Der unwiderstehliche Dr. Manos

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Das ist Dr. Manos? Isla ist alarmiert! Denn der neue Kinderarzt, mit dem sie als Hebamme im Victoria Hospital eng zusammenarbeiten wird, ist ein Traummann. Er gefährdet ihren Schwur, niemals der Leidenschaft nachzugeben! Um nicht zu enden wie damals ihre Schwester …


  • Erscheinungstag 02.10.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512930
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

„Isla?“ Cathy klang panisch. „Was bedeutet der Alarm?“

„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Isla blickte zum Anästhesisten hinüber, froh darüber, dass er die Richtwerte neu einstellte, um die werdende Mutter nicht zu beunruhigen.

„Hat es mit meinem Baby zu tun?“

„Das Gerät hat nur angezeigt, dass Ihr Blutdruck leicht gesunken ist. Das ist völlig normal bei einer Rückenmarksnarkose.“

Isla saß am Kopfende des OP-Tischs und tat ihr Bestes, um die ängstliche Patientin zu beschwichtigen. Cathys Mann Dan machte sich gerade bereit, in den OP zu kommen, um seiner Frau beizustehen.

„Meinem Baby geht es wirklich gut?“

„Ja, alles in Ordnung.“

„Ich habe solche Angst, Isla.“

„Das weiß ich.“ Sie strich Cathy über die Wange. „Aber es ist alles gut.“

Und das sollte bei diesem Kaiserschnitt auch so bleiben!

Isla, leitende Hebamme der Melbourne Maternity Unit am Victoria Hospital, hatte Cathy und Dan durch schwere Zeiten begleitet. Mit mehreren Versuchen künstlicher Befruchtung, vier Fehlgeburten und zwei Totgeburten bezahlte das Paar einen hohen Preis für sein Elternglück. Heute, am späten Nachmittag des Valentinstags, hatte sich nun das innig ersehnte Baby auf den Weg gemacht.

Ursprünglich war am nächsten Donnerstag, in der siebenunddreißigsten Schwangerschaftswoche, ein Kaiserschnitt geplant gewesen. Vor zwei Stunden jedoch hatte Cathy in der MMU, wie die Entbindungsstation genannt wurde, angerufen, weil die Wehen eingesetzt hatten. Man riet ihr, sofort zu kommen.

Durch ihre leitende Funktion hatte Isla eigentlich einen Nine-to-five-Job, doch sie wusste schon lange, dass Babys sich nicht an Dienstpläne hielten.

Nach Cathys Anruf sagte sie ihre Teilnahme an der Budget-Besprechung heute Abend ab. Ob sie ihren zweiten Termin später in der Rooftop Garden Bar wahrnehmen konnte, würde sich zeigen. Dort wollte sie bei einem Umtrunk mit Kolleginnen und Kollegen den neuen Neonatologen Dr. Alessandro Manos willkommen heißen.

Doch die Party konnte warten.

Um nichts in der Welt wollte Isla diese Geburt verpassen.

Sie war achtundzwanzig, und nicht wenige nahmen an, dass sie die gehobene Position ihrem Vater Charles Delamere, dem Direktor des Victoria Hospitals, verdankte.

Womit sie völlig falschlagen.

Zwar stimmte es, dass Isla und ihre Schwester Isabel, die an diesem Abend bei Cathy den Kaiserschnitt durchführte, schon wegen ihrer Familie zu den prominenten Gesichtern der Melbourner High Society gehörten. Blond, schön und glamourös, erregten die Delamere-Töchter immer wieder die Aufmerksamkeit der Medien. Es gab genügend gesellschaftliche Anlässe, auf denen sie sich blicken ließen. Sie bewohnten zusammen ein Luxus-Penthouse, trugen Designerkleidung, und das Schaulaufen auf dem roten Teppich war eine ihrer leichtesten Übungen, die sie elegant und mit natürlicher Anmut absolvierten.

Und das war es auch für Isla: eine Pflicht, der sie nachkommen musste.

Ihr Herz schlug für etwas anderes. Sie liebte ihren Beruf und die Arbeit in der MMU. Dort war sie ganz sie selbst.

Also saß sie hier in OP-Kleidung, das lange blonde Haar unter einer rosa OP-Kappe und die vollen Lippen hinter dem Mundschutz verborgen. Niemand im Raum interessierte sich dafür, dass sie Isla Delamere war, Societyprinzessin von Melbourne und mit Rupert liiert, einem Hollywoodstar, den sie aus der Schulzeit kannte.

Im Victoria Hospital war sie schlicht und einfach Isla, eine tüchtige, tatkräftige Hebamme. Von ihrem Team erwartete sie die gleiche Konzentration und Aufmerksamkeit, die sie ihren Patienten schenkte, und im Allgemeinen bekam sie sie auch. Manche mochten sie kühl und unnahbar finden, aber die werdenden Mütter schätzten ihr ruhiges, professionelles Auftreten.

„Dan ist da.“ Isla lächelte, als Cathys Ehemann an den OP-Tisch trat. Ein großartiger Mann, der seine Frau in dunklen Stunden unterstützt hatte, wo er nur konnte. Wenn ihn der Kummer überwältigte, so verriet er Isla einmal, dann nicht vor Cathy. Er wollte stark sein für sie.

Isla verstand ihn sehr gut. Stärke zeigen bedeutete manchmal, dass man sich zurückhalten musste.

„Dan, ich bin sicher, da stimmt etwas nicht …“, begann Cathy und schien den Tränen nahe.

Als er daraufhin Isla anblickte, schüttelte sie kaum merklich beruhigend den Kopf.

„Es ist alles in Ordnung, mein Schatz“, sagte er zu seiner Frau. „Bleib ganz ruhig.“

„Cathy!“, ertönte Isabels Stimme, und Isla blickte auf. „Ihr Baby ist draußen, und es sieht wunderhübsch aus …“

„Warum schreit es nicht?“, hauchte Cathy zitternd.

„Hab Geduld, Liebes.“

Dan klang zuversichtlich, doch Isla ahnte, wie ihm zumute sein musste. Selbst sie, die solche Situationen unzählige Male erlebt hatte, hielt unwillkürlich den Atem an. Obwohl sie sich hütete, sich etwas anmerken zu lassen.

„Cathy, sehen Sie nur!“

Und da war er.

Isabel hielt einen kleinen dunkelhaarigen Jungen hoch, der jetzt den Mund weit aufriss und einen wütenden Schrei ausstieß, miserabel gelaunt, als hätte man ihn aus süßem Schlummer gerissen.

„Er ist wunderschön“, sagte Dan. „Cathy, ich bin so stolz auf dich.“

Das Neugeborene wurde rasch untersucht, und Isla ging hinüber, während Isabel die Operation zu Ende führte.

Was für ein süßer Winzling! Obwohl er vier Wochen zu früh zur Welt gekommen war, wirkte er wach und munter. Auch die Größe stimmte. Der Kinderarzt war sehr zufrieden mit ihm. Die Hebamme wickelte das Baby in eine helle Decke und setzte ihm ein Mützchen auf. Später würde man es gründlich untersuchen. Jetzt sollte es erst seine Eltern kennenlernen.

Isla nahm das warme, schreiende Bündel auf den Arm und wurde von Gefühlen überschwemmt, die ihr für einen Moment die Kehle zuschnürten. Natürlich hatte sie gewusst, dass diese Geburt ein emotionales Ereignis sein würde, aber es war trotzdem ein ganz besonderer Moment für sie, diesem bewundernswerten Paar endlich ein gesundes Kind in die Arme legen zu dürfen.

Sie hielt den Säugling so, dass Cathy den Kopf wenden und ihm einen Kuss geben konnte, und legte ihn ihr dann auf die Brust. Dan schlang den Arm um seine kleine Familie.

Ein OP-Saal bot nicht viel Privatsphäre, doch um diese erste Begegnung nicht zu stören, hielt Isla sich im Hintergrund, ohne etwas zu sagen. Und da konnte der junge Vater nicht mehr an sich halten. In Strömen liefen ihm die Tränen über die Wangen.

„Ich kann es nicht glauben, dass ich wirklich Mutter bin …“ Cathy blickte auf und sah Isla an. „Ich meine …“

„Sie sind schon lange Mutter“, antwortete Isla sanft. „Jetzt werden Sie dafür belohnt.“

Nicht dass Islas Betreuung damit geendet hätte. Später begleitete sie Cathy auf die Station. Erschöpft, aber glücklich wandte Cathy kaum den Blick von ihrem kleinen Jungen, und Dan war unbeschreiblich stolz auf seine Frau und seinen Sohn.

Sie waren Eltern geworden.

Vieles war zu bedenken und zu besprechen, und das wollte Isla auch tun, bevor Cathy entlassen wurde. Oft litten Mütter, die sehnsüchtig auf ein Kind gewartet hatten, unter Wochenbettdepressionen. Es war eine verwirrende Zeit, in der sie sich schuldig fühlten, während alle um sie herum ihnen immer wieder sagten, wie glücklich sie sein müssten, wie wundervoll alles wäre. Aber die Erschöpfung, die überstandene Anspannung, zusammen mit der Trauer um verlorene Babys und dem Gefühl, bei vorausgegangenen Schwangerschaften versagt zu haben – all das konnte die junge Mutter in ein tiefes dunkles Loch stürzen. Deshalb hielt Isla es für besonders wichtig, mit den Eltern noch ein langes Gespräch zu führen.

Allerdings nicht heute Abend.

Heute Abend durfte gefeiert werden!

„Ich werde nachher auf Sie und den Kleinen anstoßen“, versprach sie lächelnd, bevor sie das Zimmer verließ.

Vorn am Stationstresen verabschiedete Isla sich und eilte zu den Umkleideräumen.

Ein Blick in den Spind, und ihr fiel ein, was sie heute Morgen vor Dienstbeginn in der Eile zu Hause vergessen hatte: ihr Kleid. Das hing nun brav an der Schlafzimmertür.

Sie sah auf die Uhr. Nach Hause zu fahren, um sich umzuziehen, dafür reichte die Zeit nicht mehr. Sie kam ja jetzt schon zu spät. Und da die meisten heute am Valentinstag schon andere Verabredungen hatten, war die Zahl der Gäste überschaubar. Ein Grund mehr, möglichst pünktlich zu erscheinen.

Isla stöberte in ihrem Schrank, in der Hoffnung, etwas Passables zum Anziehen zu finden. Die Ausbeute war mehr als mager. Sie fand eine Jeansshorts und Laufschuhe, mahnende Erinnerungen daran, dass sie sich vorgenommen hatte, in der Mittagspause walken zu gehen. Natürlich war es bei dem Vorsatz geblieben.

Die Vorstellung, in der noblen Rooftop Bar in Shorts, einem knappen T-Shirt und Sportschuhen aufzutauchen, gefiel ihr gar nicht.

Da entdeckte sie die cremefarbenen Espadrilles mit Keilabsatz, die sie einer Kollegin geliehen und vor einigen Tagen zurückbekommen hatte.

Isla zog die Sachen an und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die hochhackigen Wedges pimpten das Outfit von lässig zu aufreizend. Fast zu aufreizend.

Ach, was soll’s! Isla war es gewohnt, dass die Leute sie anstarrten. Sie fragte sich auch nicht, ob es eine Kleiderordnung gab. Darüber brauchte sie sich keine Gedanken zu machen – einer der Vorteile, wenn man eine Delamere war. Sie war überall willkommen, und Dresscodes galten für sie einfach nicht.

Sie kämmte sich ihr langes hellblondes Haar, trug Lipgloss und einen Hauch Rouge auf und verließ das Krankenhaus. Am Straßenrand die Hand gehoben, und das nächste Taxi war ihrs. Ein wenig atemlos lehnte sie sich in den Ledersitz zurück. Isla schwebte immer noch auf einer Wolke, erfüllt von einem freudigen Glücksgefühl nach der wundervollen Geburt.

In dieser Stimmung eilte sie die letzten Stufen zur Dachterrasse hinauf und betrat die Bar.

Und so sah Alessandro sie zum ersten Mal: eine große, schlanke junge Frau, blond, mit ellenlangen, von der Sonne geküssten Beinen. Selbstbewusst, als wäre sie hier zu Hause, tauchte sie in der Upperclass-Bar auf. Ihr klassisch schönes Gesicht kam ihm bekannt vor, aber er konnte nicht sagen, woher. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie zu seiner Party wollte.

Eins wusste er jedoch genau – wer immer sie war, er wollte sie kennenlernen. Alessandro beobachtete, wie sie einer Gruppe flüchtig zuwinkte, darauf zuging und von den anderen begrüßt wurde.

„Isla!“, rief jemand.

Also, das war Isla. Nicht nur leitende Hebamme am Victoria Hospital und Charles Delameres Jüngste, ein Umstand, dem sie zweifellos eine für ihr Alter hohe Stufe auf der Karriereleiter verdankte. Nein, er kannte sie sogar von früher. An das Mädchen erinnerte er sich nicht mehr, aber an seinen Namen – sie waren zusammen zur Schule gegangen.

„Tut mir leid, dass ich erst jetzt komme.“ Isla lächelte.

„Wie war es?“, fragte Emily, eine der Hebammen, gespannt. Auch sie kannte Cathys Geschichte.

„Unbeschreiblich schön. Ich bin so froh, dass ich dabei war.“

„Und ich bin neidisch, das kannst du mir glauben.“ Emily wandte sich um. „Isla, dies ist Alessandro Manos, unser neuer Neonatologe.“

Sie nahm den Mann erst jetzt richtig wahr. Als Isla sich zu ihm umdrehte, hielt sie unwillkürlich den Atem an.

Er war umwerfend. Dichtes, leicht zerzaustes dunkles Haar, ein verwegener Bartschatten auf dem markanten Kinn. Als Isla ihm in die schwarzen Augen blickte, wünschte sie sich, dass Rupert heute Abend hier wäre.

Isla und Rupert galten als Traumpaar. Sie waren seit der Schulzeit zusammen, als sie noch Schulsprecherin war und er den Debattierclub geleitet hatte. Eines Abends, auf einer Feier und nach einem Kuss, der für beide kein Feuerwerk zündete, gestand Rupert ihr, dass er Männer liebte.

Er traute sich nicht, seinen Eltern davon zu erzählen, und fürchtete sich vor Gerüchten, die an der Schule umgehen könnten. Isla schützte ihn davor, indem sie seine Freundin spielte. Bis heute.

Rupert machte beim Film Karriere, und sein Agent legte ihm immer wieder nahe, sich nicht zu outen. Es könnte ihn so einige Rollen kosten. Für Isla war er in all den Jahren ein wundervoller Freund, der sich natürlich auch fragte, warum sie die Scharade aufrechterhielt.

Die Antwort war einfach: Isla brauchte den Schutz, den ihr diese „Beziehung“ bot.

Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sie, die ein grandioses Selbstvertrauen ausstrahlte und sich unbefangen auf jedem gesellschaftlichen Parkett bewegte, noch Jungfrau war.

Ihre Erfahrung in Liebesdingen passte auf die Rückseite einer Briefmarke. Ein unbeholfener Schulmädchenkuss mit Rupert und ein paar geübtere Küsse, auch mit Rupert, aber nur für die Öffentlichkeit … das war alles.

Manchmal kam sich Isla wie eine Hochstaplerin vor, wenn sie mit ihren Patientinnen über Verhütung und Beckenbodentraining sprach oder Ratschläge zu Sexualität während und nach der Schwangerschaft gab. Sie selbst kannte nur die graue Theorie.

Oh ja, in diesem Moment wäre sie froh gewesen, Rupert an ihrer Seite zu haben. Seine Hand zu halten, sich an ihn zu lehnen. Damit niemand merkte, wie sie erbebte, während sie in die nachtschwarzen Augen eines Mannes sah, dessen intensiver Blick sie schwindlig machte.

„Isla Delamere ist leitende Hebamme unserer Entbindungsstation“, fuhr Emily fort.

„Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“ Alessandro streckte die Hand aus, und als Isla sie lächelnd nahm, spürte sie die Wärme seiner schlanken Finger auch in ihren Wangen. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Isla?“

„Nein danke.“ Isla wollte schon sagen, dass die erste Runde auf sie ging, da fiel ihr etwas ein. „Oder doch, ich hätte etwas zu feiern. Vorhin habe ich meiner Patientin Cathy versprochen, auf sie anzustoßen.“

Alessandro ging zur Bar, und Emily nutzte die Gelegenheit, etwas loszuwerden.

„Danke, Isla, dass du gekommen bist. Ich muss jetzt wirklich nach Hause.“

„Klar. Ich muss dir danken, dass du dich losgeeist hast. Aber wir waren so wenige. Alessandro sollte nicht denken, dass uns seine Willkommensparty egal ist. Fahr nach Hause zu deinen Babys.“

Während Emily sich verabschiedete, stieß eine andere Kollegin Isla unauffällig an. „Ist er nicht atemberaubend?“

„Er sieht nicht schlecht aus“, täuschte sie Desinteresse vor. Das würde ihr jeder abnehmen, schließlich gab es ja Rupert.

Isla sah zum Tresen hinüber, wo Alessandro seine Bestellung aufgab. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, das seine olivfarbene Haut betonte. Als sie sich dabei ertappte, wie sie seinen athletischen Körper anstarrte, kribbelte es in ihrem Bauch.

Hastig sah sie weg, als Alessandro sich umwandte, und redete mit ihren Kolleginnen.

„Vielen Dank.“ Sie nahm das Glas entgegen und war etwas überrascht, dass er sich neben sie auf das Sofa setzte. Isla trank einen Schluck.

Oh!

Gesellschaftliche Anlässe waren eine gute Schule, mit Wein und Sekt kannte sich Isla aus. Und dies war feinster Champagner! „Ein Sekt hätte genügt“, erklärte sie. „Sie halten mich hoffentlich nicht für unverschämt.“

„Überhaupt nicht. Sie strahlen vor Freude, da hat Ihr Grund zum Feiern sicher nur das Beste verdient.“

Isla nickte. „Es war eine sehr bewegende Geburt.“ Und ehe sie sich’s versah, erzählte sie Alessandro die ganze Geschichte, die so kummervoll begonnen und so glücklich geendet hatte. „Entschuldigen Sie“, sagte sie, als ihr bewusst wurde, wie viel Zeit vergangen war. „Ich bin etwas übers Ziel hinausgeschossen.“

„Was völlig verständlich ist“, antwortete er lächelnd. „Es gibt keine schönere Belohnung für unsere Arbeit, wenn trotz denkbar widriger Umstände eine Familie glücklich wird. Solche Momente machen uns Mut und geben uns Kraft in den dunklen Stunden unseres Berufs.“

Er schien genau zu verstehen, wie ihr zumute war.

Sie unterhielten sich weiter, rissen sich nur von ihrem Gespräch los, als die ersten Kolleginnen sich verabschiedeten.

„Sind wir wirklich zur selben Schule gegangen?“, rief Isla aus, nachdem Alessandro das Thema zur Sprache gebracht hatte. „Wie alt sind Sie?“

„Dreißig.“

„Dann müssen Sie zwei Jahrgänge über mir gewesen sein …“ Isla versuchte, sich zu erinnern. Vergeblich. „Meine ältere Schwester Isabel kennen Sie bestimmt. Sie ist vier Jahre älter als ich.“

„Ich erinnere mich schwach. Sie war Schulsprecherin, als ich in die zehnte Klasse kam. Aber ich habe mich im Schulbetrieb nicht besonders stark engagiert, sondern in jeder freien Minute gelernt. Ich hatte ein Stipendium bekommen und brauchte gute Noten. Waren Sie auch Schulsprecherin?“

Isla lachte. „Ja.“

Alessandro lachte nicht. Er focht einen inneren Kampf aus, während er an seine Zeit an der elitären Privatschule zurückdachte. Genau wie er hatte auch seine Schwester Allegra ein Stipendium erhalten. Nicht selten litten sie unter spöttischen Sticheleien ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler – verzogene Sprösslinge aus reichem Elternhaus, die die Manos-Zwillinge immer wieder spüren ließen, dass sie nicht dazugehörten. Alessandro ließ die höhnischen Bemerkungen an sich abprallen, doch wenn sie seiner Schwester zu sehr zusetzten, schritt er ein.

Beide arbeiteten sie damals in jeder freien Minute im griechischen Café der Familie. Alessandro erinnerte sich gut an das überhebliche Grinsen seiner Klassenkameraden, wenn sie sich von den Geschwistern Kaffee und Kuchen servieren ließen.

Heute rissen sie sich um einen Tisch im Nobelrestaurant „Geo’s“, das seine Schwester zu einer der besten Adressen Melbournes gemacht hatte.

Isla war mit demselben Hintergrund aufgewachsen wie die snobistischen Plagegeister damals. Das heißt nicht, dass sie genauso war, dachte er, während er sie ansah.

Sie verstanden sich großartig.

Isla zeigte ihm sogar ein Foto vom Klassentreffen, an dem sie vor zwei Jahren teilgenommen hatte.

„An den erinnere ich mich.“ Alessandro lachte humorlos auf. „Er sich an mich bestimmt auch.“

„Und das heißt?“

„Meine Schwester vermisste ihren Schulblazer und hatte große Angst, es unseren Eltern zu beichten. Ich fand heraus, dass ihr Mitschüler ihn gestohlen hatte, und dann gab es eine Rauferei.“

„Hat sie die Jacke wiederbekommen?“

„Natürlich“, antwortete Alessandro lächelnd. Doch das Lächeln verging ihm, als Isla auf eine Frau deutete, die er seit einer Ewigkeit nicht gesehen hatte.

„Erinnern Sie sich an Talia?“, fragte sie. „Sie ist Ärztin geworden, lebt aber in Singapur. Stellen Sie sich vor, sie ist nur wegen des Klassentreffens nach Melbourne geflogen.“

Ja, er erinnerte sich viel zu gut an Talia. Allein seine Eltern sorgten dafür, dass er sie nicht vergaß. Selbst heute noch hielten sie ihm vor, wie sehr er das arme Mädchen beschämt hätte, als er sich zwei Tage vor der offiziellen Verlobung von ihr trennte. Er wäre längst verheiratet, ging die Litanei weiter, und hätte Familie statt der Affären, über die die gesamte Großfamilie Manos missbilligend den Kopf schüttelte.

Niemand außer Talia kannte den wahren Grund für die Trennung.

Was für ein seltsamer Zufall, dass auf Islas Handy ein Teil seiner Vergangenheit gespeichert war, die ihn unerwartet wieder einholte.

„Talia hat vier Kinder“, plauderte Isla munter weiter, ohne zu merken, was in ihm vorging. „Vier!“

Es könnten fünf sein, hätte er beinahe gesagt. Schweren Herzens erinnerte er sich an jenen Tag, an dem er bei Talia vorbeischaute, weil er sich Sorgen um sie machte. Sie war nicht bei den Vorlesungen gewesen, und als sie ihm blass und sichtlich schwach die Tür öffnete, packte ihn die Panik. Alessandro fürchtete, dass seine zukünftige Verlobte ihr gemeinsames Baby verlieren würde, und bestand darauf, sie ins Krankenhaus zu fahren. Er wollte schon losgehen, um den Wagen zu holen, da erklärte sie ihm, es gäbe kein Baby mehr. Ohne ihn einzuweihen, hatte sie sich am frühen Vormittag in einem örtlichen Krankenhaus auf den OP-Tisch gelegt. Alessandro war nicht länger Vater in spe.

Selbstverständlich erwähnte er die Geschichte Isla gegenüber mit keinem Wort, sondern lenkte die Unterhaltung wieder auf Isla selbst. Als er nach ihrem Abschlussball an der Highschool fragte, zeigte sie ihm noch ein Foto. Selbst diese Aufnahme von ihr weckte keine Erinnerungen. Alessandro deutete auf die ältere Frau neben ihr.

„Wer ist das?“

„Evie, unsere Haushälterin.“ Ein liebevolles Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Meine Eltern hatten an dem Abend keine Zeit, also hat sie mich begleitet. Es war nicht das erste Mal, sie hat sie oft vertreten. Damals war sie schon sehr krank und ist zwei Monate später gestorben. Evie wollte uns nicht zur Last fallen, aber für Isabel und mich kam nicht infrage, dass sie in ein Hospiz ging. Wir haben sie bis zum Schluss bei uns zu Hause gepflegt.“

Isla starrte auf das Bild. Evies warmherziges Lächeln erinnerte sie an eine Zeit, an die sie lange nicht gerührt hatte.

„Möchten Sie noch etwas trinken?“, bot Alessandro ihr an, als sie das Smartphone weglegte.

„Nein, vielen Dank.“

„Dann etwas essen?“

Sie war hungrig und fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl. Also sagte sie Ja.

Würzige Kartoffelspalten mit Sour Cream, das hatte ihr noch nie so gut geschmeckt!

Die Uhr ging auf Mitternacht zu, als Isla und Alessandro feststellten, dass sie die letzten Gäste waren.

„Ich fahre besser nach Hause.“

„Haben Sie morgen früh Dienst?“

„Nein, an diesem Wochenende habe ich frei.“ Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter und traten auf die Straße. „Sie fangen am Montag an?“

„Ja, und ich freue mich darauf. In dem Krankenhaus, wo ich zuletzt gearbeitet habe, herrschte ein ständiger Kampf um ausreichend Intensivbettchen und – ausrüstung. Es dürfte sehr viel befriedigender sein, auf einer Station zu arbeiten, die nicht unter Kostendruck steht.“ Er sah Isla an – sie war wirklich eine aufregend schöne Frau. Die Anziehungskraft war da, es hatte von Anfang an zwischen ihnen geknistert. „Aber jetzt ist erst einmal Wochenende.“

„Stimmt, Sie wollten mit Ihrer Freundin wegfahren.“ Das hatte er angedeutet, als sie den Termin für den Umtrunk abgesprochen hatten.

„Nicht mehr, wir haben uns getrennt.“

„Das tut mir leid“, sagte Isla und gab damit die richtige Antwort.

„Mir nicht“, sagte Alessandro und gab damit die falsche Antwort. Jedenfalls für Isla.

Den ganzen Abend über war sie völlig unbefangen und offen gewesen, wohl weil sie sich sicher fühlte. Er hatte ja eine Freundin.

Jetzt sah sie ihm in die schwarzen Augen, dann fiel ihr Blick auf seinen Mund. Ein fester männlicher Mund mit einer vollen Unterlippe, der sich nun zu einem sinnlichen Lächeln verzog.

Noch hatte er sie nicht geküsst, doch er würde es tun, das spürte sie mit untrüglicher weiblicher Intuition.

Als Alessandros warme Lippen ihre berührten, schmolz etwas in ihr wie Zuckerwürfel in heißem Kaffee. Es war ein süßer, verführerisch sanfter Kuss, so völlig anders als die verkrampften Küsse mit Rupert. Eine Berührung, zart wie Schmetterlingsflügel, die Isla erbeben ließ.

Er legte die Hände auf ihre Hüften, sie fühlte seine Wärme durch den Jeansstoff ihrer Shorts. Isla versank in watteweichem Wohlgefühl, sehnte sich nach etwas, das sie nicht genau benennen konnte, und wünschte sich gleichzeitig, dass dieser Moment nie enden möge.

Doch als Alessandro den Kuss vertiefte, riss sie die Augen auf und wich zurück. Nicht nur, weil dieser Kuss sie durcheinanderbrachte, sondern vielmehr, weil ihr bewusst geworden war, dass sie mitten auf dem Bürgersteig in leidenschaftlicher Umarmung mit einem Mann stand.

Er denkt, dass ich leicht zu haben bin, dachte sie aufgewühlt. Und vielleicht war sie das auch. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, dass ein einziger Kuss auf direktem Weg ins Bett führen konnte.

Isla wusste sich auf viele Arten zu verteidigen, doch nun griff sie zu einer ihrer schärfsten Waffen. Sie warf ihm einen Blick zu, als sei sie zutiefst angewidert. „Was fällt Ihnen ein?“, zischte sie.

Alessandro hatte es gewusst. Er hätte vorsichtig sein sollen.

Solche hochmütigen Blicke kannte er gut.

Sogar sehr gut!

Natürlich sagte sie es nicht, aber ihre verächtliche Miene sprach Bände. Hände weg, weißt du nicht, wer ich bin?

„Mein Fehler.“ Lässig zuckte er mit den Schultern. „Gute Nacht, Isla.“

Damit ließ er sie stehen. Alessandro dachte nicht daran, auf sich herumtrampeln zu lassen.

Ihr Pech.

Sie hatte den Kuss genauso sehr genossen wie er. Ihre Lippen, ihr weicher, anschmiegsamer Körper waren eine einzige Einladung gewesen. Da konnte sie ihm nichts vormachen.

Ja, Isla hatte den Kuss genossen.

Als sie ins Taxi stieg, bebte sie vor Verlegenheit, aber da war auch ein anderes, ein neues Gefühl. Trotz des beschämenden Schlussakts an diesem Abend fühlte sie sich ungewohnt lebendig, wie wachgeküsst von Alessandros Lippen, deren Wärme sie immer noch auf ihren spürte.

Kurze Zeit später schloss sie die Tür zu ihrem Penthouse-Apartment auf, das einen herrlichen Blick über Melbourne bot, der dem von der Rooftop Garden Bar in nichts nachstand. Lächelnd begrüßte sie ihre Schwester.

„Tut mir leid, dass ich nicht dabei sein konnte“, sagte Isabel. „War’s schön?“

Isla nickte, noch immer ein wenig benommen von dem verführerischen Kuss.

Es war der schönste Valentinstag ihres Lebens gewesen.

Autor

Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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