Ein Engel mit Geheimnis

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Ein Engel? Witwer Parker Lennox traut seinen Augen nicht, als ihm im dichten Schneegestöber eine Frau mit Flügeln auf dem Rücken begegnet. Die junge Nicole ist so betörend, dass bald längst vergessene Gefühle in ihm erwachen. Allerdings scheint sie etwas vor ihm zu verbergen …


  • Erscheinungstag 16.09.2019
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727468
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Dicke Schneeflocken tänzelten im Licht der Straßenlaternen. Ein hübscher Anblick, dachte Parker Lennox – die sanfte Anmut, mit der sie durch die Luft wirbelten, erinnerte ihn an die Ballettaufführungen, in die seine verstorbene Frau ihn in Boston immer gezerrt hatte.

Kaum zu glauben, dass Bridget seit fast sechs Jahren tot war und er vor sieben Jahren mit ihr zum letzte Mal ein Ballett besucht hatte. Manchmal fand Parker das geradezu absurd. An anderen Tagen hingegen – heute zum Beispiel – hatte er das Gefühl, dass seitdem eine ganze Ewigkeit vergangen war. So oder so, er vermisste seine Frau.

Er vermisste alles an ihr – ihr strahlendes Lächeln, ihr Lachen, die Art, wie sie ihn von der anderen Seite eines Zimmers aus ansah, und wie gut es sich anfühlte, wenn sie sich im Schlaf an ihn schmiegte.

Himmel, sechs Jahre! Wie war das nur möglich?

Ein knappes Jahr nach ihrem Tod war Parker mit seinen beiden kleinen Töchtern Erin und Megan nach Colorado in seine Heimatstadt Steamboat Springs zurückgekehrt, um alldem, was ihn so an Bridget erinnerte, zu entkommen: das Leben in Boston, die Restaurants, Parks und Geschäfte – von ihrem Haus ganz zu schweigen –, alles war eine einzige Qual geworden. Für ihn, und vor allem für seine Töchter.

Erin war erst vier und Megan zwei gewesen, als Bridget ihrer Krebserkrankung nach tapferem Kampf erlegen war. Der Verlust ihrer Mutter hatte die kleinen Mädchen tief verstört. Parker natürlich auch, aber in seinem Alter ging man anders mit seiner Trauer um. Als Erwachsener wusste man, dass der Schmerz irgendwann nachließ.

Seine Töchter jedoch hatten diese Erfahrung noch nicht gemacht, wie ihm eines Morgens schmerzlich bewusst wurde, als er Erin und Megan in die Kleidungsstücke ihrer Mutter gehüllt und weinend in seinem Kleiderschrank gefunden hatte.

An diesem Morgen hatte er endgültig beschlossen, nach Steamboat Springs zurückzukehren, damit die Mädchen es etwas leichter hatten. Also hatte er trotz der Einwände seiner Schwiegereltern sein Haus verkauft, seinen Job gekündigt und sich hier niedergelassen.

In den fünf Jahren seit dem Umzug hatte er diese Entscheidung nur einmal bereut – nach einem fast tödlichen Skiunfall, der seine geliebten Töchter um ein Haar zu Vollwaisen gemacht hätte. In Boston wäre ein solcher Unfall ausgeschlossen gewesen.

Doch Gott sei Dank hatte er alles gut überstanden, und in den vergangenen drei Jahren hatte sich vieles zum Guten gewendet. Seine Töchter blühten förmlich auf, und Parkers vorübergehende Zweifel hatten sich längst in Luft aufgelöst. Steamboat Springs war inzwischen in jeder Hinsicht ihr Zuhause geworden.

Und trotzdem musste er beim Anblick dieser verdammten Schneeflocken an damals denken – an seine wundervolle Frau. An die schönen Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, und an die Jahre, seit der Krebs sie ihnen genommen hatte.

Seufzend bremste Parker an einer roten Ampel drei Blocks von der Grundschule entfernt und riss sich aus seinen Erinnerungen. Zwei Stunden zuvor hatte er seine Töchter von der Schule abgeholt und war mit ihnen essen gegangen, jetzt brachte er sie zum Vorsprechen für die bevorstehende Weihnachtsaufführung zurück. Wenn sie später nach Hause fuhren, würde er die Mädchen ein bisschen aufbleiben lassen, weil Freitag war, und danach würde er noch ein paar Stunden arbeiten, um den Rest des Wochenendes frei zu haben.

In Boston hatte er die Marketingabteilung einer großen Firma geleitet, doch seit er in Steamboat Springs lebte, arbeitete er freiberuflich. Die ersten Jahre waren finanziell nicht ganz einfach gewesen, aber dank Bridgets Lebensversicherung und dem Geld, das nach dem Kauf des Hauses hier vom Verkaufserlös des Hauses in Boston übrig geblieben war, waren sie über die Runden gekommen.

Bis zur Einschulung seiner jüngeren Tochter Megan hatte er ausschließlich von zu Hause aus gearbeitet, dann jedoch drei Meilen von der Schule entfernt ein Büro gemietet. Meistens gelang es ihm, seine Arbeit während der Unterrichtszeit zu erledigen, aber manchmal – so wie heute – musste er noch etwas mit nach Hause nehmen.

Er hatte nicht viel Zeit für sich, aber sein Leben gefiel ihm. Natürlich überkam ihn manchmal ein Gefühl der Trauer, wenn er an seine Frau dachte. Gelegentlich war er auch einsam, aber im Grunde konnte er sich nicht beklagen.

Nur noch zwei Wochen bis Thanksgiving, und er hatte eine Menge, wofür er dankbar sein konnte. Seine Töchter waren gesund. Er war gesund. Sie hatten genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, genug Geld auf der Bank, Freunde und Familie und jede Menge Freizeitaktivitäten, die ihnen Spaß machten. Abgesehen von Bridget fehlte ihnen nichts.

Parker bremste erneut – diesmal vor einem Stoppschild – und warf einen Blick in den Rückspiegel. „Wir sind fast da, Mädels. Seid ihr schon aufgeregt?“

„Ja!“, bekräftigte die achtjährige Megan vom Rücksitz aus. „Ich kann es kaum erwarten! Ich will einen Engel spielen, aber Erin will das auch. Glaubst du, wir werden beide Engel?“

„Sei doch nicht so dumm!“, sagte die zehnjährige Erin auf ihre übliche direkte Art. „In dem Stück gibt es jede Menge Engel, also können wir beide Engel sein.“

„Aber nur, wenn wir ausgewählt werden“, wandte Megan ein. „Nur, wenn wir gut genug sind.“

„Ihr seid beide gut genug, aber das heißt dennoch nicht, dass ihr die Rollen kriegt, die ihr wollt“, schaltete Parker sich ein. Jedes Kind, das heute vorspielte, würde bei dem Stück mitmachen, egal, ob als Engel, Stern, Baum oder hinter der Bühne. „Lasst uns nicht vergessen, dass es vor allem darum geht, Spaß zu haben und Weihnachten zu feiern, okay?“

Die Mädchen zögerten einen Moment, bevor sie zustimmten.

Parker hoffte inständig, dass entweder keine von ihnen einen Engel spielen würde oder beide. Sonst würde in den nächsten sechs Wochen die Hölle los sein.

Allerdings würden die Mädchen dann auch eine wichtige Lektion lernen, obwohl Parker es schlimm finden würde, wenn sie enttäuscht wurden. Die beiden hatten schon zu viel Kummer in ihrem noch jungen Leben gehabt. Wenn es nach ihm ginge, würde ihnen für den Rest ihres Lebens jede schmerzliche Erfahrung erspart bleiben, aber das war leider unrealistisch.

„Oh! Sieh mal, Erin“, rief Megan aufgeregt, als sie sich der Schule näherten. „Ist das nicht ein …?“

„Pass auf, Daddy!“, schrie Erin. „Überfahr den Engel nicht!“

Überfahr den … was?!

Parker bekam vor Schreck fast einen Herzinfarkt, als er tatsächlich einen Engel – oder vielmehr eine als Engel verkleidete Frau – hinter einem großen, schnellen Tier auf die Straße laufen sah. War das etwa ein Hund? Vielleicht, aber das Vieh schien Hörner zu haben, also konnte Parker das nicht mit Sicherheit sagen.

Er unterdrückte einen Fluch und riss das Lenkrad nach links, während er gleichzeitig auf die Bremse stieg. Er würde nicht gerade Vater des Jahres werden, wenn er einen Engel überfuhr – schon gar nicht, wenn seine Töchter, die gerade aus vollem Hals „Daddy! Halt an! Bitte halt an!“, schrien, es mit ansehen mussten.

Gott schien jedoch Erbarmen mit ihm zu haben, denn es gelang Parker, den Wagen zum Stehen zu bringen, ohne die Frau oder das flüchtende Tier anzufahren. Und ihnen war auf der Gegenfahrbahn, auf der er zum Stehen kam, auf wundersame Weise kein Auto entgegengekommen.

Parker atmete tief durch und stellte den Motor aus. Die Engel-Frau stand direkt vorm Wagen im Scheinwerferlicht und sah Parker erschrocken aus weit aufgerissenen Augen an. Sie stieß einen Fluch aus, den Parker sofort erkannte, obwohl er ihn nicht hören konnte.

Mann, das war ganz schön knapp!

Megan schien seine Gedanken zu erraten: „Du hättest fast einen schönen Engel getötet, und das wäre ganz, ganz böse gewesen. Die Polizei hätte dich ins Gefängnis gesperrt und … und …“

„Sieh mal, Megan“, fiel Erin ihr ins Wort. „Das ist gar kein richtiger Engel. Das ist Miss Bradshaw!“

„Oh! Ja, das ist Miss Bradshaw. Aber warum sieht sie wie ein Engel aus?“

„Bestimmt wegen des Vorsprechens. Daddy hätte fast unsere Musiklehrerin getötet, aber das wäre auch ganz böse gewesen, denn sie ist toll.“

„Und wie! Wir mögen Miss Bradshaw! Sie kommt aus Denver.“

Hm. Diese Frau war also die neue Musiklehrerin? Warum hatte Parker sie dann nicht am Tag der offenen Tür letzten Monat gesehen? Er achtete immer darauf, alle Lehrer seiner Töchter kennenzulernen, aber damals war er erkältet und Megan so aufgeregt gewesen, dass er seiner Umgebung wahrscheinlich nicht genug Beachtung geschenkt hatte.

„Ich habe niemanden fast getötet, weder Engel noch Lehrerin“, sagte er und schnallte sich ab. Und auch wenn er die Frau angefahren hätte, wäre es bei seinem langsamen Tempo bestimmt nicht zu lebensbedrohlichen Verletzungen gekommen.

Zumindest ging er davon aus.

„Du hättest sie töten können, wenn du sie überfahren hättest“, widersprach Erin.

„Aber das habe ich nicht.“

„Genau, Erin“, bekräftigte Megan. „Das hat er nicht!“

„Das weiß ich auch, Megan! Ich habe schließlich Augen im Kopf!“

„Wartet mal, Mädels“, mischte Parker sich in den Beinahe-Streit ein. „Ich will mich nur kurz vergewissern, dass es eurer Lehrerin gut geht, und dann …“

Er verstummte abrupt, weil Miss Bradshaw, die gerade auf seine Seite des Wagens zukam, plötzlich ausrutschte und das Gleichgewicht verlor. Sie landete mit dem Po auf dem Boden, sprang jedoch sofort wieder auf und klopfte sich stirnrunzelnd den Schnee vom Hintern. Autsch, das hatte bestimmt wehgetan. Wieder sah er sie einen Fluch ausstoßen, den er mühelos von ihren Lippen lesen konnte.

Parker schaltete das Warnblinklicht ein. Sobald er sich vergewissert hatte, dass Miss Bradshaw nicht verletzt war, musste er seinen Wagen von der Gegenfahrbahn schaffen. „Es dauert nicht lange.“

Als er ausstieg, kam Miss Bradshaw ihm schon entgegen. „Tut mir schrecklich, schrecklich leid“, sagte sie zerknirscht. „Roscoe – mein Hund – hat sich losgerissen, und ich … ich bin einfach losgelaufen, um ihn einzufangen. Ich habe überhaupt nicht auf die Straße geachtet.“

Wenn je ein normaler Mensch einem Engel geähnelt hatte, dann diese Frau. Beim Anblick ihrer langen, hellblonden Haare, ihrer vollen Wimpern und Lippen und ihrer zart gerundeten Wangen fiel ihm nur das Wort „ätherisch“ ein.

Sie trug ein knöchellanges Kleid, das in der Taille von einem Gürtel zusammengehalten wurde und an dessen Rückseite Flügel befestigt waren. Sie war zierlich, hatte aber sehr weibliche Rundungen. Nein, Parker konnte ihr unmöglich am Tag der offenen Tür begegnet sein. Das hätte er nie im Leben vergessen.

„Alles okay mit Ihnen?“, fragte er, mehr um ihr Wohlergehen besorgt als um das ihres Hundes, von dem keine Spur mehr zu sehen war. „Ihnen ist nicht schwindlig oder so?“

„Nein, ich habe nur einen Schreck bekommen. Entschuldigen Sie bitte nochmals, dass ich Ihnen fast in den Wagen gelaufen wäre.“ Sie zitterte – vor Kälte oder wegen ihres Sturzes oder der Beinahe-Kollision. Vermutlich wegen allem zusammen. Sie betrachtete den Bürgersteig und die Häuser auf der anderen Seite der Straße. „Aber Sie müssen jetzt vermutlich Ihren Wagen wegfahren, und ich muss meinen Hund suchen.“

„Ich … Das ist richtig, aber ich würde Ihnen gern helfen. Ich bringe nur schnell meine Töchter in die Schule und komme dann zurück.“ Zu seiner Belustigung fiel Parker auf, dass das Haarband mit dem Heiligenschein auf Miss Bradshaws Kopf verrutscht war, sodass sie etwas ramponiert aussah. Und irgendwie niedlich. Da sie immer noch zitterte und ihre Zähne klapperten, zog er seine Jacke aus. „Hier, ziehen Sie die über, bevor Sie noch erfrieren.“

Er rechnete mit Widerspruch, aber zu seiner Überraschung nickte sie nur lächelnd. „Danke. Ich bin übrigens Nicole, und … Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht, würde ich Ihre Hilfe bei der Suche nach Roscoe gern annehmen.“

„Ich hätte Ihnen meine Hilfe nicht angeboten, wenn mir das etwas ausmachen würde, und ich heiße Parker.“ Er wollte gerade noch etwas sagen, als er die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens sah. Ja, es wurde höchste Zeit, den Wagen von der Straße zu fahren. „Passen Sie gut auf sich auf“, warnte er sie, als er seine Autotür öffnete.

Erin nutzte sofort die Chance, sich vom Rücksitz aus bemerkbar zu machen. „Miss Bradshaw! Wir sind’s, Erin und Megan Lennox! Sie sehen sehr hübsch aus, und ich bin froh, dass wir Sie nicht überfahren haben.“

Nicole beschattete mit einer Hand lachend ihre Augen, um die beiden besser sehen zu können. „Hallo, Erin und Megan! Ich bin auch froh.“ Sie richtete den Blick wieder auf Parker. „Sie sind der Vater, nehme ich an?“

„Das bin ich.“

„Schön, Sie kennenzulernen.“ Sie streifte sich seine Jacke über, die so groß war, dass ihre Flügel darunter passten, und zog den Reißverschluss bis zum Kinn hoch. Bei dieser Bewegung verrutschte das Band des Heiligenscheins noch mehr, und sie sah doppelt so niedlich aus. Oder dreimal.

„Ebenfalls.“ Parker winkte ihr zu, stieg ein und schnallte sich an. Seine Neugier auf Nicole war schon jetzt riesig. „Okay“, sagte er zu den Mädchen, „nichts passiert. Und jetzt lasst uns zur Schule fahren, bevor uns noch so etwas Verrücktes zustößt.“

Binnen Sekunden redeten die Mädchen wieder über das Stück und ihre Chance, beide Engel zu spielen. Währenddessen überquerte Nicole die Straße ohne weiteren Zwischenfall. Parker konnte sie sogar durch das geschlossene Fenster ihren Hund rufen hören. Beim Anblick des zerzausten Engels musste er wieder lächeln.

Kurz darauf bog er auf den Schulparkplatz. Obwohl Parker sich am Gespräch der Mädchen beteiligte, war er in Gedanken bei Nicole Bradshaw und dem Knistern, das er während ihres kurzen Gesprächs und beim Anblick ihres schiefen Heiligenscheins und ihrer ätherischen Gesichtszüge verspürt hatte. Er kannte dieses Knistern, auch wenn es Jahre her war, dass er es das letzte Mal wahrgenommen hatte.

Bis vor wenigen Minuten war Bridget die einzige Frau gewesen, zu der Parker sich spontan hingezogen fühlte – es war damals Liebe auf den ersten Blick.

Sie war die einzige Frau, die er geliebt hatte und mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Die Frau, die er immer noch vermisste und nach der er sich fast täglich sehnte. Die Mutter seiner Töchter. Seine Frau. Seine Bridget.

Ehrlich gesagt wusste Parker nicht, was er davon halten sollte, dass er eben auf Nicole genauso reagiert hatte wie damals auf Bridget, aber er würde dieser Reaktion gern auf den Grund gehen. Ob der Blitz tatsächlich auch ein zweites Mal einschlagen konnte?

2. KAPITEL

Verdammt, wo steckte dieser Hund nur? „Roscoe!“, rief Nicole wieder und wieder. „Na los, komm schon, alter Junge! Willst du ein Leckerli? Hier, Roscoe!“

Nichts. Kein Bellen, kein Winseln, kein erleichtertes Jaulen.

Immer wieder blieb sie stehen und rief.

Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, den Hund mit zum Vorsprechen zu bringen. Er war nun halt mal ein richtiger Streuner. Er liebte nichts mehr, als wegzulaufen, um in aller Ruhe die Umgebung zu erkunden, und nutzte daher jede Chance, die sich ihm bot. Nicole hatte sich zwar angewöhnt, gut auf ihn aufzupassen, wenn sie mit ihm nach draußen ging, aber heute war es ihm nach längerer Zeit mal wieder gelungen, sich loszureißen.

Und das war nur ihre Schuld.

Eine Viertelstunde vor dem Vorsprechen hatte Nicole das dämliche Rentiergeweih an Roscoes Kopf befestigt und ihn von der Leine gelassen. Genau in dem Moment hatte der Hausmeister die Tür nach draußen geöffnet, und der Hund war sofort losgeschossen. Und jetzt lief Nicole im Engelskostüm durch die Gegend und suchte ihn!

Sie hatte ihn in der stillen Hoffnung mitgebracht, dass der Anblick des großen Mischlingsrüden mit Rentiergeweih die Kinder zum Lachen bringen und die Stimmung auflockern würde. Das hätte Nicole irgendwie beruhigt.

Sie war erst seit dem Frühjahr Musiklehrerin an der Grundschule in Steamboat Springs und hatte ihren Platz dort noch nicht so richtig gefunden. Ihre Vorgängerin Mrs. Engle, die dann in Rente gegangen war, war sowohl bei den Kollegen als auch den Schülern und Eltern sehr beliebt gewesen, dass Nicole Angst hatte, keine würdige Nachfolgerin sein zu können. Vor allem, was die Theateraufführungen anging.

Und das empfand sie als Riesenbelastung. Mit Konzerten hatte sie kein Problem, die hatte sie auch in Denver veranstaltet, aber ein Theaterstück hatte sie noch nie aufgeführt. Außerdem hatte sie beschlossen, das bisher übliche Krippenspiel durch Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, allerdings mit Märchenfiguren, zu ersetzen.

Die Kinder kannten diese Fassung noch nicht, und seit Nicole ihre Schüler von Rollen wie Maria, den drei Weisen aus dem Morgenland oder Engeln hatte reden hören, hatte sie Angst, dass sie enttäuscht sein würden, wenn sie erfuhren, dass sie Märchengestalten wie Rumpelstilzchen oder Pinocchio spielen sollten.

Vielleicht freuten sie sich auch über die Veränderung. Doch da Nicole sich gerade nicht in der Aula befand – wo in diesem Augenblick vermutlich schon die Kinder und deren Eltern ungeduldig auf sie warteten –, würde sie das vorerst nicht erfahren.

Wieder rief sie Roscoes Namen. Immer noch keine Reaktion. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und versuchte, rational zu denken. Oder wie ein Hund.

Okay, so, wie sie Roscoe kannte, hatte er vielleicht schon Freundschaft mit einer Familie geschlossen, die in einem dieser Häuser wohnte, und lag jetzt zusammengerollt auf einem Küchenfußboden. Bitte, lieber Gott! Roscoes Halsband enthielt sämtliche wichtigen Kontaktdaten – ihren Namen, den des Tierarztes und die entsprechenden Telefonnummern.

Sie schob ihre eiskalten Hände in die Taschen von Parkers Jacke – er war wirklich ein echter Gentleman – und spähte durch den immer dichter fallenden Schnee. Trotz der Straßenbeleuchtung konnte sie nicht weit sehen.

„Roscoe!“, rief sie, während sie weiter den Bürgersteig entlangging – immer weiter weg von der Schule. „Wo steckst du bloß, alter Junge? Willst du ein Leckerli? Roscoe, komm her!“

Sie blieb stehen und lauschte hoffnungsvoll. Immer noch nichts. Der Wind wurde stärker, und der Heiligenschein auf ihrem Kopf verrutschte noch mehr. Genervt riss sie sich das verdammte Ding runter, faltete es zusammen und schob es in die Jackentasche.

Noch so eine Schnapsidee von ihr, sich als Engel zu verkleiden!

Sie hatte das aus dem gleichen Grund gemacht, aus dem sie ihrem Hund das Geweih aufgesetzt hatte: um die Kinder zum Lachen zu bringen. Und das einzige andere verfügbare Kostüm für Erwachsene war ein Weihnachtsmannkostüm gewesen. Nicole hatte nichts gegen den guten alten Mann, hatte jedoch keine Lust gehabt, sich einen falschen Bart anzukleben oder mehrere Lagen Kleidung übereinander zu tragen.

Na ja, wenn sie ganz ehrlich mit sich war, hatte sie vor allem der falsche Bauch abgeschreckt. Ihr größter Wunsch war nämlich, schwanger zu werden, und als sie sich im Spiegel mit dem großen runden Bauch sah, in dem kein Baby war, wäre sie fast in Tränen ausgebrochen.

Also hatte sie sich für das Engelskostüm entschieden.

Wieder erschauerte sie – jetzt mit einer Mischung aus Nervosität und Vorfreude. Ob die künstliche Befruchtung diesmal endlich geklappt hatte? War sie vielleicht schon schwanger? Aber natürlich war es noch zu früh, das herauszufinden. Es war erst drei Tage her, dass sie zum vierten – und hoffentlich letzten – Mal in einer Fruchtbarkeitsklinik in Denver war. Obwohl sie es wieder und wieder versuchen würde – bis sie alle ihre eingefrorenen Eizellen, ihre Geldreserven oder ihre Hoffnung aufgebraucht hatte.

Vor einem Jahr hatte ihr Arzt ihr zögernd sein Einverständnis für Hormonspritzen gegeben, bevor ihre Eierstöcke ihre ohnehin schon eingeschränkte Tätigkeit ganz einstellten. Es hatte geklappt, aber sie hatte nur eine begrenzte Anzahl Eizellen zu Verfügung, was hieß, dass ihr nicht allzu viele Versuche blieben. Trotzdem würde sie erst aufgeben, wenn sie keine andere Wahl mehr hatte.

Sie hatte gelernt, wie wichtig es war, sich in der Gegenwart auf seine Ziele und Wünsche zu konzentrieren. Weil es nämlich morgen oder nächsten Monat oder in zwei Jahren schon zu spät sein konnte. Im Leben gab es nun mal keine Garantien. Und deshalb hatte sie sich für ein Kind entschieden – trotz des Risikos, wegen der Hormonbehandlung einen Rückfall zu bekommen.

Wie sehr sie sich danach sehnte, Mutter zu werden! Sie war nicht nur bereit, sondern nach allem, was sie durchgemacht hatte, auch stärker als je zuvor. Sie liebte das Leben. Sie liebte ihr Leben.

Alles, was sie brauchte, um es komplett zu machen, war ein Kind.

Sie riss sich aus ihren Gedanken und drehte um. Vielleicht war Roscoe ja zur Schule zurückgelaufen und suchte auf dem Parkplatz nach Kontakt und Streicheleinheiten. Roscoe saugte Zuwendung auf wie ein Schwamm.

In ihrer Hast machte sie so rasch kehrt, dass sie fast in jemanden hineingerannt wäre – in einen großen, kräftigen Mann: Parker Lennox, der gut aussehende, blauäugige, blonde Witwer, von dem ihre Kolleginnen alle schwärmten und dem sie vorhin fast ins Auto gelaufen war. Leider hatten ihre Schuhe viel zu glatte Sohlen, sodass sie wieder ausrutschte und das Gleichgewicht verlor.

Autor

Tracy Madison
Die preisgekrönte Schriftstellerin Tracy Madison ist in Ohio zu Hause, und ihre Tage sind gut gefüllt mit Liebe, Lachen und zahlreichen Tassen Kaffee ... Die Nächte verbringt sie oft schreibend am Computer, um ihren Figuren Leben einzuhauchen und ihnen ihr wohlverdientes Happy End zu bescheren. Übrigens bekommt Tracy Madison sehr...
Mehr erfahren