Ein Daddy für Henry

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Die zarte Brünette, der süße Bengel an ihrer Seite - als die beiden sein Restaurant verlassen, tut es Dylan fast leid. Dann sieht er, dass sie in einem Auto auf dem Parkplatz schlafen: Er muss helfen! Auch wenn Mutter und Söhnchen morgen wieder aus seinem Leben verschwinden …


  • Erscheinungstag 19.08.2019
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749842
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Und was jetzt?

Niedergeschlagen und erschöpft nahm Chelsea Bell ihren vierjährigen Sohn an die Hand und ging mit ihm zu dem schäbigen Chevy Malibu zurück, mit dem sie die zweihundertsechzig Meilen von Pueblo nach Steamboat Springs, Colorado, gefahren waren.

Henry fragte nicht, warum sie zu ihrem Wagen zurückkehrten. Er kam bereitwillig mit, den kleinen Körper gegen den eisigen Wind gestemmt. Was erstaunlich war, da sie ihm wenige Minuten zuvor noch versichert hatte, dass sie endlich an ihrem Ziel angekommen waren und dieses schöne Haus hier mit der tollen Aussicht auf die Berge ihr neues – wenn auch nur vorübergehendes – Zuhause sein würde.

Der Haussitter-Job wäre genau das Richtige für einen Neuanfang gewesen. Fünf Monate lang ein Dach über dem Kopf und ein anständiges Gehalt bedeuteten, dass sie Zeit haben würde, sich einen festen Job und eine kleine, günstige Wohnung zu suchen. Leider hatte sie nur wenige Sekunden nach ihrer Ankunft erfahren müssen, dass sie die weite Strecke vergeblich zurückgelegt hatte. Der Job war nämlich schon an jemand anderen gegangen – und schuld daran war die Kombination aus einer gehörigen Portion Pech, schlechtem Timing und ihren falschen Entscheidungen.

Zuerst hatte ihr Wagen gestreikt und schnell noch repariert werden müssen. Der Mechaniker riet ihr, sich einen neueren Wagen zuzulegen, anstatt Geld in die alte Schrottkiste zu stecken, aber natürlich hatte sie sich keinen neueren Wagen leisten können und sich daher für die provisorische Lösung entschieden und einen Teil ihrer ohnehin schon mageren Ersparnisse dafür geopfert.

Dann war Henry ausgerechnet an ihrem Abreisetag mit Magen-Darm-Grippe aufgewacht, was die Abfahrt noch weiter hinausgezögert hatte. Chelsea hatte ihre künftigen Arbeitgeber zwei Mal angerufen und ihnen jeweils eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen, bevor auf ihrer Handykarte kein Guthaben mehr war, hatte jedoch nicht direkt mit ihnen gesprochen. Da sie ohnehin schon so viel Geld für ihren Wagen ausgegeben hatte und vielleicht noch ausgeben musste, hatte sie beschlossen, ihre rasch dahinschwindenden Finanzen zusammenzuhalten und die Karte vorerst nicht wieder aufzuladen.

Offensichtlich ein Fehler, denn als die Hausbesitzer vergeblich versucht hatten, sie zu erreichen, waren sie davon ausgegangen, dass sie abgesprungen war. Was Chelsea ihnen nicht verdenken konnte. Vermutlich hätte sie in der gleichen Situation ähnlich reagiert. Zu verstehen, warum sie sich jetzt in diesem Dilemma wiederfand, änderte jedoch nicht das Geringste an ihrer Zwangslage.

Kein Zweifel, sie steckte tief in der Patsche.

Zitternd vor Angst und vor Kälte öffnete Chelsea die Tür zum Rücksitz ihres Wagens. „Spring rein, Schatz“, sagte sie so fröhlich wie möglich. „Sieht so aus, als hätten unsere Pläne sich geändert. Was hältst du davon, wenn wir etwas essen gehen? Du hast bestimmt Hunger.“

„Ich dachte, wir bleiben hier.“ Henry kletterte auf seinen Kindersitz und rieb sich die Augen. Anders als die meisten Kinder schlief er nie gut im Wagen, sodass die lange Fahrt ihn ausgelaugt hatte. Wie Chelsea, aber sie war an den Zustand ständiger Erschöpfung gewöhnt. „Ich will nicht weiterfahren.“

„Wir fahren nicht mehr lange“, versprach sie. „Ich habe in der Stadt mehrere Restaurants gesehen und dachte, wir essen Burger mit Pommes.“ Sie schnallte ihn an und zauste ihm das sandfarbene Haar. „Es sei denn, du willst lieber ein Erdnussbuttersandwich?“

Um für die Reise zu sparen, hatten sie sich in den letzten Wochen fast nur von Erdnussbuttersandwiches ernährt. Ihr Sohn würde sich bestimmt für sein Lieblingsessen in einem echten Restaurant entscheiden. Eine Extravaganz, die Chelsea sich zwar absolut nicht leisten konnte, aber der Kleine brauchte nun mal etwas zu essen und sie eine Pause, um zu überlegen, wie es jetzt weitergehen sollte.

„Au ja, Burger!“ Henrys kleines Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Und ein Root Beer!“

„Milch“, widersprach sie. „Du hattest schon eine Limonade, als wir an der Tankstelle waren.“

„Saft?“

„Nein, Milch“, wiederholte sie, bevor sie die Tür zuschlug. Ihr Sohn war ein echtes Verhandlungsgenie.

Sie setzte sich hinters Steuer und steckte mit einem stummen Stoßgebet gen Himmel den Schlüssel ins Zündschloss. Der Motor stotterte und hustete, bevor er ansprang. Erleichtert seufzte sie auf und fuhr rückwärts aus der Einfahrt.

Henry blieb während der Fahrt ruhig. Vermutlich war er müde oder dachte noch über die Milch-Debatte nach. Chelsea holte tief Luft und versuchte, ihre aufkeimende Panik zu unterdrücken. Ihre Lage war schlimm. Richtig schlimm. Abgesehen von Henry – der sich darauf verließ, dass sie für ihn sorgte –, war sie allein in einer fremden Stadt, fast ohne Geld und ohne Dach über dem Kopf.

Tränen schossen ihr in die Augen.

Sollte sie umdrehen und nach Pueblo zurückkehren? Sie brauchte keinen Blick in ihr Portemonnaie zu werfen, um zu wissen, dass sie nur noch eine Fünfdollarnote und zwei Zwanziger besaß. Dazu ein paar Dollar in ihrer Manteltasche und vielleicht etwas Wechselgeld in ihrer Handtasche. Alles in allem keine fünfzig Dollar. Vielleicht gerade genug, um sie nach Pueblo zurückzubringen. Falls ihr Wagen während der Rückfahrt nicht endgültig den Geist aufgab. Aber wozu?

Sie hatte schon fast ihr ganzes Geld ausgegeben, und ehrlich gesagt zog sie nichts nach Pueblo zurück. Kein Zuhause. Kein Job. Keine echten Freunde.

Henrys Vater – wenn man Joel Marin überhaupt so bezeichnen konnte – war verschwunden, nachdem er von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. Jahrelang hatte sie kein Wort von ihm gehört, bis sie vor sechs Monaten plötzlich eine Postkarte von ihm bekam – eine verfluchte Postkarte aus Kalifornien –, auf der stand, dass er gerade an sie dachte und Hallo sagen wollte.

Wie bitte?! Fast fünf Jahre lang kein Wort, keine Unterstützung, kein Interesse an Henry, und dann das?! Und wie hatte er überhaupt ihre Adresse herausgefunden?

Chelsea hatte die Karte einfach in den Müll geworfen und den Gedanken an Joel verdrängt. Bis sie vor zwei Monaten erfuhr, dass er wieder in Pueblo war. Bisher war er nicht bei ihr aufgetaucht, aber allein die Tatsache, dass er in derselben Stadt lebte wie sie, hatte gereicht, dass sie die Entscheidung traf, ihre Sachen zu packen und wegzuziehen.

Sie wollte nichts mehr mit Joel Marin zu tun haben. Nie wieder. Und vor allem wollte sie ihn von Henry fernhalten. Ihr Sohn verdiente etwas Besseres als einen unreifen und verantwortungslosen Vater!

Also blieben ihr jetzt genau zwei Optionen: pleite, allein und ohne ein Dach über dem Kopf nach Pueblo zurückzukehren und damit rechnen zu müssen, dass Joel wieder in ihr Leben trat, oder fast pleite, allein und ohne ein Dach über dem Kopf in Steamboat Springs zu bleiben, aber ohne sich wegen Joel Sorgen zu machen.

Ein unangebrachtes Lachen stieg in ihr auf. So betrachtet, war die Entscheidung leicht. Lieber das bisschen Geld sparen, das sie noch hatte, und ihr Glück hier versuchen, als an einen Ort zurückzukehren, den sie schon immer hatte verlassen wollen.

Okay, Entscheidung gefällt. Jetzt brauchte sie nur noch einen Neuanfang. Und irgendwie würde sie ihn hinkriegen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie sich gegen widrige Umstände durchsetzte.

„Okay, Mommy“, sagte Henry vom Rücksitz aus. „Du hast gewonnen, ich trink Milch.“

„Wirklich? Gut zu wissen.“

„Ja! Aber mit Kakao!“

Chelsea wollte ihm schon widersprechen, doch dann gab sie nach. „Ich glaube, das lässt sich einrichten“, sagte sie amüsiert – trotz ihrer Ängste. Die Hartnäckigkeit ihres Sohns rief ihr immer wieder ins Gedächtnis, worauf es ankam. Sogar wenn die Welt um einen herum in Stücke zu zerbrechen drohte. Also würde Henry jetzt seinen Kakao bekommen, und dann würde Chelsea irgendeine Lösung einfallen. Irgendwie würde es schon weitergehen. „Danke, Henry.“

„Wofür?“

„Ach, keine Ahnung. Einfach dafür, dass du du bist?“

Henry lachte – ein Lachen, dessen Normalität und Lebensfreude etwas Tröstliches hatte und neue Hoffnung weckte. „Ich bin gern ich“, sagte er. „Das ist ganz leicht. Und macht Spaß!“

Nach diesem Motto sollte jeder leben, dachte Chelsea trocken, als sie auf den Parkplatz von Foster’s Pub and Grill bog.

Dylan hob den Blick, als die Tür des Restaurants aufging. Ein kleiner Junge stolperte herein, dicht gefolgt von einer Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach seine Mutter war. Sogar auf die Entfernung sahen die beiden etwas ramponiert und zerzaust aus. Und erschöpft, wenn er die hängenden Schultern der Frau richtig deutete.

Die Frau nahm ihren Sohn an eine Hand und ging mit ihm zu dem einzigen freien Tisch – einem winzigen für zwei Personen in der Nähe des Tresens. Sie zogen ihre Jacken aus und setzten sich. Die Frau – groß, etwas zu schmal und mit dunklen Haaren – schloss die Augen und atmete tief durch.

Ohne lange nachzudenken, griff Dylan nach zwei Speisekarten und ging zu ihnen hinüber. Natürlich nicht, weil sie ihn interessieren würden. Er half nur kurz aus. Das Foster’s war an dem Abend nämlich unterbesetzt, sodass seine Schwester Haley, die normalerweise im Büro arbeitete, zusätzlich bedienen musste. Da konnte es nicht schaden, sie etwas zu entlasten.

Allerdings war Haley eine erstklassige Kellnerin. Die neuen Gäste würden ihr schon auffallen. Was die Frage aufwarf, warum er sich dafür zuständig fühlte, den beiden die Speisekarten zu bringen. Zumal am Tresen eine Menge los war. Ach, egal, er würde einfach die Karten auf den Tisch legen und verschwinden. Den Rest konnte Haley dann übernehmen.

„Guten Abend“, begrüßte er sie, als er ihnen die Speisekarten reichte. „Wir haben heute mehrere Tagesspezialitäten, darunter …“

„Ich will einen Hamburger und ein Root Beer, aber Mommy sagt, ich muss Milch trinken“, unterbrach der Junge ihn lebhaft. „Also nehme ich Kakao und Pommes. Mit Dip!“

„Ranch-Dressing“, warf seine Mutter ein. „Und der Burger sollte durch sein und nur mit Käse und Senf belegt. Haben Sie …? Gibt es auch Kinderportionen?“

„Ja, gibt es.“ Dylan unterdrückte ein Grinsen wegen des Kleinen. Der Racker freute sich so auf seinen Burger, dass er ganz aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Was für ein aufgeweckter Kerl!

Dylan zog den Bestellblock aus der Tasche seiner Schürze und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Mutter, die, wie er feststellte, recht hübsch war. „Und was ist mit Ihnen? Brauchen Sie noch einen Moment, oder soll ich Ihnen die Tagesspezialitäten nennen?“

Diese Frage schien die Frau seltsamerweise in Verlegenheit zu bringen. Errötend senkte sie den Blick zum Tisch. „Oh. Ich … habe schon gegessen. Vielleicht eine Tasse Kaffee?“

„Stimmt doch gar nicht!“, widersprach der Junge. „Du hast nichts gegessen, seit wir heute Morgen ganz neu angefangen haben. Und da hast du nur ein Erdnussbuttersandwich gehabt und ein Glas Wasser.“

„Henry, ich …“ Sie sah ihn an und zuckte die Achseln. „Du hast recht, aber ich habe keinen richtigen Hunger, also …“, sie richtete den Blick auf Dylan, „… bitte nur den Kaffee.“

„Klar.“ Dylan notierte die Bestellung. Das gab ihm einen Moment Zeit, das, was er gerade mit angehört hatte, zu verdauen. Der Wortwechsel und die dunklen Augenringe der Frau ließen darauf schließen, dass sie Geldsorgen hatte. Nicht dass ihn das etwas anging. „Dann also einen Kaffee. Wie trinken Sie ihn?“

„Nur mit Milch.“

„In der Küche ist gerade eine Menge los, also könnte es etwas länger dauern als sonst. Ich lasse Ihnen zum Ausgleich einen Korb mit Brot bringen. Geht natürlich aufs Haus.“

„Das ist nicht nötig.“

„Mag sein, aber so machen wir das hier nun mal.“ Dylan drehte sich um und ging, bevor er der Frau womöglich noch eine freie Mahlzeit anbot. Denn genau das hätte er am liebsten getan, so hirnrissig das auch war. Er rettete grundsätzlich keine Frauen, die in einer Notlage waren. Nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Außerdem hatte sie ja vielleicht wirklich keinen Hunger … und auch keine Geldsorgen.

Vielleicht hatte er die Signale ja ausnahmsweise mal völlig falsch gedeutet.

„Mm, lecker!“, sagte Henry, als er die letzte Fritte in das Ranch-Dressing tunkte. „Ich mag unseren Neuanfang. Jetzt, wo wir nicht mehr fahren müssen, meine ich“, fügte er hastig hinzu.

„Das müssen wir definitiv nicht mehr, Schatz.“ Chelsea riss ein Stück Brot ab und kaute es langsam. Sie hatte tatsächlich Hunger gehabt, aber Henrys Gericht, ihr Kaffee und das Trinkgeld überstiegen ihre Verhältnisse weit. Also war sie trotz ihres Protests dankbar für das Brot.

Klar, sie hatten immer noch ein halbes Glas Erdnussbutter und ein Brot im Wagen und noch dazu Cracker, Müsliriegel und Saft. Sie wäre nicht gerade verhungert, aber es hätte ihr widerstrebt, an dem Abend noch auf ihre Vorräte zurückzugreifen. Schließlich würden sie vielleicht noch lange reichen müssen.

Als Henry seinen Burger aufgegessen hatte, hatte Chelsea die restlichen Dollar aus ihrer Manteltasche und das Wechselgeld aus ihrer Handtasche genommen und gezählt. Jetzt wusste sie zumindest den genauen Betrag: siebenundvierzig Dollar und zweiundsiebzig Cent, mehr nicht. Und wenn sie hier ihre Rechnung bezahlt hatte, blieben noch exakt siebenunddreißig Dollar und zweiundzwanzig Cent übrig.

Chelsea würde ihren Stolz hinunterschlucken und jemanden um Hilfe bitten müssen. Viele Optionen hatte sie nicht. Ihre Schwester Lindsay könnte sie fragen, falls es ihr gelang, sie zu kontaktieren, ohne dass deren Mann es mitbekam. Das war jedoch riskant.

Kirk war genau wie ihr Vater – ein Typ, der glaubte, dass Frauen nur dazu da waren, Männer von vorn bis hinten zu bedienen, und der Lindsays Leben komplett kontrollierte. Chelsea hatte vor der Hochzeit vergeblich versucht, ihn ihrer Schwester auszureden. Seitdem hatte Kirk nichts unversucht gelassen, sie auseinanderzubringen.

Größtenteils war ihm das auch gelungen, denn aus irgendeinem Grund wollte Lindsay die Wahrheit über ihren Mann nicht wahrhaben. Sie liebte Chelsea zwar und würde ihr sofort Geld schicken, doch Chelsea wollte ihr keinen Ärger machen.

Blieb also nur noch Melissa, eine Kollegin aus dem Diner, die immer sehr lieb zu ihr gewesen und sie vor ihrer Abreise gebeten hatte, in Kontakt zu bleiben. Aber sie war selbst alleinerziehend und hatte daher kaum genug Geld für sich selbst. Sie kam also auch nicht infrage.

Seufzend schüttelte Chelsea den Kopf. Sie hatte sich selbst in diese missliche Lage gebracht und würde sich irgendwie allein daraus befreien müssen. Jetzt stand sie wieder an genau dem Punkt, an dem sie angefangen hatte. Allein, ohne Rücklagen oder auch nur einen Menschen, auf den sie sich verlassen konnte.

Sogar ohne Plan B.

Zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte Chelsea, sie hätte sich nicht fast ihr ganzes Leben lang von allen abgeschottet und zumindest eine Person, der sie vertraute, in ihr Leben gelassen. Das Problem war nur, dass man Menschen erst mal einen Vertrauensvorschuss geben musste, um herauszufinden, ob sie vertrauenswürdig waren oder nicht. Und bis dahin konnten sie großen Schaden anrichten.

Ihrer Erfahrung nach war es das Risiko nicht wert. Aber hätte sie etwas mehr Glück gehabt und es hätte einen solchen Menschen in ihrem Leben gegeben, würde sie sich jetzt vielleicht nicht so einsam und nicht gut genug fühlen.

Ein Gefühl der Verzweiflung überwältigte Chelsea. Ihre einzige wirkliche Priorität in den letzten viereinhalb Jahren war Henry gewesen. Jede Entscheidung hatte sie seinetwegen getroffen, und jetzt … hatte sie versagt. Wenn sie in Steamboat Springs kein Motel fanden, das nur zehn Dollar die Nacht kostete, würden sie im Wagen übernachten müssen.

Lieber Gott, alles, nur das nicht!

Sie zwang sich, tief durchzuatmen, um trotz ihrer Panik einen klaren Kopf zu behalten. Ihr Blick fiel auf den Mann, der ihnen die Speisekarten gebracht hatte.

Er war groß und sehnig und arbeitete mit einer Souveränität hinter dem Tresen, die auf viele Jahre Erfahrung schließen ließ. Irgendwie hatte es eine beruhigende Wirkung auf sie, seine raschen und scheinbar mühelosen Bewegungen zu beobachten. Eine willkommene Ablenkung von ihren düsteren Gedanken. Also sah sie ihm weiter dabei zu, wie er Drinks einschenkte, ab und zu ein paar Worte mit seinen Gästen wechselte und dabei öfter lachte. Er fühlte sich offensichtlich wohl in seiner Umgebung. In seinem Leben. Sie beneidete ihn glühend darum.

Wann hatte sie sich zuletzt so wohl und aufgehoben gefühlt?

Nicht mehr seit dem Tod ihrer Großmutter Sophia. Chelsea war damals dreizehn gewesen. Bis dahin war Sophia Chelseas Zuflucht, ihr einziges Zuhause. Immer wenn sie Stress mit ihren Eltern hatte oder traurig war oder … Fast immer hatte sie sich zu ihr geflüchtet.

Aber Sophia konnte ihr jetzt nicht mehr helfen.

Chelsea nahm sich fest vor, nie wieder in eine solche Lage zu kommen, ganz egal, was sie dafür tun musste! Als Erstes brauchte sie einen sicheren und warmen Ort zum Schlafen für Henry und sich. Morgen, wenn die Sonne aufging, würde sie die ganze Stadt nach einem Job abklappern, egal welchem. Hauptsache, es ging irgendwie voran.

„Ich bin sofort wieder zurück“, sagte sie zu Henry. „Bleib ruhig sitzen.“

Henry hörte auf, mit seinem Strohhalm zu spielen, und setzte sich besorgt auf. „Wohin gehst du? Ich will mit!“

„Ich weiß, aber einer von uns muss hierbleiben, damit wir unseren Tisch nicht verlieren.“ Das stimmte sogar, aber das war es nicht, was Chelsea Sorgen machte. Sie wollte nicht, dass ihr Sohn mitbekam, in welcher verzweifelten Lage sie steckten. „Ich gehe nur kurz da rüber“, sagte sie und zeigte auf den Tresen. „Du kannst mich die ganze Zeit sehen. Ich werde nicht lange brauchen, aber falls du nervös wirst, kannst du jederzeit kommen, okay?“

„Okay“, sagte Henry nach kurzem Zögern.

Sie bückte sich und küsste ihn rasch auf den Kopf. Um ein Wunder betend ging sie auf den schönen antiken Tresen zu. Und den Barkeeper mit dem entspannten Lächeln und den lässigen, fast anmutigen Bewegungen. Sollte es in Steamboat Springs ein billiges – okay, fast kostenloses – Motel geben, wusste er es bestimmt. Und wenn sie ganz viel Glück hatte, fiel ihm vielleicht auch irgendein Job für sie ein.

Es war natürlich demütigend, einen Fremden um Hilfe oder auch nur um einen Rat zu bitten. Sie würde ihm irgendeine Version der Wahrheit erzählen und vielleicht sogar ihr Scheitern eingestehen müssen, damit er ihre Notlage ernst genug nahm.

Die Vorstellung war ihr so unangenehm, dass sie fast einen Rückzieher gemacht hätte. Fast. Denn sie hatte sich doch gerade vorgenommen, nichts unversucht zu lassen. Und dieser Typ da war ihre einzige Option.

Also gab sie sich innerlich einen Ruck und ging weiter.

2. KAPITEL

Dylan sah sie schon aus dem Augenwinkel, bevor er ihre Stimme hörte, was ihn so ablenkte, dass ihm das Bier überlief. Genervt goss er etwas von dem Schaum ab und säuberte das Glas mit einem Lappen.

Würde dieser Abend denn nie enden? Er war schon seit einer Stunde ziemlich durch den Wind – seit er der Frau und dem Kleinen die Speisekarten gebracht hatte. Warum, war ihm schleierhaft. Es war völlig überflüssig, sich Sorgen um irgendwelche Fremden zu machen.

Ganz egal, wie hübsch sie waren.

„Entschuldigen Sie bitte?“, wiederholte die Frau mit den dunklen Haaren etwas lauter. „Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?“

„Ich habe gerade viel zu tun“, erwiderte Dylan schroffer als beabsichtigt und zwang sich zu einem Lächeln. „Warten Sie einen Moment.“

„Natürlich. Kein Problem.“

Erst zehn Minuten später, nachdem er zwei weitere Biere gezapft, mit einem Gast ein paar Worte gewechselt und den Tresen sauber gewischt hatte, kehrte er zu ihr zurück.

„Sie haben wirklich viel zu tun“, sagte sie verlegen, als er vor ihr stehen blieb. „Tut mir leid, dass ich Sie störe, aber ich brauche … einen Rat. Ich nehme an, Sie sind von hier?“

„Kein Problem, und ja, ich bin von hier. Was kann ich für Sie tun?“

Sie errötete. „Also, wir sind heute erst angekommen, wegen eines Jobs. Er … Es wurde nichts daraus. Also wollte ich Sie fragen, ob Sie mir vielleicht ein Motel nennen können, das nicht zu teuer ist? Wir sind nicht wählerisch.“

Dylans Verdacht, dass sie tatsächlich Geldsorgen hatte, bestätigte sich, auch wenn ihm das keine Genugtuung bereitete. Eine Menge Fragen schossen ihm durch den Kopf. Vor allem, warum sie wegen eines Jobs gekommen war, ohne eine Unterkunft zu haben? Das kam ihm unklug und kurzsichtig vor, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass sie ein Kind dabeihatte.

„Das dürfte schwierig werden. Es ist das letzte Skiwochenende, also ist die Stadt voller Touristen. Ich bezweifle, dass Sie überhaupt ein Hotel finden, das noch ein Zimmer frei hat, teuer oder nicht.“

Dabei sollte er es eigentlich bewenden lassen … aber er brachte es nicht fertig. „Ich kann ja mal das Telefonbuch holen und ein paar Motels markieren, wenn Sie wollen. Dann können Sie dort anrufen.“

Die Frau nickte dankbar und sah mit besorgtem Blick zu ihrem Sohn. Ihm fiel auf, dass sie schöne tiefblaue Augen mit langen dunklen Wimpern hatte. Augen, in denen keine Angst – ganz egal, wovor – zu sehen sein sollte.

Autor

Tracy Madison
<p>Die preisgekrönte Schriftstellerin Tracy Madison ist in Ohio zu Hause, und ihre Tage sind gut gefüllt mit Liebe, Lachen und zahlreichen Tassen Kaffee ... Die Nächte verbringt sie oft schreibend am Computer, um ihren Figuren Leben einzuhauchen und ihnen ihr wohlverdientes Happy End zu bescheren. Übrigens bekommt Tracy Madison sehr...
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