterlief. War es da verwunderlich, dass er sie jetzt rot vor Zorn im Gesicht nach dem jüngsten Streit mit ihrer Stiefmutter erwischte?

Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke – zufällig, da war sie sich sicher. Dann hob er ganz leicht eine Braue und sah wieder wie durch sie hindurch.

Sie holte tief Luft, um die Fassung zurückzugewinnen, und ließ ein verächtliches Schnauben vernehmen, das ihm bedeuten sollte, dass er unhöflich und unter ihrer Würde war. Dann schritt sie an ihm vorbei.

In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass der Saum ihres Kleides sich in der zugeschlagenen Tür verklemmt hatte. Ihr stolzer Abgang wurde durch das Geräusch reißender Gaze und einem Regen aus Pailletten, die zu ihren Füßen auf den Läufer rieselten, ruiniert. Da das Damenzimmer zu den vielen Orten gehörte, denen sie zu entkommen suchte, ergab es keinen Sinn, dorthin zurückzukehren, um den Schaden zu beheben. Stattdessen ergriff sie das, was noch von ihrem Kleid übrig war, und hastete aus dem Haus. Das leise Lachen eines Mannes verfolgte sie.

„Und dann ist sie vor aller Augen nach draußen gelaufen, obgleich man ihren Unterrock sehen konnte!“

„Es war ein Missgeschick“, murmelte George zum gefühlt hundertsten Mal. Sie saß ihrer Stiefmutter gegenüber in der Kutsche, stützte einen Ellbogen am Fensterrahmen ab und hatte das Kinn auf die Faust gelegt, während sie hinaus auf den Londoner Verkehr starrte.

„Immer mit der Ruhe, Marietta“, mischte sich Georges Vaters ein, der neben seiner Gattin saß und ebenfalls aus dem Fenster sah. „Sie hat es nicht mit Absicht getan.“ Dann seufzte er.

Obwohl er sie verteidigte, lag Enttäuschung in seiner Stimme. Einst hatte er sie geliebt, da war sich George sicher. Doch in der letzten Zeit klang er immer furchtbar müde, wenn er sprach. Lag es an London und den Anforderungen seiner Parlamentsarbeit?

„Georgiana passieren viel zu häufig derartige Missgeschicke“, entrüstete sich Marietta. „Da du dir nicht die Mühe gemacht hast, ihr Manieren beizubringen, muss es schließlich jemand tun. Es wundert mich, dass sie auf dem Heiratsmarkt überhaupt bei jemandem Interesse wecken konnte.“

„Womit wir wieder bei Sir Nash wären, wie ich bereits befürchtet hatte“, sagte George und schnitt eine Grimasse. „Bringt mich unter die Haube, wenn ihr es unbedingt wollt, aber findet einen anderen. Diesen Mann werde ich jedenfalls nicht heiraten.“

Empört straffte ihre Stiefmutter die Schultern. „An Sir Nash gibt es nicht das Geringste auszusetzen! Er ist ein ehrbares Mitglied meiner Familie.“

„Das bezweifle ich nicht. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch nur die geringste Zuneigung für ihn aufbringen kann.“

„Anders als das übrige London ist er wenigstens von dir begeistert“, verkündete Marietta.

Ganz London hegte also eine Abscheu gegen sie? Wenn man Mr. Challengers Verhalten zum Maßstab nahm, stimmte das vielleicht.

Die Stiefmutter fuhr unbeirrt fort: „In der Tat hat er mir versichert, dass ihn kein anderes Mädchen in England glücklicher machen könnte.“

„Und es gibt keinen Mann auf der Welt, der mich unglücklicher machen würde.“ Hilfe suchend wandte sich George an ihren Vater. Schließlich hatte er Sir Nashs Bekanntschaft gemacht. Selbst wenn er sie loswerden wollte, musste er doch verstanden haben, wie abwegig eine solche Verbindung war.

„Du hast ganz ähnliche Dinge über all die anderen Männer geäußert, die Marietta empfohlen hat“, sagte der Vater unter erneutem Seufzen, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

„Weil alle Männer, die Marietta für mich vorgeschlagen hat, völlig unmöglich sind.“ Die Worte waren aus ihr herausgeplatzt, bevor sie sich hatte zügeln können. Sie ärgerte sich über ihren Mangel an Diplomatie. Immerhin war sie bei ihrer eigenen Suche nach einem akzeptablen Heiratskandidaten auch nicht erfolgreicher gewesen. Es kam ihr vor, als hätte sie mit jedem Mann der Stadt getanzt, und kein einziger von ihnen hatte bei ihr einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Marietta stieß ihren Gatten leicht mit dem Zeigefinger an, um seine Aufmerksamkeit einzufordern. Dann nickte sie ihm vielsagend zu, als ob der Beweis nun endgültig erbracht wäre, dass George so schwierig war, wie sie beide dachten.

Georges Vater warf seiner Frau jenen erschöpften Blick zu, der in letzter Zeit immer öfter an ihm zu beobachten war. „Ich bin es gründlich leid, bei euren Streitigkeiten den Schiedsrichter zu spielen.“

George lächelte erleichtert. Immerhin störten ihn die Streitigkeiten und nicht sie selbst. Wie entsetzt Marietta über die Zurechtweisung sein würde, die ihr bevorstand. Auch wenn Georges Vater eine gewisse Zuneigung für seine zweite Frau verspürte, ließ sich das doch gewiss nicht mit der Liebe vergleichen, die er immer für sein einziges Kind an den Tag gelegt hatte.

Erneut ergriff er das Wort. „Du musst heiraten, Georgiana. Du bist neunzehn Jahre alt und kein Kind mehr. Ich sehe keinen Grund, weshalb du nicht Sir Nashs Frau werden solltest.“

„Aber …“ Sie war sprachlos. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sich ihr Vater in dieser Angelegenheit auf Mariettas Seite schlagen würde.

„Als er gestern Abend gemeinsam mit uns gespeist hat, bekundete er aufrichtige Zuneigung für dich.“

„Er …“ Sie schüttelte den Kopf, unsicher, wie sie erklären sollte, was am Vorabend schiefgelaufen war. Wie bei allen anderen Begegnungen auch hatte Sir Nash ihr gegenüber nichts Ungehöriges geäußert. Er war sogar beinahe zu höflich gewesen. Aber als er neben ihr auf dem Sofa gesessen hatte, hatte er seine Vorliebe für Schnupftabak erwähnt und ihr eine Prise aus seiner Dose angeboten.

Es war ihr ungewöhnlich vorgekommen, aber der Schnupftabak hatte wenigstens eine zaghafte Neugier in ihr geweckt. Schließlich musste das Schnupfen eine angenehme Wirkung haben, sonst würden nicht so viele Leute daran Gefallen finden. Allerdings kannte sie keine einzige anständige Frau, die Schnupftabak schnupfte. Zu guter Letzt hatte sie abgelehnt, weil sie nicht wusste, ob ihr normalerweise nachsichtiger Vater es gutheißen würde.

Sir Nash hatte gleichgültig mit den Schultern gezuckt und die Dose vor ihr auf dem Tisch vor dem Kaminfeuer abgestellt für den Fall, dass sie ihre Meinung änderte. Das war ein etwas sonderbarer Flirtversuch, der ihr aber zunächst harmlos vorgekommen war. Dann hatte sie sich die Dose noch einmal angesehen.

Auf den ersten Blick war ihr die Szene, die auf den Deckel gemalt war, belanglos wie der ganze Abend vorgekommen. Ein junges Paar auf einer Waldlichtung: Er wirbt um sie, sie bedeckt das Gesicht mit einer Hand und lehnt mit schüchternem Lächeln ab.

Aber dann hatte Sir Nash eine weitere Prise genommen, die Dose wieder vor ihr abgestellt und ihr mit einem kurzen Zwinkern bedeutet, erneut einen Blick darauf zu werfen. Das Bild hatte sich verändert. Das Mädchen, das ein rosa Kleid getragen hatte, war nun praktisch nackt. Die Hand vor ihrem Gesicht wirkte nun weniger wie eine schamhafte Geste, sondern wie eine erschrockene Zurückweisung.

Der Junge neben ihr war ganz und gar kein Junge mehr. Seine Brust war nackt, und die Beine waren von Haaren bedeckt und endeten in den gespaltenen Hufen eines Ziegenbocks. Doch die Stelle zwischen seinen Beinen war menschlich, und er tat etwas … etwas … George war sich nicht ganz sicher, was da vor sich ging, aber das Mädchen wirkte ebenso abgeschreckt wie gebannt. George hatte das Gefühl, dass sie von dem Gezeigten besser keine genauere Kenntnis haben sollte. Und diese Schnupftabakdose war ganz sicher kein Objekt, das ein anständiger Gentleman einer jungen Dame zeigte, der er den Hof machte.

Als er sicher war, dass sie es gesehen hatte, nahm Sir Nash die Dose und ließ sie wieder in seine Tasche gleiten. Anschließend schenkte er ihr ein verschwörerisches Lächeln, lobte ihr schönes Haar und sprach von seiner Vorliebe für blonde Frauen.

Blond wie die junge Frau auf der Schnupftabakdose.

„Siehst du?“ Marietta riss George aus ihren Gedanken und wies mit dem Finger auf sie. „Sie kann dir keinen einzigen vernünftigen Grund nennen, weshalb sie meinen Cousin ablehnt.“

„Ich mag ihn nicht“, erwiderte George kraftlos.

Denn er hat mir etwas gezeigt, was ich nicht verstehe, und ich schäme mich, euch danach zu fragen.

„Zuneigung entwickelt sich manchmal mit der Zeit.“ Ihr Vater klang, als spräche er aus eigener Erfahrung. Dann blickte er seine Gattin müde an, bevor er wieder aus dem Fenster starrte.

„Ich werde ihn nicht heiraten. Ihr könnt mich nicht dazu zwingen.“ George schrie beinahe, damit ihr Vater ihr Gehör schenkte.

„Ganz im Gegenteil, meine Liebe. Das können wir, und das werden wir auch.“ Mariettas Augen funkelten zornig. „Entweder heiratest du Nash, oder ich gehe.“ Sie drehte sich zu ihrem Gatten um und verbog die Lippen zu etwas, was sie für ein entschiedenes Lächeln hielt. „Ich ertrage nicht länger, dass alles so bleibt, wie es ist. Das siehst du sicher ein. Entweder bringst du deine Tochter zur Vernunft, oder ich kehre auf den Kontinent zurück. Dort finde ich sicher einen Mann, der mich respektiert. Dann seid ihr zwei wieder allein, genau wie sie es möchte.“

Nach sieben Jahren des Unfriedens klang das in Georges Ohren zu schön, um wahr zu sein. Hoffnungsvoll blickte sie ihren Vater an, während sie auf dessen Entgegnung wartete.

Doch bedauerlicherweise versuchte er nicht, sie zu verteidigen, sondern stöhnte nur matt. „Du hast gehört, was deine Mutter gesagt hat, Georgiana. Sie ist mit ihrer Geduld am Ende. Und jetzt lasst uns nicht länger über diesen Unsinn reden, Anträge abzulehnen, bevor sie gestellt wurden, insbesondere nicht, wenn sie vom Cousin deiner Mutter kommen.“

Einen Moment traute George ihren Ohren nicht. Er war vor die Wahl gestellt worden. Und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, hatte er sich für Marietta entschieden. „Sie ist nicht meine Mutter.“ Die Worte waren kindisch, aber sie konnte sie nicht unterdrücken.

Gerade hielt die Kutsche vor dem Stadthaus der Knights. George öffnete die Tür und sprang hinaus, bevor die Räder zum Stehen kamen. Sie rannte durch die Eingangstür, hastete die Treppe hoch und stürzte in ihr Zimmer, bevor ihr das Herz vor Kummer zerspringen konnte.

Im Zimmer war ihre Zofe Polly auf einem Stuhl eingedöst, während sie auf Georges Rückkehr gewartet hatte. Sie fuhr hoch und musterte das ruinierte Ballkleid. „Oh, Miss“, murmelte sie, bevor sie ihr half, das Kleid auszuziehen. „Ich sorge dafür, dass Ihnen eine heiße Milch gebracht wird. Anschließend sollten Sie zu Bett gehen.“

„Behandle mich nicht wie ein Kind!“, warnte George sie aufgebracht und bedauerte sofort, die Beherrschung verloren zu haben. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Es tut mir leid, Polly. Ich möchte mich nicht hinlegen. Ich will keine weitere Nacht in diesem Haus verbringen. Kümmere dich darum, dass einer der Lakaien uns die Koffer bringt. Wir gehen von hier fort.“

Das Mädchen sah sie besorgt an. „Wohin gehen wir denn, Miss?“

Das war eine gute Frage, auf die George keine Antwort hatte. Es gab keinen Verwandten in der Nähe oder weit entfernt, der sie aufnehmen würde, wenn ihr Vater darauf bestand, dass sie zu Marietta und ihm zurückkehrte. Und ihr war niemals in den Sinn gekommen, auch nur ein wenig von dem großzügigen Taschengeld, das ihr gewährt wurde, für den Notfall zurückzulegen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich nicht vorstellen können, dass es je zu einer solchen Situation kommen würde.

Sie setzte sich auf die Bettkante. „Schon gut. Ich weiß auch nicht, wo wir hingehen können.“ Sie dachte einen Moment nach. „Falls ich mich als Gouvernante einstellen lasse, wird man mir wohl kaum eine Zofe zugestehen.“

„Sie wollen Gouvernante werden, Miss?“ Polly grinste sie mitleidig an. „Denken Sie etwa schon wieder daran, von zu Hause wegzulaufen?“

Wieder. Hatte sie das wirklich so oft getan? Es war zu einer leeren Drohung geworden, die sie nach fast jedem schlimmen Streit mit der Stiefmutter ausgesprochen hatte. Die Idee, sich als Gouvernante zu verdingen, hatte ihren Reiz immer schon nach weniger als zwei Minuten verloren. Sie war schon keine eifrige oder brave Schülerin gewesen, was für eine Lehrerin würde sie da erst abgeben?

„Ich muss etwas unternehmen“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrer Zofe. „Ich kann Sir Nash nicht heiraten.“

„Nash Bowles?“ Das Mädchen riss erschrocken die Augen auf und war plötzlich zu allem bereit. „Ich lasse sofort nach den Koffern rufen. Wir bringen Sie von hier fort, sodass er Sie nicht finden kann, Miss.“

„Du kennst ihn?“ In Pollys Gegenwart hatte sie nie von ihm gesprochen. Sie hatte ja nicht einmal einen Gedanken an diesen widerwärtigen Mann verschwenden wollen.

„Alle Bediensteten kennen ihn. Und die Mädchen wissen, dass man sich am besten von ihm fernhält.“ Den zweiten Satz sprach Polly im Flüsterton.

„Wieso?“, fragte George, obgleich ihr klar war, dass sie die Antwort lieber nicht hören wollte.

„Er …“ Die Zofe schüttelte den Kopf und redete nicht weiter. „Er ist kein geeigneter Ehemann für eine wohlerzogene junge Dame. Mein Bruder hat erzählt …“ Sie hielt erneut inne. „Erinnern Sie sich an meinen Bruder Ben? Er war hier Lakai, bis ihm alle Livreen zu klein wurden.“

„Ich erinnere mich gut an Ben.“ Georgiana legte sich eine Hand vor den Mund, um ihr Lächeln zu verbergen. Ben Snyder war nicht einfach nur seiner Livree entwachsen – er hatte alle anderen jungen Männer an Größe und Gewicht übertroffen. Mit über einem Meter und fünfundneunzig und mehr als hundertundzehn Kilogramm hatte er den Rest des Personals überragt und Mariettas Hoffnungen zunichtegemacht, eine Schar von Bediensteten zu haben, die ein ähnlich einheitliches Bild abgaben wie das Pferdegespann der Familienkutsche.

„Nachdem er hier aufgehört hat, begann er in einem Club zu arbeiten, in dem sich die Gentlemen Londons vergnügen. Und die Dinge, die dort passieren …“ Polly machte erneut eine Pause. „Nun, er behauptet, dass es an diesem Ort überhaupt nicht so zugeht, wie es sich für Gentlemen gehört. Außerdem hat er Nash Bowles dort schon mehrmals hinauswerfen müssen, weil die Besitzer des Clubs dessen Verhalten missbilligt haben.“

„Dann ist er also gar kein Gentleman?“

„Er ist nicht einmal ein Lebemann“, bestätigte das Mädchen. „Er ist viel schlimmer als das.“

Genau das hatte George befürchtet. Und ihr Vater und Marietta hatten sich in den Kopf gesetzt, dass sie einen solchen Lustmolch heiratete. „Was macht er denn für Sachen?“

„Darüber wollte Ben nicht mit mir reden.“

„Würde er es denn meinem Vater erzählen?“ Wobei sie bezweifelte, das Wort eines ehemaligen Bediensteten allein würde ausreichen, um sie zu retten.

„Ich glaube kaum, dass mein Bruder das tun würde, Miss“, erwiderte Polly. „Wenn er jemandem berichtet, was im Club vonstattengeht, riskiert er seine Stelle. Ihm wurde strengstens Stillschweigen auferlegt.“

„Vielleicht gibt es Mittel und Wege, um Nash dazu zu bringen, alles zu sagen … Oder, wenn ich es mit eigenen Augen sehen würde …“

Polly blickte sie erschrocken an und schüttelte warnend den Kopf.

George lächelte nur, denn sie verspürte plötzlich eine Zuversicht, die sie schon seit Jahren nicht mehr empfunden hatte. „Genau das müssen wir tun. Wenn es in diesem Club skandalös zugeht, halten sich dort bestimmt auch Damen auf, oder nicht?“

„Als Damen würde ich die dort anwesenden Frauen nicht unbedingt bezeichnen“, antwortete Polly.

„Dirnen!“ Umso besser. „Vielleicht hilft eine von ihnen mir weiter. Außerdem wird Ben mich beschützen, sobald ich herausgefunden habe, was Nash dort treibt. Da den Besitzern gewiss daran gelegen ist, einen Skandal zu vermeiden, werden sie dafür sorgen, dass ich den Ort ohne jede Behelligung wieder verlassen kann.“

„Aber wenn Sie erkannt werden, ist Ihr Ruf ruiniert“, rief ihr Polly besorgt ins Gedächtnis.

„Wenigstens wird dann niemand mehr von mir erwarten, dass ich Sir Nash heirate“, entgegnete George lächelnd. Wenn es hart auf hart käme, würde sie die Segel streichen und den Rest ihrer Tage in einem Kloster verbringen. Ein enthaltsames Leben und Gebete waren nicht gerade das, was ihr vorschwebte, aber immerhin würde es sie vor Mariettas Einmischungen und vor ihrem abscheulichen Cousin bewahren.

„Komm schon, Polly. Wir müssen deinen Bruder benachrichtigen. Und anschließend musst du mir helfen, mich so verrucht wie möglich zu kleiden.“

2. KAPITEL

Sechzig Clubmitglieder waren zugegen, die insgesamt fünfunddreißig Gäste mitgebracht hatten. Fünfzehn Angestellte arbeiteten oben, zehn in der unteren Etage.

Frederick Challenger schlenderte durch den Tanzsaal des Virtum et Virtus und achtete nicht auf den Lärm um sich herum, während er im Geiste die Köpfe zählte.

Er erinnerte sich nicht mehr daran, welcher interne Scherz seine Freunde und ihn dazu bewogen hatte, den Namen Laster und Tugend für den Club zu ersinnen, als ihnen vor vielen Jahren in Oxford die Idee gekommen war. Von Ersterem hatte es immer genug gegeben. Dass der zweite Aspekt je eine Rolle gespielt hätte, wäre eine vermessene Behauptung gewesen. Gerade die garantierte Abwesenheit von Sitte und Anstand hatte aus der jugendlichen Spinnerei einen der dekadentesten und erfolgreichsten Clubs Londons werden lassen.

Diese organisierte Form der Ausschweifung war mittlerweile längst zur Routinearbeit geworden, und Frederick war der kühle Kopf, der dafür sorgte, dass die Dinge nicht aus dem Ruder liefen. Bisher war der Abend weitgehend ereignislos verlaufen. Im Spielzimmer hatte Lord Pendleton versucht, einen Schuldschein zu setzen, nachdem ihm das Geld ausgegangen war. Eine freundliche Ermahnung von Fred hatte ausgereicht, um den Mann daran zu erinnern, dass der Einsatz von Schuldscheinen die Masken, die alle Anwesenden trugen, überflüssig machen würde. Die Anonymität ging zwangsläufig verloren, wenn man den vollen Namen durch die eigene Unterschrift preisgab. Die Fistelstimme und die Vorliebe für ausgefallene Westen verrieten selbstverständlich auch so jedem, dass Pendleton zugegen war.

In Wahrheit gab es einen viel einfacheren Grund für die Hausregel, nur mit Bargeld zu bezahlen. Einem Mann dabei zuzusehen, wie er spielte, bis er sich ruiniert hatte, verdarb allen Gästen den Spaß. Und wenn sich deswegen auch noch jemand eine Kugel ins Gehirn jagte, war der Schaden groß. Fred verspürte nicht den Wunsch, Mrs. Parker, die Haushälterin, zu bitten, für die Reinigung der extrem teuren Seidentapeten zu sorgen. Immerhin war deren kunstvolle Bemalung genau auf das italienische Deckengemälde abgestimmt, das ein großes Bacchanal zeigte.

In dem kleinen Saal des Clubs war einer der berüchtigten Maskenbälle in vollem Gange. Ein Mann, der als Teufel verkleidet war, hüpfte in die Mitte der Tänzer. Doch anstatt vor dem Leibhaftigen zurückzuschrecken, hoben die maskierten Tänzer, die sich auf der Tanzfläche tummelten, grüßend die Hände.

Fred trug eine Domino-Maske mit schwarzem Tuch. An solchen Abenden fiel es viel mehr auf, ohne Kostüm zu erscheinen, als von Kopf bis Fuß in roter Seide zu stecken und Hörner und einen Schwanz zur Schau zu stellen. Als er Luzifer streifte, um an ihm vorbei zu den privaten Zimmern der Eigentümer zu gelangen, schwang dieser eine neunschwänzige Katze aus Stoff und tat, als ob er Fred damit auspeitschen wollte.

Fred warf ihm einen finsteren Blick zu, der selbst einem echten Höllenwesen Respekt eingeflößt hätte, und der Mann wandte sich ab und ließ die seidenen Kordelenden seines Dreschflegels über die nackten Schultern der nächstbesten Tänzerin gleiten.

Die Frau reagierte mit verzücktem Schaudern und drehte sich mit ausgestreckten Armen und halb geöffnetem Mund zu Fred um, damit er sie küsste.

Fred tat ihr den Gefallen, aber nur kurz. Dann befreite er sich aus ihrer Umklammerung und schob sie in die Arme des Tänzers zu seiner Linken, der bereits darauf wartete. Sie zog eine Schnute, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem neuen Partner schenkte.

„Ich bin die Nächste.“ Eine dralle Blondine, die als Milchmädchen verkleidet war, hielt ihm lüstern die prallen Lippen entgegen.

Er unterdrückte ein gereiztes Seufzen, zwang sich zu lachen und küsste sie, bevor er sich befreite und durch die mit grünem Tuch bespannte Tür verschwand, hinter der sich das Büro und die private Suite befanden.

Für einen der Eigentümer des Clubs gehörte es sich eigentlich nicht, den fleischlichen Gelüsten so wenig Begeisterung entgegenzubringen. Als seine Freunde und er den Club gegründet hatten, wollten sie keiner Versuchung aus dem Weg gehen und hemmungslos im Laster schwelgen. Doch was ihm vor zehn Jahren noch verwegen und kühn vorgekommen war, erschien ihm inzwischen ziemlich albern.

Sein Freund Oliver Gregory war der Auffassung, Freds Zeit bei der Armee sei an allem schuld. Sie habe ihm jede Lebensfreude geraubt und aus ihm genauso eine autoritäre Gestalt gemacht wie diejenigen, gegen die sie rebelliert hatten. Das war indes nicht zutreffend. Auf die hiesigen Ausschweifungen verzichtete er aus ganz eigenen Gründen. Und auf jeden Fall gab er dem Militär gegenüber der Genusssucht den Vorzug. Ganz gleich, wie chaotisch und unbarmherzig alles gewirkt hatte, der Krieg verlieh dem Dasein Struktur. Befehle wurden erteilt und ausgeführt. Die Männer wussten, wo ihr Platz war und wofür sie lebten oder starben. Auf dem Schlachtfeld ergab das Leben einen Sinn. Nach Waterloo erschien ihm das Vitium et Virtus wie der Inbegriff von Sinnlosigkeit.

Jacob Huntington, der dritte Besitzer des Clubs, glaubte, Fred sei nur erschöpft und bräuchte eine besonders erfrischende neue Versuchung, um wieder neuen Lebenshunger zu verspüren.

In Wahrheit stellte Fred nichts so zufrieden wie das Gefühl, dass der Club durch seine Aufsicht wie eine gut geölte Maschine funktionierte. Jake war für die Buchhaltung und die Aufnahme neuer Mitglieder zuständig, und Oliver kümmerte sich um das Unterhaltungsprogramm, das die Erwartungen der Gäste allabendlich übertreffen sollte. Nirgends in London wurden vergleichbare Speisen und Getränke geboten, und in keinem anderen Club spielte man mit höheren Einsätzen. Fred sorgte dafür, dass es zu keinen Streitigkeiten kam. Es sollte weder Faustkämpfe noch peinliche Szenen geben und auch keine Frauen, die kreischend die Treppe hinunterhasteten, weil sie gegen ihren Willen zu etwas gezwungen worden waren. Die Frauen, die sich im Club aufhielten – ob es nun Gäste oder Angestellte waren –, wussten, worauf sie sich einließen.

Wenn dennoch ein Skandal drohte, bemühte sich Fred, diskret eine Lösung zu finden und das Drama in Grenzen zu halten. Bevor er aus Waterloo zurückgekehrt war und angefangen hatte, sich um einen reibungslosen Ablauf des Clubbetriebs zu kümmern, hatten seine Freunde und er viel zu wenig Wert auf Ordnung und Sicherheit gelegt. Das war naiv gewesen. Gerade eine Lasterhöhle, in der unweigerlich auch eine ganze Reihe fragwürdiger Gestalten verkehrte, brauchte klare Regeln. Die anfängliche Sorglosigkeit hatte schon dazu geführt, dass sich die ursprüngliche Zahl der Besitzer von vier auf drei reduziert hatte. Freunde waren kostbar. Fred wollte keinen weiteren verlieren.

Nachdem er sich heute Abend einen flüchtigen Überblick verschafft hatte, stand ihm nur noch der Sinn danach, sich mit einem Glas Brandy und einem guten Buch im Büro einzuschließen. Oliver und Jake hätte dieser Anblick entsetzt. In ihren Augen bewies seine Gleichgültigkeit gegenüber dem ausgelassenen Treiben um ihn herum, dass ein Teil von ihm auf dem Schlachtfeld gestorben war.

Vielleicht hatten sie damit recht. Konnte ein Ort, der zügelloses Vergnügen bot, wirklich eine derartig lähmende Langeweile auslösen?

Doch bevor er die Bürotür geöffnet hatte, hörte er aus dem Saal ein tiefes Raunen, das seine Neugier weckte. Die Auktion für Liebesdienste hatte begonnen. Hier sagten sich die maskierten Kurtisanen von ihren bisherigen Freiern los, um sich mit demjenigen zurückzuziehen, der am meisten Geld bot. Wenn sie entschieden, ihre Masken abzulegen und die hübschen Gesichter zu zeigen, dann erst, nachdem die Tür zum Schlafzimmer geschlossen war.

Diese Auktion versetzte die anwesenden Gentlemen stets in einen Zustand fiebriger Erregung. Vielleicht ersteigerte man ja die Mätresse eines der mächtigsten Männer Englands. Oder man entdeckte, dass die eigene Geliebte oder – noch schlimmer – die eigene Ehefrau sich aus Überdruss jedem Mann feilbot, der ihrer Eitelkeit mit Geld schmeichelte.

An diesem Abend war etwas an dem aufgeregten Lärmen, das mit dem Bieten einherging, anders. Fred machte auf dem Absatz kehrt und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Sofort erkannte er, dass es sich nicht um die gewohnte Art von Versteigerung handelte. Der Auktionator rief: „Gentlemen, wie viel bieten Sie für eine echte Jungfrau? Leeren Sie Ihre Taschen und graben Sie tief in Ihren Geldbörsen! Sicher ist diese Schönheit mehr wert als die dürftigen Gebote, die ich bisher vernommen habe!“

Sie stand auf dem schmalen Podium an der hinteren Seite des Saals, als ob sie über dem Tabakrauch schweben würde, der über den Männerköpfen zu ihren Füßen hing. Das Licht, das durch den dunstigen Nebel drang, leuchtete schillernd auf ihrer Haut.

Fred erfasste plötzlich ein Verlangen, wie er es so noch selten verspürt hatte. Sie war wunderschön, und er begehrte sie. Doch ein Teil von ihm wollte einfach nur nach vorne preschen und der jungen Frau eine Decke über die nackten Schultern werfen, um sie vor den lüsternen Blicken der Menge zu schützen. Es kam ihm frevelhaft vor, eine solche Vollkommenheit anzustarren. Er war sich sicher, dass sie noch unschuldig war. Manchmal täuschten Dirnen bei dieser Art von Spielchen Jungfräulichkeit vor und versteckten Schwämmchen mit Blut zwischen ihren Beinen, um die Kunden zu täuschen, die für eine Defloration tief in die Tasche gegriffen hatten. Der übersättigte Blick der Augen hinter den Masken, das wissende Lächeln und das Fehlen eines Errötens verrieten Fred sofort den Betrug.

Dieses Mädchen war anders. Sie hatte das maskierte Gesicht gesenkt, und es handelte sich nicht um vorgespielte Schüchternheit, sondern um aufrichtiges Unbehagen, genauer betrachtet zu werden.

Sie war nicht nackt, aber ihre Reize ließen sich deutlich erahnen. Unter dem Kleid aus hauchdünnem Musselin trug sie weder Mieder noch Unterkleid oder Strümpfe. Es war, als wäre ihr Körper nur von einer Nebelwolke verhüllt. Als sie sich langsam bewegte – das unbeholfene Drehen eines Mädchens, das noch keine geübte Verführerin war –, teilte sich ihr langes blondes Haar und gab den Blick auf verlockende Kurven frei. Rosige Brustwarzen zeichneten sich durch den dünnen Stoff ab.

Und als wäre das noch nicht genug, um einem Mann das Blut in die Lenden zu treiben, war das goldene Band, mit dem ihr Kleid wie eine Tunika gebunden war, zu einer Kette geflochten. Das eine Ende war ihr um den Hals gewickelt, und die Handgelenke waren lose damit verbunden. Es beflügelte die männlichen Vorstellungen von einer Sklavin. Was sich der Meistbietende auch für sie ausdachte, diese Auktion lieferte sie seiner Verdorbenheit aus.

Wie bei den erregten Bietern im Saal reizte ihr Anblick auch bei ihm eine dunkle Seite der Seele. Hatte er je mit einer Jungfrau geschlafen? Wenn ja, war sie nicht so süß und unerfahren wie diese hier gewesen. Das Mädchen vor ihm ahnte nicht, was ihr bevorstand und wie tief ein Mann sinken konnte, wenn er die Möglichkeit erhielt, seine verruchtesten Fantasien auszuleben. Man brauchte nur einen Blick auf Nash Bowles zu werfen, um zu sehen, was ihr drohte. Dieser ekelhafte Kerl ließ sich trotz der Maske ebenso leicht erkennen wie Pendleton, und das Geldbündel, mit dem er winkte, war mit Abstand das dickste im Saal. Geifer tropfte ihm aus den Mundwinkeln, während er seine Gebote schrie.

Kein Wunder, dass diese Kröte hier war. Nash hatte schon oft seine Vorliebe für unschuldige Körper zum Ausdruck gebracht – je jünger, desto besser. Aus gegebenem Anlass hatte Frederick ihn wiederholt darauf hingewiesen, dass dieser Club kein Hafenbordell, sondern ein Ort für einvernehmliche Vergnügungen sei. Anschließend hatte er Snyder, den Türsteher, beauftragt, den Mann vor die Tür zu setzen. Heute Abend stand Snyder hinter dem Mädchen auf dem Podest, verschränkte die Arme vor der Brust und tat nichts, um die Auktion zu unterbinden.

Das war zu viel. Auch wenn Fred hohe Einsätze an den Spieltischen zuließ und bei dionysischen Ausschweifungen ein Auge zudrückte, hieß das noch lange nicht, dass er zu einem Zuhälter für perverse Lüstlinge verkommen war. Wenn er zuließ, dass diese Auktion fortgesetzt wurde, war er genau das. Ohne weiter nachzudenken, überprüfte er den Inhalt seiner Geldbörse.

Nicht genug. Er zog den Goldring vom Finger und hielt ihn in die Höhe. „Zehntausend Pfund!“

Die Menge verstummte, und der Auktionator drehte sich zu ihm.

Angewidert warf er dem Mann auf dem Podest den Ring vor die Füße. „Falls Sie Bedenken haben, stelle ich zur Sicherheit einen Scheck über die zwei- oder dreifache Summe aus.“

„So geht das nicht!“, rief jemand aus der Menge.

„Das ist nicht redlich!“, schrie ein anderer, während der allgemeine Protest immer lauter wurde. „Sie denken wohl, nur weil Sie den Club betreiben, könnten Sie machen, was Sie wollen!“

Frederick riss dem komischen Kerl im Teufelskostüm, der ihm gefolgt war, die neunschwänzige Katze aus der Hand und ließ sie drohend über dem Kopf kreisen. Es war nicht viel mehr als ein Spielzeug, doch in Kombination mit seinem zornigen Tonfall ließ es die Männer in der Nähe Reißaus nehmen. „Ihr denkt also, ich mache, was ich will? Da ich die Regeln festlege, ist das wohl wahr. Und ich lasse euch samt und sonders hinauswerfen und vom Club verbannen, wenn ihr mir das nicht glaubt!“

Wie bei den Soldaten, denen er in Portugal Gehorsam beigebracht hatte, gelang es ihm auch hier, sich Respekt zu verschaffen. „Ihr seid wahrhaftig ein verkommener Haufen! Wollt ihr, dass eure Väter, Gattinnen und Töchter erfahren, was für betrunkene Wüstlinge ihr seid? Wenn dieser Saal nicht leer ist, bevor ich bis drei gezählt habe, übergebe ich die Club-Bücher der Klatschpresse. Falls ihr mir keine andere Wahl lasst, wird ganz London erfahren, wie sich seine vornehmsten Söhne benehmen, sobald die Sonne untergegangen ist und die Vorhänge zugezogen sind.“ Er wies auf die Tür.

Er musste nicht einmal zu zählen beginnen. Allein die Androhung einer Bloßstellung ließ die Männer wie Ratten davoneilen. Massenhaft flohen sie hinaus. Zum Schluss hastete auch die dürftig bekleidete Jungfrau in Richtung Ausgang.

Er hielt sie mit einer Hand fest. „Wohin wollen Sie?“

„Sie sagten doch …“

„Ich sagte, dass die anderen gehen sollten. Sie haben keine Erlaubnis dazu. Sie sind hierhergekommen, um sich dem höchsten Bieter zu verkaufen. Nun gehören Sie mir – gekauft und bezahlt. Sie werden diesen Ort nicht verlassen, bevor ich nicht mit Ihnen fertig bin.“ Er ergriff das wehende Goldband, das zwischen ihren vollkommenen Brüsten baumelte, und führte sie zurück in die Mitte des Saals.

Sie war gekommen, um einen Dämon zu suchen und zu überlisten. Stattdessen hatte sie den Teufel persönlich gefunden und war zu seiner Gefangenen geworden.

Einer von den Anwesenden hatte ihn als Betreiber des Clubs bezeichnet. Das erklärte, weshalb Ben gemeinsam mit dem Rest der Menge verschwunden war. Zweifelsohne hatte der ehemalige Bedienstete mehr Angst um seine Arbeitsstelle als um sie.

„Nein.“ Sie zerrte an dem gestrafften Band und löste es von ihren Handgelenken und vom Hals. So hätte es wahrhaftig nicht verlaufen sollen. Zunächst hatte ihr Plan funktioniert. Obgleich er einen Umhang und eine Maske getragen hatte, gab es keinen Zweifel, dass es sich bei dem Höchstbietenden um Sir Nash handelte. Seine Lispelstimme schloss jeden Irrtum aus. Und dann war mit einem Mal dieser Fremde aufgetaucht und hatte alles zunichtegemacht.

Es war naiv von ihr gewesen zu glauben, dass jemand sie beschützte, falls etwas schiefging. Ben hatte nicht verhindert, dass sie an einen anderen verkauft wurde. Der hünenhafte Mann hatte nur hilflos mit den Schultern gezuckt und sie dem Teufel überlassen.

„Nein?“ Der Clubbesitzer, dessen Augenpartie durch eine venezianische Halbmaske bedeckt war, grinste sie anzüglich an. „Weshalb glauben Sie, sich weigern zu können? Sie wussten doch bestimmt, was für eine Art von Club das Vitium et Virtus ist, bevor Sie zu uns kamen.“

„Dort bin ich also?“ An der schwarz lackierten Eingangstür hatte kein Name gestanden.

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