Der Zauber einer besonderen Nacht

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Dieser Mann ist zum Vernaschen: Schon im ersten Moment träumt Haley von einer Nacht mit Gavin Daugherty. Sie will dem exzentrischen - und überaus attraktiven! - Außenseiter näherkommen. Wenn er sie nur nicht dauernd mit einem so traurigen Blick ansehen und sich immer wieder abwenden würde …


  • Erscheinungstag 05.08.2019
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749828
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Für Haley Foster konnte der Sommer gar nicht schnell genug nach Steamboat Springs, Colorado, kommen. Nicht weil die Tage dann endlich entspannt und unbeschwert sein würden – im Gegenteil. Jetzt waren die Tage entspannt und unbeschwert, vielleicht sogar erholsam.

Doch Haley langweilte sich zu Tode.

Was zugegebenermaßen seltsam war. Die hektische Wintersaison war vorbei, und die Sommersaison hatte noch nicht recht begonnen – eigentlich müsste sie die Ruhe vor dem Sturm genießen. So wie immer in der Vergangenheit. Doch dieses Jahr war sie irgendwie … rastlos.

Mehr als das sogar. Sie verspürte jenes unangenehme Gefühl, das man immer dann hat, wenn man darauf wartet, dass etwas passiert. Worauf sie wartete, wusste sie allerdings selbst nicht. Einfach … irgendetwas.

Und deshalb sehnte sie sich nach dem Sommer, wenn die Touristen in Steamboat Springs zum Wildwasser-Rafting, Wandern oder Kanufahren einfielen und die verschlafene Kleinstadt zu neuem Leben erweckten. Dann würde sie wieder von morgens bis abends beschäftigt sein und kaum Zeit haben, darüber nachzudenken, warum sie so komisch drauf war.

Seufzend lehnte sie sich in ihrem Stuhl in der Beanery zurück, dem einzigen Coffeeshop vor Ort, und versuchte, ihrer langjährigen Freundin Suzette Solomon Aufmerksamkeit zu schenken. Sie hatten sich am Morgen zur Spinning-Stunde im Fitnessstudio getroffen und wollten jetzt eigentlich ihre Belohnung genießen, während sie einander darüber auf dem Laufenden hielten, was in ihren Leben in letzter Zeit so passiert war.

Suzette erzählte gerade eine drollige Geschichte über einen ihrer Viertklässler, doch obwohl es Haley gelang zu lachen und ab und zu mal einen Kommentar einzuwerfen, konnte sie sich nicht konzentrieren. Verdammt! Sie hatte wirklich gehofft, dass sich ihre Unruhe durch eine Stunde Sport und ein Gespräch mit einer Freundin legen würde.

Fehlanzeige!

Warum war sie nur so verdammt rastlos? Warum hatte sie das Gefühl, dass das Leben an ihr vorbeizog? Sie war doch noch gar nicht so alt! Mit sechsundzwanzig Jahren hatte sie noch das ganze Leben vor sich. Aber in letzter Zeit kamen ihr die Tage und Nächte unerträglich lang vor. Sogar im Beisein ihrer Familie oder von Freunden fühlte sie sich irgendwie einsam. Von einer unbestimmbaren Sehnsucht gequält.

Vielleicht brauchte sie ein neues Hobby. Oder ein Haustier. Oder … Da die rettende Erleuchtung ausblieb, beschloss sie, der langweiligen Zwischensaison die Schuld zu geben. Ja, das musste es sein. Warum nach irgendwelchen tiefschürfenden Erklärungen suchen, wenn die Antwort so einfach war?

Suzette räusperte sich und sah Haley erwartungsvoll an. Anscheinend wartete sie auf eine Antwort. Oh, verdammt! Musste Haley jetzt lachen, schockiert reagieren oder Anteilnahme vortäuschen? Sie entschied sich für ein zurückhaltendes Lachen. Damit konnte man nichts falsch machen.

„Süß, oder?“, fragte Suzette und fuhr sich mit einer Hand durchs kurze schwarze Haar.

„Total süß“, stimmte Haley enthusiastisch zu.

„Ach ja? Welcher Teil hat dir am besten gefallen?“

„Also, ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht entscheiden. Die ganze Geschichte war absolut hinreißend. So etwas passiert dir als Lehrerin bestimmt jeden Tag, oder?“

„Im Ernst, Haley?“ Suzette sah sie amüsiert an. „Willst du wirklich behaupten, dass du nicht schon vor mindestens fünf Minuten abgeschaltet hast?“

Haley seufzte wieder und lächelte schuldbewusst. „Tut mir leid. War das so offensichtlich?“

„Klar, sonst wäre es mir ja nicht aufgefallen.“ Suzette nahm ihre Kaffeetasse. „Keine Sorge. Ich weiß selbst, dass ich manchmal zu viel über meine Schüler rede.“

„Ich höre deine Geschichten gern!“ Das stimmte sogar. Meistens zumindest. „Mir ging nur gerade durch den Kopf, wie wenig hier gerade los ist und dass ich den Sommer kaum erwarten kann. Das ist alles.“

„Seit wann? Fast den ganzen Winter über hast du dich beklagt, dass du nicht dazu kommst, ein Buch zu lesen oder einen Film zu gucken oder deine Wohnung zu streichen.“ Suzette hob eine schmal gezupfte Augenbraue. „Oder Männer kennenzulernen. Wonach ich dich ehrlich gesagt schon fragen …“

„Ich habe sämtliche Bücher gelesen und Filme geguckt, die ich noch auf dem Zettel hatte, und du hast mir beim Streichen geholfen. Deshalb bin ich jetzt bereit für den Sommer.“

„Hm, mag sein. Aber du hast einen Punkt ausgelassen. Erzähl mal, wie oft warst du in den letzten Monaten mit einem Mann aus?“

Haley rümpfte die Nase und trank einen Schluck Chai-Tee. Suzette kannte die Antwort auf diese Frage schon. „Meine Langweile hat nichts damit zu tun, dass ich keine Dates habe.“ Ihre Einsamkeit schon eher, aber darüber wollte sie nicht reden. „Ich langweile mich halt.“

„Aha. Schon klar.“

„Du weißt ja, wie es zwischen den Saisons ist“, widersprach Haley. „Ich habe einfach nicht genug um die Ohren.“

Haleys Familie gehörte ein Sportgeschäft und ein Restaurant in Steamboat Springs, an denen sämtliche Fosters – Haley, ihre drei älteren Brüder und ihre Eltern – gleichberechtigt beteiligt waren. Was hieß, dass Haley in den Winter- und Sommermonaten, abgesehen von ihren normalen Aufgaben im Büro, zusätzlich im Restaurant und im Laden aushalf.

Im Frühling und Herbst kümmerte sie sich vor allem um die Buchhaltung, aktualisierte die Websites und gab Bestellungen auf. Was sie inzwischen jedoch schon längst erledigt hatte.

„Ich weiß, was du meinst“, stimmte Suzette zu. Ihre Eltern hatten ein Deli, in dem Suzette bis zum Ende ihres Studiums während der Sommerferien gejobbt hatte. „Aber deine Arbeitszeiten sind nicht das eigentliche Problem. Warum reden wir nicht über das, was dich wirklich umtreibt?“

„Hör auf.“ Haley zwang sich zu einem Lachen. Sie wünschte, Suzette würde sie nicht so gut kennen. Zumindest nicht in dieser Hinsicht. „Da gibt es nichts.“

„Du hast einfach Bammel vor Dates“, stellte Suzette sachlich fest. „Das geht jedem mal so. Aber um ein Problem zu lösen, muss man es sich erst mal eingestehen. Ich habe auch schon eine Idee, wie ich deine Langeweile vertreiben …“

„Hör auf“, wiederholte Haley. Sie ahnte schon, worauf Suzette hinauswollte – auf die wundervolle Welt der Blind Dates. „Ich habe kein Problem. Gar keins! Und ich habe keine Lust, mich verkuppeln zu lassen.“

„Noch nicht mal, wenn der Typ süß, lieb und witzig ist?“

„Noch nicht mal dann.“

„Und intelligent und warmherzig?“

„Auch dann nicht. Außerdem – wenn er so toll ist, warum bist du dann nicht mit ihm zusammen? Es sei denn … Oh nein, Suzette! Du willst mich doch nicht etwa mit einem deiner abgelegten Lover verkuppeln, oder?“

„Wir hatten nur ein Date, und noch nicht mal ein echtes“, winkte Suzette ab. „Also nein, er ist kein Ex. Versprochen.“

„Aber fast. Lieber Himmel!“

Suzette seufzte tief. „Ich sage nur: Bammel vor Dates.“

„Sagt die Frau, die jedes Wochenende mit drei Männern jongliert“, sagte Haley nur halb im Scherz. Ihre Freundin war ständig von Männern umschwärmt.

„Nur weil ich nicht so wählerisch bin wie du.“ Suzette zuckte die Achseln. „Wenn mich ein netter Typ einlädt, neige ich dazu, Ja zu sagen. Während du nach Ausreden suchst, um Nein zu sagen.“ Sie stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Mal anders gefragt, Haley: Wie vielen Männern hast du in den letzten Monaten einen Korb gegeben?“

Haley zählte die Gelegenheiten im Kopf zusammen. Sie hatte fünf Einladungen abgelehnt. Na und? Einsam zu sein war schlimm genug, aber mit jemandem auszugehen, der sie nicht interessierte, war noch viel schlimmer. „Ich sehe keinerlei Veranlassung dazu, den Abend mit einem Mann zu verbringen, nur weil er nett ist.“

„Sind nette Männer denn so schrecklich?“

„Ganz und gar nicht! Natürlich sollte ein Mann nett sein, aber das reicht nicht.“

„Sexuelle Anziehung ist natürlich immer ein Pluspunkt, aber …“

„Das meine ich noch nicht mal“, unterbrach Haley sie. Nicht dass sie das anders sah. Aber … „Ich will nicht schon alles über einen Mann wissen, bevor wir die Getränke bestellen. Ich will … neugierig auf einen Mann sein. Mich fragen, wie er tickt.“

Und genau da lag ihr Problem. Obwohl viele Männer im Ort total nett waren, kannte sie sie einfach zu gut. Wenn man sich noch daran erinnern konnte, wie jemand früher ständig in der Nase bohrte, war es nicht einfach, ihn plötzlich in einem anderen Licht zu sehen. Das mochte unfair sein, aber so war es nun mal.

Klar war sie mit vielen Männern ausgegangen, aber es hatte sich nie etwas Längeres daraus entwickelt. Entweder hatten die Typen sich als Idioten entpuppt, oder die Chemie hatte einfach nicht gestimmt. Mit anderen Worten, ihre Liebesprognosen waren ganz schön düster, wenn sie nicht woandershin ziehen würde – was sie absolut nicht vorhatte.

Sie seufzte tief. „Du hast vermutlich recht damit, dass ich zu wählerisch bin.“

Suzette sah sie besorgt an. „Weißt du was, Haley? Du denkst zu viel nach! Geh einfach mit ein paar Männern aus, und hab etwas Spaß. Du musst ja keinen von ihnen heiraten, aber dann sitzt du zumindest nicht zu Hause rum und sehnst dich nach Zwölfstundentagen. Das ist nämlich verrückt.“

„Ich weiß, aber …“

In diesem Augenblick ging die Tür auf, und ein Mann trat ein. In einer Hand hatte er ein Clipboard, während er die andere Hand zu einer Faust geballt hatte. Er wirkte total angespannt, fast aggressiv.

Diesen Eindruck hatte sie schon von ihm gehabt, als sie ihm Ende letzten Jahres zum ersten Mal begegnet war. Er hieß Gavin Daugherty und war neu in Steamboat Springs. Sie hatte ihm damals den Tipp gegeben, im Sportgeschäft nach einem Job als Skilehrer zu fragen, aber sie hatten keine Stelle frei gehabt.

Haley hatte ihn nicht vergessen, sogar oft an ihn denken müssen. Was natürlich albern war, da sie kaum etwas über ihn wusste und ihn seitdem nur einige Male flüchtig gesehen hatte.

Neugierig beobachtete sie, wie er sich hinter vier anderen Gästen anstellte. Die Frau vor ihm ging sofort ein Stück vor, als ginge sie instinktiv auf Abstand zu ihm. Als er nachrückte, wie man es in Schlangen eben so tat, wich sie zur Seite aus.

Gavin trat sofort wieder einen Schritt zurück und bedeutete ihr, ihren vorherigen Platz einzunehmen. Die Frau tat jedoch so, als bemerkte sie ihn nicht.

Haley war es sehr unangenehm, das zu beobachten. Sie befürchtete, dass viele Menschen so auf Gavin reagierten. Was vermutlich zum Teil mit seiner Körpergröße und seinem Körperbau zusammenhing, denn er war riesig – etwa zwei Meter – und kräftig gebaut. Er könnte auch dringend einen Haarschnitt und eine Rasur gebrauchen, um den Einsiedler-Look loszuwerden. Ihr persönlich machte seine Erscheinung zwar keine Angst, aber sie konnte verstehen, dass andere ihn bedrohlich fanden.

„Und? Was sagst du dazu?“, riss Suzette sie aus ihren Gedanken. „Nächstes Wochenende geht es nicht, aber wie wär’s mit übernächstem? Bitte sag Ja.“

„Na klar“, antwortete Haley geistesabwesend, vom Anblick von Gavin gefesselt. „Mir ist beides recht.“

„Toll! Wir werden viel Spaß haben, wart’s ab. Und Matt wird dir gefallen.“

„Äh … was?“ Haley richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Freundin. „Moment mal! Wer ist Matt, und warum ist es wichtig, ob er mir gefällt oder nicht?“

„Wir haben doch gerade über ihn gesprochen. Matt ist einer meiner Kollegen“, erklärte Suzette. Selbstzufrieden verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Du hast gerade einem Doppeldate zugestimmt.“

„Oh nein, Suzette!“ Haley schüttelte den Kopf. „Ich habe kein Interesse an einem Blind Date, weder doppelt noch sonst wie.“

„Pech, du hast bereits Ja gesagt. Glaub mir, er ist ein toller Typ. Und da er nicht hier aufgewachsen ist, gibt es für dich noch jede Menge zu entdecken. Das wolltest du doch, oder?“

Haley zog irritiert die Augenbrauen zusammen. „Stimmt, aber du bist unfair! Ich wusste nicht, wozu ich Ja sage.“ Sie konnte nicht anders, als sich wieder nach Gavin umzudrehen.

„Klar, aber wessen Schuld ist das?“

„Meine, aber du hast die Situation ausgenutzt.“

„Stimmt. Trotzdem, du hast zugesagt. Außerdem meine ich es nur gut mit dir.“ Suzette folgte Haleys Blick. „Was gibt es denn da Interessantes zu sehen?“

„Siehst du den Typen da drüben?“

„Mr. Mountain Man? Ja, der ist schwer zu übersehen.“

„Wenn du mit ihm in einer Schlange stehen würdest – würdest du dich dann unbehaglich fühlen … oder bedroht?“

Suzette zuckte die Achseln. „Kommt drauf an, ob er mich komisch ansieht oder nicht. Toller Body. Wie er wohl unter all den Haaren aussieht? Kennst du ihn?“

„Nicht wirklich.“ Haley trank den Rest ihres Tees und stand auf. „Ich hol mir noch einen. Willst du auch noch etwas?“

„Nein, danke.“ Suzette sah neugierig zwischen Haley und Gavin hin und her. „Interessierst du dich etwa für ihn? Der ist doch gar nicht dein Typ.“

Haley schoss das Blut in die Wangen. „Ich will nur einen zweiten Tee, das ist alles, Suzette! Und woher willst du wissen, auf welchen Typ ich stehe? Das weiß ich ja selbst noch nicht mal.“

Suzette warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und verzog das Gesicht. „Ich muss los. Ich habe heute Abend was vor und bis dahin eine Menge zu erledigen.“

„Kannst du nicht noch etwas bleiben?“

„Leider nein. Und sogar wenn ich könnte, hätte ich keine Lust, das fünfte Rad am Wagen zu sein.“ Sie stand auf und umarmte Haley rasch. „Diese Woche wird es vielleicht noch nichts, weil Matt für ein paar Tage bei seiner Familie ist, aber sobald ich Näheres weiß, ruf ich dich an.“

„Yippie!“, rief Haley ohne jede Begeisterung. „Ich kann es kaum erwarten.“

„Okay, ich muss los.“ Suzette warf Gavin einen letzten neugierigen Blick zu. „Sei vorsichtig. Mit deinem Tee.“

Haley öffnete den Mund, um zu protestieren, klappte ihn jedoch wieder zu. Zu viel Protest war verräterisch, also lächelte sie nur und winkte Suzette zum Abschied zu.

Kaum hatte ihre Freundin die Beanery verlassen, atmete sie erleichtert auf und glättete ihren Rock. Sie unterdrückte den Impuls, das Gleiche mit ihrem Haar zu tun, und ging zum Tresen … direkt auf den Mountain Man zu.

Nur aus Neugier, versuchte sie sich einzureden, weiter nichts. Denn Suzette hatte in einem recht – Gavin Daugherty war nicht ihr Typ. Er war sogar das optische Gegenteil der Männer, mit denen Haley bisher ausgegangen war. Größer, breiter, rauer.

Doch er faszinierte sie, und das Gefühl hatte sie schon lange nicht mehr bei einem Mann. Es wurde Zeit, die Dinge ein bisschen voranzutreiben.

2. KAPITEL

Gavin Daugherty mochte keine Menschenansammlungen. Zu viele Leute um sich herum zu haben löste immer sehr unangenehme Empfindungen in ihm aus. Seine Kehle wurde trocken und rau, seine Hände schwitzten, und sein Hemdkragen wurde immer enger.

Deshalb hatte er sich den Vormittag ausgesucht, um zur Beanery zu gehen. Er hatte gehofft, dass der Coffeeshop dann fast leer war. Was er jedoch nicht bedacht hatte, war, dass Samstag war und der Laden aus allen Nähten platzte. Um ein Haar wäre er wieder umgekehrt.

Doch er hatte schon viel zu lange mit seinem Besuch gewartet, und so stand er jetzt hier in der langsamsten Schlange der Welt, was ihm überhaupt nicht gefiel. Im Geiste wiederholte er die Worte, die er sich schon seit Wochen zurechtgelegt hatte, und versuchte, die Dame, die vor ihm zur Seite getreten war, nicht noch weiter zu verschrecken.

Jemanden um etwas zu bitten war Gavin genauso unangenehm, wie mitten in einem vollen Coffeeshop zu stehen, aber ihm blieb nichts anderes übrig, wenn er etwas erreichen wollte. Zumindest konnte er sich nicht darauf verlassen, dass sein mieses Leben sich von allein um hundertachtzig Grad drehte.

Allerdings … Wenn er es recht bedachte, war nicht alles an seinem Leben mies. Ganz und gar nicht. Zurzeit konnte er sich jedenfalls nicht beklagen. Und er durfte auch nicht Russ und Elaine Demko vergessen, die beide leider nicht mehr lebten, ihm aber so viel mit auf den Weg gegeben hatten.

Damals, als er zwölf Jahre alt war, hatte er keine Ahnung gehabt, wie sehr ihm die zwei ans Herz wachsen würden. Er war dabei, auf die schiefe Bahn zu geraten, als Russ und Elaine seine Pflegeeltern wurden, aber irgendwie hatten sie es geschafft, seine harte Schale zu durchdringen und ihm zu vermitteln, was es bedeutete, Teil einer Familie zu sein.

Elaine war vor sieben Jahren an Krebs gestorben und Russ vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt. Oder vielmehr einem gebrochenen Herzen. Er hatte Gavin etwas Geld hinterlassen. Nicht viel, aber genug, um in Steamboat Springs, wohin Russ und Elaine ihn öfter mitgenommen hatten, ein Grundstück mit Haus zu kaufen und von vorn anzufangen.

Ja, es waren gute Zeiten gewesen bei Russ und Elaine. Zeiten, an die er schöne Erinnerungen hatte.

Obwohl es ihm natürlich lieber wäre, Russ und Elaine wären noch da.

Gavin unterdrückte einen halb wehmütigen, halb erleichterten Seufzer, als es in der Schlange endlich voranging. Kein Zweifel – Lola, die Betreiberin, liebte es, mit ihren Gästen einen Schwatz zu halten.

Bevor er aufrückte, rechnete er damit, dass die Frau auf der Seite sich wieder vor ihm einreihen würde, aber nein. Sie ging zwar ein Stück vor, hielt sich jedoch immer noch abseits.

Gavin war solches Verhalten gewohnt, aber es verletzte ihn trotzdem.

Seine Kleidung mochte nicht gerade brandneu sein, war jedoch sauber und gepflegt. Er selbst war auch sauber und … na ja, halbwegs gepflegt, obwohl es nicht schaden würde, sich mal wieder zu rasieren. Es wurmte ihn, dass manche Menschen ihm instinktiv auswichen. Oder dass alte Damen bei seinem Anblick ihre Handtaschen an die Brust pressten und ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Angst beäugten. Er war zwar daran gewöhnt, aber er wünschte sich, dass die Leute nicht so reagierten.

Wie naiv von ihm zu glauben, dass es in Steamboat Springs anders sein würde. Die Menschen hier waren auch nicht besser als anderswo – bis auf ein paar Ausnahmen. Lola war eine von ihnen, und deshalb hatte Gavin sich vorgenommen, bei ihr anzufangen.

Eines Tages würde er diese Straßen entlanggehen, und die Leute würden ihm zuwinken und ihn grüßen. Eines Tages würde er hierhergehören. Und nicht nur er, sondern auch die Jungs, denen es genauso ging wie ihm früher. Er würde ihnen zumindest für eine bestimmte Zeit einen Zufluchtsort bieten … eine Chance.

So wie Russ und Elaine ihm eine gegeben hatten.

Sein Ziel war es, eine Art Camp zu eröffnen, in dem Jungs ohne echtes Zuhause Skifahren lernen konnten oder wandern und zelten gehen. Er wollte ihnen vermitteln, was Russ und Elaine ihm vermittelt hatten – dass das Leben weiterging und ständig im Fluss war. Wenn etwas heute schlimm war, hieß das noch lange nicht, dass es auch so bleiben musste. Und diese Einsicht kam einem am besten in der Natur.

Im Freien hatte er oft das tröstliche Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, etwas Besserem. Und genau dieses Gefühl – diesen Glauben – wollte er weitergeben. Er wusste zwar noch nicht genau, wie, aber da würde ihm bestimmt noch was einfallen.

Er verfolgte dieses Ziel, seitdem er den Scheck aus Russ’ Nachlass bekommen und den Brief gelesen hatte, den Russ ihm geschrieben hatte.

Darin stand, dass die Demkos ihn damals zusammen mit dem anderen Jungen in ihrer Obhut adoptieren wollten, bevor sie aus beruflichen Gründen nach Massachusetts umziehen mussten. Leider war aus der Adoption nichts geworden. Stattdessen war Gavin mal wieder bei seiner Mutter gelandet, die ihr Leben vorübergehend so weit im Griff hatte, um das Sorgerecht für ihren Sohn zu bekommen. Schon wenige Wochen später war jedoch wieder alles vorbei. Genauso wie mehrere Male danach auch.

Der Brief – die Nachricht, dass die Demkos Gavin als Sohn gewollt hatten – war gerade noch rechtzeitig gekommen. Gavin war da gerade in Aspen gewesen und hatte vor einer schweren Entscheidung gestanden. Und Russ’ Worte hatten ihm dabei geholfen, die richtige Wahl zu treffen. Oh ja, er schuldete Russ und Elaine eine Menge. Alles, was er zu geben hatte.

Aber mehr als das war er sich selbst schuldig.

Gavin war so tief in Erinnerungen versunken, dass ihm gar nicht auffiel, dass sich jemand hinter ihm anstellte. Erst die Stimme der Person riss ihn aus seinen Gedanken. Es war eine weibliche Stimme – warm und lebendig. Irgendwie übersprudelnd. Für einen Moment stand er ganz still da und genoss den bezaubernden und beruhigenden Klang.

„Entschuldigen Sie bitte, Ma’am?“, fragte die Frau wieder, diesmal lauter und insistierender. Er drehte sich halb zu ihr um, um zu sehen, wer sie war.

Aha. Haley Foster. Der Liebling von Steamboat Springs höchstpersönlich. Er war ihr unter anderem im Sportgeschäft ihrer Familie begegnet, wo er nach einem Job gefragt hatte, hatte aber auch sonst viel von ihr gehört. In dieser Stadt waren die Fosters eine Institution. Soweit er wusste, war Haley die Jüngste von vier Geschwistern.

Etwas in seinem Inneren zog sich zusammen, als er sie betrachtete. Ihr langes kastanienbraunes Haar war zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, aber das machte sie für ihn nicht weniger anziehend. Ihre Augenfarbe war eine faszinierende Mischung aus Grau und Grün. Sie hatte den Blick auf die Frau geheftet, der er Angst zu machen schien.

„Ma’am?“, wiederholte sie. „Stehen Sie hier an oder …?“

Erst jetzt merkte die Frau, dass sie gemeint war. „Ja, natürlich.“

Haley riss die Augen mit gespielter Überraschung auf. „Ach. Ich dachte, Sie sehen sich nur die Speisekarte an, weil Sie so weit abseits stehen.“

„Ich stehe hier an“, wiederholte die Frau.

Haley schüttelte den Kopf. „Ich würde sagen, Sie stehen mindestens dreißig Zentimeter außerhalb der Schlange. Vielleicht sogar mehr.“ Sie berührte Gavin an einem Arm. „Würden Sie nicht auch sagen, es sind etwa dreißig Zentimeter? Mehr oder weniger?“

Gavin unterdrückte ein Lachen, als er den peinlich berührten Gesichtsausdruck der Frau sah. „Auf jeden Fall. Eher mehr“, bestätigte er.

Autor

Tracy Madison
Die preisgekrönte Schriftstellerin Tracy Madison ist in Ohio zu Hause, und ihre Tage sind gut gefüllt mit Liebe, Lachen und zahlreichen Tassen Kaffee ... Die Nächte verbringt sie oft schreibend am Computer, um ihren Figuren Leben einzuhauchen und ihnen ihr wohlverdientes Happy End zu bescheren. Übrigens bekommt Tracy Madison sehr...
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