Der Ritter und die blinde Lady

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London im Mittelalter: Mit jedem Tag kommt für Joan Lovent die ewige Nacht näher. Bald schon wird die junge Lady völlig erblindet sein. Was nicht heißt, dass sie ihr Schicksal wehrlos akzeptiert! Tapfer kämpft sie gegen alle Einschränkungen. Doch als sie eines Tages aus einer bedrohlichen Lage von Sir Warin de Talmont, einem Freund ihres Bruders, gerettet wird, ist sie überzeugt: Er sieht in ihr nicht eine Frau, sondern nur ein hilfloses Geschöpf, dem Dunkel geweiht. Dass Warin in ihrem Herzen ein helles Licht der Liebe und der Leidenschaft entzündet, muss ihr Geheimnis bleiben. Es sei denn, sie kann ihn von ihrem Mut überzeugen …


  • Erscheinungstag 18.02.2025
  • Bandnummer 421
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531573
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Westcheap, London, Herbst 1226

Sir Warin de Talmont zog sich die Kapuze über den Kopf und ließ den Mann nicht aus den Augen, dem er durch das enge Labyrinth der Londoner Gassen bis zur belebten Marktstraße von Westcheap gefolgt war. Er entdeckte Nicholas d’Amberly – ein weiteres Mitglied der erlesenen Gruppe kampferprobter Männer, die sich „Ritter der Tapferkeit des Schwertordens“ nannte. Pro Rex. Pro Deus. Pro fide. Pro honoris.

Ihr Motto erinnerte treffend daran, dass ihnen, im Gegensatz zu vielen anderen Geheimorden dieser Tage, König und Vaterland heilig waren, und sie sich deren Schutz auf die Fahnen geschrieben hatten. Unermüdlich waren sie in diesen unruhigen Zeiten damit beschäftigt, Verschwörungen gegen die englische Krone aufzudecken.

Nicholas ging an ihm vorbei und nickte leicht. Ebenso unauffällig erwiderte Warin den Gruß. Er setzte seine Verfolgung fort, bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge und vorbei an den zahllosen Ständen, an denen die Händler von Westcheap ihre Waren anpriesen.

Warin erblickte Savaric Fitz Leonard, der an der nahegelegene Ludgate Wache hielt. Auch er gehörte zu dem kleinen Kreis der Schwertordensritter. Minutiös hatten Warin und seine beiden Mitstreiter die Verfolgung des Verdächtigen geplant. Nun hofften sie, den Mann zu fassen und ihm die Namen der Drahtzieher zu entlocken.

Nach wochenlanger Ungewissheit über das Ausmaß des Komplotts und die Bedrohung für die Krone war es ihnen gelungen, diese eine Spur ausfindig zu machen. Möglicherweise lieferte sie endlich die nötigen Hinweise, wer die Verräter waren, die sich Dracones nannten und deren Erkennungszeichen ein doppelköpfiger Drache war.

Warin folgte dem Mann, der sich zielstrebig durch das Getümmel zwischen den Marktständen schlängelte. Auf der einen Straßenseite waren vor allem Händler, die Seiden-, Leinen- und Barchentstoffe sowie Silberschmuck verkauften, während auf der anderen Seite Lederwaren feilgeboten wurden und Schuhmacher weiches Korduanleder zusammennähten und an fußähnlichen Holzstümpfen in Form brachten.

Der Geruch von Leder vermischte sich mit dem süßlichen Dunst von Milch und Butterfässern aus der nahen Milk Street und dem Gestank von Vieh, das in der angrenzenden Cattle Street verkauft wurde. Zu guter Letzt verliehen Fahnen aus Ale und Schweiß der Luft eine unverwechselbare Schärfe. Doch genau das war es, was Warin an London liebte – das geschäftige Treiben vieler fleißiger Menschen in einer großen Stadt. Und er wollte alles in seiner Macht Stehende tun, damit diese Stadt sicher war und niemand die Macht der Krone infrage stellte.

Der Verdächtige, dem er folgte, blieb plötzlich stehen und sprach mit einem Schuster am letzten Stand der Straße. Der Handwerker nickte, zog einen Beutel aus dem Ärmel seines Umhangs und ließ ihn auf die ausgestreckte Handfläche des Mannes fallen. Der steckte den Beutel ein und setzte seinen Weg durch die Menge fort, nun mit etwas mehr Eile als zuvor. Warin folgte ihm in die enge Bread Street, in der Brot, Gebäck und gefüllte Teigtaschen verkauft wurden.

Warin beschleunigte seine Schritte. Er war froh, dass er dank seiner Körpergröße die Übersicht behielt, sodass er den Verdächtigen nicht aus den Augen verlor. Doch just in dem Moment, da der Mann in Höhe der Honey Lane durch einen hölzernen Torbogen in eine schmale Seitengasse bog, hörte Warin einen durchdringenden Schrei und drehte sich um. Eine kleine Menschenmenge scharte sich um eine junge Frau, die zu Boden gefallen war und auf Händen und Knien im Dreck herumtastete. Warin erkannte sie sofort. Es war Joan Lovent – die jüngere Schwester von Thomas Lovent, dem Großmeister des Schwertordens.

Verdammt!

Warin fluchte leise und überlegte einen kurzen Moment lang, ob er die Verfolgung fortsetzen oder der Frau zu Hilfe eilen sollte.

Er wusste, was auf dem Spiel stand, wenn er den Mann entkommen ließ, doch ihm blieb keine andere Wahl. Er eilte zu der Gestürzten und schob die Umstehenden beiseite. Warum um alles in der Welt war sie hier, in diesem geschäftigen Teil der Stadt, und offenbar ohne jede Begleitung?

Vor ein paar Tagen hatte ihr Bruder London im Auftrag der Krone verlassen. Bevor Thomas Lovent aufgebrochen war, hatte er Warin gebeten, auf seine eigenwillige Schwester achtzugeben. Warin hatte allerdings gedacht, damit wären lediglich ein paar Höflichkeitsbesuche in Toms Haus gemeint gewesen, zu denen er noch keine Zeit gefunden hatte. Niemals hatte er sich eine Situation wie diese vorgestellt – Joan Lovent unbeaufsichtigt und schutzlos auf dem schmutzigen Pflaster einer Londoner Straße. Er stieß einen gereizten Seufzer aus und ging vor ihr in die Hocke.

„Seid Ihr verletzt, Mistress Joan? Was ist geschehen?“

Die junge Frau hob den Kopf und blinzelte.

„Sir Warin de Talmont?“

Sie zog die erdbeerblonden Brauen zusammen und rieb sich geistesabwesend über die Stirn, wobei sie dort einen Streifen Schmutz hinterließ, den Warin ihr am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte.

„Ihr seid hier?“

„Ja, und ich bin froh, Euch zu Diensten zu sein. Erlaubt mir, Euch aufzuhelfen, Mistress.“ Warin richtete sich wieder auf, ergriff ihre rechte Hand und zog sie auf die Beine.

Bei der Berührung ihrer Hand schoss eine plötzliche Wärme durch seine Adern, die seine Gereiztheit noch steigerte. Er ließ sie los und sah, dass sich die neugierige Menschenmenge zerstreute.

„Habt Ihr Euch verletzt?“, erkundigte er sich erneut.

„Nein, es geht mir ausgezeichnet, Sir. Vielen Dank.“ Sie strich sich mit den Händen über die verdreckte Schürze, die sie ab der Taille über dem Kleid trug.

„Gut. Dann kommen wir zu der entscheidenden Frage, warum Ihr hier seid, Mistress. Würdet Ihr mir das bitte erklären?“

Sie lachte leise. „Ah, Ihr glaubt, ich sei Euch eine Erklärung schuldig?“

„Ja, in der Tat.“ Er seufzte. „Für eine Jungfer wie Euch ist es gefährlich, sich in diesem Teil von London aufzuhalten.“

„Eine Jungfer wie mich?“ Joan straffte die Schultern und hob das Kinn. „Was wollt Ihr denn damit sagen?“, fragte sie empört.

Er stöhnte leise, weil er die Frau beleidigt hatte.

Joan Lovent war eine außergewöhnliche Schönheit mit ihren zarten Zügen, ihrem cremefarbenen Teint und dem langen rotblonden Haar, das sie hochgesteckt unter einem Leinenkopftuch verbarg. Dass lockige Strähnen ihrer Haarpracht unter dem Tuch hervorlugten, machte ihren Anblick noch bezaubernder. Tragischerweise litt sie an einem unheilbaren Augenleiden und würde eines Tages vollständig erblinden. Bei Joan Lovent fühlte sich Warin hin- und hergerissen zwischen seinem Mitgefühl für ihre Situation und seiner Verärgerung über ihre Widerborstigkeit.

Das erste Mal war er ihr im Sommer vor zwei Jahren begegnet, als Tom ihm die Aufgabe übertragen hatte, seine Schwester sicher an einen bestimmten Ort zu geleiten. Schon damals hatte sie Warin Kopfzerbrechen bereitet. Seitdem hatte er sie nur wenige Mal gesehen und kaum mit ihr gesprochen. Dennoch löste Joan Lovent noch immer dieselben Empfindungen bei ihm aus. Sie war nicht nur ein Ärgernis, sondern auch so scharfsinnig, dass es ihm Unbehagen bereitete. Es kam ihm vor, als ob sie bis in seine zerrüttete Seele blicken könnte. Deshalb versuchte er, der Frau so gut es ging aus dem Weg zu gehen.

Er hob ihren dünnen Stock auf und reichte ihn ihr. „Es war nicht böse gemeint, Mistress, aber eine Dame Eures Standes sollte keinen Ausflug in diesen Teil der Stadt unternehmen. Hier seid Ihr nicht sicher.“ Er beugte sich vor und fügte flüsternd hinzu: „Insbesondere, wenn man bedenkt, wer Euer Bruder ist.“

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Ich danke Euch für Eure Hilfe, Sir Warin – auch wenn mein Ausflug hierher Euch wahrhaftig nichts angeht.“

Er langte nach einem winzigen Zweig, der an ihrem Kopftuch hängen geblieben war, und ließ ihn zu Boden fallen. „Da bin ich anderer Meinung, Joan. Ich bin Euch zu Hilfe gekommen, weil Ihr einen Ritter brauchtet.“

„Das glaubt Ihr also?“

„Natürlich.“ Er nickte. „Ihr habt geschrien – und ich eilte zu Euch.“

„Sehr zuvorkommend von Euch, Sir.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Ihr seid wirklich eine große Hilfe für uns törichte Jungfern, die in den falschen Teilen der Stadt umherschlendern. Jetzt muss ich mich allerdings verabschieden. Entgegen Eurer Annahme bin ich nicht allein hierhergekommen, und mein Page wird gleich mit den Besorgungen, die ich ihm aufgetragen habe, in die Honey Lane kommen. Ich wünsche Euch noch einen guten Tag, Sir Warin, und danke Euch vielmals.“

Diese Worte sprach sie in einem beschwingten Singsang, der nicht zu der Gekränktheit zu passen schien, die sie noch vor wenigen Augenblicken zur Schau getragen hatte.

Er streckte die rechte Hand aus und hielt Joan am Ellbogen fest. „Nicht so eilig, Mistress. Ihr habt mir noch immer nicht den Grund verraten, warum Ihr hier seid, geschweige denn, weshalb ich euch auf dem Boden vorgefunden habe.“

Sie lachte leise. „Ich wüsste nicht, dass ich Euch zur Rechenschaft verpflichtet bin, Sir.“

„Natürlich nicht, doch solange Euer Bruder nicht in London ist, fühle ich mich für Eure Sicherheit verantwortlich.“

„Wie galant von Euch, Sir Warin. Ihr seid ein Ausbund an brüderlicher Fürsorge.“

Die Art und Weise, wie Joan Lovent das Wort „brüderlich“ aussprach, ärgerte ihn. Es bestand kein Zweifel, dass er nichts Brüderliches für sie empfand. Sein Blick fiel auf seine rechte Hand, mit der er noch immer Joans Ellbogen umfasste. Wieso schenkte er ihr solche Aufmerksamkeit? Er war ein Mann, der sich nie wieder an eine Frau binden würde. Nein, das eine Mal, das in Herzensqualen und Schmerz geendet hatte, war genug.

„Aber wenn Ihr es unbedingt wissen wollt, Sir Warin, ich war in der All Hallows Church. Dort wird meine Unterstützung für die Waisenkinder und die Armen und Kranken der Gemeinde sehr geschätzt.“

„Das ist wirklich lobenswert. Ich bin zutiefst beeindruckt. Also führen Euch Güte und Nächstenliebe in diese Gegend, Mistress.“

Sie zuckte mit den Schultern. „So sieht es aus.“

„Und ich nehme an, Euer Bruder weiß, dass Ihr diesen weiten Weg zurücklegt, um den Bedürftigen von All Hallows zu helfen?“

„Selbstverständlich.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte den Blick ab.

Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ihr wisst, dass es eine Sünde ist, zu lügen, Joan. Und leider ist es so, wie ich dachte – Thomas weiß nichts von Euren Ausflügen, nicht wahr?“, murmelte er. „Und da er gerade nicht in London ist, habt Ihr beschlossen, die sichere Umgebung seines Hauses zu verlassen.“

Er führte sie durch die Honey Lane, in der mit exotischen Gewürzen gehandelt wurde und in der sich wie in der Milk und der Bread Street Stände mit Essen aneinanderreihten. Um zu verhindern, dass sie auf dem dreckigen Boden ausrutschte, umschloss er ihren Ellbogen noch fester.

„Ich wundere mich weiterhin, weshalb es für Euch von Interesse ist, wo ich meine Zeit verbringe, Sir“, erwiderte sie leise.

„Euer Bruder hat mich ausdrücklich gebeten, auf Euch aufzupassen, Mistress, und so wie es aussieht, beeinträchtigen Eure Unternehmungen Eure Sicherheit.“ Außerdem war er ihretwegen mit seiner wichtigen Mission gescheitert, auch wenn Joan Lovent nichts davon wissen konnte. Es war einfach großes Pech gewesen, dass sich ihre Wege an diesem Tag gekreuzt hatten. Doch andernfalls wäre die Frau vielleicht in echte Schwierigkeiten geraten.

„Ich danke Euch, aber Ihr braucht Euch wirklich keine Sorgen um mich zu machen. Und ich vertraue darauf, dass dies hier unter uns bleibt, Sir.“ Sie lächelte gequält. „Mein Bruder und, sollte ich hinzufügen, auch meine Schwägerin müssen doch nichts davon erfahren, oder?“

Warin blieb abrupt stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie einen Moment lang an. Er wusste, dass er ihr das nicht versprechen durfte. Doch dann ließ er sich von der Besorgnis, die ihr ins Gesicht geschrieben stand, erweichen.

Er seufzte. „Sofern Ihr einen Schwur ablegt, dass dies Euer letzter Ausflug ohne ihr Wissen und Einverständnis war.“

Sie ließ ein Schnauben vernehmen, während sie weiter die belebte Straße hinuntergingen. „Aber ich weiß nicht, was ich sonst mit mir anfangen soll“, sagte sie verstimmt.

„Ich bin mir sicher, dass Euch eine andere Beschäftigung einfallen wird – an einem Ort, wo es viel sicherer ist.“ Warin legte eine Hand um ihre Schulter und stützte sie, als sie auf dem unebenen Kopfsteinpflaster ins Rutschen geriet. „Geht Ihr also auf meine Bedingung ein, Mistress?“

Da sie nicht antwortete, ließ er nicht locker. „In der Tat müsst Ihr nichts weiter tun, als die Sicherheit und Bequemlichkeit Eures Zuhauses vor den Toren der Stadt zu genießen, Mistress.“

„Wie gut Ihr mich kennt!“, entgegnete sie höhnisch. „Ich hasse es, untätig in der Kemenate zu sitzen und am Spinnrad zu drehen. Ich suche mir lieber eine sinnvolle Beschäftigung.“

Seine Mundwinkel zuckten. Nein, obgleich er sie nur flüchtig kannte, konnte er sich Joan Lovent nicht müßig vorstellen – eingeschränkte Sicht hin oder her. „Ihr habt also keine Freude an häuslichen Tätigkeiten?“

„Leider nein. Ich finde eine größere Erfüllung darin, eine mittellose Kirchengemeinde wie All Hallows zu unterstützen, wo ich nur kann. Ich wage zu behaupten, dass es für mich sinnstiftend ist. Allerdings nehme ich an, Euch wäre es lieber, wenn diese armen Seelen eine andere Wohltäterin fänden.“

„Ja, in der Tat. Aber Ihr habt mir noch immer nicht erklärt, was passiert ist. Es muss doch einen Grund gegeben haben, weshalb Ihr laut geschrien habt.“

„Nun, um der brüderlichen Fürsorge willen muss ich Euch gestehen, dass mich ein Halunke bestohlen hat.“

„Was?“ Er stieß Luft aus. „Verdammt! Warum habt Ihr mir das nicht schon früher gesagt?“

„Ich musste Euch doch erst so lange Auskunft darüber erteilen, warum ich hier bin.“

„Das ist kein Scherz, Joan. Ihr hättet ernsthaft verletzt werden können. Sagt mir jetzt genau, was vorgefallen ist.“

„Ihr habt recht, Sir Warin. Ich habe geschrien, weil ein Räuber mir meine goldene Kette vom Hals riss.“

Um Himmels willen!

„Es tut mir sehr leid, das zu hören.“

„Oh, das ist wirklich nicht nötig.“ Sie winkte mit einer Hand ab. „Die Kette ist mir ziemlich gleichgültig, aber das kleine bemalte Holzkreuz, das der Dieb zu Boden geworfen hat, ist für mich mehr wert als alles Gold und Silber der Welt. Das war der Grund, warum ich auf Händen und Knien im Dreck danach gesucht habe. Leider konnte ich es nicht finden.“

Er runzelte verständnislos die Stirn, während er sie von einer Gruppe betrunkener Männer wegführte, die ihnen grölend entgegenkam. „Was ist daran so kostbar?“

„Eigentlich ist es nur ein bescheidener Anhänger, doch für mich persönlich ist er von großem Wert.“ Sie schüttelte traurig den Kopf. „Ihr müsst wissen, meine jüngere Schwester hat mir das kleine Kreuz geschenkt, nachdem sie es liebevoll für mich bemalt hatte … Nun, es war alles, was mir von ihr geblieben ist.“

Warin kannte ihre Geschichte. Er kannte sie gut. Diese Geschichte war von einem ähnlich schweren Verlust gezeichnet wie seine eigene, denn vor vielen Jahren hatte er seine geliebte Frau und sein Kind verloren. Ihre Tode hatten einen unerträglichen Schmerz in seinem Herzen hinterlassen, der auch nach all der Zeit kaum nachließ.

Bei Joan war es ein schreckliches Feuer gewesen. Sie hatte ihre Eltern, ihre kleine Schwester und ihr Zuhause verloren und den Brand als Einzige überlebt. Es hatte lange gedauert, bis ihr Bruder Thomas aus Aquitanien zurückgekehrt war. Seither hatte er die Last der Verantwortung übernommen und die Schwester bei sich aufgenommen.

Seine einzige lebende Schwester. Gott allein wusste, was der Mann jetzt sagen würde, wenn er wüsste, dass sie sich mehr oder weniger allein in diesen Teil Londons begeben hatte.

„Ich werde es für Euch finden, Joan.“

„Was habt Ihr gerade gesagt?“

„Ich sagte, ich werde das kleine Kreuz für Euch finden. Bei meiner Ehre.“

Sie hob überrascht die Brauen. „Das würdet Ihr für mich tun?“

Er sah sie an und seufzte. „Ja, Mistress, aber nur unter einer Bedingung.“

Sie schüttelte den Kopf. „Natürlich ist es wieder an eine Bedingung geknüpft.“

„Natürlich.“ Er lächelte. „Und zwar: Wenn ich Euer Holzkreuz zufällig finde …“ „Es ist rot, gelb und weiß angemalt“, unterbrach sie ihn, „auch wenn es jetzt ziemlich schmutzig ist, nehme ich an.“

„Falls ich es also finde“, versuchte er es erneut, „möchte ich, dass Ihr mir versprecht, niemals mehr einen Fuß in diese Gegend zu setzen, ganz gleich welcher Beweggrund Euch leiten mag.“

Er blickte sie prüfend an. Unmut und Widerspruch ließen sich ihr vom Gesicht ablesen.

Schließlich seufzte sie schicksalsergeben. „Nur wenn Ihr es findet, Sir Warin.“

„Gut, und darauf würdet Ihr einen Eid schwören?“

„Muss ich das?“

„Ich fürchte schon“, entgegnete er leise.

Sie ließ die Schultern sinken, doch Warin ließ sich nicht beirren. Das durfte er nicht. Es war nur zu ihrem Besten. „Haben wir uns also darauf geeinigt?“

„Das grenzt an Erpressung, aber gut.“ Sie hob das Kinn und blickte missmutig an ihm vorbei. „Da drüben wartet schon mein Page.“

Er nickte. „Dieses Jüngelchen kann Euch kein sicheres Geleit geben. Erlaubt mir, Euch nach Hause zu begleiten.“

„Habe ich eine andere Wahl?“

„Gewiss, doch wenn Ihr es ablehnt, werde ich Euch gezwungenermaßen folgen, um mich zu vergewissern, dass Ihr sicher nach Hause gelangt.“

Sie nickte nur und umklammerte den Stock, mit dem sie den Boden vor sich abtastete.

Wie leichtsinnig von dieser Frau, sich hierher zu wagen! Warin musste den hölzernen Anhänger unbedingt finden, um sicherzustellen, dass sie nie wieder in diese Gegend zurückkehrte.

2. KAPITEL

Joan lächelte das glucksende Kleinkind an, das auf der ausgebreiteten Decke unter dem Apfelbaum im Garten ihres Bruders saß. Erneut befand sich dieser Bruder auf einer Mission, die so geheim war, dass er ihr nichts darüber erzählt hatte. Offenbar diente das ihrem eigenen Wohl. Tom wollte sie beschützen. Das verstand und schätzte sie, denn sie wusste nur zu gut, woher die Besorgnis ihres Bruders rührte.

Sie hatten beide bei dem fürchterlichen Brand so viel verloren – die Mutter und die innig geliebte kleine Schwester. Noch immer verfinsterten die Erinnerungen Joans Leben. Dunkle, sehr dunkle Zeiten lagen hinter ihr. Nachdem Tom in die Welt aufgebrochen war, war Joan zur Zielscheibe der väterlichen Gewalt geworden. Fortwährend hatte sie die zügellosen Wutausbrüche und Schmähungen des Vaters ertragen müssen. In den Augen des Vaters verdiente sie es nicht anders.

Er gab Joan an allem die Schuld – von seinem Streit mit Tom, der dazu geführt hatte, dass ihr Bruder das Familiengut verließ, bis hin zu den Missernten, die das Leben immer weiter verschlechterten. Das war falsch, verletzend und vollkommen unsinnig gewesen. Dennoch vermochte Joan sich nicht gegen das Gift der Gehässigkeit zu wehren. Irgendwann begann sie zu glauben, was ihr Vater über sie sagte, auch wenn ihre Mutter versuchte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Der Vater wurde nicht müde, Joans Augenleiden als Beweis ihrer Schlechtigkeit zu deuten. Nur bußfertiges Gebet konnte sie noch retten, weshalb sie Nacht für Nacht stundenlang in ihrer kalten dunklen Kammer auf dem Boden kniete.

Doch am Abend des Brandes änderte sich alles. Ihr Vater behauptete, sie sei nicht mehr zu retten. Es spielte keine Rolle, dass sie ihn anflehte, wenigstens ihre kleine Schwester zu verschonen. Es spielte keine Rolle, dass sie versprach, alle seine Wünsche zu erfüllen. Auch das verzweifelte Eingreifen ihrer Mutter war vergeblich. Nein, ihr Vater war nur noch auf Zerstörung aus gewesen. Und alles ging rasend schnell – das Feuer, das er gelegt hatte, um die Familie von dem zu befreien, was er für ein unabwendbares Unheil hielt, verschlang das Landgut und löschte sein Leben ebenso aus wie das ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester.

Joan bemühte sich, die erschütternden Erinnerungen hinter sich zu lassen, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Jungen zu, der zufrieden lachend vor ihr saß. Sie betrachtete ihren Neffen, lächelte und bot ihm ein Stück Apfel an, das er sich schnappte, um daran zu lutschen und sein Zahnfleisch an dem saftigen Stück Obst zu reiben.

Joan wusste, dass die Zuneigung ihres Bruders, seine Fürsorge und bedingungslose Liebe ein Segen für sie war. Nach der schrecklichen Zeit war Tom ihr zu Hilfe geeilt und hatte ihr die Sicherheit zurückgegeben, die sie so dringend brauchte. Und Tom war es auch gewesen, der ihr die Zuversicht verliehen hatte, ein Leben ohne erdrückende Angst zu führen. Das war allerdings nicht leicht. Nach wie vor trug sie einen Teil der Unsicherheit von damals mit sich herum, sosehr sie auch versuchte, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen.

Joan wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, bei ihrem Bruder und dessen Frau Brida ein dauerhaftes Zuhause gefunden zu haben. Dennoch war die fortschreitende Erblindung schwer zu ertragen. Manchmal fühlte sie sich hilflos und war verzweifelt, auch wenn sie nie mit einem anderen Menschen darüber sprach. Die Aussichten für ihre Zukunft waren nicht rosig. Angesichts ihrer schwindenden Sehkraft würde sie weder einen Gemahl noch einen Verehrer finden. Kein Mann würde sie ernsthaft in Betracht ziehen. Sie würde weiter bei ihrem Bruder und dessen Familie leben und konnte Tom und Brida nur dankbar sein.

Nichtsdestotrotz war Joan nicht mehr das junge Mädchen, das Tom nach dem Brand gesucht hatte, sobald er aus Aquitanien zurückgekehrt war. Doch noch immer wurde sie wie ein solches behandelt. Und das nicht nur von ihrem Bruder oder von Brida, sondern auch von Männern wie Warin de Talmont, die ebenfalls zu wissen meinten, was das Beste für sie war.

Das war einfach erdrückend! Warin de Talmont hatte sie gestern nach Hause gebracht, und die Begegnung mit ihm beschäftigte sie noch immer. In der Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden. Es verstimmte sie, dass er sie wegen ihres Besuchs in All Hallows getadelt hatte, als ob es ihr an Verstand und Urteilsvermögen mangelte.

Zweifellos hielt er sie für eine leichtsinnige und unvernünftige Frau. In der Tat hatte er sie wie ein Kind behandelt, als wäre sie wie ihr kleiner Neffe, der gerade das Apfelstück fallen gelassen hatte und jetzt an seinem Holzspielzeug lutschte.

Joan wusste, dass Warin de Talmont sie als Ärgernis betrachtete. Selbstverständlich hatte es in seinen Augen so ausgesehen, als ob sie dringend einen Retter brauchte, als er sie auf Händen und Knien im Dreck einer belebten Londoner Straße erblickt hatte. Wie demütigend! Jetzt spielte es zwar keine große Rolle mehr, doch die Zurechtweisungen des Mannes nagten noch immer an ihr.

So war es auch im Sommer vor zwei Jahren gewesen, als er ihr Geleitschutz gewährt hatte, weil ihr Bruder anderweitig beschäftigt gewesen war. Warin de Talmont hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass er die ihm übertragene Aufgabe als lästige Pflicht empfand. Joan hatte diesen Mann, dem sie nie zuvor begegnet war, nicht darum gebeten. Sie hatte sich lediglich an Toms Anweisung gehalten, den Aufenthaltsort zu wechseln, bis die Lage wieder sicher war. Und nun hatte ihr Bruder erneut Warin de Talmont gebeten, auf sie aufzupassen, während er nicht in London war. Wie beschämend!

Joan schloss die Augen und atmete die Düfte des Obstgartens ein, während die Blätter über ihr im Wind raschelten. Die Geräusche und Gerüche waren hier ganz andere als in den lauten, schmutzigen, aber lebensprallen Straßen, durch die sie gestern gegangen war. Und obwohl sie die saubere Luft, die berauschenden Blütendüfte und die Ruhe, die sie im ummauerten Garten ihres Bruders umgab, liebte, fühlte sie sich in dem bunten Treiben innerhalb der Stadtmauern viel lebendiger. Und es bedeutete ihr viel, die Church of All Hallows zu unterstützen, in der Nächstenliebe nicht nur gepredigt wurde. Joans Einsatz für die Waisenkinder und die anderen Bedürftigen ging weit über symbolische Wohltätigkeit hinaus.

Wie sie Warin de Talmont am Vortag erklärt hatte, verlieh genau das ihrem Leben einen Sinn. Sie wollte nicht zwischen den Mauern dieses schönen Hauses und seines Gartens gefangen sein, so gut die Luft und so erbaulich die Gesellschaft auch sein mochten. Ihre Unterstützung der Armen gab Joan das Gefühl, mehr zu sein als jemand, dessen Möglichkeiten beschränkt waren. Die meisten Menschen, denen Joan sonst begegnete, achteten nur darauf, wie schlecht sie sah. Dann folgte das unerträgliche Mitleid, wenn sie erfuhren, dass ihre Erkrankung zur Erblindung führen würde.

Das Nachlassen der Sehkraft bestimmte ihr Leben und schränkte es ein, sosehr sie auch dagegen ankämpfte. Und obwohl Joan es hasste, deswegen anders behandelt zu werden als andere, blieb ihr keine andere Wahl, als ihr Los zu akzeptieren. Gott allein wusste, wie schwer es ihr fiel, einer immer größeren Finsternis entgegenzugehen. Manchmal fragte sie sich, ob es nicht ein Segen gewesen wäre, blind geboren worden zu sein, anstatt sich mit diesem grausamen schrittweisen Verlust abfinden zu müssen. Wie würde es sein, nie wieder das frische Grün der Wiesen im Frühling oder den Sommerhimmel in der Abenddämmerung zu sehen? Aber von allen Dingen, die Joan vermissen würde, war es vor allem das Lächeln ihres Neffen, das sich von dem eines Babys zu dem eines Mannes wandeln würde. Bei diesem Gedanken zog sich ihre Brust zusammen, und sie schob ihn beiseite. Sie konnte es sich nicht erlauben, in Selbstmitleid zu versinken, denn das würde den Schmerz nur vergrößern.

Als sie Schritte hörte, hob Joan den Kopf und schenkte Brida, die sich mit zwei Bediensteten näherte, ein Lächeln. Ein Page legte ein großes Kissen für die Hausherrin auf die Decke. Brida erwartete bald ihr zweites Kind und setzte sich vorsichtig neben ihren kleinen Sohn. Eine junge Dienstmagd stellte eine Platte mit Wurst, Käse, warmem Brot und Früchten vor ihr ab.

„Ich dachte, wir könnten unsere Mahlzeit heute draußen genießen, nachdem es so unerwartet warm geworden ist.“

„Eine ausgezeichnete Idee! Das sieht nach einem wahren Festmahl aus, Brida.“ Joan ließ die Blicke über die Decke schweifen und erkannte den verschwommenen Umriss des Messers. Sie beugte sich vor, legte die Finger um den Griff und wollte gerade einen weiteren Apfel zerschneiden, als Brida ihr mit einer Hand Einhalt gebot.

„Lass mich das für dich machen, Joan.“

Sie wusste, dass ihre Schwägerin es gut meinte und ihr nur aus Freundlichkeit Hilfe anbot, doch Joan hätte am liebsten laut geschrien. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können, als würde sie an einer Welt ersticken, die immer enger und kleiner wurde.

„Danke, aber das kann ich selbst“, murmelte sie gereizt und viertelte den Apfel.

„Ja, natürlich. Ich wollte dir nur helfen.“

Sofort bekam Joan Schuldgefühle.

„Ich weiß, Brida. Bitte verzeih mir meine Unhöflichkeit. Ich weiß auch nicht, weshalb ich schon den ganzen Tag so gereizt bin.“

Brida lehnte sich gegen das Kissen und spielte mit ihrem Sohn, bevor sie wieder zu Joan blickte. „Du bist aber nicht verstimmt, weil Sir Warin dich gestern zurückgebracht hat, oder?“

„An ihn habe ich überhaupt keinen Gedanken mehr verschwendet.“

Lügnerin …

Die Wahrheit war, dass Joan an kaum etwas anderes gedacht hatte. Der Mann faszinierte und erzürnte sie in gleichem Maße – und die Art und Weise, wie ihr Körper auf ihn reagierte, machte alles noch schlimmer. Selbst in der übelriechenden Umgebung, in der sie ihm gestern begegnet war, vernebelte sein verlockender frischer Duft ihr die Sinne. Und als sie seinen festen und doch sanften Griff um ihren Ellbogen gespürt hatte, während er sie durch die engen Gassen führte, war die Wärme seiner Berührung durch den Stoff auf ihre Haut übergegangen und eine unbeschreibliche Hitze hatte ihren ganzen Körper erfüllt. Dieser hünenhafte Mann mit den breiten Schultern und dem dunklen, beinahe schwarzen Haar war der Inbegriff eines starken, kampferprobten Ritters. Und selbst seine Gesichtszüge waren höchst ansprechend, was Joan schon vor zwei Jahren aufgefallen war, als ihr Sehvermögen noch etwas besser gewesen war. Seine Augen waren grau, und sein Lächeln war umwerfend. Ja, es ließ sich nicht leugnen, dass er sehr stattlich und gutaussehend war. Doch er war viel zu scharfsinnig, und seine wissende Art machte sie wütend.

„Du bist ja rot geworden, Joan.“

„Wirklich?“ Sie aß ein Stück Apfel und kaute langsam, bevor sie schluckte. „Nur, weil ich zu lange draußen in der Sonne gesessen habe.“

Die Schwägerin schmunzelte und schüttelte den Kopf. „Vielleicht liegt es auch an etwas ganz anderem.“

In Wahrheit haderte sie mit Warin de Talmonts Bestimmtheit, so gut er auch aussehen mochte. Beinahe hatte er sie gezwungen, einen Schwur abzulegen, nie wieder nach All Hallows zurückzukehren.

Ganz gleich, was sie gesagt hatte, Joan war nicht bereit, dieser kleinen, aber würdigen Kirchengemeinde die Unterstützung zu entziehen. Zweifellos konnte sie auch irgendein wohltätiges Vorhaben in der Nähe ihres Zuhauses finden, wie Warin de Talmont ihr nahegelegt hatte, doch in dieser wohlhabenden Gegend außerhalb der Stadttore war es nicht dasselbe. Außerdem mochte sie die Gemeindemitglieder und den jungen Priester von All Hallows, der für ihre Ideen und Vorschläge aufgeschlossen war. Das gab ihr das Gefühl, eine Aufgabe zu erfüllen und wertvoll und nützlich zu sein.

Aber vielleicht dachte sie viel zu viel darüber nach – immerhin war es wahrscheinlich, dass Warin de Talmont das kleine Kreuz gar nicht fand. Selbstverständlich wollte sie nicht, dass er bei seiner Suche scheiterte – allein der Gedanke an den endgültigen Verlust des Andenkens war ihr unerträglich.

„Oder hat der Mann vielleicht Eindruck auf dich gemacht?“ Brida hob fragend eine Braue.

„Oh ja, er hat sehr großen Eindruck auf mich gemacht. Seine Manieren sind so angenehm, findest du nicht?“, erwiderte Joan und tippte sich mit einem Finger gegen das Kinn. „Ich kann nicht sagen, ob ich ihn lieber mag, wenn er nur finster dreinschaut oder wenn er finster dreinschaut und gleichzeitig mit mir schimpft.“

Brida schüttelte den Kopf und lachte leise in sich hinein. „Er weiß eben, dass Tom nicht in London ist. Ich persönlich bin froh, dass dein Bruder den zuverlässigen Warin de Talmont gebeten hat, auf uns aufzupassen. Insbesondere auf dich, Joan. Warum hast du mir nicht erzählt, wo du hinwolltest? Ich habe dein Verschwinden nicht einmal bemerkt.“

„Ich habe einfach nicht daran gedacht. Aber ich verspreche dir, dich beim nächsten Mal über meine Unternehmungen auf dem Laufenden zu halten.“

„Beim nächsten Mal? Nein, Joan, es kann kein nächstes Mal geben.“ Brida strich ihrem Sohn über das Haar und sah ihr ins Gesicht. „Ich weiß, dass Tom es niemals erlauben würde. Erst recht nicht, solange er nicht in London ist.“

„Das kannst du nur vermuten, und ich dachte, dass du mir vertraust.“

„Dir vertraue ich, aber nicht jedem anderen in dieser gefährlichen Stadt.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. „Außerdem gibt es gewisse Dinge, von denen du keine Kenntnis hast und die solche Ausflüge noch gefährlicher machen, wenn dein Bruder weg ist.“

Joan runzelte die Stirn. „Ich nehme an, du kannst mir nicht erzählen, worum es geht?“

„Nein, das kann ich nicht.“

Joan teilte ein Brötchen in zwei Hälften und stopfte missmutig ein Stück Käse in den Zwischenraum. „Wie ich sehe, vertraust du mir also doch nicht.“

„Das ist weder gerecht noch wahr.“

„Wirklich nicht?“

Brida legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den rechten Unterarm.

„Sag mir, warum es für dich wichtig ist, dich dort aufzuhalten?“

Wie sollte Joan es ihr erklären? Wie konnte sie ihrer Schwägerin begreiflich machen, was es für sie bedeutete, wenigstens dieses bisschen Freiheit zu haben – gerade genug, um für diese kleine Kirchengemeinde etwas zu bewirken?

„Das kann ich nicht so einfach erklären, Brida. Doch eines kann ich dir sagen“, sie holte tief Luft, „es gibt mir einen Frieden, wie ich ihn selten woanders gefunden habe.“

„Ich verstehe. Aber warum ausgerechnet dort?“

„Weil es eine kleine unbedeutende Kirche ist – so unbedeutend und leicht zu übersehen, dass viele an ihr vorbeigehen, um die berühmteren Gotteshäuser in der Nähe zu besuchen – St. Mary-le-Bow zum Beispiel oder St. Paul’s. Und doch steckt in All Hallows so viel mehr als das, was man angesichts der bescheidenen Fassade vermutet.“

Brida drückte ihrer Schwägerin freundschaftlich die Hand, und Joan musste lächeln.

„Es bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?“

„Ja“, flüsterte Joan. „Mehr als ich in Worte fassen kann.“ Sie hoffte, dass sie überzeugend genug klang, um Bridas Unterstützung für weitere Besuche in All Hallows zu erwirken.

In diesem Moment vernahm sie erneut Schritte, bevor eine tiefe Stimme zu vernehmen war, die alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

„Guten Tag, Myladies!“ Warin de Talmont verließ den Kiesweg und schritt über die Wiese auf sie zu. „Mir wurde gesagt, dass ich Euch hier finden würde. Nein, nein, bitte steht nicht auf.“

Brida blickte erfreut hoch und schenkte dem Mann ein strahlendes Lächeln. „Guten Tag, Sir. Was verschafft uns das Vergnügen Eures Besuchs? Ihr werdet es kaum glauben, aber wir haben erst vor wenigen Augenblicken von Euch gesprochen. Und jetzt seid Ihr hier.“

Joan spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten, während ihre Schwägerin den Gast gutgelaunt willkommen hieß. Der Mann war nun so nah, dass Joan sein belustigtes Lächeln sehen konnte.

„Ja, hier bin ich.“ Er neigte den Kopf und verbeugte sich flüchtig. „Und ich wage zu behaupten, der Überbringer von etwas Wertvollem zu sein.“

„Oh, und was soll das sein?“

„Hier, das habe ich schließlich doch noch finden können.“ Er hielt Joan das kleine bemalte Holzkreuz hin. „Ist es das, was Ihr verloren habt? Die Farben sind so, wie Ihr sie mir beschrieben habt.“

Eine unerwartete Hitze schoss ihr den Arm hinauf, als sie mit den Fingern seine ausgestreckte Handfläche streifte.

„Oh ja, Sir Warin, das ist es.“ Sie lächelte zu ihm auf. „Wie kann ich Euch jemals danken?“

Joan erkannte sofort ihren Fehler, als sie sah, wie sich ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen des Besuchers ausbreitete. Und weshalb achtete sie überhaupt auf seine Lippen? Schon wieder. Möglicherweise bildete sie sich das Lächeln auch nur ein, so selten wie dieser Mann zu lächeln pflegte. Auf jeden Fall hatte er herausfordernd eine Braue gehoben, als ob er sie an ihre Abmachung erinnern wollte. Verständlicherweise. Er wollte, dass sie sich an ihr Versprechen hielt. Aber bedeutete ihr Schwur, sich um die Bedürftigen von All Hallows zu kümmern, nicht mehr als jedes Zugeständnis, das sie diesem mürrischen Mann gegeben hatte, der sich ungebeten in die Angelegenheiten einer erwachsenen Frau einmischte?

„Ich hatte keine Ahnung, dass du den Anhänger verloren hast, Joan.“

„Oh, ich hatte ihn nur verlegt – nicht wahr, Sir Warin?“

Wie gut ihr die Lüge über die Lippen kam. Eilig warf sie ihm einen flehentlichen Blick zu, in der Hoffnung, er würde Brida nicht erzählen, was wirklich vorgefallen war.

„Ja, in der Tat, Mistress. Es war genau dort, wo Ihr es verlegt zu haben glaubtet. Und wirklich, Euer Dank ist nicht vonnöten. Es war mir ein Vergnügen, Euch zu Diensten zu sein. Und natürlich braucht Ihr jetzt, da Ihr den Anhänger wieder in Händen haltet, nicht mehr an diesen Ort zurückzukehren.“

„Das habe ich auch nicht vor, Sir“, murmelte sie beschwichtigend, obgleich sein warnender Unterton sie erzürnte.

Er nickte nur kurz. „Gut, ich bin froh, dass wir uns verstehen, Mistress Joan.“

„Ich auch“, erwiderte sie und biss in ein Viertel des knackigen Apfels.

Brida blickte fragend von Warin de Talmont zu Joan. „Verzeih mir, aber ich dachte, du …“

Joan schüttelte entschieden den Kopf in der Hoffnung, Brida würde nicht preisgeben, dass Joan nicht die Absicht hatte, der kleinen Kirchengemeinde in der Honey Lane den Rücken zu kehren. Auf keinen Fall wollte sie sich noch mehr von Warin de Talmonts Zurechtweisungen anhören. Obschon der Ritter keine Befugnis hatte, über Joan zu bestimmen, konnte er ihr das Leben schwer machen, wenn er ihren Bruder über ihre eigenwilligen Unternehmungen in Kenntnis setzte.

„Was genau wolltet Ihr tun, Mistress Joan?“, fragte der Mann misstrauisch.

„Ich wollte … sicherstellen, dass Ihr wie alle unsere Gäste von unseren köstlichen Äpfeln probiert.“ Sie reichte ihm einen Apfel. „Möchtet Ihr nicht davon kosten, Sir?“

Joan spürte seine bohrenden Blicke, als er nach der Frucht griff, einen Dank murmelte und hineinbiss.

„Aber ja doch, wo bleiben meine Manieren?“ Brida rieb sich die Stirn. „Setzt Euch doch bitte zu uns und bedient Euch, Sir Warin. Darf ich Euch einen Kelch Wein anbieten? Oder etwas Ale zu Stärkung, bevor Ihr wieder in die Stadt zurückkehrt?“

„Nein, vielen Dank.“ Er verbeugte sich steif. „Ich werde Eure Bediensteten nur bitten, meine Trinkflasche aufzufüllen, und dann muss ich mich auf den Weg machen.“

„Gewiss, Sir. Mein Page wird sich darum kümmern.“

Sir Warin verbeugte sich noch einmal, bevor er sich zum Gehen wandte.

„Nochmals herzlichen Dank, Sir, dass Ihr mir das kleine Kreuz zurückgebracht habt. Wie ich bereits erwähnte, bedeutet es mir sehr viel!“, sagte Joan eilig.

„Und wie ich bereits erwähnte, war es mir ein Vergnügen und eine Ehre, Euch zu Diensten zu sein.“ Er drehte sich noch einmal um und blickte in ihre Richtung. „Und es wird das Beste sein, wenn Ihr das beherzigt, was ich Euch gestern nahegelegt habe, Mistress. Insbesondere, wenn Ihr in Betracht zieht, wie es dazu kam, dass Ihr den Anhänger verlegt habt.“

Großer Gott, der Mann war unausstehlich!

„Gewiss werde ich Eure weisen Worte beherzigen, Sir. Ich wünsche Euch noch einen guten Tag.“

Und auf Nimmerwiedersehen!

3. KAPITEL

Diese Frau raubte ihm noch den Verstand! Was für ein Ausbund an Widerspenstigkeit! Trotz aller Warnungen und Ermahnungen wusste Warin genau, dass Joan Lovent auf nichts von dem hören würde, was er gesagt hatte. Kein bisschen! Sie hatte ihm nur leere Versprechungen gemacht und würde erneut durch eines der Stadttore kommen und sich auf den Weg zur All Hallows Church in der Honey Lane machen.

„Bitte rufe mir noch einmal ins Gedächtnis, weshalb wir uns hier herumtreiben?“ Nicholas d’Amberly runzelte die Stirn und lehnte sich gegen eine Hausmauer.

„Wir sind hier, um zu beobachten, wie jemand sein Wort bricht und einen Vertrauensbruch begeht“, antwortete Warin.

„Um so viel geht es also?“, murmelte Nicholas und hob eine Braue. „Ich dachte, wir sollten das mögliche Auftauchen einer bestimmten Frau überwachen – einer törichten Jungfer, die erst vor ein paar Tagen unsere wichtigste Mission vereitelt hat. Ich hätte große Lust, sie zu fragen, was sie hier zu suchen hatte.“

„Du kannst gern versuchen, ihr etwas mehr Verstand einzuflößen. Aber bitte vergiss nicht, dass sie mit Thomas Lovent verwandt ist und nichts von dem weiß, was wir oder ihr Bruder für die Krone tun.“

„Wie dem auch sei, es ist bedauerlich, dass du ihr zu diesem entscheidenden Zeitpunkt zu Hilfe eilen musstest, mein Freund. Wir haben so viele Wochen gebraucht, um diesen Bastard aufzuspüren, der mit den Dracones unter einer Decke steckt.“

Warin war bewusst, was auf dem Spiel stand. Er wusste, dass die ruchlosen Verschwörer es darauf abgesehen hatten, das Königreich in Angst und Chaos zu stürzen. Sein Lehnsherr Hubert de Burgh hatte London zusammen mit Thomas Lovent verlassen, um die unbegründeten Vorwürfe zu zerstreuen, er habe die Vergiftung des Grafen von Salisbury veranlasst. Da das ranghöchste Mitglied ihres Geheimordens nicht zugegen war, war es an Warin und den anderen in London verbliebenen Rittern, der wachsenden Bedrohung zu begegnen, die sich in den letzten Wochen immer deutlicher abzeichnete.

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