Die Crighton-Saga - 11-teilige Serie

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Der Crighton Clan: So harmonisch, wie diese große Anwaltsfamilie sich gibt, ist sie nur auf den ersten Blick, Unter der glatten Oberfläche verbergen sich verbotene Leidenschaften, zerstörerische Rivalitäten und brennender Ehrgeiz.

EINE PERFEKTE FAMILIE

Ein glanzvolles Familienfest wird für Olivia und ihren attraktiven Verlobten Caspar zum Tanz auf dem Vulkan. Explosive Enthüllungen, schockierende Geständnisse und heiße Flirts zerstören nicht nur das Bild der perfekten Societyfamilie - sondern beinahe auch Olivias Glück …

BEI JEDEM KUSS VON DIR

Ein skrupelloser Herzensbrecher soll Saul Crighton sein. Tullah ist entschlossen, seinem leidenschaftlichen Werben zu widerstehen. Leichter gesagt als getan: Denn sie arbeitet nicht nur für den charmanten Unternehmer, sondern begehrt ihn wie keinen Mann je zuvor ...

IST DAS LIEBE?

Brennendheiß erwacht die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit in Bobbie Miller. Doch die junge Anwältin hat ihr Herz an den Falschen verloren. Zwar ist Luke Crighton atemberaubend attraktiv - aber auch ein Feind ihrer Familie …

AUF DEN ERSTEN BLICK

Liebe auf den ersten Blick? Ein Märchen, glaubt die schöne Chrissie. Aber dann betritt der Antiquitätenhändler Guy Cooke ihr Cottage, und im nächsten Moment liegt sie in seinen Armen. Doch ein dunkles Geheimnis wirft Schatten auf ihr Glück …

DIR GEHÖRT MEIN HERZ

Ausgerechnet der unwiderstehliche Gareth Simmonds ist Louises neuer Chef in Brüssel. Der Traummann, an den sie einst ihr Herz verlor - und ihre Unschuld. Aber der Schuft stahl sich aus ihrem Bett, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Nicht noch einmal, schwört sich Louise…

IRRWEGE ZUM GLÜCK

Gerade will Maddy die Scheidung einreichen, als ihr treuloser Ehemann von Jamaica heimkehrt. Offenbar geläutert: Denn Max ist sanft und liebevoll. Schon spürt Maddy, wie ihr Verlangen nach ihm wächst. Doch sie bleibt kühl. Noch traut sie seiner wundersamen Wandlung nicht …

EIN ABSCHIEDSKUSS?

Ehemann dringend gesucht! Samantha ist fest entschlossen, sich den netten James Crighton zu angeln. Doch dann erlebt sie in den Armen des attraktiven Liam den zärtlichsten Kuss ihres Lebens - und wird die Erinnerung an diesen Moment einfach nicht mehr los.

DIE LIEBESNACHT

Die Fetzen fliegen, wann immer sich Katie Crighton und Sebastian Cooke begegnen. Die junge Anwältin und der gut aussehende Firmenboss sind sich gehörig unsympathisch! Zumindest bis zu dem Moment, als sie sich auf einmal leidenschaftlich in den Armen liegen

WAS GESCHAH IN ZIMMER 113?

Den verführerischen Duft von Pollys Parfüm bemerkt Marcus sofort, als er Hotelzimmer 113 betritt. Und dann sieht er die schlafende, in ihre Kissen gekuschelte Frau, die er seit Jahren heimlich liebt. Endlich erleben beide sinnliche Stunden voll Leidenschaft. Doch am nächsten Morgen quälen sie sich gegenseitig mit ihrer zerstörerischen Eifersucht. Polly glaubt, dass Marcus der sexy Suzi bereits einen Heiratsantrag gemacht hat. Und er ist sicher, dass Polly total vernarrt in den smarten Phil ist ...

DAVID IST ZURÜCK!

Wie ein Lauffeuer spricht es sich herum: David Crighton, der vor Jahren nach einem Betrugs-Skandal aus Haslewich geflohen war, ist zurück! Doch wird es ihm je gelingen, das Vertrauen seiner Familie zurückzugewinnen? Die sensible Honor möchte ihm so gern dabei helfen

DER NEUBEGINN

Olivia und Caspar verspielen ihr Liebesglück, weil sie echte und scheinbare Konflikte nicht bewältigen können. Nach zehn gemeinsamen Jahren halten beide ihre Ehe für zerrüttet Caspar Johnson - Der sympatische Jurist: Er weiß, dass sich Olivia immer als ungeliebtes Kind ihres Vaters David empfunden hat und sich bei ihm vergeblich bemühte, als Anwältin anerkannt zu werden. Als David nach langer Abwesenheit zur Familie zurückkehrt, fühlt sie sich in ihrer selbst erschaffenen Existenz von ihm so bedroht, dass sich ihre Aggressionen auch gegen den verständnisvollen Caspar wenden ...


  • Erscheinungstag 22.12.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774806
  • Seitenanzahl 1584
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Penny Jordan

Die Crighton-Saga - 11-teilige Serie

IMPRESSUM

Eine perfekte Familie erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 1997 by Penny Jordan
Originaltitel: „A Perfect Family“
erschienen bei: Mills & Boon, Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA PRESTIGE
Band 20 - 1998 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733769635

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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PROLOG

„Erzähl mir doch noch ein bisschen mehr von deiner Familie und diesem Geburtstag.“

Selbst jetzt, nachdem sie bereits ein halbes Jahr zusammen waren, erregte Olivia der lässig gedehnte Akzent Caspar Johnsons noch immer genauso wie sein hochgewachsener, schlanker, sehr männlicher Körper.

„Pass auf die Straße auf“, mahnte Caspar, als sie den Kopf wandte, um ihm ein kleines Lächeln zuzuwerfen, und fügte weich hinzu: „Und schau mich nicht so an, sonst …“

Sein freimütig geäußertes sexuelles Begehren war nur eins der Attribute, die Caspar in ihren Augen so sehr von all den anderen Männern unterschieden.

„Zu den Geburtstagen“, korrigierte sie ihn und fuhr dann fort: „Im Übrigen habe ich dir das alles schon hunderttausendmal erzählt.“

„Ich weiß“, räumte Caspar bereitwillig ein, „aber ich höre es doch so gern, und noch mehr Spaß macht es mir, dein Gesicht zu beobachten, wenn du von deiner Familie erzählst. Es kommt mir genauso vor wie damals, als du dich gegen eine Karriere als Strafverteidigerin entschieden hast“, neckte er sie. „Du kannst dir noch so viel Mühe geben, nichts von dem, was du denkst, preiszugeben, dein Gesichtsausdruck, vor allem deine Augen, verraten dich immer. Du kannst dich eben einfach nicht verstellen.“

Olivia Crighton verzog missbilligend das Gesicht, aber sie wusste, dass er recht hatte. Sie hatten sich kennengelernt, als sie im Anschluss an ihr Studium ein Seminar in amerikanischem Recht belegt hatte, wo er ihr Tutor gewesen war. Bald hatte sich herauskristallisiert, dass Caspar, der ebenso wie sie selbst aus einer Juristenfamilie stammte, sich genau wie sie entschieden hatte, nicht in die Familienkanzlei einzutreten, sondern seinen eigenen Weg zu gehen. Entschieden … nun, Caspar mochte die freie Wahl gehabt haben, wohingegen sie …

Es gibt noch eine Menge anderer Gründe, weshalb wir so gut zusammenpassen, versuchte sie, sich eilig abzulenken in der Absicht, den eben eingeschlagenen und viel zu gefährlichen Gedankenpfad schnellstmöglich wieder zu verlassen. Schließlich waren sie auf dem Weg zu einer fröhlichen Familienfeier, ganz gewiss nicht der geeignete Moment, um alte Probleme wiederzukäuen – Probleme, die überhaupt nichts mit ihnen beiden zu tun hatten. Sie waren aus ganz anderen Gründen zusammen, die über die Tatsache, dass sie demselben Berufsstand angehörten, weit hinausgingen und viel persönlicherer Natur waren. Das Blut stieg ihr in die Wangen, als sie sich an die gestrige leidenschaftliche Liebesnacht erinnerte.

Es war jetzt bereits über zwei Monate her, seit sie und Caspar beschlossen hatten zusammenzuziehen, eine Entscheidung, die zu bereuen keiner von beiden bisher Grund gehabt hatte – ganz im Gegenteil. Sie hatte ihrer Familie noch nichts davon erzählt, dass sie beabsichtigte, Caspar nach Amerika zu begleiten, wenn sein Lehrauftrag in London ausgelaufen war. Nicht etwa, dass irgendjemand Einwände erheben würde; immerhin war sie als weibliches Familienmitglied leicht entbehrlich, und kein Mensch erwartete von ihr, dass sie zum Gelingen des Familienunternehmens etwas beitrug. Ganz im Gegensatz zu den männlichen Familienmitgliedern, deren Rolle fast vom Moment der Empfängnis bereits festgelegt war.

Caspar konnte sich über diesen Aspekt ihrer Familiengeschichte gar nicht genug amüsieren, er hatte es zuerst gar nicht glauben wollen, dass heutzutage noch derart altmodische Familien existierten. Ihre Kinderstube und die ihrer ganzen Familie war so gänzlich verschieden von seinem eigenen Familienhintergrund. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als er sechs war, und Olivia hatte sehr bald gespürt, dass er ein Mensch war, dem es nicht leichtfiel, Gefühle zu zeigen, was sein freimütig für sie geäußertes Begehren in ihren Augen noch wertvoller machte.

Sie wusste, dass er sie ebenso liebte wie sie ihn, aber sie waren beide durch leidvolle Erfahrungen in der Kindheit vorsichtig geworden und passten auf, nicht allzu viel von ihren Gefühlen preiszugeben. Olivia war in bestimmten Momenten durchaus klar, dass sie beide – jeder auf seine Art – Angst vor der Liebe hatten, aber eine andere Sache, die sie bereits früh gelernt hatte, war, dass es besser war, manche Dinge nicht allzu genau zu hinterfragen. Quälende Erinnerungen ließ man am besten ruhen und rührte nicht daran.

Bis auf die Tatsache, dass sie Caspar nach Philadelphia begleiten und dort mit ihm leben würde, hatten sie noch keine längerfristigen Pläne gemacht. Was ihre eigene berufliche Karriere anbelangte, würde sie von dem Schritt, nach Amerika zu gehen, wohl kaum profitieren, aber sie und Caspar waren sich einig gewesen, dass das, was sie miteinander verband, wichtig genug war, um ihm eine Chance zu geben. Doch eine Chance wofür? Sich zu etwas Dauerhaftem zu entwickeln oder die Chance zu sterben?

Olivia war sich noch immer nicht sicher, was sie wirklich wollte, und sie hatte den Verdacht, dass es Caspar nicht anders erging. Im Augenblick wussten sie nur, dass sie zusammen sein wollten, und dass ihre Beziehung für sie beide im Moment die oberste Priorität besaß.

„Also, was ist jetzt mit deiner Familie?“, drängte Caspar, der neben ihr auf dem Beifahrersitz ihres kleinen robusten Ford saß – ein Geschenk ihres Großvaters zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Sie erinnerte sich daran, dass Max, ihr etwa gleichaltriger Cousin, von Gramps zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag einen schnittigen Sportwagen bekommen hatte.

Die Familie … tja, wo sollte sie da anfangen? Bei David und Tiggy, ihren Eltern? Ihren Großeltern Ben und Sarah? Oder ganz am Anfang, bei ihrem von seiner Familie verstoßenen Urgroßvater Josiah, der die Kanzlei in Haslewich gegründet hatte, um für sich und seine von seiner Familie verachteten Frau eine neue Existenz aufzubauen?

„Wie viele Familienmitglieder nehmen an dieser Geburtstagsparty teil?“, riss Caspar sie aus ihren Gedanken.

„Schwer zu sagen. Es hängt davon ab, wie viele der Cousins und Cousinen zweiten Grades sie eingeladen haben. Aber der engste Familienkreis wird natürlich da sein. Gramps, Mum und Dad, Onkel Jon und Tante Jenny, Max, ihr Sohn, und meine Großtante Ruth. Und vielleicht kommen ja auch noch ein paar von der Chesterbande.“

Sie warf einen Blick auf das Autobahnschild, an dem sie vorbeifuhren. „Nur noch ein paar Ausfahrten“, sagte sie, „dann sind wir zu Hause.“

Weil sie sich auf den Verkehr konzentrierte, fiel ihr nicht auf, dass er leicht die Stirn runzelte, als sie „zu Hause“ sagte. Für ihn war zu Hause immer dort, wo er gerade lebte. Aber für sie …

Sie bedeutete mittlerweile schon eine ganze Menge für ihn, diese hübsche, kluge Engländerin. Anders als die Frauen, die er vor ihr kennengelernt hatte, schien sie ihn immer an die erste Stelle zu setzen, und das war sehr wichtig für ihn – ein gerechter Ausgleich für das, was ihm während seiner Kindheit so sehr gefehlt hatte, wo er sich nicht selten wie ein unerwünschtes Paket gefühlt hatte, das vom einen zum anderen geschickt wurde.

Familien … er hegte ein grundsätzliches Misstrauen gegen sie, aber glücklicherweise war dieser Aufenthalt nur von kurzer Dauer, und anschließend würden er und Olivia nach Amerika fliegen, um dort ihr eigenes Leben zu leben – nur sie beide, ganz allein.

1. KAPITEL

„Jon, hast du eine Minute Zeit?“

Jonathon Crighton schaute von der Akte vor ihm auf und runzelte leicht die Stirn, als er sah, dass sein Zwillingsbruder David seine Schulter massierte. „Stimmt irgendwas nicht?“, fragte er.

„Nicht wirklich, es zieht nur ein bisschen. Wahrscheinlich habe ich mir beim Golfspielen am Sonntag eine kleine Zerrung geholt. Ach, dabei fällt mir ein, dass wir beide ja nächsten Monat zum Captain’s Cup runterwollten, aber Tiggy regt sich ein bisschen auf, weil ich wegfahren will, deshalb muss ich möglicherweise passen.“ Nachdem Jonathon genickt hatte, fuhr David fort: „Ich wollte dir eigentlich nur Bescheid sagen, dass ich ein bisschen früher gehe. Wir sind heute Abend bei den Buckletons zum Essen eingeladen, und hier gibt es ja nichts Dringendes mehr.“

Nein, das gab es wirklich nicht, wenn man von den beiden Testamenten, die noch ausgearbeitet werden mussten, ebenso absah wie von der Eigentumsübertragung für die Hawkins-Farm und einer Menge anderer kniffliger Patentrechtsfälle, die in letzter Zeit zunehmend ihren Weg von Davids Schreibtisch auf den seinen fanden, weil David einfach die Zeit fehlte, sich damit zu befassen.

Es war nie geplant gewesen, dass sie beide in die Familienkanzlei einsteigen sollten; David war eigentlich zu Höherem, nämlich zum Strafverteidiger, auserkoren gewesen, und schon lange bevor sie beide die Schule verlassen hatten, redete ihr Vater bereits ständig davon.

Doch all das hatte sich in dem Sommer, als David mit Tiggy nach Haslewich zurückgekehrt war und verkündet hatte, dass sie ein Kind erwarteten, schlagartig geändert. Niemand hatte David jemals mehr daran erinnert, dass er die Hoffnungen seines Vaters auf eine Zulassung als Strafverteidiger enttäuscht hatte, genauso wenig wie die Schulden, die David in London gemacht hatte und für die sein Großvater großzügigerweise aufgekommen war, jemals Erwähnung gefunden hatten oder der verräterisch süße, Übelkeit verursachende Geruch, der durch die Türritzen des Zimmers drang, das David und Tiggy in Queensmead, dem Familiensitz, bewohnten, bevor man für sie ein neues Zuhause gefunden hatte.

Die Arrangements, in die Familienkanzlei einzusteigen, waren schnell getroffen – wenngleich auch nicht als vollwertiger Anwalt, denn dafür war David nicht ausreichend qualifiziert, aber Jon bezweifelte, dass sich heute überhaupt noch irgendjemand daran erinnerte. Als der von seinem Vater bevorzugte Bruder war automatisch klar, dass David in der Firma der Seniorpartner sein würde, was weder Jon noch David niemals infrage gestellt hatten.

Als Jonathon seinen Bruder jetzt anschaute und die ersten unübersehbaren Anzeichen von Schlaffheit in dessen Zügen entdeckte, die Unfähigkeit, seinem, Jons, Blick standzuhalten oder auch, dass Davids ehemals muskelgestählter Körper eindeutig anfing, aus den Fugen zu gehen, bewirkten diese kleinen Unzulänglichkeiten nicht etwa, dass Jon seinen Bruder jetzt weniger liebte, sondern er liebte ihn dafür nur umso mehr. Seine Liebe war von einer Unbedingtheit, die so stark war, dass sie manchmal richtiggehend schmerzte. Allerdings hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, jemals irgendwem davon zu erzählen, und er wusste instinktiv, dass Davids Gefühle ihm gegenüber nicht von der gleichen Intensität waren.

Während Jon seinen Bruder beobachtete, der sich noch immer die schmerzende Schulter massierte, wurde ihm bewusst, dass er automatisch die Bewegungen des Bruders nachahmte, obwohl seine Schulter völlig schmerzfrei war.

„Es sieht ja wohl so aus, als würde sich das Wetter bis zum Wochenende halten“, kommentierte David, während er sich zum Gehen wandte. „Die Frauen werden aufatmen. Ach, übrigens, Max hat mich gestern Abend angerufen. Er kommt morgen von London rauf.“

„Ja“, stimmte Jon zu. Max mochte zwar sein Sohn sein, aber das engere Verhältnis hatte dieser zu David. Jon hegte den Verdacht, dass Max viel lieber David zum Vater gehabt hätte. Die beiden waren sich sehr ähnlich, sie hatten dieselbe extrovertierte Art, dieselben Bedürfnisse, dieselbe Sucht nach Glanz und Ruhm, dieselben Talente – und dieselben Schwächen. Jon runzelte die Stirn. Mit einem Mal musste er daran denken, dass früher, vor langer Zeit, Jenny Davids Mädchen gewesen war.

„Livvy hat sich schon für heute Abend angekündigt“, fuhr David gerade fort und runzelte jetzt ebenfalls die Stirn. „Sie bringt diesen Amerikaner mit. Ich bin mir nicht ganz sicher … hör zu, ich glaube, ich mache mich jetzt besser auf den Weg“, schloss er hastig, als das Telefon zu läuten begann. „Ich habe Tiggy versprochen, rechtzeitig da zu sein, und sie ist sowieso schon völlig durch den Wind, weil ihre Schuhe für Samstag, den Tag der großen Feier, noch nicht da sind … na, du kennst sie ja.“

Max verzog das Gesicht, als die Tür seines Büros ins Schloss fiel. Es war schon fast sechs, und jetzt sah es ganz danach aus, als ob er mindestens noch zwei Stunden Arbeit vor sich hätte. Er warf einen angewiderten Blick auf die Unterlagen, die ihm Bob Ford auf seinen Schreibtisch gelegt hatte.

Es war kein Geheimnis, dass er nicht unbedingt zu den Lieblingen des Kanzleivorstehers gehörte, ein Vermächtnis aus seiner Referendariatszeit, als Bob unglücklicherweise mit angehört hatte, wie er dessen leichtes Stottern nachäffte.

Max zuckte die Schultern.

Er hatte die hochgewachsene und muskulöse Gestalt seines Vaters und seines Onkels geerbt, und die Jahre, während derer er an der King’s School und später in Oxford Rugby gespielt hatte, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Durch den regelmäßigen Sport hatten sich seine Muskeln in einer Art und Weise entwickelt, auf die er insgeheim sehr stolz war.

Er genoss es, wenn die Frauen ihm aus dem Augenwinkel diskret einen zweiten Blick zuwarfen und ihm manchmal alles andere als diskret ihre Vorschläge unterbreiteten. Ebenso, wie er es genoss, in den Augen seiner Mitspieler den Neid aufflammen zu sehen, wenn er nach einem harten Squash- oder Rugbyspiel unter die Dusche trat. Es verschaffte ihm einen Vorteil, und jeder Vorteil war von Nutzen, wenn es darum ging, im Leben der Sieger zu bleiben, wie Max sehr genau wusste. Und Max hatte vor zu siegen. Er würde sich nicht wie sein Vater mit der Rolle des Zweitbesten zufriedengeben. Nein, Max brauchte sich nur Onkel David anzuschauen, um genau zu wissen, was er wollte.

Er konnte sich zwar nicht mehr erinnern, wann ihm zum ersten Mal aufgefallen war, wie unterschiedlich die Leute seinen Vater und Onkel David behandelten, aber er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie er beschlossen hatte, dafür zu sorgen, dass ihn die Leute eines Tages wie seinen Onkel und nicht wie seinen Vater behandeln würden.

Die Erkenntnis, dass es ihm wesentlich lieber gewesen wäre, David zum Vater zu haben, kam erst später. Er genoss es, dass David ihn viel eher wie einen Sohn denn einen Neffen behandelte, und noch mehr genoss er es, dass David ihn ganz offensichtlich seiner eigenen Tochter Olivia, genannt Livvy, vorzog.

Es waren David und sein Großvater gewesen, die ihn vehement unterstützt hatten, als er seine Absicht, Strafverteidiger werden zu wollen, verkündet hatte.

Sein Vater hingegen hatte leise Bedenken angemeldet. „Dafür brauchst du aber einen erstklassigen Abschluss“, hatte er eingewandt. „Das wird nicht leicht werden, vergiss das nicht.“

„Hör auf, den Jungen zu entmutigen“, hatte sein Großvater Ben seinen Vater unterbrochen. „Es wird höchste Zeit, dass wir endlich auch einen Anwalt der Krone in unserem Zweig der Familie haben.“

„Ganz meiner Meinung“, pflichtete Max ihm bei und beschloss, aus der guten Laune seines Großvaters einen Vorteil für sich herauszuschinden, „aber ganz so leicht wird es auch wieder nicht werden. Ein Teilzeitjob ist nämlich nicht drin, solange ich in Oxford studiere, diese Zeit habe ich nicht – nicht wenn ich einen guten Abschluss machen will“, fügte er virtuos hinzu und legte anschließend eine kleine Kunstpause ein. „Und irgendwann werde ich mir wohl oder übel ein neues Auto kaufen müssen …“ Er hielt hoffnungsvoll inne, und ganz wie erwartet enttäuschte ihn sein Großvater nicht.

„Nun, ich bin mir sicher, dass wir da eine Lösung finden. Du bekommst ja noch ein bisschen Geld von deiner Großmutter, und was das Auto anbelangt, hast du nicht bald deinen einundzwanzigsten Geburtstag …?“

Später hatte er mit angehört, wie sich seine Eltern wegen des Vorfalls fast in die Haare geraten wären.

„Daran ist wieder einmal nur David schuld“, hatte er seine Mutter verärgert sagen gehört, „und Max ermuntert ihn auch noch.“

„Ja, ich weiß, aber was soll ich machen?“, hatte sein Vater erwidert. „Und du weißt ja, wie Dad ist.“

Das Problem mit seiner Mutter war, dass sie ständig glaubte, irgendeine eingebildete Moral hochhalten zu müssen, doch zu irgendwas wollte sie eben auch da sein. Immerhin war sie längst nicht so attraktiv wie Davids Frau Tiggy, die zu jener Art von Frau gehörte, bei deren Anblick einem Mann fast die Augen herausfielen. Jener Art von Frau, um die einen andere Männer beneideten. Er konnte sich noch lebhaft erinnern, wie irre das gewesen war, als David und Tiggy einmal statt seiner Eltern zu seinem Schulsporttag gekommen waren.

Der alte Harris, sein Sportlehrer, war knallrot angelaufen und hatte sich benommen wie ein Idiot, als Max ihn Tiggy vorgestellt hatte.

Auch konnte er sich noch gut erinnern, wie sein Vater und seine Mutter an einem Schulfest teilgenommen hatten, und wie wütend und beschämt er sich beim Anblick des dicken Bauches seiner Mutter gefühlt hatte. Mit vierzig Jahren war seine Mutter noch einmal schwanger mit seinem kleinen Bruder Joss geworden. Sie hatte kein Recht, in ihrem Alter … Sie machte sich zum Gespött der Leute und ihn mit dazu.

Bei dem Gedanken an seine Eltern presste Max die Lippen ganz fest zusammen, seine Mutter schaute ihn manchmal so komisch an …

Seine Mutter musste verrückt sein, wenn sie sich einbildete, er würde eines Tages so enden wie sein Vater, ein Mann, der immer nur die zweite Geige spielte, für ein zweitklassiges Gehalt in einem zweitklassigen Familienunternehmen in einer zweitklassigen Stadt arbeitete. Ohne Onkel David mit seiner charismatischen Ausstrahlung wäre die Kanzlei schon vor Jahren vor die Hunde gegangen. Nur weil sein Onkel einen blöden Fehler gemacht hatte und …

Es war ein Fehler, den Max nicht wiederholen würde. Oh, er hatte auch vor, Spaß im Leben zu haben, und das nicht zu knapp, aber ebenso würde er aufpassen, dass er nicht in dieselbe Falle tappte wie sein Onkel.

Deshalb hatte Max dafür gesorgt, dass er Oxford mit einem guten Abschluss verließ, um schließlich in einer angesehenen Kanzlei unterzukommen.

„Noch immer hier, alter Junge? Ich dachte eigentlich, du wolltest heute früher Schluss machen.“

Max verspannte sich, als Roderick Hamilton sein Zimmer betrat. Roderick war seit etwas über zwölf Monaten sein Vorgesetzter. Sie waren zur selben Zeit in Oxford gewesen, hatten jedoch nicht in denselben Cliquen verkehrt; Rodericks Eltern waren sehr wohlhabend und verfügten über einflussreiche Beziehungen. Sein Onkel war der Senior dieser angesehenen Kanzlei, was zweifellos der Grund dafür war, dass er seinem Neffen nach Abschluss des Referendariats eine frei gewordene Soziusstelle angeboten hatte, während man Max nur vorübergehend Unterschlupf gewährte, bis sich auch für ihn die Möglichkeit, irgendwo in eine Kanzlei einzusteigen, bieten würde.

Max hatte nie das Bedürfnis verspürt, sich Freunde zu machen; seine Kommilitonen waren Konkurrenten, Hindernisse, die überwunden werden mussten, aber Roderick verabscheute er aus tiefstem Herzen.

„Mmm … der Wilson-Brief. Echtes Pech“, bemerkte Roderick mitfühlend, während er eine Unterlage von Max’ Schreibtisch nahm, einen Blick darauf warf und sie anschließend wieder hinlegte. „Schade, dass du keine Zeit hast am Wochenende“, fügte er dann hinzu. „Ma schmeißt eine Party für meine Schwester und hat mich gefragt, ob ich nicht noch ein paar nette Jungs auftreiben kann.“

Max hob den Blick nicht von den Akten, die er zu studieren vorgab. Keine Frage, Roderick versuchte, sich über ihn lustig zu machen; es war völlig undenkbar, dass Rodericks Mutter bei dem sorgfältig geplanten Ball mit den handverlesenen Gästen, der dazu diente, ihre Tochter in die Gesellschaft einzuführen, einen Gast akzeptieren würde, der nicht schon seit Monaten auf ihrer Gästeliste stand.

„Zweifellos wirklich verdammt schade“, gab er zurück, ohne Roderick eines Blickes zu würdigen. „Aber dieses Wochenende feiern mein Vater und mein Onkel ihren fünfzigsten Geburtstag.“

„Ah, sag mal, du hast doch sicher schon von dem alten Benson gehört, vermute ich“, bemerkte Roderick, womit er fraglos auf den eigentlichen Grund seines „Besuchs“ zu sprechen kam.

Obwohl Max damit gerechnet hatte, konnte er spüren, wie sich sein Körper anspannte in der Anstrengung, die Wut, die schon den ganzen Tag über in ihm kochte, im Zaum zu halten.

„Ja, hab ich“, stimmte er zu.

„Wenn er geht, wird in der Kanzlei eine Soziusstelle frei“, teilte Roderick ihm unnötigerweise mit.

„Ich weiß“, erwiderte Max in neutralem Ton, nur um etwas zu sagen.

„Hast du vor, dich zu bewerben?“

Max konnte deutlich spüren, wie ihm unaufhaltsam die Zügel entglitten. „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.“

„Dann würde ich es an deiner Stelle aber schleunigst tun, alter Freund“, warnte Roderick ihn. „Man kommt heute nicht mehr so ohne Weiteres in eine Kanzlei rein, und ich habe gehört, dass die Interessenten bereits Schlange stehen. Was dich allerdings nicht hindern sollte, ebenfalls dein Glück zu versuchen. Immerhin hast du dein Referendariat hier gemacht und arbeitest jetzt schon seit … lass mich überlegen … einem guten Jahr hier, stimmt’s? Himmel, wo ist bloß die Zeit geblieben … na, ich glaube, ich werd jetzt mal besser gehen, ich habe Ma versprochen, ihr heute Abend zu helfen. Viel Spaß noch mit dem Wilson-Brief“, fügte er gedehnt hinzu, während er bereits auf den Flur hinausging.

Max wartete, bis er sich sicher sein konnte, dass Roderick wirklich gegangen war, bevor er das Schreiben, das er eben gelesen hatte, zusammenknüllte und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, in die am weitesten entfernte Ecke des Zimmers feuerte. Verfluchter Roderick, er sollte sich zum Teufel scheren, und sein gottverdammter Onkel gleich mit dazu.

Es war jetzt mehr als acht Monate her, seit Max zum ersten Mal das Gerücht zu Ohren gekommen war, dass man Clive Benson eine Richterstelle angeboten hatte. Es war in Chester gewesen, als er den Chester-Zweig der Familie besucht hatte; immerhin musste man in diesem Geschäft alle Quellen ausschöpfen, die einem zugänglich waren. Und seitdem hatte er sich abgestrampelt wie nie in seinem Leben, um nur alles richtig zu machen und so sicherzustellen, dass er die freie Stelle bekam, wenn es so weit war.

Am vergangenen Mittwochmorgen, als die Sekretärin ihn zu einer Besprechung zum Senior gerufen hatte, war Max insgeheim davon ausgegangen, jetzt offiziell von der frei werdenden Stelle unterrichtet zu werden, und er hatte damit gerechnet, zu hören, dass man sie ihm anbieten würde.

Stattdessen hatte er nach viel Herumdruckserei und Räuspern zu hören bekommen, dass man sich nach langer Diskussion unter den Partnern entschieden hätte, es sei an der Zeit, sich an die Regeln gegen Frauendiskriminierung zu halten, und dass man es zumindest in Erwägung zöge, eine Anwältin mit in die Kanzlei hineinzunehmen. Was allerdings nicht heißen solle, dass die Entscheidung bereits gefallen sei, wurde Max nachdrücklich versichert. Man würde alle Gesichtspunkte im Auge behalten, und die Qualifikation und Verdienste aller Bewerber würden entsprechend gewürdigt werden, selbstverständlich.

„Selbstverständlich“, hatte Max zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgestoßen, aber er wusste doch genau, was das, was er eben gehört hatte, bedeutete, und Roderick wusste es nicht minder. Wie sollte er es auch nicht wissen?

Es war jetzt zu spät für Max, sich zu wünschen, seinem Großvater gegenüber den Mund weniger voll genommen zu haben; es war noch nicht lange her, da hatte er herumgetönt, die aller Wahrscheinlichkeit frei werdende Teilhaberstelle praktisch schon in der Tasche zu haben. Es wurde auch höchste Zeit, weil Gramps langsam ungeduldig wurde, dass er nach mehr als einem Jahr noch immer nur auf Angestelltenbasis arbeitete. Zu seiner Zeit wäre so etwas unvorstellbar gewesen, man machte sein Referendariat, und anschließend begann man sofort, als gleichwertiger Partner in einer Kanzlei zu arbeiten. Aber die Zeiten hatten sich geändert, und Teilhaberstellen waren nicht mehr so leicht zu bekommen.

Max hatte im letzten Jahr jeden Mist gemacht, den sie ihm auf den Schreibtisch geknallt hatten. Nur indem er ganz fest die Zähne zusammengebissen hatte, war es ihm gelungen, den manchmal fast überwältigenden Drang zu bekämpfen, ihnen ihren Kram vor die Füße zu schmeißen und ihnen zu sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollten.

Er hatte sich ausbeuten lassen bis aufs letzte Hemd, und was hatte er davon, wenn er jetzt nicht in die Kanzlei einsteigen konnte? Gut, er könnte natürlich immer noch in die Industrie gehen; dort würde er zumindest ein angemessenes Gehalt beziehen. Aber er hatte sich schon lange gegen eine Laufbahn als Firmenanwalt entschieden, weil er wusste, dass Onkel David und sein Großvater alle Hoffnungen auf ihn setzten. Beide erwarteten von ihm, dass er eine große Karriere als Strafverteidiger machte, an deren Ende die Berufung zum Richter stehen sollte. Und das war etwas, das er sich für sich selbst auch erhoffte.

Er wollte es, ja, er hungerte förmlich danach, ersehnte es sich aus tiefstem Herzen, und bei Gott, er würde es auch schaffen, und weder eine Frau noch ein Antidiskriminierungsgesetz würden sich ihm bei der Erreichung dieses Ziels in den Weg stellen.

Es gab nur einen einzigen Weg, mit der Situation jetzt klarzukommen, und Max kannte ihn genau, aber zuerst musste er herausfinden, um wen es sich bei der hoffnungsvollen Kandidatin für die freie Stelle handelte. Die Frage war nur, wie.

Max grübelte noch immer darüber nach, welchen Kurs er am besten einschlagen sollte, als er zwei Stunden später in sein Auto stieg und gen Norden bretterte.

„So, hier wären wir. Das ist mein Zuhause.“

„Sehr beeindruckend“, brummte Caspar, während Olivia den Wagen zum Stehen brachte und sich in ihrem Sitz umdrehte, um ihn anzuschauen.

„Ach, da ist ja Tiggy“, verkündete sie, als sie sah, wie die Haustür aufging und ihre Mutter heraustrat, um sie zu begrüßen.

Caspar sagte nichts, als er sich umwandte, um einen ersten Blick auf Olivias Mutter zu werfen. Dass sie ihre Mutter bei deren Spitznamen nannte, war nichts Ungewöhnliches in der Gesellschaftsschicht, in der er aufgewachsen war, aber ein ganz bestimmter Unterton, der sich stets in Olivias Stimme einschlich, wenn sie von ihrer Mutter sprach, veranlasste ihn, sich Tiggy Crighton genauer anzusehen.

Rein körperlich betrachtet waren sich Mutter und Tochter sehr ähnlich; Olivia hatte die Schönheit von ihrer Mutter geerbt einschließlich der hohen Wangenknochen. Doch im Gegensatz zu der Schönheit ihrer Mutter, die auf eine seltsame Weise leer wirkte, hatte Olivia eine starke persönliche Ausstrahlung, die es fast unwichtig erscheinen ließ, dass sie schön genug war, um einem Mann den Atem stocken zu lassen. Neben ihrer Tochter wirkte Tiggy wie ein hübsches, aber nichtssagendes Gemälde.

Caspars erste Regung beim Anblick von Olivias Mutter war Enttäuschung. Warum das?, fragte er sich, während er ausstieg und darauf wartete, dass Olivia sie miteinander bekannt machte. Was hatte er erwartet … was erhofft, falls er sich überhaupt etwas erhofft haben sollte? Vielleicht hatte er gehofft, dass sich ihre Mutter – trotz des sorgfältig neutralen Tons, den Olivia stets anschlug, wenn sie von ihrer Mutter sprach – als mehr oder weniger dasselbe herausstellen würde, was ihre Tochter war.

„Livvy, Darling … endlich … Oh Liebes, schau doch bloß … deine Nägel, und deine Haare! Und diese Jeans …! Oh Darling …“

„Tiggy, das ist Caspar“, unterbrach Olivia ihre Mutter ruhig. „Caspar, das ist meine Mutter.“

„Tiggy, Sie müssen mich unbedingt Tiggy nennen“, verkündete sie in dem leicht atemlosen Tonfall, den – wie sie wusste – so viele Männer so unglaublich sexy fanden. „Kommt rein. Es tut mir leid, aber dein Vater und ich sind gerade am Gehen“, sagte sie zu Olivia, während sie sie ins Haus drängte. „Wir sind bei den Buckletons zum Dinner eingeladen …“

Der Parkettboden war auf Hochglanz gewienert, und Caspar hatte im ersten Moment das Gefühl, einen Blumenladen zu betreten. Überall standen riesige Bodenvasen und Schalen mit kunstvollen Blumenarrangements herum, auf einem runden, ebenfalls auf Hochglanz gebrachten großen Tisch in der Mitte des Zimmers, auf den beiden kleinen Tischchen, die vor zwei imposanten georgianischen silbergerahmten Spiegeln standen.

„Ich finde Blumen schrecklich wichtig“, hörte er Tiggy neben sich sagen, als sie bemerkte, wie er seine Umgebung aufmerksam studierte. „Sie machen ein Haus gleich viel lebendiger und verwandeln es in ein Heim“, plapperte sie atemlos weiter, und dann: „Oh Jack, nein, untersteh dich, dieses Tier hier reinzubringen. Nimm die Hintertür. Du kennst die Regeln.“

Caspar runzelte die Stirn, als er einen etwa zehnjährigen Jungen in Begleitung eines etwas übergewichtigen Golden Retriever in der Tür, die noch immer offen stand, auftauchen sah.

„Nun, wenn ihr gerade am Gehen seid, lasst euch von uns nicht aufhalten“, hörte er Olivia zu ihrer Mutter sagen. „Ich nehme an, dass wir in meinem Zimmer schlafen. Wir …“

„Oh Liebes … Schätzchen, es tut mir schrecklich leid, darüber wollte dein Vater ganz kurz mit dir reden. Nicht, dass es uns etwas ausmachen würde, natürlich, aber dein Großvater … du weißt doch, wie altmodisch er ist und wie viel Wert er darauf legt, was die Leute von ihm denken. Dein Vater befürchtet einfach, dass er nicht allzu begeistert sein wird von dir und Caspar … na ja, vor allem, weil doch die Chester-Familie auch kommt, und dein Vater …“

„Versuchst du, mir zu sagen, dass ihr von Caspar und mir erwartet, dass wir in getrennten Zimmern schlafen?“, unterbrach Olivia ihre Mutter ungläubig. „Aber das ist doch …“ Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen verdunkelten sich vor Ärger, und ihre Stimme nahm einen schroffen Ton an. „Nein, das kommt ja gar nicht …“

Caspar berührte sie leicht am Arm. „Es ist schon okay, ich verstehe. Getrennte Zimmer sind in Ordnung“, sagte er leichthin zu Tiggy.

Olivia schüttelte den Kopf und warf ihm einen bedauernden Blick zu. Die Intensität ihrer Liebe zu ihm machte ihr manchmal ein bisschen Angst. Liebe war ein Wort, das man bei ihr zu Hause sehr oft im Munde führte, was jedoch das Gefühl selbst anbelangte, war sie sich nicht ganz sicher, ob sie es richtig verstand – sie wusste nur, dass es sie verletzlich und wachsam machte.

Sie war ihm praktisch vom ersten Augenblick an hoffnungslos verfallen gewesen. Und welcher Frau wäre es anders ergangen? Über einsachtzig groß, mit breiten muskulösen Schultern, hatte er von einem indianischen Vorfahren die kantigen Gesichtszüge geerbt zusammen mit dem bronzefarbenen Teint und – das war das Bezwingendste von allem – schwarzen Haaren und dunkelblauen Augen.

Olivia war in seinen Vorlesungen nicht in der Lage gewesen, den Blick von ihm abzuwenden – und anderen war es nicht anders ergangen. Als er sie gefragt hatte, ob sie Lust habe, mit ihm auszugehen, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen, aber sie war zumindest noch imstande gewesen, klar genug zu denken, für ihr erstes Rendezvous einen belebten Ort vorzuschlagen, um der Versuchung – falls sie denn auf sie zukommen sollte –, schnurstracks mit ihm ins Bett zu gehen, widerstehen zu können.

Die Versuchung kam, und sie widerstand ihr nicht, aber Sex war nicht alles, was sie voneinander wollten.

Oh ja, sie hatte ihn begehrt, ganz richtig – und sie tat es noch immer – doch jetzt liebte sie ihn sowohl mit dem Verstand als auch mit dem Herzen. Er war ihr Liebhaber, ihr Mentor, ihr bester Freund … ihr Ein und Alles, und sie konnte sich ein Leben ohne ihn gar nicht mehr vorstellen, es war ihr schleierhaft, wie sie all die vielen Jahre ohne ihn hatte leben können, und irgendwie wusste sie, dass er eine schmerzhaft klaffende Lücke hinterlassen würde, wenn er eines Tages nicht mehr da wäre.

Er war ihre Welt; durch ihn wurde sie erst zu einem ganzen Menschen, und doch fiel es ihr schwer, ihm zu sagen, wie viel er ihr bedeutete. Das war weitaus schwieriger, als ihm zu sagen, was für eine Wirkung er in körperlicher Hinsicht auf sie ausübte, denn Olivia war Gefühlen gegenüber sehr misstrauisch, sie konnte sie nur sehr schwer zulassen und noch schwerer zeigen. Ihre Mutter war sehr gefühlvoll, das sagte jeder, weshalb sie – auch darüber war man sich mehr oder weniger einig – besondere Rücksichtnahme verdiente.

Schon als Kind war sich Olivia dieser Sonderstellung sehr deutlich bewusst gewesen, die ihre Mutter aufgrund ihrer Empfindsamkeit einnahm, und die immer auf Kosten anderer Menschen zu gehen schien. Alle anderen mussten stets gesunden Menschenverstand beweisen und ihre Gefühle im Zaum halten, als ob man auf diese Weise versuchte, die Hochs und Tiefs der Mutter auszugleichen.

„Du versetzt mich wirklich in Erstaunen“, hatte Caspar ihr einmal gesagt, nachdem sie Wochen damit verbracht hatte, nach einem bestimmten Buch zu fahnden, von dem sie wusste, dass er es sich wünschte, um es ihm dann beiläufig auf den Schreibtisch zu legen. „Du machst so etwas, aber mir zu sagen, dass du mich liebst, schaffst du einfach nicht.“

„Du weißt, dass ich es tue“, hatte sie erwidert.

„Ja“, pflichtete er ihr lachend bei, „trotzdem wäre es nett, es auch einmal aus deinem eigenen Mund zu hören.“

„Ich weiß“, gestand Olivia, aber sie hatte sich dennoch nicht überwinden können, den kleinen Satz zu sagen … und sie konnte es bis heute nicht, nicht einmal in den leidenschaftlichsten Augenblicken.

„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagte sie fünfzehn Minuten später zu ihm, nachdem ihre Eltern das Haus verlassen hatten und ihr Bruder Jack zu einem Freund gegangen war. Sie war eben aus ihrem alten Zimmer in den kleinen Raum unter dem Dach gekommen, wo Caspar seinen Koffer auspackte. „Sie hätten dir wenigstens das Zimmer neben meinem geben können.“

„Es ist doch nur für ein paar Tage“, erinnerte Caspar sie und fügte neckend hinzu: „Und mir macht es nichts aus, im Gegenteil, ich freue mich schon jetzt darauf, endlich mal wieder allein schlafen zu können. Weißt du eigentlich, dass du dich im Schlaf ständig herumwälzt?“, erkundigte er sich scherzhaft betrübt. „Es ist schon Monate her, seit ich zum letzten Mal richtig geschlafen habe.“

„Genau zwei Monate, sechs Tage und … acht Stunden“, gab Olivia liebevoll zurück und zählte die Stunden an ihren Fingern ab, während Caspar sie angrinste. „Es ist völlig lächerlich, dass Mum und Dad von uns erwarten, dass wir in getrennten Zimmern schlafen“, fuhr sie fort und setzte sich auf das Fußende des schmalen Betts.

Caspar hatte zu seinem Bedauern bereits feststellen müssen, dass das Bett auf jeden Fall zu kurz für ihn war, und trotz seiner gegenteiligen Behauptung wusste er schon jetzt, dass ihm Olivia schrecklich fehlen würde. Und das nicht nur wegen dem Sex. Deswegen am allerwenigsten.

Er war zweiunddreißig Jahre alt und hatte bereits vorher guten Sex gehabt, doch der Unterschied zu jetzt lag darin, dass er zuvor noch nie richtig verliebt gewesen war, nie geliebt hatte, dass er sich gar nicht hatte vorstellen können, dass es diese Art Liebe, wie er sie jetzt mit Olivia erfuhr, überhaupt gab. Er hatte als Kind mit ansehen müssen, wie seine Eltern von einer Partnerschaft in die andere gestolpert waren, ein Umstand, der ihn vorsichtig gemacht hatte. Er hatte es geschafft, nicht in die Falle einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten Frühehe zu tappen, und war davon ausgegangen, dass er irgendwann in den Dreißigern heiraten würde, was ihm und seiner Partnerin dann noch genug Zeit geben würde, sich für Kinder zu entscheiden, falls beide es wollten.

„Es ist ja nur, weil mir das alles so verdammt verlogen vorkommt“, beschwerte sich Olivia. „Das ist es, was mich so wütend macht. Es ist immer wieder dasselbe. Gramps braucht nur die Stimme leicht zu erheben, dann stehen sie alle stramm.“

„Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet …“, begann Caspar, aber Olivia schüttelte den Kopf.

„Das hat mit Moral überhaupt nichts zu tun. Gramps will einfach nur, dass alle Welt nach seiner Pfeife tanzt. Er interessiert sich nicht die Bohne für mein Seelenheil“, erklärte sie wütend. „Das hat ihn nie interessiert. Nur wenn ich ein Junge gewesen wäre …“ Sie brach ab und schüttelte ein zweites Mal den Kopf; um ihre Lippen spielte ein bedauerndes Lächeln. „Da siehst du es, ich bin kaum hier, und schon fängt es an. Dabei habe ich mir bei meinem Weggang von zu Hause geschworen, diesen ganzen Mist hinter mir zu lassen.“

„Du hast aber selbst gesagt, dass du keine Lust gehabt hättest, in die Familienkanzlei einzusteigen“, erinnerte er sie.

„Ja, ich weiß“, räumte sie ein. „Allerdings wäre es mir entschieden lieber gewesen, ich hätte die Wahl gehabt. Gramps und Dad haben alles getan, um mich davon abzubringen, Jura zu studieren. Tante Jen war die Einzige, die mich unterstützt und ermutigt hat. Oh, und Tante Ruth natürlich. Du wirst sie beide mögen, und Onkel Jon auch.“

„Den Zwillingsbruder deines Vaters?“

„Mmmm … obwohl sie sich eigentlich gar nicht ähnlich sind – bis auf das Äußere natürlich, Onkel Jon ist …“ Sie hielt mitten im Satz inne.

„Was ist Onkel Jon?“, drängte Caspar, aber Olivia schüttelte nur den Kopf.

„Ich kann es nicht richtig erklären. Du wirst es selbst sehen. Es ist immer irgendwie, als stände er im Schatten – in Davids Schatten – und doch …“

Wieder unterbrach sie sich und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. „Er scheint sich ständig zurückzunehmen und Dad den Vortritt zu lassen. Er stellt David auf ein Podest, genau wie alle anderen auch. Aber Gramps ist am schlimmsten. Alles dreht sich um Dad und Tiggy, und doch kommen mir die beiden manchmal fast unwirklich vor, wie Pappfiguren …“ Sie erschauerte leicht.

„Früher als Kind hat mich dieser Gedanke richtig erschreckt, und ich habe mich gefragt, warum ich die Einzige bin, die es sieht.“ Sie verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Du hast ja vorhin selbst gehört, was Tiggy über Blumen gesagt hat und dass sie ein Haus erst richtig wohnlich machen. Alle Leute bewundern den guten Geschmack meiner Mutter und brechen in Begeisterungsrufe über die Einrichtung hier aus, und zugegeben, es ist ja wirklich alles perfekt, aber es ist kein Zuhause. Tante Jennys Haus ist ein Zuhause. Hier komme ich mir immer vor wie … auf einem Filmset … oder in einem Musterhaus, die richtigen Möbel, die richtigen Farben, die richtigen Blumen.“ Wieder verzog sie missbilligend das Gesicht.

„Ursprünglich war es Gramps’ größter Wunsch, dass Dad sich zum Strafverteidiger qualifiziert, weißt du, aber irgendetwas ging schief. Ich habe nie genau erfahren, was vorgefallen ist. Tiggy hat mir immer nur ihre Version der Geschichte erzählt – wie sie sich kennengelernt haben, dass er in einer Band gespielt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt hat. Sie haben in Caxton Hall geheiratet – das war damals Mode. Tiggy war bereits schwanger mit mir, was laut Tiggy der Grund dafür war, dass sie sich entschieden haben, nach Haslewich zu ziehen. Dad wollte angeblich, dass seine Kinder hier aufwachsen, weshalb er – noch immer Originalton Tiggy – seine Pläne, sich als Strafverteidiger zu qualifizieren, aufgab … Das ist zumindest das, was mir immer erzählt wurde, und Gramps hat es mir wohl nie verziehen, dass ich sozusagen die Karriere meines Vaters zerstört habe. Er hätte so wahnsinnig gern einen Anwalt der Krone in der Familie gehabt.“

„Aber hast du mir nicht erzählt, dass es einen gab? Deinen Großonkel Hugh?“

„Richtig, Hugh war Kronanwalt“, stimmte Olivia zu. „Er wurde letztes Jahr sogar zum Richter ernannt, aber Hugh gehört nicht richtig zur Familie, zumindest für Gramps nicht. Er ist nur sein Halbbruder. Gramps Vater Josiah hat nach dem Tod seiner ersten Frau noch einmal geheiratet, und aus dieser Ehe stammt Hugh.

Obwohl Gramps das niemals zugeben würde, bin ich überzeugt davon, dass er immer ein bisschen eifersüchtig auf Hugh war. Ellens Familie war sehr wohlhabend, und Gramps Vater war – zumindest nach allem, was Tante Ruth erzählte – Hugh gegenüber stets großzügiger als ihnen beiden.

Ellens Familie hat Hugh das Studium finanziert, während Gramps die Familienkanzlei übernehmen musste – außer ihm gab es niemanden, der das tun konnte. Ich habe den Verdacht, er ist noch immer enttäuscht, dass Dad kein Strafverteidiger geworden ist, und deshalb setzt er jetzt alle Hoffnungen in Max.“

„Ah, Max.“

„Du kannst ihn nicht leiden, stimmt’s?“, fragte Olivia.

„Du etwa?“, gab Caspar trocken zurück.

„Wir waren uns noch nie sehr zugetan, schon als Kinder nicht. Oh, ich weiß, dass alle denken, ich sei nur eifersüchtig, weil Max Dads Liebling ist, doch das ist nicht wahr. Ich finde ihn einfach nur nicht sonderlich liebenswert. Aber mit dieser Ansicht stehe ich natürlich allein auf weiter Flur. Tiggy findet ihn wundervoll. Er flirtet schrecklich mit ihr, und sie merkt gar nicht, dass er sich insgeheim nur lustig über sie macht. Wahrscheinlich fängt sie mit dir auch irgendwann an zu flirten. So ist sie nun mal, sie kann nichts dafür.“

Olivia machte eine Pause, in der sie nach den richtigen Worten suchte, um diese Schwäche ihrer Mutter zu erklären, doch dann gab sie es auf und sagte stattdessen ruhig: „Manchmal, wenn ich sehe, wie Tante Jenny Max beobachtet, werde ich den Verdacht nicht los, dass sie ihn auch nicht sonderlich mag, aber das täuscht natürlich, immerhin ist sie ja seine Mutter, und Mütter lieben ihre Kinder immer.“

„Tun sie das wirklich?“, fragte Caspar trocken. „Da bin ich mir gar nicht so sicher. Was jedoch mit Sicherheit nicht stimmt, ist, dass Kinder ihre Eltern in jedem Fall lieben. Man hört ja immer wieder von Jugendlichen, die ihre Eltern umbringen.“

„Mmmm … ich habe kürzlich von einem Fall gelesen …“

Und damit waren sie mittendrin und begannen über die Straftat, die Olivia eben erwähnt hatte, zu fachsimpeln.

Verstrickt in eine angeregte Unterhaltung, ist sie noch schöner, musste Caspar, der sie nicht aus den Augen ließ, einräumen. Am schönsten jedoch war sie, wenn sie in seinen Armen lag, ihn anschaute und sich ihm mit Leib und Seele hingab.

„He, Caspar“, beschwerte sie sich, als sie merkte, dass ihre Ausführungen nicht seine volle Aufmerksamkeit hatten, „was treibst du denn da?“

„Nur die Matratze testen“, erklärte er.

„Warum?“

„Na, was glaubst du“, gab er weich zurück und wandte sich zu ihr um, um sie zu küssen, bevor er fragte: „Was meinst du, wie viel Zeit wir haben, bis deine Eltern wieder zurück sind?“

„Mein Bett ist breiter“, flüsterte Olivia zwischen zwei Küssen.

„Mmmmh …“, murmelte er abgelenkt und saugte an ihrem weichen Hals. „Du kannst es mir später zeigen.“

Er gab ein lustvolles Aufstöhnen von sich, während er ihr die Träger ihres Tops von den Schultern streifte und anschließend begann, erst die eine und dann die andere Knospe mit seiner Zungenspitze zu liebkosen, wobei er spürte, wie sie vor Verlangen erschauerte.

Er konnte sich noch genau an das erste Mal erinnern, als sie in seinen Armen vor Lust erschauert war, unfähig, ihre Erregung vor ihm zu verbergen. Allein der Gedanke daran entfachte das Feuer in seinen Lenden.

„Wir haben … nicht einmal … zu Mittag gegessen“, keuchte Olivia zwischen zwei Küssen.

„Mmmm … wer braucht schon Mittagessen? Ich verspeise lieber dich stattdessen“, flüsterte Caspar.

Olivia schloss die Augen; sie liebte es, wenn Caspar das Liebesspiel mit Worten begleitete. Er hatte eine unvergleichliche Art, seine Gefühle und seine Lust zu zeigen, die – typisch Caspar – köstlich erotisch und anrührend komisch zugleich war, und fast immer wurde Olivia, noch während sie lachte, ganz unerwartet von ihrem Verlangen übermannt. Er schien nur auf diesen Augenblick gelauert zu haben, auf diese Sekunde, diesen winzigen Moment zwischen zwei Herzschlägen, wo sich ihr Lachen in Begehren verwandelte und ihre Lust auf ihn alles andere in den Schatten stellte. Genau, wie es jetzt auch wieder war.

„Caspar“, flehte sie, während sie ihre Finger tief in sein dichtes schwarzes Haar grub, seinen heißen Atem an ihrem Hals spürend, wo er sie mit seiner Zungenspitze liebkoste.

„Mmmm …?“, neckte er sie, obwohl er ganz genau wusste, was dieses dringende Zerren an seinem Haar bedeutete.

Zur selben Zeit saß Jenny allein mit ihrem Mann in der Küche, nachdem die gemeinsamen Kinder, Joss und die Zwillinge Louise und Katie, bereits vom Tisch aufgestanden waren.

„Du siehst müde aus“, stellte Jenny leise fest, nachdem sie schließlich mit ihrem Ehemann allein war.

„Bin ich aber eigentlich gar nicht. Es ist nur, weil … na ja, diese Mammutparty zu meinen Ehren bringt es an den Tag, dass wir nicht jünger werden.“

Jenny sagte nichts darauf; sie wusste sehr gut, auf wessen Schultern die Hauptlast der Arbeit, die in der Kanzlei anfiel, lastete. Ebenso wusste sie jedoch, dass jeder Versuch ihrerseits, sich dagegen aufzulehnen, im Keim erstickt werden würde mit denselben höflichen, aber entschiedenen Worten, die Jon stets gebrauchte, wenn es darum ging, seinen Zwillingsbruder gegen jedwede Anwürfe zu verteidigen.

In den ersten Jahren ihrer Ehe war ihr das Wissen, dass es immer jemanden gab, der vor ihr kam, manchmal fast unerträglich erschienen, sie glaubte, es kaum aushalten zu können, dass seine Loyalität und seine Liebe für seinen Zwillingsbruder für Jon stets an erster Stelle standen und erst danach die Gefühle, die er ihr entgegenbrachte, eine Rolle spielten. Doch in diesen Fällen hatte sie sich vor Augen gehalten, dass es eben genau diese Loyalität war, die Jon auszeichnete und ihn zu jenem Menschen machte, der er war, zu jenem Ehemann, der er war, und zu jenem Vater …, und dann hatte sie sich gesagt, dass sie nicht in dieselbe Falle tappen durfte wie manche andere, indem sie an Jon Maßstäbe anlegte, denen er nicht gerecht werden konnte, einfach deshalb, weil er eben ganz anders war. In ihrer Ehe zumindest sollte er die Möglichkeit haben, er selbst zu sein, wenn er es sonst schon nicht konnte. Sie verdankte ihm so vieles. So vieles und noch viel, viel mehr. So viel mehr …

2. KAPITEL

„Vielen Dank, Mr. Thompson, es sieht alles sehr hübsch aus. Und Sie kommen dann gleich morgen früh, um den Rest fertig zu machen?“, erkundigte sich Jenny bei dem Chef des Teams, das gegen Mittag nach Queensmead gekommen war und das Festzelt aufgestellt hatte.

„Morgen Punkt acht stehen wir auf der Matte, Sie können sich auf uns verlassen“, versicherte der Vorarbeiter der Firma, die die Festzelte vermietete und aufstellte, Jenny.

„Und bis zwölf sind alle Tische und Stühle aufgestellt?“, vergewisserte sie sich.

„Alle“, bestätigte er.

„Es sieht absolut wundervoll aus“, äußerte Olivia begeistert, nachdem sich der Vorarbeiter abgewandt hatte, um seine Leute zusammenzutrommeln.

Olivia und Caspar waren gerade in dem Moment bei ihr zu Hause aufgekreuzt, als Jenny beschlossen hatte, wieder nach Queensmead zu fahren, um dort nach dem Rechten zu sehen, deshalb hatte sie die beiden eingeladen, sie zu begleiten. Max, der am vergangenen Abend erst sehr spät angekommen war, hatte sich ihnen angeschlossen. Jenny fragte sich, warum, denn jetzt stand er die ganze Zeit nur mit finster zusammengezogenen Augenbrauen und besorgniserregend gelangweilt dreinschauend in der Gegend herum.

„Ich hoffe nur, dass die cremefarbene Dekoration nicht zu bieder wirkt“, bemerkte Jenny besorgt, während sie sich umdrehte, um den Innenraum des Festzelts erneut einer genauen Musterung zu unterziehen.

„Oh nein, ganz bestimmt nicht“, versicherte Olivia ihr eilig. „Es ist perfekt. Richtig elegant sieht es aus, alles andere wäre viel zu aufdringlich.“

Irgendwann im Verlauf des Nachmittags, als Jenny klar geworden war, dass ihre Anwesenheit nicht unbedingt nötig war, hatte sie beschlossen, nach Hause zu fahren, um einige Dinge zu erledigen, aber sie hatte für den Fall, dass irgendwelche Probleme auftreten sollten, ihre Telefonnummer hinterlassen. Später hatte sie erfahren, dass ihr Schwiegervater Ben das Team die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte.

Sie wagte nicht zu entscheiden, ob er erleichtert oder enttäuscht war, dass die Leute ihre Arbeit so effizient und ohne den geringsten Schaden anzurichten getan hatten, aber sie neigte zu der Ansicht, dass eher das Letztere zutreffend war.

„Verdammt viel Getue“, brummte er jetzt. „Zu meiner Zeit hat man um seinen fünfzigsten Geburtstag nicht so viel Wirbel gemacht. Sie haben Regen vorausgesagt, hoffentlich ist euch das klar.“

„Nicht vor Montag, frühestens“, gab Jenny gelassen zurück.

„Ich überlege, ob ich Tante Ruth nicht bei den Blumen ein bisschen zur Hand gehen soll“, bemerkte Olivia, „aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihr nicht eher ein Hindernis bin als eine Hilfe.“

„Ich bin mir ganz sicher, dass sie noch ein zusätzliches Paar Hände sehr gut brauchen kann.“

„Das macht dann schon zwei Paar“, mischte sich Caspar ein.

Jenny lächelte ihn an.

Bis auf die wenigen Worte, die sie bei ihrer Vorstellung miteinander gewechselt hatten, waren bisher weder sie noch Jon dazu gekommen, sich ausführlicher mit Caspar zu unterhalten, aber er war Jenny auf den ersten Blick sympathisch gewesen.

Abgesehen davon, dass er wirklich atemberaubend gut aussah, strahlte er eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die ihr sagte, dass er kein Mensch war, der in seinen Entscheidungen so leicht schwankend wurde – und es war offensichtlich, dass die Frau, für die er sich entschieden hatte, Olivia war.

Jenny warf ihrer Nichte einen liebevollen Blick zu. Es gab keinen Zweifel daran, dass Olivia ihm gegenüber nicht anders empfand.

Tief drin in ihrem Herzen wusste Jenny mit absoluter Gewissheit, dass ihr Olivia von allen Kindern – sowohl ihren eigenen als auch denen von David und Tiggy – am nächsten stand. Mit Olivia verband sie etwas ganz Besonderes, das sie sich nicht erklären konnte. Es konnte doch nicht deshalb sein, weil sie Davids Tochter war … Ihr Herz begann, ein bisschen schneller zu schlagen. Verärgert begann sie, die Liste der Dinge, die noch einer Erledigung harrten, vor ihrem geistigen Auge Revue passieren zu lassen.

„Nun, junger Mann, Sie sind also Lehrer, wie ich gehört habe.“

Caspar wandte den Kopf, um Ben anzuschauen, von dem die Worte gekommen waren. Ben, selbst von hochgewachsener Gestalt, ärgerte sich, dass ihn dieser Amerikaner, mit dem sich seine Nichte eingelassen hatte, um mehr als einen halben Kopf überragte. Seit seinem Unfall ging er leicht gebeugt, und er zog jetzt verärgert die Augenbrauen zusammen, als er entdeckte, dass er einen kleinen Schritt zurücktreten und tatsächlich den Kopf ein wenig anheben musste, um Caspar in die Augen schauen zu können.

Amerikaner! Ben verabscheute sie regelrecht. Aus dem Krieg waren ihm diese kaugummikauenden Großmäuler, die allen einheimischen Mädchen den Kopf verdreht hatten, bestens bekannt.

„Ein Dozent“, präzisierte Caspar trocken.

„Und nur vorübergehend hier, wenn ich richtig informiert bin“, forschte Ben weiter.

„Richtig“, bestätigte Caspar.

„Hmmm … hier bei uns glaubt man, dass jeder Trottel auf der Universität Karriere machen kann“, bemerkte Ben aggressiv.

„Gramps“, protestierte Olivia, aber Caspar schüttelte nur leicht den Kopf und lächelte. Wenn er es wollte, könnte er jederzeit als Teilhaber in eine der angesehensten Anwaltskanzleien in Philadelphia einsteigen. Er würde auf jeden Fall eine ganze Menge mehr Geld verdienen als derzeit, aber ihm machte seine Arbeit Spaß, und das war etwas, das ihm weitaus wichtiger war als Geld.

Er hatte jedoch zugegebenermaßen leicht reden, denn immerhin war er der Nutznießer eines ansehnlichen Vermögensfonds, den sein Großvater mütterlicherseits für ihn eingerichtet hatte. Caspar war der Letzte, der nicht bereit gewesen wäre zuzugeben, dass man Geld immer dann am leichtesten verachten konnte, wenn man über ausreichende Mengen verfügte.

„Das kommt ganz auf den Lehrer an“, gab er ruhig zurück, aber Jenny, die die Unterhaltung mit angehört und Bens Gesicht bei Caspars Erwiderung gesehen hatte, wusste, dass Caspars Weigerung, sich Ben unterzuordnen, den alten Mann noch mehr gegen ihn aufgebracht hatte.

Damals, als Olivia sich entschieden hatte, nach London zu gehen, war er genauso wütend gewesen, auch wenn er selbst es gewesen war, der ihre Entscheidung durch seine halsstarrige Weigerung, sie in der Familienkanzlei arbeiten zu lassen, letztendlich herbeigeführt hatte, eine Weigerung, die Olivia sehr verletzt hatte.

„Der Anwaltsberuf ist nichts für Frauen“, konnte er gar nicht oft genug betonen. „Sie sind dafür viel zu emotional.

Ihre eigenen Töchter würden noch dafür sorgen, dass ihm diese Worte eines Tages im Hals stecken blieben, vermutete Jenny, besonders Katie, aber Katie war auch viel gefühlsbetonter als Olivia. Sie würde eine solche Sichtweise niemals akzeptieren, ebenso wenig, wie sie sich durch irgendjemand oder irgendetwas von ihren Zielen abbringen lassen würde – eine Eigenschaft, die sie von Ben geerbt hatte und die noch verstärkt wurde durch die Unerschütterlichkeit, die in ihrer, Jennys, Familie zu den vorherrschenden Eigenschaften gehörte.

„Nein, der einzige Weg, wie jemand wirklich Kenntnisse über das Recht erwerben kann, ist die Praxis“, behauptete Ben eben halsstarrig. „Ich weiß es, schließlich habe ich viele Jahrzehnte Erfahrung, und ich rede nicht von solchen Lappalien, wie sie Olivia in der Rechtsabteilung irgendeiner Firma bearbeiten muss“, fügte er hinzu.

„Olivia ist eine hoch qualifizierte junge Anwältin“, widersprach Caspar.

„Ja sicher, sie hat ein ordentliches Examen gemacht“, wandte Ben ein, „aber es braucht schon mehr als ein Stück Papier, um aus jemandem einen guten Anwalt zu machen. Da genügt es nicht, nur ein paar Aktenstapel von einer Seite auf die andere zu schieben. Da muss man schon ein bisschen mehr Einsatz zeigen, wie Max zum Beispiel.“

Jenny konnte sehen, wie Caspar sich versteifte. Sie wusste natürlich, warum. Olivia war trotz all ihrer Bescheidenheit und entgegen der fälschlichen Behauptungen ihres Großvaters wesentlich höher qualifiziert als Max, und – davon war Jenny zutiefst überzeugt – für jeden zukünftigen Arbeitgeber ein höherer Gewinn. Zudem war ihr beruflicher Erfahrungshintergrund weitaus größer als der von Max … Nun, Jenny hätte auf jeden Fall gewusst, in wessen Hände sie ihre persönlichen Angelegenheiten legen würde, falls es notwendig werden sollte, und das wären gewiss nicht die ihres Sohnes.

„Entschuldigen Sie vielmals“, hörte sie Caspar ruhig sagen und sah, wie er gleichzeitig die Stirn runzelte. „Ich bin leider noch immer nicht ganz vertraut mit den Feinheiten des britischen Rechtssystems, aber soweit ich es verstanden habe, hat Max in der Kanzlei, in der er im Moment tätig ist, nur eine zeitlich befristete Angestelltenstelle, woraus sich doch gewiss ableitet, dass er nicht eigenständig einen wichtigen Fall übernehmen kann. Olivia hingegen hatte in ihrem eigenen hoch spezialisierten Ressort, in dem sie zuletzt tätig war, die volle Verantwortung, und ich weiß, dass …“

„Caspar“, protestierte Olivia gedämpft, „Gramps hat nicht …“

Aber es war zu spät. Ben fuhr herum, um sie böse anzufunkeln in der Gewissheit, in ihr ein leichteres Opfer zu finden im Gegensatz zu Caspar, von dem ihm ein ganz unerwarteter Widerstand entgegengebracht wurde. Ben war es nicht gewöhnt, dass man ihm widersprach, und er schätzte ein solches Verhalten ganz und gar nicht.

„Was soll das heißen …? In ihrem eigenen Ressort … was ist das denn für …?“

„Ach, nichts weiter, Gramps, ich bin nur ein kleines bisschen befördert worden“, beeilte sich Olivia hastig, die Wogen zu glätten. „Nur innerhalb der Abteilung, es ist wirklich nichts Großartiges, glaub mir, aber natürlich …“

„Aber natürlich bedeutet so etwas immer eine saftige Gehaltserhöhung“, mischte sich Max, der sich zu ihnen gesellt hatte, jetzt ein. „Du hast wirklich ein Talent, immer auf die Füße zu fallen, altes Haus. Ich …“

„Olivia ist nicht auf die Füße gefallen“, stellte Caspar kühl klar. „Sie ist eine hoch qualifizierte und hart arbeitende Anwältin.“

„Das müssen Sie ja sagen“, gab Max zurück. „Schließlich war sie Ihre Schülerin – sowohl im Hörsaal wie auch im Bett.“

Jenny konnte spüren, wie ihr Gesicht anfing zu brennen, so sehr schämte sie sich für das rüde Verhalten ihres Sohnes.

„Ich habe gehört, dass in der Kanzlei, in der Sie arbeiten, in Kürze eine Teilhaberstelle frei wird. Haben Sie vor, sich zu bewerben?“, erkundigte sich Caspar bei Max.

Max runzelte die Stirn. Wie zum Teufel hatte Caspar davon erfahren?

„Da braucht er sich nicht extra zu bewerben“, beantwortete Ben die Frage an Max’ Stelle. „Man hat ihm bereits signalisiert, dass er einsteigen kann, und genau so sollte es auch sein.“

Max versuchte, die Verärgerung zu verbergen, die die Bemerkung seines Großvaters in ihm ausgelöst hatte. Normalerweise war er immer froh, den alten Herrn als Bundesgenossen zu haben, aber in diesem Fall war er sich nicht sicher, wie viel dieser verfluchte Amerikaner, den Olivia da angeschleppt hatte, wohl wusste.

Möglicherweise hatte dieser Depp von irgendwoher Insiderinformationen aufgeschnappt, die jetzt für ihn unangenehm werden könnten. Unter anderen Umständen hätte Max sofort herauszufinden versucht, wie viel er wusste, und ob er nicht womöglich durch ihn sogar den Namen seiner Konkurrentin in Erfahrung bringen könnte, aber das war jetzt natürlich nicht möglich, ohne vor seinem Großvater zugeben zu müssen, dass bezüglich der Stelle noch längst nicht alles so klar war, wie er behauptete.

Max spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Sein Großvater war ihm gegenüber stets sehr duldsam – bis auf einen Punkt – und Max wusste, wie wichtig es für Ben war, dass er, Max, genau in diesem Punkt dessen Erwartungen erfüllte. Erwartungen, die bereits einmal enttäuscht worden waren, aber Ben hatte David vergeben, doch um welchen Preis? Max erschauerte bei der Vorstellung, das Leben seines Onkels leben zu müssen.

Es war schon schlimm genug gewesen, unter den wachsamen Augen seines Großvaters aufwachsen zu müssen, als Erwachsener jedoch weiterhin unter seiner Fuchtel zu stehen, war undenkbar … Sein Großvater hielt noch immer alle Zügel, die Familienangelegenheiten betreffend, fest in der Hand, und Max hatte mitbekommen, wie er seine Söhne ihr ganzes Leben lang herumkommandiert hatte. Max machte sich keine Illusionen über den Preis, der zu zahlen war, der Liebling seines Großvaters zu sein.

Aber sein Erfolg bedeutete ihm selbst genauso viel wie seinem Großvater, vielleicht sogar noch mehr. Max liebte das Geld, und er liebte die Dinge, die man sich dafür kaufen konnte. Er träumte davon, erfolgreich zu sein, und, falls möglich, sogar berühmt, und er würde es nicht zulassen, dass sich ihm eine Frau in den Weg stellte.

„Sind die Schuhe deiner Mutter für das große Fest mittlerweile gekommen?“, erkundigte sich Jenny bei Olivia, während sie zum Auto gingen.

„Nein. Sie ist heute Mittag nach Chester gefahren, um zu sehen, ob sie nicht vielleicht noch ein anderes Paar findet.“

Olivia zögerte einen Moment, als ihr die Szene in dem elterlichen Schlafzimmer wieder einfiel, in die sie vorhin hineingeplatzt war. Sie war noch immer ganz durcheinander.

„Tante Jenny“, begann sie tastend, „ich weiß, dass du und Mum euch nicht besonders nahesteht, aber hast du jemals, hat sie …?“

Sie unterbrach sich abrupt, als ihr einfiel, dass Caspar vorhin auf der Fahrt hierher eine Bemerkung darüber fallen gelassen hatte, dass offensichtlich alle in der Familie immer und jederzeit fast automatisch mit Jennys Hilfe zu rechnen schienen.

Olivia musste ihm recht geben. Auch sie hatte sich immer zuerst an Jenny gewandt, wenn in ihrem Leben etwas falsch gelaufen war, aber jetzt war sie erwachsen und …

„Hat deine Mutter irgendwelche Probleme, Livvy?“, erkundigte sich Jenny, aber Olivia schüttelte nur den Kopf und widerstand der Versuchung, ihre Tante ins Vertrauen zu ziehen.

„Nein, nein“, gab sie mit gespielter Munterkeit zurück, „aber du kennst ja Mum. Sie macht sich total verrückt wegen dieser blöden Schuhe …“

Olivia zuckte innerlich zusammen, als sie ihre eigene Stimme hörte. Was Jenny wohl sagen würde, wenn sie ihr erzählte, was ihr wirklich im Kopf herumging?

Sie und Caspar hatten eben gehen wollen am Morgen, als Olivia eingefallen war, dass sie ihre Jacke vergessen hatte. Als sie die Treppe nach oben rannte, sah sie, dass die Schlafzimmertür ihrer Eltern offen stand, und sie konnte hören, wie ihre Mutter drinnen offensichtlich ein Selbstgespräch führte.

Ohne lange zu überlegen, betrat Olivia das Schlafzimmer. Den Anblick, der sich ihr bot, würde sie wohl nie wieder vergessen können. Ebenso wenig wie die Mischung aus Scham, Schuldgefühlen und Angst, die sie in den Augen ihrer Mutter entdeckte.

„Du sagst doch niemandem was, nicht wahr?“, flehte Tiggy, die, umgeben von Dutzenden glänzender, noch nicht einmal ausgepackter Einkaufstüten, auf dem Bett saß, Olivia an. „Vor allem nicht deinem Vater. Er würde … er würde es nicht verstehen …“

Olivia hatte wortlos das Zimmer verlassen. Unter dem vertrauten Duft des Parfüms ihrer Mutter hatte sie einen anderen Geruch wahrgenommen, durchdringend und ekelerregend, einen Geruch, den sie kannte. Als sie gespürt hatte, wie sich ihr der Magen hob, hatte sie überstürzt den Rückzug angetreten, ohne auf die Bitte ihrer Mutter nach Geheimhaltung zu reagieren.

„Was ist los?“, hörte sie Caspar jetzt fragen, als sie von ihrem Großvater zurückfuhren. „Du brütest doch wohl nicht noch immer über irgendetwas, das er gesagt hat?“

„Wer?“, fragte Olivia mit verschlossenem Gesicht.

„Dein Großvater. Ich verstehe ja, dass du aufgebracht bist, so abfällig, wie er sich über alles, was du erreicht hast, geäußert hat …“

Olivia entspannte sich ein bisschen. Caspar war der irrigen Meinung, sie regte sich auf, weil ihr Großvater ihre beruflichen Leistungen geringer schätzte als die von Max. Früher hätte sie das sicher getan, doch im Augenblick hatte sie ganz andere Probleme.

„Nein. Mein Großvater ist einfach zu alt, um sich noch groß zu ändern, und Max war schon immer sein Liebling.“

„Mmmm … Ach, was soll’s, in Amerika wird sowieso alles anders“, versprach Caspar. Als Olivia nicht sofort reagierte, warf er ihr einen besorgten Blick zu. „Du hast doch hoffentlich nicht deine Meinung geändert?“, drang er in sie und fügte dann hinzu: „Hast du es deiner Familie immer noch nicht erzählt?“

„Wie könnte ich meine Meinung ändern?“, entgegnete Olivia liebevoll. „Du weißt ganz genau, wie viel du mir bedeutest … wie viel mir unsere gemeinsame Zukunft bedeutet“, gestand sie.

Die Zeit mit ihm war die bisher schönste ihres Lebens gewesen, und als Caspar ihr eröffnet hatte, dass er am Ende des Sommers beabsichtige, in die Staaten zurückzukehren, hatte sie zuerst geglaubt, er versuche, ihr so schonend wie möglich beizubringen, dass sie gut daran täte, ihre Beziehung als eine Beziehung auf Zeit zu betrachten.

Sie hatte versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie elend sie sich fühlte, aber durch irgendetwas musste sie sich verraten haben, weil er sie daraufhin sofort ganz fest in die Arme genommen hatte.

„Nein, nein“, hatte er heiser gesagt, „damit habe ich nicht gemeint, dass wir Schluss machen sollen. Wie kannst du bloß auf so eine Idee kommen? Ich liebe dich, Olivia … ich möchte, dass du mich begleitest … es ist nur … nun ja … ich meine, du hast dich für diese Beförderung so verdammt abgerackert und …“

„Es ist doch nur ein Job“, hatte sie innerlich bebend zurückgegeben, und in diesem aufwühlenden Moment war es ihr wirklich ernst gewesen. „Du bist mir viel, viel wichtiger.“ Das hatte sie auch genau so gemeint, wie sie es gesagt hatte. Und dieser Meinung war sie noch immer, selbst wenn sie manchmal der Gedanke entmutigte, dass sie in den Vereinigten Staaten in vieler Hinsicht erst einmal würde umlernen müssen, um die fachliche Qualifikation zu erreichen, die hier fast zum Greifen nah vor ihr lag.

Caspar wäre nie auf die Idee gekommen, sie zu bitten oder gar von ihr zu erwarten, dass sie ihm ihre Karriere opferte. Das wusste sie. Aber er hatte auch immer klar zum Ausdruck gebracht, dass seine berufliche Zukunft in Amerika lag.

„Wir könnten uns immer abwechselnd besuchen“, hatte er ihr eines Nachts ins Ohr geflüstert, als sie nach der Liebe eng umschlungen beieinandergelegen hatten.

Besuchen. Bei der Vorstellung, wie einsam ihre Nächte in der Zwischenzeit, wenn sie nicht zusammen waren, dann sein würden, war Olivia klar geworden, dass das keine Option war, der sie mit Freuden entgegensehen konnte.

Und so hatte sie schließlich ihre Entscheidung gefällt. Ihr Beschluss war gut durchdacht, und sie war sich ihres Vorhabens sehr sicher, deshalb hatte sie eigentlich beabsichtigt, an diesem Wochenende ihrer Familie von ihren Zukunftsplänen zu erzählen. Einwände von irgendeiner Seite waren nicht zu erwarten. Warum auch.

Natürlich liebte sie ihre Eltern, ihre Familie, aber sie hatten ihr Leben, und sie hatte das ihre. Die Zeiten, in denen sie eine Art kindlichen Neid auf Max verspürt hatte, gehörten schon lange der Vergangenheit an.

Aber was war mit der Szene im Schlafzimmer ihrer Eltern heute Morgen? Sie grub ihre Zähne in ihre Unterlippe. Seit wann ging das schon so? Wusste irgendjemand davon? Ihr Vater? Bestimmt ahnte er etwas. Und was war mit ihr? Wie sollte sie sich verhalten? Sie konnte doch nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und so tun, als ob sie nichts gemerkt hätte? Auch wenn ihre Mutter sie noch so sehr anflehte.

Caspar spürte, dass Olivia irgendetwas beschäftigte. Er war froh, dass sie nur übers Wochenende hier waren. Familientreffen machten ihn immer irgendwie nervös, er bekam eine Art Platzangst, weil sie alte Erinnerungen zutage förderten, die ihm alles andere als angenehm waren und auf die er ganz gewiss nicht stolz war. Er konnte sich noch allzu lebhaft daran erinnern, was für eine Schande er seinem Vater bei dessen zweiter Hochzeit bereitet hatte.

Er war von seiner Mutter dorthin mitgenommen worden, die anschließend den restlichen Tag damit zubrachte, ihm geduldig zu erklären, dass die Tatsache, dass sie und sein Vater sich getrennt und sich beide neuen Partnern zugewandt hatten, absolut nichts mit ihrer beider Liebe für ihn zu tun hätte und dass er noch immer ihr von Herzen geliebter Sohn sei.

Seine Mutter, die von Beruf Kinderärztin war, wusste natürlich, was für tief greifende Auswirkungen eine Scheidung der Eltern auf ihre gemeinsamen Kinder haben konnte, deshalb hatte man ihn nicht nur sehr behutsam darauf vorbereitet, sondern ihn ebenso sorgfältig mit den neuen Partnern bekannt gemacht.

Im Fall seiner Mutter war das ein alter Kollege und Freund gewesen, den sie bereits kannte, bevor sie seinen Vater geheiratet hatte. Dieser Mann war selbst auch geschieden und hatte zwei halbwüchsige Kinder, einen Sohn und eine Tochter, die beide, sowohl was Caspar als auch seine Mutter anbelangte, auf höfliche Distanz bedacht waren. Die Auserwählte seines Vaters war jünger als er, eine ehemalige Studentin von ihm und schier unermüdlich in ihrem Bemühen, ihm, Caspar, und seinem Vater zu beweisen, wie wichtig sie es fand, dass Vater und Sohn weiterhin eine gute Beziehung zueinander hatten. Caspar hatte sich selbst und seine Eltern unsterblich blamiert, indem er sich direkt vor den Füßen der Braut übergeben hatte, wobei auch ihr Brautkleid arg in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Das, was auf diesen Vorfall folgte, kam nicht überraschend. Die Reaktion seiner Mutter bestand darin, dass sie ihn und sich selbst monatelang mit einer „Analyse“ quälte, in deren Verlauf Caspar anfing, seine Mutter fast ebenso zu hassen wie seinen Therapeuten. Sein Vater hingegen beschloss, gegen seine Exfrau einen Prozess anzustrengen, bei dem er nachzuweisen versuchte, dass seine, Caspars, Mutter unfähig sei, das alleinige Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn zu übernehmen, und dass sie Caspar gegen ihn und seine neue Ehefrau aufgehetzt hätte.

Keiner von beiden hatte ihm abnehmen wollen, dass seine Übelkeit das Resultat von zu viel Schlagsahne und schlechten Nerven gewesen sei, und als die neue Frau seines Vaters dem ersten von Caspars Halbgeschwistern das Leben schenkte, war es ihm strengstens untersagt, dem Baby zu nahe zu kommen, nur für den Fall, dass ihm seine Nerven wieder einmal einen üblen Streich spielten.

Doch Caspar ließ sich nicht täuschen. Seine Stiefmutter mochte ihn nicht, und er glaubte auch nicht, dass es umgekehrt viel anders war.

Nicht dass Caspar grundsätzlich etwas gegen Familien oder ein Familienleben einzuwenden gehabt hätte, es war nur einfach so, dass er kein einziges Beispiel kannte, das ihm ein solches Leben für sich selbst hätte erstrebenswert scheinen lassen. Warum schließlich sollte man sich selbst öffentlich zum Lügner stempeln, indem man ein Gelübde ablegte, das öfter gebrochen als gehalten wurde?

Er war nicht sonderlich erpicht darauf, Olivia mit ihrer Familie zu teilen; er wollte sie für sich allein, und das gab er auch offen zu. Schon vor ihrem Kennenlernen hatte er keine besonders hohe Meinung von Olivias Vater und ihrem Großvater gehabt, doch jetzt, nachdem ihm dieses Vergnügen zuteil geworden war …

Wie konnten sie nur einen Menschen, der so offensichtlich weniger wert war als Olivia, so viel mehr schätzen? Für ihn war Max nicht mehr als ein Blender, der Olivia nicht das Wasser reichen konnte.

Olivia und Caspar hatten bis jetzt noch keine Heiratspläne gemacht, aber er war sich sicher, dass sie irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft heiraten würden. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass er sich eines Tages genug verlieben könnte, um eine solche Verpflichtung bereitwillig und mit Freuden auf sich zu nehmen, doch jetzt …

Er wollte sie nicht verlieren, das gestand er sich freimütig ein, und ein Grund, weshalb er diesem Familientreffen mit gemischten Gefühlen entgegengesehen hatte, bestand darin, dass er befürchtete, ihre Familie könne versuchen, sie von ihren Plänen, ihn in die USA zu begleiten, abzubringen.

Seine eigenen Kindheitserfahrungen hatten ihn gelehrt, dass zu lieben auch bedeutete, sich verletzlich zu machen, eine Erkenntnis, die der Grund dafür gewesen war, dass er sich so lange geweigert hatte, sich seine Gefühle für Olivia einzugestehen. Hoffentlich war dieses Wochenende bald vorüber, damit sie den einmal eingeschlagenen Weg in ein gemeinsames Leben fortsetzen konnten.

Während er in die Auffahrt zu Olivias Zuhause einbog, studierte er ihr Profil. Über irgendetwas machte sie sich Sorgen, das war unverkennbar, auch wenn sie nicht bereit war, es zuzugeben. Er fragte sich, was es wohl sein mochte, und – mit wachsender Ungeduld – warum sie ihm nichts davon erzählte.

„Alle Frauen sind Verräterinnen“, hatte sein Vater einmal zu ihm gesagt. Er war damals wieder einmal zwischen zwei Ehen gewesen und hatte sich über die Höhe der Alimente beschwert, die seine zweite Frau von ihm forderte. „Trau nie einer Frau, Caspar. Mach nicht denselben Fehler, den ich gemacht habe. Sie erzählen dir, wie sehr sie dich lieben, und im nächsten Atemzug …“

Olivia spürte, wie sie sich anspannte, als Caspar den Wagen vor dem Haus zum Stehen brachte. War ihre Mutter zu Hause? Olivia sah nirgends das Auto. Sie hasste sich dafür, dass sie erleichtert aufatmete.

Warum nur habe ausgerechnet ich es sein müssen, die es herausfand?, fragte sie sich und spürte Groll in sich aufsteigen, den sie jedoch gleich wieder schuldbewusst zu unterdrücken versuchte. Warum hatte es nicht jemand anders sein können … ihr Vater zum Beispiel?

„Olivia?“

Erst jetzt merkte sie, dass Caspar anscheinend etwas gesagt hatte und auf ihre Antwort wartete. Mit einem entschuldigenden Lächeln versuchte sie, sich auf seine Worte zu konzentrieren.

Natürlich hätte sie sich Caspar anvertrauen und ihm erzählen müssen, was sie gesehen hatte, aber wie konnte sie ihre Mutter so verraten, wenn sie sich selbst nicht einmal ganz sicher war … wenn niemand sonst etwas zu wissen schien …?

Nicht sicher. Natürlich bist du dir sicher, zürnte eine innere Stimme. Du willst es nur nicht wahrhaben, das ist alles. Du willst nur der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen.

Was für einer Wahrheit? Sie brauchte nur die Augen zu schließen, dann war sie wieder im Schlafzimmer ihrer Eltern und sah die Unordnung überall, Einkaufstüten, Kleider, Schuhe, alles wild durcheinandergewürfelt, und dieser Geruch … Ihr hob sich der Magen.

„Was ist?“, fragte Caspar verärgert, als sie sich schnell abwandte, um auszusteigen.

„Nichts“, log sie.

Als David die Schritte seines Bruders draußen vor der Tür hörte, griff er nach den Papieren, in denen er eben gelesen hatte, und schob sie unter seine Schreibunterlage. Bei Jons Eintreten fiel sein Blick auf einen Bankauszug neben dem Telefon. Unauffällig legte er seinen Arm darüber. Er spürte das harte, unregelmäßige Klopfen seines Herzens.

„Ich suche die Unterlagen des Siddington-Fonds“, sagte Jonathon lächelnd. „Es gibt eine Anfrage von …“

„Oh, die sind bei mir zu Hause. Ich habe gestern Abend noch mal reingeschaut, weil … Ich bringe sie am Montag mit.“

„Du hast …?“

„Sag mal, es sieht ja wohl ganz so aus, als würde Max jetzt in einer Kanzlei unterkommen, stimmt’s?“, versuchte David eilig, das Thema zu wechseln.

„Ja … ja, gut möglich“, stimmte Jonathon zu. „Obwohl, es ist nicht immer ratsam, die Dinge als gegeben hinzunehmen.“

„Ich wette, Dad kann es gar nicht abwarten, sich Hugh gegenüber damit zu brüsten“, erklärte David, ohne Jonathons Einwand zu beachten. „Zwischen den beiden hat es in dieser Beziehung ja immer Rivalitäten gegeben.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Onkel Hugh das nicht so sieht“, stellte Jonathon klar. Sein Onkel war früher, als er und David noch jung gewesen waren, immer besonders freundlich zu ihm gewesen, und er hatte den Verdacht, dass die Rivalität zwischen den beiden Halbbrüdern mehr von seinem und Davids Vater ausging.

„Nun, Hugh ist aber …“

„Es wird gut sein, die Familie mal wieder beieinanderzuhaben“, unterbrach Jonathon seinen Bruder, nicht willens, dieses Thema zu vertiefen, und wandte sich zum Gehen.

David wartete, bis sich die Tür hinter seinem Bruder geschlossen hatte, ehe er die Papiere, die er unter seine Schreibunterlage geschoben hatte, wieder hervorzog und einsteckte. Seine Finger zitterten, als er seinen Aktenkoffer zuschnappen ließ. Ihm war leicht übel und ein bisschen schwindlig. Diese verdammte Hitze.

Dann nahm er den Kontoauszug erneut zur Hand und studierte ihn ungläubig. Wie hatten sie bloß so viel ausgeben können? Er hatte Tiggy erst letzten Monat gewarnt, dass sie es sich nicht leisten könnten, ständig auf so großen Fuß zu leben. Er hatte ihr sogar gedroht, ihr die Kreditkarten wegzunehmen, aber natürlich hatte sie geweint und gebettelt, bis ihm nichts anderes übrig geblieben war als nachzugeben.

Jonathon hatte es gut. Sein Bruder hatte nicht so einen kostspieligen Geschmack, deshalb kam er auch nie in Geldschwierigkeiten. Ganz davon abgesehen, dass Jennys Antiquitätengeschäft sicherlich einiges abwarf.

Überhaupt – diese Jenny. Kaum zu glauben, dass sie sich zu einer derart tüchtigen Geschäftsfrau gemausert hatte. Dabei war sie früher so ein schüchternes Mädchen gewesen – in jeder Hinsicht anders als seine Frau.

Er dachte daran, wie ihm Tiggy zum ersten Mal in einem Londoner Club aufgefallen war. Sie hatte an der Theke gesessen, umlagert von Verehrern.

Er konnte sich noch gut an das prickelnde Gefühl erinnern, das ihn durchzuckt hatte, als er ihren Blick auffing und registrierte, dass sie ihre Verehrer ignorierte und nur Augen für ihn hatte.

Unmöglich, sich Jenny so vorzustellen – weder damals und heute schon gar nicht – lässig an einer Bartheke lehnend, in einem der kürzesten Minis, den die Welt je gesehen hatte, den hübschen Schmollmund blassrosa geschminkt, die schwarz bewimperten und noch schwärzer umrandeten Augen riesengroß in dem weißen Gesicht.

Jenny verzog nie die Lippen zu einem Schmollmund, und wenn sie damals einen Kajalstift benutzt hätte, wäre ihr Vater wahrscheinlich Amok gelaufen. Ihre Beine waren stämmig, dazu bestimmt, sie über die Felder der Farm ihres Vaters zu tragen, und nicht lang und schlank und aufregend. Wo Jenny gesund und robust war, war Tiggy zerbrechlich, delikat und verletzlich. Während Jenny ihre Gefühle streng unter Kontrolle hielt, konnte Tiggy im einen Moment himmelhoch jauchzend und im nächsten bereits zu Tode betrübt sein. Während Jenny bieder und langweilig und berechenbar war, wusste man bei Tiggy nie, wie man mit ihr dran war.

Und daran hatte sich bis heute nichts verändert, wie er sich jetzt selbst versicherte. Der Neid, der in den Augen der Männer aufflackerte, wenn sie Tiggy musterten und mit ihren eigenen ältlichen und sterbenslangweiligen Ehefrauen verglichen, entging ihm nicht.

Tiggy gehörte zu den Frauen, die ganz instinktiv flirteten und so in jedem Mann den Liebhaber wachriefen. So, wie sie es bei ihm gemacht hatte. Sie hatte ihn total behext damals. Ihm den Verstand geraubt.

In den darauf folgenden Wochen hatten sie die Nächte zum Tag gemacht, es war ein nie endendes rauschendes Fest gewesen. Was natürlich seinen Karrierebestrebungen nicht sonderlich zuträglich gewesen war. Seine Zulassung als Strafverteidiger oder Tiggy, so hatte irgendwann die Alternative gelautet. Er hätte seine Anstrengungen verdoppeln, ja verdreifachen müssen, um sein selbst gestecktes Karriereziel zu erreichen. Das aber war bei dem Leben, das er mit Tiggy führte, einfach nicht möglich gewesen.

Und dann war er eines Tages in ihr Apartment gekommen und hatte sie in Tränen aufgelöst vorgefunden. Und schwanger mit seinem Kind.

Der Anblick ihres verletzlichen Gesichts und ihres kindlichen Körpers hatte alle seine sorgfältig vorbereiteten Pläne über den Haufen geworfen. Er hatte ihr an diesem Tag sagen wollen, dass er mehr arbeiten müsste. Doch er liebte sie. Und er konnte ohne sie nicht leben. Sie trug sein Kind unter dem Herzen. Sein Großvater würde es verstehen. Er würde es verstehen müssen.

Drei Tage später waren sie verheiratet.

Als er seine Braut küsste, eröffnete David ihr ernst, dass es in Zukunft keine Drogen mehr geben würde, ebenso wenig wie durchtanzte Nächte und verschlafene Tage. Sie mussten jetzt an ihr Baby denken.

Nachdem sich drei Wochen später die Bank weigerte, ihm weiter Kredit zu geben, hatte er Tiggy eröffnet, dass sie zu Besuch nach Cheshire zu seiner Familie fahren würden.

„Cheshire?“, hatte sie erwidert. „Aber wir kommen doch wieder nach London zurück, oder?“ David verschwieg ihr, dass das Leben, das sie in London geführt hatten, in Zukunft nicht mehr möglich sein würde.

Sie würde es noch früh genug merken.

Zu Davids Erleichterung hatte sein Vater Tiggy viel herzlicher aufgenommen als erwartet. Ja, er war sogar regelrecht begeistert von ihr gewesen.

Was man von Davids Entscheidung, seine Karrierebestrebungen an den Nagel zu hängen, nicht sagen konnte. Das war ein dicker Brocken gewesen, an dem Ben schwer zu kauen hatte, aber schließlich war es David doch gelungen, auch diese Runde für sich zu entscheiden. Er gewann immer.

Seltsamerweise war es seine Mutter gewesen, eine bescheidene, selbstlose Frau, die ihrem Mann jeden Wunsch von den Augen ablas und sich meistens einer eigenen Meinung enthielt, die Tiggy nicht richtig zu mögen schien. Aber dann fiel David ein, dass er schon öfter beobachtet hatte, dass viele Frauen mit Tiggy ihre Schwierigkeiten hatten. Nur Jenny war in dieser Hinsicht eine Ausnahme gewesen, sie hatte Tiggy mit aufrichtiger Wärme und Herzlichkeit in die Familie aufgenommen.

Sie und Jon waren damals bereits seit ein paar Jahren verheiratet gewesen. David vermutete den Grund dafür, dass Jenny Tiggy so freundlich gesonnen war, darin, dass sie damals, als sie Jon geheiratet hatte, auch schwanger gewesen war, aber diesen Gedanken schob er lieber ganz schnell wieder ganz weit weg. Jetzt war er einfach nur froh darüber, dass sein Vater sich bereit erklärt hatte, alle seine Schulden zu übernehmen, und dass er und Tiggy in seiner angestammten Umgebung noch einmal ganz von vorn anfangen konnten.

David verzog das Gesicht, als er einen erneuten Blick auf seinen Kontoauszug warf. Er würde ein weiteres Mal mit Tiggy reden müssen – so konnte das einfach nicht weitergehen … Er fing an zu schwitzen und spürte, dass sein Kiefer schmerzte.

Anders als Jon sah er dem Wochenende nicht freudig entgegen. Fünfzig! Wo zum Teufel waren all die Jahre geblieben? Fünfzig … und was hatte er erreicht? Er stopfte die Kontoauszüge in seine Schreibtischschublade, die er anschließend verschloss. Hinter seinen Schläfen hämmerte es, und ihm war leicht übel.

Es würde nicht einfach werden, mit Tiggy zu reden … sie dazu zu bringen zuzuhören. Sie war am vergangenen Abend sehr aufgebracht gewesen und hatte sich beschwert, dass Olivia sich mehr um Jenny kümmerte, dabei war schließlich doch sie, Tiggy, ihre Mutter, nur um sich dann im selben Atemzug von ihm versichern zu lassen, dass er sie noch immer genauso attraktiv fände, und hatte sich mit Olivia verglichen.

„Olivia ist in den Zwanzigern“, hatte er unklugerweise erwidert und sich gleich darauf selbst verflucht. Aber es war zu spät gewesen, er konnte seine Worte nicht mehr zurücknehmen; der Schaden war angerichtet, und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben würden, waren so vorhersehbar wie die Tatsache, dass auf die heutige Nacht ein neuer Tag folgen würde. Er wusste genau, was er vorfinden würde, wenn er nach Hause kam, ebenso wie er wusste, wie Tiggy reagieren würde, wenn er versuchte, ihr vor Augen zu führen, was sie sich selbst und ihnen beiden durch das, was sie tat, antat.

3. KAPITEL

„Tiggy.“

Olivia blieb zögernd auf der Schwelle des sonnenüberfluteten Wohnzimmers stehen. Ihre Mutter saß an dem hübschen antiken Sekretär, den sie vor Jahren von David zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Als sie sich jetzt zu ihrer Tochter umdrehte, erinnerte in ihrem Gesichtsausdruck nichts mehr an die Angst und Aufregung von heute Morgen. Im Gegenteil, sie wirkte fast heiter, wie Olivia feststellte, während sie zuschaute, wie Tiggy den eben ausgefüllten Scheck in einen Umschlag schob, den sie zuklebte.

„Ich wollte nur rasch noch ein paar Rechnungen bezahlen“, informierte sie Olivia. „Dein Vater ist noch nicht zurück. Ich dachte, wir könnten heute Abend vielleicht in Knutsford in deinem Lieblingsrestaurant essen gehen … ach, wo ist eigentlich Caspar, ich …“

„Ich bin hier“, antwortete Caspar und trat hinter Olivia ins Wohnzimmer.

„Er sieht wirklich fantastisch aus“, sagte Tiggy zu Olivia und warf Caspar ein verführerisches Lächeln zu.

Das ist wieder mal echt Mutter, dachte Olivia, während sie Tiggy beobachtete. Ihre Verführungskünste waren wirklich atemberaubend. Es war ganz und gar unmöglich, ihr böse zu sein und ihr ihre Fähigkeit, Männer um den kleinen Finger zu wickeln, zu neiden oder womöglich das, was sie da tat, infrage zu stellen.

„Und so groß!“, flötete Tiggy, die provozierend nah bei Caspar stand und mit Schlafzimmeraugen zu ihm aufschaute, während sie ihn fragte: „Wie groß sind Sie genau?“

Caspar ließ sich auf das Spiel ein und nannte ihr seine Größe.

„Und diese Muskeln!“ Tiggy gab ein bewunderndes Keuchen von sich, während sie mit einem langen lackierten Fingernagel über Caspars nackten Unterarm strich. „Ach, du meine Güte …“

Olivia sandte Caspar über den Kopf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu, als sie sah, wie er seinen Arm zurückzog. Sie wusste, wie schnell die Laune ihrer Mutter umschlagen konnte, wie rasch sie auf etwas, das sie als Ablehnung interpretierte, reagierte und wie wichtig es ihr war, was die anderen Leute von ihr dachten.

Als Kind hatte Olivia das Bedürfnis ihrer Mutter, von allen bewundert zu werden, einfach als Persönlichkeitsmerkmal akzeptiert, sie hatte es hingenommen, dass ihre Mutter einfach so war, doch jetzt, wo sie erwachsen war … Sie runzelte besorgt die Stirn.

„Ich glaube, ich stelle mir besser einen Wecker, wenn ich nachher zu Bett gehe“, sagte Olivia zu ihrer Mutter. „Ich habe versprochen, morgen schon früh in Queensmead zu sein, um Tante Ruth mit den Blumen zu helfen. Ach, und Tante Jenny hat mich gebeten, dir auszurichten, dass die Chester-Bande morgen um die Mittagszeit eintrifft. Sie hat gesagt, du sollst es sie wissen lassen, falls du noch irgendwelches Bettzeug oder sonst was brauchst. Offensichtlich hat sie den alten Wäscheschrank in Queensmead durchgestöbert, um sicherzustellen, dass Gramps alles Notwendige für Hughs Familie im Haus hat. Nicholas, Saul und Hillary und die Kinder werden dort wohnen, und sie hat erzählt, dass sie genug Bettzeug gefunden hat, um ein kleines Hotel auszustatten.“

Sie hielt einen Moment inne und schaute ihre Mutter forschend an. „Was ist?“, fragte sie verunsichert, weil sie sah, dass sich Tiggys Gesichtsausdruck verändert hatte und sie angespannt am Ärmel ihrer Seidenbluse herumzupfte.

„Ich weiß wirklich nicht, warum ausgerechnet wir Lawrence und Henry und ihre Familien aufnehmen müssen“, jammerte sie. „Schließlich ist es ja nicht so … es macht wirklich eine Menge Arbeit, und Mrs. Phillips kann mir auch nicht helfen, weil Jenny sie bereits völlig mit Beschlag belegt hat.“

Lawrence und Henry waren Brüder und Cousins zweiten oder dritten Grades ihres Vaters, Olivia war sich niemals ganz sicher. Sie waren ein bisschen älter als David. Lawrence hatte drei erwachsene Kinder, und Henry vier plus drei Enkelkinder; sie gehörten alle zu der ursprünglichen Chester-Familie, von der ihre eigene Familie auch abstammte.

„Ach, jetzt komm schon, Tiggy“, versuchte Olivia, ihre Mutter aufzuheitern. „Gegen ein bisschen Abwechslung hattest du doch noch nie etwas einzuwenden.“

„Ja schon, nur das war vor … du weißt genau, dass ich dann auch alles richtig schön machen will, aber dein Vater beklagt sich schon ständig und behauptet, dass wir uns diesen Lebensstandard nicht leisten könnten …“ Sie unterbrach sich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während Olivia ein leiser Schauer über den Rücken kroch. Soweit Olivia es wusste, ging es ihren Eltern in finanzieller Hinsicht recht gut.

Als Kind hatte es ihr gewiss nie an etwas gemangelt. Sie war stets davon ausgegangen, dass die Anwaltspraxis ausgesprochen gut lief und genug abwarf, dass beide Brüder bequem davon leben konnten.

Nun, wahrscheinlich übertrieb ihre Mutter wieder einmal maßlos, wie es eben so ihre Art war. Vorstellbar war höchstens, dass ihr Vater ihrer Verschwendungssucht ein bisschen Einhalt gebieten wollte, und das konnte so falsch nicht sein. Tiggy hatte wirklich keine Ahnung, dass das Geld, das sie mit vollen Händen zum Fenster hinauswarf, erst einmal verdient sein wollte.

„Ich kann mir vorstellen, dass Gramps Lawrence und Henry ein bisschen beeindrucken will.“ Olivia tat ihr Bestes, ihrer Mutter den Besuch schmackhaft zu machen. Als sie Caspars ironischen Blick auffing, biss sie sich auf die Unterlippe. Zweifellos würde sie sich hinterher für ihre Süßholzraspelei vor ihm verantworten müssen. Falls Caspar überhaupt einen Fehler hatte, dann war es der, dass er von diplomatischen Winkelzügen nichts hielt. Dafür war er zu direkt.

„Nun, ja, vermutlich hast du recht.“ Das Gesicht ihrer Mutter hellte sich wieder etwas auf. „Natürlich ist Jenny schrecklich lieb und eine wunderbare Köchin dazu, aber … nun … sonderlich viel Geschmack hat sie weiß Gott nicht, und mit ihrer Wohnung ist nicht gerade viel Staat zu machen, mal ganz davon abgesehen, dass man dort ständig einem Kind oder einem Tier auf die Füße tritt.“

Olivia fand insgeheim, dass das Zuhause ihrer Tante und ihres Onkels mit den liebevoll auf Hochglanz gebrachten Antiquitäten, den Schüsseln köstlich duftender selbst gemachter Eintöpfe und den Schnittblumen aus dem eigenen Garten ihrem persönlichen Geschmack sehr nahe kam.

Sie wusste, dass ihre Mutter ihren ganzen Stolz dareinsetzte, ihr Heim stets dem jeweiligen Zeitgeistgeschmack anzupassen, ebenso wie ihre Garderobe. Olivia war von frühester Jugend an mit der Unzufriedenheit vertraut, die ihre Mutter jedes Frühjahr beim Durchblättern bestimmter Hochglanzmagazine überfiel, wenn die Stilbibeln verkündeten, was derzeit in Mode war und was nicht. Dann wurden ganze Räume neu eingerichtet, um sich dem neuesten Modediktat zu unterwerfen, ihre Mutter sorgte sich fast obsessiv noch um das winzigste Detail und ruhte nicht eher, bis sie auch wirklich den ganz genau passenden Lampenschirm oder das entsprechende Kunstobjekt, das „man“ derzeit an der Wand hängen hatte, endlich aufgetrieben hatte.

„Hat sie sich schon immer so viel aus der Meinung anderer gemacht?“, fragte Caspar sie später in der Nacht, als sie im Bett lagen. Olivia hatte sich in sein Dachzimmer geschlichen, wobei sie sich fast vorgekommen war wie ein unartiges Schulmädchen – es war wirklich lächerlich, dass ihre Mutter sich einbildete, auf Gramps’ altmodische Ansichten Rücksicht nehmen zu müssen, wenn er sie nicht einmal sehen konnte.

„Ja“, bestätigte sie, „obwohl …“

„Obwohl was?“, drängte Caspar, als sie nicht weiterredete.

„Ich … ich bin mir nicht ganz sicher. Ich kann mich nicht erinnern, dass es früher so schlimm war … Ich vermute, es ist derzeit alles nicht ganz einfach für sie. Für sie war ihr Aussehen immer das Wichtigste, ihr ganzes Selbstbewusstsein hing davon ab, und jetzt … obwohl sie natürlich immer noch erstaunlich gut aussieht, wird sie dennoch …“

„Älter – und verzweifelter“, beendete Caspar ihren Satz.

Olivia nickte zustimmend in der Dunkelheit.

Obwohl sich ein Teil von ihr insgeheim immer gewünscht hatte, dass Tiggy mehr wie Jenny wäre … mehr wie eine ganz normale Mutter und nicht dieses fast kindlich wirkende, zerbrechliche Wesen, verspürte Olivia jetzt doch ein leichtes Unbehagen. Es erschien ihr nicht fair, diesen Punkt mit Caspar zu diskutieren, vor allem, weil sie am Nachmittag gesehen hatte, wie peinlich berührt er von Tiggys Verhalten ihm gegenüber gewesen war. Sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, einerseits mit Caspar über ihre Mutter zu reden und sie andererseits zu beschützen, indem sie schwieg.

„Ich habe Durst“, erklärte sie, aus dem schmalen Bett schlüpfend. „Ich gehe nach unten und mache mir eine Tasse Tee. Möchtest du auch eine?“

„Ja, bitte. Soll ich mitkommen?“

Olivia schüttelte den Kopf. „Ich bin gleich wieder da“, versprach sie und gab ihm einen leichten Kuss auf den Mund, dann warf sie sich ihren Bademantel über und tappte barfuß zur Tür.

In der Halle konnte sie den Duft der weißen Lilien riechen, die Lieblingsblumen ihrer Mutter.

Die Küchentür stand einen Spalt offen, Olivia blieb einen kurzen Moment stehen und spannte sich an, als sie hörte, wie drinnen eine Verpackung aufgerissen wurde. Biskuits, schloss sie, als das Geräusch an ihr Ohr drang, das entsteht, wenn jemand viel zu schnell etwas Knuspriges in sich hineinschlingt.

Ohne zu zögern, stieß Olivia die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Einen Moment später war die Küche von Helligkeit überflutet und gab die Gestalt, die da zusammengekauert vor dem halb offenen Kühlschrank kauerte, ihren Blicken preis.

Überall um sie herum auf dem Boden lagen leere Tüten, Esskartons, aufgerissene Verpackungen und sogar Dosen, wie Olivia total schockiert und ungläubig registrierte, während ihr Blick von dem Chaos auf dem Fußboden zu dem aschfahlen Gesicht ihrer Mutter wanderte.

„Tiggy …“, flüsterte sie, „was ist … was ist …?“

Obwohl sie die Frage stellte, kannte sie die Antwort doch bereits, genau so, wie sie sie heute Morgen schon gekannt hatte, als sie ins Schlafzimmer ihrer Mutter gekommen war und diese inmitten von glänzenden Einkaufstüten, umringt von funkelnagelneuen, noch nie getragenen Kleidern vorgefunden und diesen ekelerregenden Geruch von Erbrochenem, der den Parfümduft überlagert hatte, wahrgenommen hatte. Sie hatte es gewusst und sich doch den ganzen Tag über verzweifelt bemüht, es zu verdrängen, ebenso, wie sie diese beschämenden Gefühle von Zorn und Groll hatte vergessen wollen, die angesichts des offen zutage liegenden erbarmungswürdigen Unglücks und der Verzweiflung ihrer Mutter in ihr aufgestiegen waren. Wodurch auch immer diese Verzweiflung hervorgerufen worden sein mochte, es war Olivia klar, dass ihrer Mutter das, was sie da tat, schon seit vielen – wie vielen? – Jahren zur Gewohnheit geworden war.

Anorexie, Bulimie – das waren medizinische Begriffe, die man mit empfindsamen, in ihrer Geschlechterrolle verunsicherten jungen Mädchen in Zusammenhang brachte, aber ganz gewiss nicht mit einer erwachsenen Frau Mitte vierzig, und dennoch gab es vor der Wahrheit, die offen vor ihren Augen lag, kein Entkommen für Olivia.

„Oh Mum“, flüsterte sie erstickt, noch immer hoffend, dass sich alles als ein schreckliches Missverständnis herausstellen und ihre Mutter aufstehen, sie anlächeln und sich dieses Chaos um sie herum einfach in Luft auflösen würde; und doch sprachen die traurigen Überreste des Fressanfalls ihrer Mutter eine überdeutliche Sprache.

Voller Entsetzen starrte Olivia auf die Bescherung. Wie war es nur möglich, dass ein einzelner Mensch so viel essen konnte? Sie schaute auf ihre Mutter, deren Gesicht teigig wirkte und fahl, die Augen leer, die Lider schwer. Tiggy hatte sichtlich Mühe, angemessen zu atmen, eine Hand massierte mit kreisenden Bewegungen ihren Bauch unter dem dünnen Morgenmantel.

„Warum?“, flüsterte Olivia erschüttert.

„Ich weiß nicht … ich weiß es nicht …“

Tiggy krümmte sich zusammen und begann zu weinen, sie schlang ihre dünnen Arme um ihre gebeugten Knie und wiegte sich langsam hin und her, während sie Olivia flehend anblickte.

„Bitte, erzähl es niemandem …“, flüsterte sie, „… ich will nicht immer so viel Geld ausgeben, aber ich muss es einfach … ich kann nichts dagegen tun, verstehst du? Du verstehst mich doch, oder?“, appellierte sie an ihre Tochter.

Aber Olivia, die sich wieder an den Anblick der Tragetaschen und der nicht ausgepackten, nicht getragenen Kleider erinnerte, die über das ganze Schlafzimmer verstreut herumgelegen hatten, fand nicht die richtigen Worte, um ihrer Mutter die Versicherung zu geben, nach der diese sich so verzweifelt sehnte.

„Erzähl’s nicht deinem Vater“, wiederholte Tiggy. „Ich habe ihm versprochen, dass ich es nicht mehr tue. Er liebt mich nicht mehr, wenn ich krank bin“, hörte Olivia ihre Mutter sagen. „Er versucht dann zwar immer noch, so zu tun, als ob, aber ich weiß es genau … er würde nicht mehr zu mir kommen …“

Sie schluchzte jetzt leise in sich hinein, wie ein kleines Kind. Sie sah sogar aus wie ein kleines Kind mit ihren dünnen Armen und dem ausgemergelten Körper. Olivia wünschte sich, zu ihr zu gehen, die Arme um sie zu legen und sie ganz fest zu halten, aber der durchdringende Geruch des Essens und die Erinnerung daran, wie es in ihrem Schlafzimmer gerochen hatte, nachdem sich ihre Mutter bis obenhin vollgestopft und anschließend alles wieder herausgebrochen hatte, hielt sie davon ab. Sie schaffte es einfach nicht, sich Tiggy so zu nähern, so gern sie es auch gewollt hätte.

Während sie gegen ihre eigene Übelkeit ankämpfte, die sie zu überwältigen drohte, fragte sich Olivia, warum sie so lange gebraucht hatte, um zu erkennen, was mit ihrer Mutter los war.

„Olivia?“

Sie spannte sich an, als sie hörte, wie Caspar in die Küche kam. Sie hatte den Tee ganz vergessen, den sie ihm versprochen hatte, und jetzt, da sich ihre Blicke kreuzten, wurde ihr klar, dass er genauso schnell begriffen hatte wie sie selbst vor zwei Minuten.

„Ich wusste nichts“, hörte sie sich ihm zuflüstern, als müsse sie ihre Unkenntnis rechtfertigen.

Ihre Mutter, die hinter ihr saß, rappelte sich mühsam auf.

„Ich gehe jetzt ins Bett … ich bin müde“, hörte Olivia sie sagen. Sie sprach und bewegte sich wie ein Mensch, der unter Drogeneinfluss steht, was mit Sicherheit von dem vielen Essen kam, das sie im Bauch hatte und das sie jetzt wahrscheinlich erst wieder loswerden musste.

„Lass sie gehen“, sagte Caspar schnell, als Olivia Anstalten machte, ihre Mutter aufzuhalten.

War das wirklich ihre Mutter? Olivia schaute Tiggy fassungslos nach, während diese mit gesenktem Kopf, ihren Bauch umklammernd, aus der Küche trottete. Sie ging jedoch nicht nach oben in ihr Schlafzimmer, sondern auf die Gästetoilette.

„Oh, mein Gott“, flüsterte Olivia. „Oh Gott, Caspar. Ich hatte wirklich keine Ahnung …“

Automatisch bückte sie sich, um den Müll einzusammeln, den ihre Mutter hinterlassen hatte. Dann hielt sie abrupt inne und drehte sich um. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Wortlos öffnete Caspar die Arme.

Noch immer zu schockiert, um ihre Gefühle zu artikulieren, rannte sie halb, halb stolperte sie zu ihm und presste sich an ihn, wobei sie die Augen ganz fest zumachte in der Hoffnung, dann endlich die schrecklich lebendigen, quälenden Bilder ihrer Mutter vergessen zu können.

In einer Welt, die plötzlich erschreckend irreal geworden war, erschien ihr die vertraute Wärme von Caspars Umarmung wie ein Geschenk des Himmels. Sie konnte seinen regelmäßigen Herzschlag spüren, der so viel langsamer und ruhiger war als ihr eigener, seinen Duft riechen, seinen Atem hören, alles Dinge, die ihr vertraut waren und die ihr die nötige Sicherheit gaben, die sie jetzt so dringend brauchte.

„Caspar …“ Während sie seinen Namen flüsterte, öffnete sie die Augen und forschte ängstlich in seinem Gesicht, sie schlang ihre Arme ganz fest um ihn und küsste ihn mit wilder Leidenschaftlichkeit.

Eine Sekunde lang schien er zu zögern, aber als er ihr Verlangen spürte, begann er, ihre Küsse zu erwidern.

„Oh, mein Gott, Livvy“, flüsterte er rau, mit den Händen ihre Brüste umfangend, „ich könnte dich auffressen, so gut fühlst du dich an.“

Sie auffressen!

Olivia versteifte sich und beendete den Kuss; bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihr regelrecht der Magen um.

Der Klang dieses Wortes brachte ihr all die peinigenden Erinnerungen wieder zurück, die sie eben so weit wie möglich von sich geschoben hatte – den Anblick der zusammengekauerten Gestalt ihrer Mutter und die schmatzenden Geräusche, die diese von sich gegeben hatte, während sie ihrer Gier freien Lauf ließ, sich damit, wie Olivia unbewusst erkannt hatte, Erleichterung verschaffend von jeder Form der Selbstkontrolle und emotionalen Zurückhaltung.

„Livvy, was ist los?“, wollte Caspar wissen.

Er hielt sie noch immer umarmt und streichelte sie, er umspannte ihre Brüste mit den Händen und liebkoste ihre Knospen mit den Daumenspitzen. Olivia erschauerte und schob ihn unangenehm berührt von sich weg. Es war Liebe, nach der sie sich sehnte, Liebe, Trost und Unterstützung, die sie in seinen Armen suchte, und nicht Sex.

„Komm, lass uns wieder ins Bett gehen“, flüsterte Caspar.

„Wieder ins Bett!“ Olivia schaute ihn aus ungläubig geweiteten Augen an, und an die Stelle der Erleichterung und Dankbarkeit, die in ihr aufgestiegen waren, als er sie in den Arm genommen hatte, trat jetzt ein Gefühl von Fremdheit und Ablehnung. „Caspar, wie kannst du so etwas bloß sagen?“, fragte sie. „Sex ist wirklich das Letzte, wonach mir im Augenblick der Sinn steht … das Allerletzte. Du hast meine Mutter gesehen, du …“ Sie wandte sich ab und durchquerte mit schnellen Schritten die Küche, während Caspar ihr mit gerunzelter Stirn hinterhersah.

Er hätte es sich denken können, natürlich, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte er gehofft, dass es anders sein könnte, dass sie anders war, durch ihre Worte eben jedoch hatte sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ihre Familie, wenn es darauf ankam, für sie an erster Stelle kam – ungeachtet dessen, was sie vorher gesagt hatte. Ihre Familie, ihre Eltern, andere waren ihr wichtiger als er.

Olivia hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie mit ihrem Verhalten bei ihm ausgelöst hatte. Ihr war nicht klar, dass sie dadurch alte Gefühle aus seiner Kindheit – Gefühle des Verstoßenwerdens, des Nichtgenügens, des Unerwünschtseins – wieder in ihm wachgerufen hatte. Dafür war sie viel zu sehr in ihre eigenen Gefühle verstrickt, die ein unentwirrbares Knäuel aus Entsetzen, Ekel, Angst und Schuldgefühlen darstellten. „Heute Morgen, als ich in ihr Schlafzimmer kam … hockte sie … umringt von Einkaufstüten auf ihrem Bett“, brachte sie stockend heraus, „und alle waren sie voll mit Kleidern, die sie noch nicht ein einziges Mal angehabt hatte. Nicht ein oder zwei oder so, nein, es waren Dutzende, überall, und dann dieser Gestank …“ Sie schüttelte sich, als sie sich an den ekelerregenden Geruch erinnerte. „Ich hätte in diesem Moment schon etwas sagen sollen … etwas tun …“

„So? Was denn?“, fragte Caspar in herausforderndem Tonfall. „Deine Mutter hat offensichtlich ein Suchtproblem, Olivia. Esssucht, Kaufsucht, Sucht nach Sex und Liebe und Anerkennung, es ist alles dasselbe. Sie versucht verzweifelt, eine Leere zu füllen, die durch nichts gefüllt werden kann.“

„Aber ich hätte es wissen müssen … ich hätte irgendetwas unternehmen müssen …“, wandte Olivia mit tränenerstickter Stimme ein. Sie fühlte sich entsetzlich schuldig und hilflos, unendlich traurig wie ein Erwachsener, der plötzlich merkt, dass er einem kleinen Kind furchtbar unrecht getan hat, und sie verspürte das dringende Bedürfnis, ihr Versäumnis wiedergutzumachen.

„Woher hättest du es denn wissen sollen?“, fragte Caspar etwas verspätet. Seine eigenen Emotionen hatte er jetzt wieder fest im Griff, zumindest glaubte er das.

Olivia registrierte mit einiger Verwunderung, dass er im Gegensatz zu ihr von dem Vorfall vollkommen unberührt geblieben zu sein schien, was sie sich damit zu erklären versuchte, dass Tiggy eben nicht seine Mutter war. Außerdem besaß Caspar, wie ihr schon früher aufgefallen war, eine gewisse Robustheit, wenn nicht sogar Härte, einen Panzer, unter den er sich zurückzog, wenn es ihm zu stürmisch wurde.

„Instinktiver Selbstschutz“, hatte er es genannt, als sie ihn irgendwann einmal darauf angesprochen hatte. „Eine Eigenschaft, die man braucht, um überleben zu können“, hatte er hinzugefügt.

„Ich … ich muss ihr helfen“, brachte sie stockend heraus. „Irgendetwas muss es doch geben, was ich tun kann.“

„Ach ja? Was denn zum Beispiel?“, fragte er spöttisch. „Ich will dir etwas sagen, Livvy: Soweit ich es gesehen habe, hat die Sucht deine Mutter fest im Griff, und das bereits seit sehr langer Zeit. Natürlich braucht sie Hilfe, das steht außer Frage, aber nicht von dir, sondern von einem Arzt“, fügte er entschieden hinzu. „Was du hier tust“, fuhr er mit einem kurzen Blick auf das Durcheinander, das Olivia eben zu beseitigen suchte, fort, „erleichtert es ihr nur, genau so weiterzumachen wie bisher. Im Endeffekt ermutigst du sie sogar noch.“

„Wie kannst du so etwas sagen!“, fuhr Olivia auf. „Ich will nur ein bisschen aufräumen für den Fall, dass …“

„Für den Fall, dass was?“, unterbrach Caspar sie. „Für den Fall, dass jemand kommt und sieht, was hier los ist? Glaubst du wirklich, dein Vater wüsste nicht längst Bescheid? Er mag sich alle erdenkliche Mühe geben, seine Augen vor den Tatsachen zu verschließen, aber eine Szene wie diese hat sich mit Sicherheit nicht zum ersten Mal abgespielt.“

„Aber Caspar, du hast sie doch eben auch gesehen, sie war … sie ist …“

„Süchtig“, schnitt Caspar ihr entschieden das Wort ab. „Sei doch mal ganz ehrlich, Olivia. Wenn du hier nach unten gekommen wärst und hättest deinen Vater umringt von leeren Schnapsflaschen vorgefunden, hättest du dann auch so reagiert? Ich glaube nicht. Siehst du das denn nicht?“, drang er in sie. „Sucht ist Sucht. Sie äußert sich nur auf verschiedene Weise. Die Wurzel der Sucht liegt stets in dem Wunsch, der Realität und dem Leben, das man lebt, zu entfliehen, und bei deiner Mutter …“

„Ich möchte heute nicht mehr darüber reden“, schnitt Olivia ihm das Wort ab. „Ich schaffe es einfach nicht. Morgen ist die Geburtstagsfeier“, fügte sie überflüssigerweise hinzu, „und ich kann nicht …“ Sie schloss die Augen in dem Versuch, gegen die Panik, die sie in sich aufsteigen fühlte, anzukämpfen.

Sie durfte jetzt nur nicht glauben, dass sie mit dem, was sie entdeckt hatte, nicht fertigwerden könnte. Sie musste es. Sie musste irgendetwas unternehmen. Wie lange mochte das schon so gehen? Und warum war bisher noch niemand etwas aufgefallen? Warum hatte niemand bemerkt, dass … warum hatte niemand das, was ganz offensichtlich ein Hilfeschrei war, nicht wahrgenommen? Von Caspar war keine Unterstützung zu erwarten. Er würde ihr nicht helfen. Warum konnte er nicht ein bisschen mitfühlender, verständnisvoller sein? Warum sah er nicht, wie schuldig sie sich fühlte, wie entsetzt sie war, wie betroffen, sodass sie wirklich fast alles getan hätte, um ihrer Mutter zu helfen, nur um ihre eigenen Schuldgefühle zu lindern? Schuldgefühle, die darin wurzelten, dass sie die ganze Zeit über ihr eigenes Leben gelebt hatte, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an ihre Familie zu verschwenden.

Als sie den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, wandte sie sich nach Caspar um und war fast erleichtert, sagen zu können: „Ich glaube, es ist besser, ich schlafe in meinem eigenen Zimmer, nur für den Fall, dass … dass …“

„Für den Fall, dass was?“, entgegnete Caspar in ätzender Schärfe. „Für den Fall, dass deine Mutter dich braucht?“ Er schüttelte den Kopf. „Du rennst in eine Sackgasse, Olivia“, warnte er sie. Aber Olivia presste nur die Lippen zusammen und hielt ihm die Wange für einen Gutenachtkuss hin, wobei sie sehr genau darauf achtete, ihm ja nicht zu nahe zu kommen.

Sah er denn nicht, wie sehr sie ihn gerade jetzt brauchte? Konnte er nicht einmal, ein einziges Mal nur seine Prinzipien über Bord werfen und versuchen, die Dinge von ihrem Standpunkt aus zu sehen?

„Du machst es dir wirklich verdammt einfach“, gab sie, am Ende ihrer Geduld angelangt, zurück, „aber es ist nun mal meine Mutter, über die wir hier reden … ach, was soll’s.“ Sie schüttelte den Kopf, zu erschöpft, um sich weiter mit ihm herumzustreiten, jedoch immer noch halb in der Hoffnung, dass er schließlich doch noch einlenken werde, während sie seinen Schritten nachlauschte, als er den zweiten Treppenabsatz nach oben ging. Vielleicht überlegte er es sich ja doch noch anders und kam zurück, aber natürlich würde er das nie tun … niemals.

Oh nein, seine Prinzipien waren ihm heilig. Sie waren ihm offensichtlich wichtiger als ihre Gefühle, ihre Bedürfnisse … als sie.

4. KAPITEL

Jenny wurde zeitig wach und dankte ihrem Schöpfer mit einem erleichterten Aufatmen für einen blauen Himmel und die goldenen Strahlen, die die frühe Morgensonne ins Zimmer schickte.

Jonathon neben ihr schlief noch, aber er wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Er hatte sie zweimal in der Nacht aufgeweckt, weil er im Schlaf gesprochen hatte, was er immer dann tat, wenn ihn irgendetwas bedrückte. Sie hatte seine Worte nicht verstehen können bis auf den Namen seines Bruders, den er in verärgertem Tonfall ausgestoßen hatte. Aber es war wieder einmal typisch, dass es die Sorge um David war, die ihn nicht ruhig schlafen ließ.

Beim Betrachten von Jons Gesicht wurde sie von einem Gefühl der Liebe und Zärtlichkeit für ihren Ehemann überwältigt. Behutsam beugte sie sich zu ihm hinüber und küsste ihn sanft, wobei ihr nicht ganz klar war, ob sie Erleichterung oder Enttäuschung verspürte darüber, dass er weiterschlief.

Es hatte sie zu verschiedenen Zeiten ihrer Ehe abwechselnd zornig, ärgerlich und hilflos gemacht, mit ansehen zu müssen, wie ihr Ehemann seinen Bruder David allen anderen Menschen vorzog, auch wenn sie wusste, dass es unwillkürlich geschah, es war eine Angewohnheit, ein fast instinktives Verhalten, das ihm sein Vater von klein auf vermittelt hatte. Ihre Kenntnisse über die Umgehensweise der beiden Brüder stammten schließlich aus erster Hand, und sie hatte sie nicht nur als Jons Frau gesammelt, sondern schon früher als Davids Freundin.

Davids Freundin. Wie aufgeregt, ja sprachlos war sie damals gewesen, als Sechzehnjährige, als er sie zum ersten Mal gefragt hatte, ob sie Lust hätte, mit ihm auszugehen.

Sie fand erst später heraus, dass seine Wahl nur rein zufällig auf sie gefallen war und dass er ursprünglich auf eine Verabredung mit einer ihrer Klassenkameradinnen erpicht gewesen war. Doch nachdem ihm zu Ohren gekommen war, dass diese die Absicht hatte, ihm einen Korb zu geben, hatte er stattdessen seine Aufmerksamkeit auf sie, Jenny, verlagert, schlicht weil sie im Unterricht neben jenem Mädchen saß. Als sie ihn irgendwann später darauf angesprochen hatte, war er sofort bereit gewesen, es zuzugeben, und dann hatten sie beide gelacht,

Ihr war natürlich von Anfang an klar gewesen, dass David eine Nummer zu groß für sie war, aber sie hatte auch gewusst, dass er zu dem Zeitpunkt, als er ihr die Wahrheit eingestand, sich wirklich eingebildet hatte, sie zu lieben. Sie hatte es sich ja auch eingebildet, für eine kleine Weile zumindest und gewiss lang genug, um …

Nach ihrem siebzehnten Geburtstag waren David und sie dann offiziell miteinander gegangen, aber obwohl sich seine Eltern nie etwas anmerken ließen, hatte sie doch gespürt, dass sie in ihren Augen nicht gut genug für ihn war.

Sie konnte sich noch deutlich an die langen, verregneten Winternachmittage erinnern, wenn sie David beim Rugbyspielen zugeschaut hatte, mit seinem Vater an ihrer Seite, der sowohl seinen Sohn anfeuerte als auch die größte Mühe darauf verwandte, ihr begreiflich zu machen, was für große Hoffnungen die ganze Familie in David setzte. Bei diesen Gesprächen hatte Jenny alles über die großartige Zukunft erfahren, die vor David lag, und wie weit diese ihn von ihr wegbringen würde.

Für sie, die Tochter eines hart arbeitenden Farmers, gab es nicht die geringste Hoffnung, ihm auf die Universität folgen zu können, so viel stand fest. Ihre Eltern hatten ihre Zukunft ebenfalls schon geplant, wie Davids Eltern die seine.

Sie sollte nach ihrem Schulabschluss eine Lehre als Hotelkauffrau in einem großen Hotel in Chester beginnen. Und bis dahin erwartete man von ihr, dass sie auf der Farm mithalf, wo man jedes weitere Paar Hände gut gebrauchen konnte.

Oh ja, sie hatte es immer gewusst, dass es so kommen würde, vielleicht hatte sie die Entwicklung sogar absichtlich beschleunigt, als sie den Verlobungsring ausgeschlagen hatte, den er ihr zur Feier seiner bestandenen Aufnahmeprüfung nach Oxford hatte kaufen wollen. Jenny war erleichtert, dass er die Prüfung geschafft hatte. Sie wusste sehr gut, wem sein Vater im anderen Fall die Schuld gegeben hätte, und das wäre gewiss nicht David gewesen.

Der Abend, an dem sie es ihm gesagt hatte – an dem sie getan hatte, was sein Vater von ihr erwartete – würde ihr wohl für immer im Gedächtnis bleiben. David hatte ihr zuerst nicht geglaubt, als sie ihm sagte, dass es Zeit sei, sich zu trennen, dann war er wütend geworden, bis dann schließlich wenig später – sie hatte es genau gespürt – Erleichterung die Oberhand gewonnen hatte.

David war es verhasst, in einem schlechten Licht dazustehen oder als irgendetwas anderes als perfekt angesehen zu werden. Deshalb sorgte er in seinem – und ihrem – Freundeskreis dafür, dass jeder erfuhr, dass sie diejenige gewesen war, die ihre Beziehung beendet hatte, und nur Jonathon schien zu ahnen, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt.

Anders als David ging Jonathon nicht nach Oxford, auch wenn ihn sein Abschluss dazu berechtigt hätte – seine Noten waren genau besehen um einiges besser als die von David. Aber Jonathon strebte die höheren Weihen seines Berufs gar nicht an; er hatte zwar vor, Jura zu studieren, aber auf einem bescheideneren Niveau als David.

Niemand schien überrascht zu sein, als Jon und Jenny verkündeten, dass sie heiraten wollten, und sie hatte den Verdacht, dass Harrys Geburt weniger als sieben Monate nach ihrer Hochzeit eine Menge mehr Klatsch nach sich gezogen hätte, wenn ihr Sohn nicht bereits kurz nach der Geburt gestorben wäre.

Danach hatte sie Jon die Scheidung angeboten. Immerhin existierte der ursprüngliche Grund für ihre Heirat nicht mehr, aber Jonathon hatte den Kopf geschüttelt und ihr gesagt, dass für ihn eine Ehe eine Sache fürs ganze Leben wäre, und sie war emotional zu erschöpft gewesen von Harrys Tod, um ihm zu widersprechen.

Und ihre Ehe war eine gute Ehe geworden, wie sie sich jetzt entschieden versicherte, auch wenn …

Über sich selbst den Kopf schüttelnd, erinnerte sie sich daran, dass sie weitaus Wichtigeres zu tun hatte, als im Bett herumzuliegen und über die Vergangenheit nachzugrübeln. Sie wollte so früh wie möglich in Queensmead sein, nur für den Fall, dass irgendwelche unvorhergesehenen Probleme auftraten.

Jonathon wartete, bis er sich sicher sein konnte, dass Jenny ganz bestimmt unter der Dusche war, dann öffnete er langsam die Augen. Ihm war ihr Zögern nicht entgangen, bevor sie sich über ihn gebeugt und ihn geküsst hatte, er hatte den Atem angehalten, es nicht wagend, ihren unsicheren Annäherungsversuch zu erwidern.

Er hatte nicht gut geschlafen, sein Schlaf war durch unruhige Träume gestört worden. In einem davon war er wieder ein Kind gewesen, das verzweifelt sein Schulbuch gesucht hatte. Ihm war klar gewesen, dass er es nicht finden würde und dass man ihn für sein Verschwinden verantwortlich machen würde, obwohl das Buch in Wirklichkeit David gehörte.

Gleich einem Kind kniff er die Augen zusammen, um die Erinnerung daran aus seinem Kopf zu verbannen. Aber er wusste natürlich, dass er kein Kind mehr war, weshalb er auch nicht denken sollte wie ein Kind, und ebenso gut wusste er, dass er sich bestimmten Tatsachen stellen musste, die ihm wie ein Zentnergewicht auf der Seele lagen. Heute war ihr Geburtstag. Nicht sein Geburtstag, nie war es sein Geburtstag gewesen, immer ihrer, Davids und seiner. Davids …

Als das Rauschen der Dusche aufhörte, machte er die Augen wieder zu, obwohl er wusste, dass Jenny gleich nach unten gehen würde, ohne noch einmal ins Schlafzimmer zurückzukehren.

Sie hatte so viele Vorbereitungen für diesen Tag getroffen, doch statt sich darauf zu freuen, fürchtete er ihn und konnte die böse Vorahnung, die ihm fast die Luft zum Atmen nahm, nicht abschütteln.

Er hörte wieder die verärgerte Stimme seines Vaters an einem anderen Geburtstagsmorgen – an ihrem siebten – während er mit Tränen der Enttäuschung und auch der Wut in den Augen die Frage seines Vaters beantwortete.

„Aber ich habe mir kein Fahrrad gewünscht … ich wollte etwas anderes … etwas, das David nicht hat“, war es aus ihm herausgebrochen. Er konnte sich noch genau erinnern, wie verärgert und angewidert sein Vater reagiert hatte.

„Du bist ja nur eifersüchtig auf deinen Bruder, das ist alles“, hatte er Jonathon angeklagt. „Mein Gott, ich kann es wirklich nicht glauben. Ist dir denn gar nicht klar, wie glücklich du sein kannst, dass du einen Bruder hast?“

Jon war oft gar nicht so glücklich darüber, und mit sieben war er noch jung und dumm genug gewesen, das auch zu sagen, wenn auch nur indirekt, indem er seine Enttäuschung über sein Geburtstagsgeschenk zum Ausdruck gebracht hatte – das neue Fahrrad hatte sich David gewünscht. Er, Jon, hatte eine neue Eisenbahn haben wollen.

Am Ende war er leer ausgegangen, fürs Erste zumindest. Das Fahrrad war konfisziert worden, bis er sich für seine Undankbarkeit entschuldigte, und was die Eisenbahn anbelangte …

David hatte sich nie für Eisenbahnen interessiert, und weil ihr Vater fest entschlossen war, ihnen immer das Gleiche zu schenken, war sein, Jonathons, Wunsch nach einer Eisenbahn nie in Erfüllung gegangen.

Er konnte sich noch heute an Jennys Gesicht erinnern, als sie Max zu Weihnachten eine Eisenbahn geschenkt hatten. Wie David hatte er sich nie für Eisenbahnen interessiert, was ihnen natürlich bekannt gewesen war, aber aus irgendeinem Grund hatte Jenny darauf bestanden, dass sie dennoch eine kauften.

Sie hatte versucht, ihn davon abzuhalten, als er sie nach Neujahr ohne ein Wort wieder einpacken wollte. „Aber wenn ihr vielleicht beide zusammen damit spielt …?“

Doch Jonathon hatte den Kopf geschüttelt und erwidert: „Er spielt einfach lieber mit dem Tretauto, das David ihm geschenkt hat.“

Er hatte beabsichtigt, die Eisenbahn weiterzuverschenken, aber aus irgendeinem Grund hatte Jenny darauf bestanden, sie zu behalten, und viele Jahre später hatte dann Joss Interesse gezeigt …

Fünfzig … wo waren all die Jahre hin? Was hatte er während dieser Zeit wirklich erreicht? Diese Frage stellte er sich reichlich spät, und er wusste, dass er keine befriedigende Antwort darauf würde finden können.

Oh ja, er war ein pflichtbewusster Sohn gewesen, ein guter Bruder, Ehemann und Vater, aber was war mit ihm selbst? Ihm wurde zunehmend deutlicher klar, dass er kaum wusste, was und wer er war, fast so, als ob er kein wahres Selbst besäße, keine wahre Identität, fast so, als ob er auf ewig dazu verdammt wäre, Davids Bruder zu sein … Davids Zwilling, sein Schatten. Aber warum sollte ihn das jetzt plötzlich stören, nachdem er sich so viele Jahre damit abgefunden hatte, nicht mehr als ein Schatten zu sein? Warum verspürte er nun auf einmal immer stärker das Bedürfnis, ein anderer – mehr er selbst – zu sein? Handelte es sich hier um die sprichwörtliche Midlifecrisis, oder steckte womöglich mehr dahinter?

Heute war jedenfalls ganz gewiss nicht der geeignete Tag, sich diese Fragen vorzulegen, vor allem nicht, wenn weitaus drängendere Fragen einer Beantwortung harrten. Fragen, die andere und deren Zukunft, deren Leben berührten. Fragen, die, wie er wusste, gestellt und beantwortet werden mussten.

Aber nicht heute …

Crighton in Prembrokeshire war ebenfalls früh wach. Sein Schlaf wurde allerdings nicht von den ersten Strahlen der frühen Morgensonne gestört, die sich durch die Fenster seines solide erbauten Farmhauses in sein Schlafzimmer ergossen, sondern von dem unaufhörlichen, durchdringenden Gebrüll seines jüngsten Enkelkindes, der kleinen Meg.

Saul, sein ältester Sohn, dessen Frau Hillary und ihre drei Kinder waren gestern am späten Abend eingetroffen, die beiden Erwachsenen sichtlich nicht in Sonntagslaune und die drei Kinder aufsässig.

Hillary, Sauls amerikanische Ehefrau, und seine eigene Frau Ann hatten die Kinder ins Bett gesteckt, während er, Saul und sein jüngerer Sohn Nicholas eine Flasche Wein aufgemacht hatten.

Wie Nicholas seinen Eltern nach dem Abendessen gesagt hatte, machten Saul und Hillary derzeit eine schwere Ehekrise durch.

„Jedes Ehepaar muss von Zeit zu Zeit mit Problemen fertigwerden“, hatte Ann, die beiden in Schutz nehmend, erwidert.

„Hmmm … aber es gibt eben Probleme und Probleme“, war Nicholas’ Antwort darauf gewesen, doch er hatte sich geweigert, näher zu erläutern, was er damit meinte.

Hugh wusste, dass Sauls und Hillarys Ehe bisweilen stürmisch verlief, aber diesmal war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass die Kinder unter den Streitigkeiten der Eltern ganz offensichtlich litten.

Saul hatte die Angewohnheit, sich in sich selbst zurückzuziehen, wenn er verletzt oder wütend war, was Hillary, die temperamentvollere von beiden, erst recht gegen ihn aufbrachte. Sie behauptete dann, man könne nicht mit ihm reden, während er einfach nur brummte, dass er seine Ruhe haben wolle. Saul konnte einen mit seinem Verhalten wirklich manchmal zur Verzweiflung treiben, das musste Hugh einräumen, aber Hillary schien es auch Spaß zu machen, noch zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen, sodass diese etwas unproduktive Seite seiner Persönlichkeit so richtig schön grell angestrahlt wurde, anstatt mit weiblicher Diplomatie die Wogen zu glätten und ihn mit Schmeicheleien um den kleinen Finger zu wickeln.

Saul hatte Megs Schreien ebenfalls gehört und war zu ihr gegangen. Er war in Gedanken bei dem kommenden Tag. Generell hatte er Spaß an diesen Familientreffen, aber von David würde er sich so weit es ging fernhalten. Für Saul war ein Mensch, der sich so nachlässig und mit sichtlicher Selbstüberschätzung durchs Leben mogelte, ein ausgesprochenes Ärgernis.

Oh ja, David hatte zweifellos Charisma, aber er war ein Blender. In Sauls Augen war er charakterlos, seine Persönlichkeit hatte keinerlei Tiefe. Mehr noch allerdings bestürzte ihn Davids Selbstbezogenheit und die mangelnde Achtung, die er anderen Menschen entgegenbrachte. Es erbitterte ihn maßlos, mit ansehen zu müssen, wie es seinem Cousin immer wieder gelang, die Leute mit seinem hohlen Charme zu täuschen, allerdings erbitterte es ihn noch mehr, dass er selbst ihm diese Fähigkeit nicht nur verübelte, sondern dass er ihn auch gelegentlich darum beneidete.

Selbst jetzt, wo er erwachsen war, bereitete ihm sein zwiespältiges Verhältnis zu David, das die zwei Seiten seiner eigenen Persönlichkeit mehr widerspiegelte, als ihm lieb war, ausgesprochenes Unbehagen. Im Großen und Ganzen war er der engagierte, ernsthafte Mensch, als der er sich gab und den andere in ihm sahen, aber er war sich dennoch sehr schmerzlich bewusst, dass in ihm noch eine andere, weitaus weniger akzeptable Seite schlummerte, und das war eine Tendenz, das Rampenlicht zu suchen und sich nach der Aufmerksamkeit und, ja auch das, der Bewunderung anderer zu sehnen, eine Schwäche, die er sich nicht verzeihen konnte.

Wie er wusste, waren es nicht die Unterschiede zwischen David und ihm selbst, die ihm David – und damit auch Max, der aus dem gleichen Holz geschnitzt war – so unsympathisch machten, sondern die Ähnlichkeiten. Er befürchtete, dass es sich bei den Schwächen, die er bei beiden so klar erkannte, irgendwie um einen Familiencharakterzug handelte, den er ebenfalls geerbt hatte und der, obwohl er ihn bis jetzt noch unter Kontrolle hatte, sich eines Tages Bahn brechen könnte …

Und was ihn schmerzte, war, dass Hillary dies nicht sehen konnte, dass sie ihn nicht genug liebte, um zu erkennen, was der wirkliche Grund der Abneigung, die er gegenüber David verspürte, war. Denn mit ihrer Anschuldigung, dass er bloß eifersüchtig auf seinen Cousin war, lag sie falsch.

David verschlief, weil er in der Nacht von Geräuschen aufgewacht war, die Tiggy im Badezimmer verursachte. Natürlich war ihm sofort klar gewesen, was das zu bedeuten hatte, deshalb hatte er sich schnell auf die andere Seite gedreht und sich die Decke über den Kopf gezogen, damit die Würgegeräusche, die durch die geschlossene Badezimmertür drangen, gedämpft wurden.

In den frühen Tagen ihrer Ehe hatte er naiverweise angenommen, dass der Grund für ihre ständige Übelkeit in ihren Schwangerschaften läge, und später hatte er es auf ihren empfindlichen Magen geschoben, wobei er ihr, überwältigt von einer Mischung aus Hilflosigkeit und Sorge, den Kopf über der Kloschüssel gehalten hatte, in der Hoffnung, ihr so helfen zu können, ihre Beschwerden zu lindern, obwohl sich ihm angesichts der Würgegeräusche und des Geruchs ihres Erbrochenen jedes Mal der Magen umgedreht hatte. Damals hatte er sie noch geliebt, geblendet von ihrer zerbrechlichen Schönheit und den Gefühlen von Triumph und Erleichterung, die er nach seiner Hochzeit verspürt hatte. Triumph, weil er es gewesen war, der im Gegensatz zu all den anderen Verehrern, von denen sie in London umringt gewesen war, den großen Preis nach Hause getragen hatte, und Erleichterung, weil Tiggys Schwangerschaft und die Hochzeit von dem wirklichen Grund abgelenkt hatten, weshalb er die Rechtsanwaltskanzlei in London hatte verlassen und seine Absicht, sich als Strafverteidiger zu qualifizieren, hatte aufgeben müssen.

Nach außen hin zumindest hatte ihn seine Entscheidung, sich nicht weiterzuqualifizieren, sondern zu Tiggy und seinem Kind zu stehen, indem er sofort in der Familienkanzlei gutes Geld verdiente, in ein vorteilhaftes Licht gerückt. Niemand hatte es ihm als Versagen angekreidet, sondern es wurde allgemein als ein Ausdruck für sein Ehrgefühl aufgefasst.

Nur die engsten Familienmitglieder hatten die Wahrheit gekannt und selbst sie …

Die Kanzlei hatte sich in den darauf folgenden Jahren sehr gut entwickelt, und falls Jon sich jemals zurückgesetzt gefühlt haben sollte, hatte er es zumindest nie verlauten lassen. Allerdings gehörte Jon auch nicht zu den Menschen, die ihr Herz auf der Zunge trugen. Er gab nie etwas von seinen Gedanken und Gefühlen preis. Allein schon wenn man an die Art dachte, wie er Jenny so diskret nach der Beendigung der Romanze, die er, David, mit Jenny gehabt hatte, geheiratet hatte. Ohne ein Wort der Klage hatte er seine, Davids, Scharte ausgewetzt. Selbstlos wie immer.

David spannte sich an, als Tiggy sich neben ihm rührte. Er wollte so tun, als sei sie nicht da, aber sie streckte bereits die Hand nach ihm aus. Sie ließ ihre Finger verlangend über seine Brust wandern. Ihm rutschte das Herz in die Hose, auch wenn er wusste, dass ihr Verlangen nach Sex bedeutete, dass sie heute einen ihrer guten Tage hatte.

Er konnte ihre Launen mittlerweile genau vorhersagen. Sie folgten einem stets wiederkehrenden Muster, das er bereits auswendig kannte. Die ganze Woche über war sie schrecklich empfindlich, klammernd und fordernd gewesen, im einen Moment in Tränen aufgelöst und im nächsten von einer solchen Wut und Bitterkeit erfüllt, dass er befürchtete, ihr zarter Körper würde jeden Moment bersten, weil er es nicht schaffte, dem Ansturm ihrer Gefühle noch länger standzuhalten.

Er wusste genau, was als Nächstes zu erwarten war – einer ihrer verzweifelten Kaufräusche, sie würde bis obenhin bepackt mit glänzenden Tragetaschen nach Hause kommen, die vollgestopft waren mit Kleidern, Schuhen, Unterwäsche, Nachthemden, Kosmetika, alles Dinge, die sie niemals auspacken, sondern höchstens in einem Anfall von Schuldbewusstsein und Selbsthass nachlässig verstecken würde, und wenn er sie dann entdeckte, würde sie sich mit Selbstvorwürfen überhäufen und ihn um Vergebung bitten und schwören, dass sie es nie wieder tun würde, ja, sie würde ihn sogar anflehen, ihr alle Kreditkarten wegzunehmen. Nur wozu das alles?

Früher hatte er ihr Spiel noch mitgespielt, er hatte ihr geglaubt und gehofft, dass sie es diesmal ernst meinte; dass ihr mit der Zeit klar werden würde, was sie sich selbst antat und ihm dazu, dass sie ihrer beider Leben zerstörte, doch warum sich die Mühe machen, eine Kreditkarte zu zerschneiden, wenn er genau wusste, dass sie sich ausreichend viele Kreditkarten heimlich beiseitegeschafft hatte, mit denen sie weiterhin ihren Kaufräuschen frönen konnte? Aber das Spiel, in dem sie ihre festgeschriebenen Rollen hatten, musste gnadenlos weitergespielt werden, und es durfte nicht infrage gestellt werden. Sie musste sich weiterhin demütigen, bis er ihr endlich die „Vergebung“ gewährte, nach der sie so lechzte.

Danach trat dann stets eine Beruhigung ein … manchmal für einige Tage, manchmal nur für ein paar Stunden, aber es war lediglich die trügerische Ruhe vor dem nächsten Sturm … der mit dem verstohlenen Davonschleichen aus ihrem Ehebett mitten in der Nacht anhob, über die Küche mit Bergen von Essen hinwegbrauste und schließlich im Bad unter schrecklichen Würgegeräuschen und schauerlichem Stöhnen abebbte …

Als ihm zum ersten Mal klar geworden war, dass ihre Übelkeit nicht durch irgendeine körperliche Schwäche, sondern durch den Umstand, dass sie sich in unfassbaren Fressorgien erging, die stundenlang andauern konnten, war er wie vor den Kopf geschlagen gewesen.

Und diesen Fressorgien auf dem Fuße folgte natürlich die Bestrafung, die sie sich selbst auferlegte, die dauerte und dauerte, bis ihr Magen endlich wieder leer und ihr obszön aufgeblähter Bauch endlich wieder flach war, und dann, erst dann, stellte sich die so heiß ersehnte Erleichterung ein, diese wunderbaren Stunden, wenn sie ganz entspannt war und friedlich, satt von ihrer Orgie der Selbstbestrafung fast wie eine Drogenabhängige, nachdem sie sich den ersehnten Schuss gesetzt hatte. Zufrieden, ruhig, bis sich der ganze Teufelskreis erneut in Bewegung setzte mit dem verzweifelten Drang, sich der Liebe ihrer Umgebung versichern zu müssen. Ihrer Weigerung, sich von ihm anfassen zu lassen, weil sie ihren Körper als abstoßend empfand, folgte fast umgehend eine regelrecht krankhafte Gier nach Sex.

Sex … Gott, was für ein Witz, und zu denken, dass er sie, als er sie kennengelernt, als er sie geheiratet hatte, so sehr begehrt hatte …

Jetzt trieb ihm schon die bloße Vorstellung, sie berühren zu müssen oder sich von ihr berühren zu lassen, den kalten Angstschweiß auf die Stirn, und sein körperlicher Widerwille bezog sich nicht nur allein auf sie, sondern auf alles, was mit Sex zu tun hatte.

Obwohl er wusste, dass sie zurückzuweisen das Schlimmste war, was er ihr antun konnte, und dass seine Verweigerung den Teufelskreis, in dem sie sich bewegte, nur beschleunigen würde, schaffte er es einfach nicht, sich anders zu verhalten.

Es war nicht einfach nur so, dass er sie nicht mehr begehrte, wie ihm klar wurde, sondern er … Er tat was? Er verachtete sie, hasste sie, verabscheute sie.

Anfangs, als ihm nach und nach aufging, was mit ihr los war, war das nicht so gewesen, aber mittlerweile … die ganze Situation war völlig verfahren … ihr war einfach nicht mehr zu helfen, er hatte oft genug versucht, sie zu überreden, eine Therapie zu machen. Daraufhin hatte sie ihm regelmäßig gedroht, sich umzubringen. Einmal hatte sie ihn in der Kanzlei angerufen, um ihm zu sagen, dass er bald frei sein würde von ihr, woraufhin er, alle Verkehrsregeln missachtend, nach Hause gerast war, wo er sie splitternackt und betrunken auf dem Bett liegend vorgefunden hatte, eine leere Flasche mit Schmerztabletten neben sich. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Tabletten sie geschluckt hatte. Glücklicherweise hatte sich ihr Arzt, ein alter Freund der Familie, sehr verständnisvoll gezeigt, aber das war vor mehr als fünfzehn Jahren gewesen, und David wusste, dass ein solcher Vorfall heutzutage nicht mehr mit derselben Diskretion behandelt werden würde. In der lokalen Praxisgemeinschaft arbeiteten vier junge Ärzte, mehrere Masseure und Therapeuten, von den Arzthelferinnen ganz zu schweigen. Es gab also genug Schlupflöcher, wo irgendetwas durchsickern konnte.

Tiggys Hand hatte seinen Bauch erreicht. Er erstarrte. Er war sich der Schlaffheit seines Penis ebenso überdeutlich bewusst wie der Tatsache, dass sich das auch nicht ändern würde.

Tiggy rutschte unter der Bettdecke an ihn heran und rieb ihre nackten Brüste an seinem Arm, während sie ihn weiter streichelte. David drehte sich fast der Magen um. Als sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen, roch ihr Atem im ersten Moment nach Pfefferminz, aber unter dem scharfen Geruch des Mundwassers nahm er noch immer die Ausdünstungen ihrer nächtlichen Aktivitäten wahr. Alles und nichts konnte der Auslöser für ihre Anfälle sein. Doch in letzter Zeit hatte sie zunehmend über die Tatsache gejammert, dass sie älter wurde, und er hatte beobachtet, dass sie immer schamloser angefangen hatte, mit jungen Männern zu flirten in einer Weise, die sich für die Frau eines Mannes in seiner Position ganz und gar nicht schickte. Bis jetzt glaubte er nicht, dass sie so weit gegangen war, wirklich eine richtige Affäre zu haben, aber wenn sich die Gelegenheit ergäbe …

Eine Affäre. Guter Gott, wenn sie nur eine hätte. Wenn sie nur einen Mann fände, der ihm diese schreckliche Bürde in Gestalt seiner Frau von den Schultern nähme …

„Alles Gute zum Geburtstag, Darling …“

Schweigend ertrug er die unerbetene Intimität ihres Kusses, nicht wagend, sie zurückzuweisen, sosehr ihn auch danach verlangte. Ihre Hand hatte seinen Penis jetzt erreicht.

„Was für ein armer, trauriger kleiner Junge“, gurrte sie. „Will er denn gar nicht ein bisschen rauskommen und spielen?“

Vor Ekel und Widerwillen erschauerte David heftig. „Wir müssen aufstehen“, erinnerte er heiser. „Die Geburtstagsfeier …“

„Ich dachte, wir feiern jetzt schon ein bisschen“, unterbrach Tiggy und zog einen Schmollmund, aber David war schon von ihr abgerückt und schlug die Bettdecke zurück.

„Du hast gestern Abend gesagt, dass du Jenny versprochen hast, ihr zu helfen“, erinnerte er sie, während er in seinen Bademantel schlüpfte.

David fängt an, deprimierend mittelalterlich auszusehen, stellte Tiggy in Gedanken fest. Anders als sie schien er kein sonderliches Interesse an seinem Körper zu haben, und offensichtlich war es ihm nicht gerade ein Herzensanliegen, sich fit zu halten. Verstohlen fuhr sie sich über den Bauch. Er fühlte sich erfreulich straff und flach an. Sie atmete erleichtert auf und inspizierte ihre lackierten Fingernägel. Einer war abgebrochen. Sie runzelte die Stirn. Es musste letzte Nacht passiert sein, als …

Was war letzte Nacht passiert? Was passierte in all diesen dunklen schrecklichen Nächten wie der vergangenen, woran sie tagsüber nicht denken wollte? Egal. Es war vorbei und vergessen, eine dumme Angewohnheit, die sie sich sofort wieder abgewöhnen konnte … jederzeit, wenn sie es nur wollte. David wusste es, und sie wusste es auch. Gewiss, sie hatte sich in letzter Zeit ein bisschen unartig benommen … ja, ganz bestimmt … sie hatte den Bogen überspannt und wirklich ein wenig zu viel Geld ausgegeben, aber wenn David wüsste, wie einsam sie sich manchmal fühlte, würde er es verstehen. Ganz bestimmt. Er hatte immerhin seine Arbeit und war den ganzen Tag über beschäftigt, während sie hier mutterseelenallein tatenlos herumsitzen musste.

Natürlich hatte sie ihre Freundinnen … nur … sie war eben nicht wie Jenny, eine Frau, die sich mit guten Taten, Kindern und Kochen zufriedengab. Sie brauchte mehr als das. Sie fand es auch fürchterlich, in so einem Kaff leben zu müssen. Es war sterbenslangweilig, wirklich. David sollte mehr mit ihr ausgehen … sich mehr um sie kümmern, ihr zeigen, wie sehr er sie liebte. Sicher, es stimmte, dass sie bereits in ihren Vierzigern war, aber dennoch war sie noch immer eine schöne, begehrenswerte Frau. Olivia mochte zwar jünger sein, doch sie würde nie so attraktiv sein wie sie selbst. Als sie in Livvys Alter gewesen war, hätte sie an jedem Finger zehn Männer haben können, obwohl sie zu jener Zeit bereits mit David verheiratet und Mutter gewesen war.

Das Kleid, das sie heute Abend anziehen würde, hing an der Schlafzimmertür, ein hautenger Traum aus mit Silberfäden durchschossener Seide, schimmernd wie Perlmutt, wenn sie sich darin bewegte. Es war Größe acht und passte wie angegossen; sie fuhr sich wieder über den Bauch.

5. KAPITEL

„Gibt es noch irgendetwas, das ich tun kann?“

„Nein. Ich denke, wir sind jetzt fertig“, versicherte Ruth Olivia, während sie einen Schritt zurücktrat, um das Blumenarrangement, das die Stirnseite der Festtafel schmücken sollte, zu begutachten.

„Die Blumen sind einfach wundervoll.“

Ruth schenkte ihrer Großnichte ein trocken-belustigtes Lächeln, während sie der aufrichtigen Bewunderung in Olivias Worten nachlauschte. „Was hast du denn erwartet?“, fragte sie mit sanftem Spott. „Oder soll ich raten? Irgendetwas Gekünsteltes und Steifes, so ein überdrehtes Blumenarrangement vielleicht, das nach Plastikblumen aussieht?“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf.

Olivia lachte. „Irgend so etwas wahrscheinlich“, gestand sie. „Aber ganz bestimmt nicht das.“

Sie deutete auf den wilden Dschungel aus leuchtenden Blumen in dem mit Moos gefüllten Drahtgeflecht – ein Thema, das Ruth im gesamten Festzelt auf die vielfältigste Weise variiert hatte. Moos, Früchte, ja sogar Gemüse waren ebenso wie Blumen von ihr in Dienst genommen worden, um den Wasserfall aus leuchtenden Farben zu erschaffen, den Olivia jetzt bewunderte.

„Kein Wunder, dass Tante Jenny so darauf gedrängt hat, dass die Behänge einfach nur cremefarben sein sollen“, bemerkte sie.

„Jenny und ich waren uns einig, dass wir nichts Plüschiges wollen“, erklärte Ruth.

„Nun, das ist euch gewiss gelungen“, versicherte Olivia ihr.

Auf der anderen Seite des Festzelts schritt Jenny die Tischreihen ab, um zu überprüfen, ob auch alles an Ort und Stelle war. Die Leute vom Cateringservice waren bereits eingetroffen und wuselten geschäftig hin und her.

Ben, der ständig irgendjemandem auf den Füßen stand, hatte den ganzen Morgen nur in sich hineingegrummelt, bis er sich schließlich von Hughs Frau Ann gnädigerweise ins Haus hatte locken lassen, damit Jenny freie Bahn hatte, um in Ruhe ihre Abschlussinspektion vorzunehmen.

„Caspar scheint sich ja mit Hillary prächtig zu verstehen“, bemerkte Ruth, während sie einen Blick zum Eingang des Festzelts warf, wo die beiden in ein angeregtes Gespräch vertieft waren.

„Nun, sie sind beide Amerikaner“, erwiderte Olivia in neutralem Ton. Sie mochte Hillary nicht sonderlich, ohne dass sie hätte sagen können, warum das so war.

Es war allein Saul, wie sie registrierte, der sich an diesem Nachmittag um ihre gemeinsamen Kinder kümmerte, einschließlich der kleinen Meg, der Fairness halber musste Olivia jedoch einräumen, dass sie keine Ahnung hatte, wie viel Zeit Saul normalerweise mit seinen Kindern verbrachte, vielleicht war es ja nicht sehr viel, weshalb sich Hillary einmal eine kleine Verschnaufpause verdient hatte.

Den ganzen Tag über hatte sich Olivia bemüht, die Ereignisse der vergangenen Nacht zu verdrängen, aber das konnte natürlich nicht bis in alle Ewigkeit so weitergehen. Früher oder später würde sie …

Sie spannte sich an, als sie Caspar lachen hörte. Hillary stand neben ihm, ihre Hand lag auf seinem Arm, und Olivia sah, wie sie sich vorbeugte und ihm eine weiße Rose ins Knopfloch steckte. Es war eine intime Geste, die Olivia ihr übel nahm, sie versteifte sich, während sie beobachtete, wie Caspar auf Hillary reagierte, offensichtlich ohne sich ihrer, Olivias, Anwesenheit bewusst zu sein.

„Warum gehst du nicht mit Caspar schon mal nach Hause?“, hörte sie Ruth neben sich sanft vorschlagen.

„Tante Ruth …“ Olivia machte eine Pause. Sie sehnte sich verzweifelt nach jemandem, dem sie sich anvertrauen konnte, nach jemandem, mit dem sie über ihre Mutter und über das Entsetzen, das ihre Entdeckung in ihr ausgelöst hatte, sprechen konnte, aber sosehr sie es auch wünschte, war doch ihre Loyalität ihrer Mutter gegenüber zu stark, als dass sie es geschafft hätte, ihrer Tante ihr Herz auszuschütten. Ruth hatte nie sonderlich viel von Tiggy gehalten, und wenn sie ihr jetzt erzählte, was sie entdeckt hatte …

„Was ist denn, Liebes?“

„Ach, nichts …“, gab Olivia ausweichend zurück. „Ich gehe jetzt und hole Caspar.“

„Seid ihr fertig?“, erkundigte sich Caspar, nachdem sich Olivia zu ihm gesellt hatte.

„Ja“, bestätigte sie, wobei sie sich bei ihm einhängte und Hillary ein kühles Lächeln zuwarf.

Ursprünglich war Hillary ins Festzelt gekommen, um ebenfalls zu helfen, aber soweit Olivia es gesehen hatte, hatte sie ihre ganze Zeit damit verbracht, mit Caspar zu plaudern.

„Wir sollten jetzt wirklich gehen“, sagte Olivia zu Caspar und warf einen betonten Blick auf ihre Armbanduhr. „Die Chesterbande wird bald hier sein, und ich habe Mum versprochen, dass wir noch ein bisschen mit anpacken.“

„Ihr Ärmsten“, sagte Hillary mit mitleidigem Blick, wobei Olivia jedoch hätte schwören mögen, dass sie Caspar meinte und nicht sie. „Sie müssen sich doch von so einer großen Familie furchtbar eingeschüchtert fühlen“, fuhr sie, sich wieder direkt an Caspar wendend und Olivia dabei, wie dieser schien, bewusst ausschließend, fort. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich mich beim ersten Mal gefühlt habe. Ich kam mir schrecklich fremd und allein vor als einzige Amerikanerin, wie ein richtiger Außenseiter.“

„Das war doch bei eurer Hochzeit, nicht wahr, Hillary?“, erkundigte sich Olivia kühl. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du die ganze Familie vorher schon einmal kennengelernt hättest, oder irre ich mich?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich gleich darauf wieder an Caspar. „Ich glaube, wir sollten jetzt wirklich gehen“, wiederholte sie.

„Das war ein bisschen schroff, findest du nicht?“, bemerkte Caspar mit einem kritischen Unterton, nachdem sie sich von Hillary verabschiedet hatten.

Er war noch immer nicht ganz darüber hinweg, dass Olivia sich ihm in der vergangenen Nacht verweigert hatte, auch wenn er sich das nicht gern eingestand.

„Was war schroff?“, fragte sie zurück, obwohl sie genau wusste, was er meinte. Der restliche Tag würde noch anstrengend genug werden auch ohne die zusätzliche Belastung, die das Wissen um das Problem ihrer Mutter für Olivia bedeutete. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war irgendeine Art von Disharmonie zwischen sich und Caspar. Aber es wurmte sie, dass er nicht sah, was für ein Typ Frau Hillary war, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass es sie geärgert und verletzt – ja, wirklich verletzt – hatte, dass er so zufrieden gewesen war, fast den ganzen Nachmittag mit Hillary zu verbringen.

„Du weißt sehr gut, was“, gab Caspar zurück, während sie den Wagen startete. „Der spitze Kommentar, den du gerade abgelassen hast.“

„Ach, wirklich?“, fragte Olivia in herausforderndem Tonfall. „Ich glaube nicht, Caspar. Ich fand Hillarys Gerede offen gestanden ziemlich merkwürdig, aber sie gehört eben zu den Frauen, die nie eine Gelegenheit auslassen, um sich bei Männern in den Vordergrund zu spielen und Mitleid zu schinden.“

„Aha!“, erwiderte Caspar, wobei sich plötzlich auf seinem Gesicht ein erfreutes, wenngleich auch leicht spöttisches Lächeln ausbreitete. „Du bist eifersüchtig und …“

Nein, ich bin nicht eifersüchtig“, widersprach Olivia verärgert. „Ich schätze nur Hillary nicht sonderlich, das ist alles. Sie ist reichlich konkurrierend, kalt und berechnend und viel zu …“

„Amerikanisch“, beendete Caspar den Satz für sie, wobei sich seine Stimme verhärtete und sein Lächeln erstarb. „Kein Wunder, dass sie sich hier so isoliert fühlt, wenn deine Familie sie so behandelt“, fuhr er wütend fort.

„Das hat sie dir erzählt …?“, fuhr Olivia zornig auf, wobei sie spürte, dass sie kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. Ihr war klar, dass sie die Situation schlecht im Griff hatte und von der Angelegenheit viel zu viel Aufhebens machte, aber sie war von ihrer Entdeckung der vergangenen Nacht noch immer zu alarmiert und zu verletzt von Caspars Weigerung, Verständnis für sie zu zeigen, um Vernunft walten lassen zu können.

„Wir haben uns darüber unterhalten, wie schwierig es für sie ist, sich hier einzuleben“, gab Caspar in gespieltem Gleichmut zurück, der Olivia warnte, dass sie nicht die Einzige war, die kurz davor stand, die Geduld zu verlieren.

„Na, da scheint sie bei dir ja auf ein weit offenes Ohr gestoßen zu sein, danach zu urteilen, wie sie den ganzen Nachmittag hinter dir her war“, fauchte sie, „und offensichtlich hat sie von dir weit mehr Verständnis bekommen als ich letzte Nacht. Aber vermutlich habt ihr beide dieselbe Wellenlänge, weil ihr Landsleute seid“, schloss sie sarkastisch.

„Zumindest wirkt es verbindend“, erwiderte Caspar ruhig. „Und offengestanden scheint sie mir mit ihrer Ehe, die dabei ist, den Bach runterzugehen, eine Menge mehr Probleme zu haben als du mit …“

„Ihre Ehe geht den Bach runter?“, unterbrach Olivia ihn schockiert. „Wovon redest du eigentlich? Sie kann sich bestimmt nicht über Saul beklagen. Tatsächlich ist es doch so, dass …“

„So?“, unterbrach Caspar sie beißend. „Und woher willst du das wissen, wenn ich fragen darf? Nach allem, was Hillary erzählt, hat keiner von euch jemals den Versuch unternommen, sie wirklich in die Familie zu integrieren oder herauszufinden, warum sie so unglücklich ist, oder ihr zu helfen, sich hier einzuleben.“

Olivia entdeckte, dass ihre Hände leicht zitterten, als sie in die Auffahrt zum Haus ihrer Eltern einbog und das Auto zum Halten brachte. „Das ist ja wirklich nicht zu fassen! Wenn Hillary sich von uns vernachlässigt fühlt, warum auch immer, liegt die Schuld bei ihr und ganz gewiss nicht bei uns, das darfst du mir getrost glauben. Was hat sie dir denn sonst noch so alles erzählt?“, forschte sie.

„Nicht so schrecklich viel, bis auf die Tatsache, dass die Abneigung gegen Amerikaner in eurer Familie anscheinend Tradition hat.“

„Was?“ Olivia starrte ihn ungläubig an. „Jetzt weiß ich aber wirklich, dass sie dich angelogen hat. Wie um alles in der Welt kommt sie denn dazu, so etwas zu behaupten? Das ist doch total aus der Luft gegriffen. Sie ist die erste angeheiratete Amerikanerin in der Familie …“

„Angeheiratet vielleicht. Aber nicht die erste, mit der ein Familienmitglied eine Liebschaft hatte“, unterbrach Caspar sie grimmig. „Zum Beispiel gab es da Ruths Affäre mit einem amerikanischen Major während des Krieges und …“

„Ruths was?“ Olivia gelang es nicht, den Schock, der ihr in die Glieder gefahren war, aus ihrer Stimme herauszuhalten, und sie sah, dass Caspar die Stirn runzelte, als er es bemerkte.

„Wir sollten besser ins Haus gehen“, brummte er und wandte sich ab, um die Tür zu öffnen.

Olivia hielt ihn am Ärmel fest, ihre Augen loderten vor Zorn, als sie jetzt sagte: „Oh nein, so einfach kommst du mir nicht davon. Ich weiß nichts davon, dass Ruth überhaupt jemals eine Liebesaffäre mit irgendwem gehabt hätte. Sie war mit einem Offizier der britischen Luftwaffe verlobt, der im Krieg umkam, das ist alles.“

„Nun, laut Hillary, die die Geschichte von Hugh hat, hatte sie ein Verhältnis mit einem in England stationierten amerikanischen Major, aber als dein Großvater es herausfand, erstattete er Anzeige bei dessen Vorgesetzten und bestand darauf, dass der Romanze ein Ende gemacht wurde. Offensichtlich war ein Amerikaner, zumindest damals, nicht gut genug, um in eure Familie einzuheiraten! Und Hillary behauptet, dass dieses Vorurteil anscheinend von Generation zu Generation weitergereicht wird.“

Olivia, die beschämt und verwirrt war, wusste auf diesen Vorwurf nichts zu sagen. Es war schlimm genug, zugeben zu müssen, dass sie nichts von einer Liebesaffäre ihrer Großtante mit einem Amerikaner wusste, noch schlimmer jedoch war es zu spüren, wie zwischen ihnen eine Mauer aus Zweifeln und Misstrauen emporwuchs, die von Sekunde zu Sekunde höher wurde.

„Aber du weißt doch, wie ich dir gegenüber empfinde, Caspar“, unternahm sie einen schwächlichen Versuch, die Wogen zu glätten. Mehr brachte sie nicht zustande, während sie bittend seinen Arm berührte.

„Tue ich das?“, fragte er unnachgiebig. „Ich beginne mich langsam zu fragen, warum du überhaupt mit mir zusammen bist. Vielleicht ist es ja nur deshalb, weil ich Amerikaner bin und du auf diese Weise deinem Großvater eins auswischen kannst.“

Ohne ihr die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, stieg er aus und machte sich auf den Weg zum Haus, und Olivia blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie wusste, dass sie im Haus keine Möglichkeit mehr haben würden, ihre Unterhaltung fortzusetzen, nicht jetzt, wo gleich Besuch da sein und in ein paar Stunden die Geburtstagsparty beginnen würde. Und doch sehnte sie sich verzweifelt danach, sich wieder mit ihm zu versöhnen. Sie musste ihn dazu bringen, dass er seine ungerechtfertigten Anschuldigen zurücknahm und nicht länger an ihren aufrichtigen Gefühlen für ihn zweifelte.

Es war unfair von ihm, ihr eine solche Anklage ins Gesicht zu schleudern und dann einfach davonzugehen. Es kam ihr fast so vor, als hätte er diesen Streit absichtlich vom Zaun gebrochen, als ob … Als ob was? Und wenn es so war, was dann? Es war so untypisch für ihn, so ganz anders als die Reife und die Besonnenheit, die er sonst an den Tag legte und die sie bewunderte.

Bedrückt folgte Olivia Caspar zum Haus. Hinter sich auf der Auffahrt hörte sie die Motorengeräusche ankommender Autos. Die Chesterbande, kein Zweifel. Entschlossen die Schultern straffend, schob sie ihre Gedanken und Ängste beiseite.

6. KAPITEL

Ein bisschen nervös glättete Jenny den Rock ihres Kleides. Jon hatte es bis jetzt noch nicht gesehen. Genau gesagt hatte es noch überhaupt niemand gesehen, außer ihr Geschäftspartner Guy Cooke.

Erst hatte es sie amüsiert, und dann war sie richtig gerührt gewesen, als er ihr vor ein paar Monaten vorgeschlagen hatte, sie nach Manchester zu begleiten, um ihr beim Aussuchen eines Kleides für die große Geburtstagsparty mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

„Manchester?“, hatte sie erstaunt gefragt, schon halb entschlossen, sein Angebot abzulehnen, vor allem deshalb, weil sie sich nicht ganz sicher sein konnte, ob das nicht wieder einer seiner üblichen trockenen Scherze war.

„Warum das denn, um Himmels willen? Chester ist doch viel näher und …“

„Chester mag näher sein, aber es gibt dort keinen Armani-Laden“, hatte er erwidert und ihre Verwirrung noch vergrößert, indem er in einem Ton, in dem ein Erwachsener mit einem Kind spricht, wenn er ihm etwas erklärt, fortfuhr: „Armani, liebe Jenny, ist der Modeschöpfer für die moderne, erfolgreiche Frau mit Geschmack. Er zieht Frauen an – keine kleinen Mädchen – und auch keine Modetrottel, die jedem idiotischen Trend hinterherrennen, falls du verstehst, was ich meine.“

„Vielen Dank, Guy“, gab Jenny trocken zurück, „und stell dir vor, ich habe tatsächlich schon von ihm gehört, ob du es glaubst oder nicht, aber …“ Sie schüttelte lachend den Kopf, „ich fürchte, für diese Form von Extravaganz reicht mein Budget doch nicht ganz aus.“

„Ein Kleidungsstück von Armani ist niemals eine Extravaganz“, korrigierte Guy sie und fügte schnell, ehe sie etwas dagegenhalten konnte, hinzu: „Ganz davon abgesehen, dass es sich bei dem, was ich im Auge habe, um Modelle aus der letzten Saison handelt, die durchaus erschwinglich sind. Und wenn du dich weigerst mitzukommen, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als allein zu fahren“, fügte er unbeirrbar hinzu, „und ohne dich etwas für dich auszusuchen.“

Er schwieg einen Moment, und als sie ihn weiter verunsichert anschaute, fuhr er fort: „Es ist mein Ernst, Jen“, sagte er streng, „du wirst nicht wieder eins dieser braven Kleider anziehen, die du dir für solche Gelegenheiten in letzter Sekunde in irgendeinem ‚Ausverkauf‘ zu erstanden pflegst, weil du es weder wagst, Jons Geld auszugeben noch dein eigenes. Ich bin wirklich fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass du dir einmal im Leben – und wenn es auch wirklich nur ein einziges Mal ist – ein Kleid kaufst, das dir auch gerecht wird. Was du mit dir anstellst, ist wirklich zum Heulen, Jenny, ich kann es einfach nicht mehr länger mit ansehen, wie du dich ständig zurücknimmst.“

Jenny musste sich setzen.

„Aber warum denn?“, fragte sie fassungslos, wobei sie überlegte, was um alles in der Welt plötzlich in Guy gefahren sein mochte.

„Warum? Wenn ich jetzt sagen würde, dass du es verdienst, würde dir ganz bestimmt ein Gegenargument einfallen“, erwiderte er, „deshalb sage ich lieber, dass du es dir und Jon und mir ebenso schuldig bist wie unserem Geschäft, und bevor du dir jetzt die nächste schlaue Ausrede einfallen lässt, will ich dir nur noch sagen, dass dieses Kleid auf Geschäftskosten geht. Keine Widerrede, Jenny“, schnitt er ihr das Wort ab, als er sah, dass sie Luft holte, um zu widersprechen, „entweder du kommst mit, oder ich …“

„Oder du machst was?“, unterbrach sie ihn in sanftem Spott. „Entweder ich ziehe das an, was du für mich aussuchst, oder du schickst mich zur Strafe mit einem Glas Wasser und einem Stück trockenem Brot ins Bett?“

Es war nur ein Scherz gewesen, aber sie sah, wie seine Augen aufblitzten, als er sanft und schnell, erwiderte: „Wenn ich je die Gelegenheit bekäme, dich ins Bett zu schicken, Jenny, dann gewiss nicht zur Strafe, und was das Tragen eines Kleides angeht, das ich ausgesucht habe … nun, lass mich sagen, dass ich nicht glaube, dass es über meine Kräfte gehen würde, Jon davon zu überzeugen, dass er dich überreden muss, es anzuziehen.“

Jenny hatte seinem Blick tapfer standgehalten, aber schließlich hatte sie seinem Drängen nachgegeben, und jetzt besaß sie ein Kleid, das so elegant war, dass ihr der Atem stockte. Sie erkannte sich selbst nicht mehr wieder. Aus dem hässlichen Entlein war ein Schwan geworden. Sie war an jenem Tag in dem Armani-Laden so fasziniert von ihrer Verwandlung gewesen, dass sie sich gleich noch einen Hosenanzug dazu gekauft hatte. Den hatte sie für den Familienlunch morgen vorgesehen.

Zu dem Kleid passte wunderbar die schimmernde Perlenkette, die Jon ihr zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. Während sie sie zumachte, hielt Jenny für einen Moment den Atem an.

Das Telefon läutete in demselben Moment, in dem Olivia sich anschickte, die Eingangshalle zu durchqueren, um sich zu ihrer Familie zu gesellen, die im Salon vor dem Aufbruch einen Aperitif nahm. Sie hob ab und bat den Anrufer zu warten, dann sagte sie ihrem Vater Bescheid.

„Da ist ein Anruf für dich. Das Cedars-Seniorenheim.“

David brach der Schweiß aus, er wusste, dass sein Herz viel zu schnell klopfte. Er spürte, wie ihm die Brust eng wurde und seine Muskeln sich anspannten. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, und die Übelkeit, die in ihm aufstieg, drohte ihn fast zu übermannen.

Seine Handflächen waren so feucht, dass er sie erst an den Hosenbeinen abwischen musste, ehe er den Hörer aufnahm und sich räusperte. „Ja, David Crighton hier.“ Sein Kiefer hatte wieder zu schmerzen begonnen. Er massierte ihn mit seiner freien Hand und drehte sich mit dem Rücken zur halb offen stehenden Salontür, während er zuhörte, was ihm der Anrufer zu berichten hatte.

Oben in seinem Dachzimmer schnitt Caspar eine Grimasse, nachdem er es endlich geschafft hatte, seine Fliege zu binden, und griff dann nach seinem Sakko. Er sah dem Abend mit höchst gemischten Gefühlen entgegen, und das nicht nur wegen seiner Auseinandersetzung mit Olivia, die sich seiner Meinung nach mit dem, was sie über Hillary gesagt hatte, im Unrecht befand.

Er hatte in den letzten Tagen an Olivia eine Veränderung bemerkt; plötzlich schien ihre Familie, von der er früher geglaubt hatte, dass sie sie fast verachtete, eine ungeheure Wichtigkeit bekommen zu haben. Auf einmal hatte es den Anschein, als ob er und seine Ansichten nicht mehr wichtig für sie waren. Was sich unter anderem darin gezeigt hatte, wie sie seinen Ratschlag bezüglich der offensichtlichen Probleme ihrer Mutter achtlos vom Tisch gewischt hatte.

„Was auch immer für Meinungsverschiedenheiten sie haben mögen, am Ende halten sie doch alle wieder zusammen“, hatte Hillary ihn am Nachmittag gewarnt. „Sie halten zusammen und schließen einen aus“, hatte sie sich mit einem bitteren Blick auf ihren Ehemann beklagt.

„Vermutlich hätte ich es mir denken können, als Hugh mir von Ruth erzählte“, fügte sie hinzu, „aber damals war mir nicht genau klar, wovon er überhaupt redete, und als ich erfuhr, dass es ein Teil von Bens Generalstabsplan für die Familie war, dass Saul Olivia heiraten sollte, hätten bei mir im Grunde genommen alle Alarmlampen aufleuchten sollen, aber sie taten es nicht. Ich war wohl einfach zu naiv.“

Saul sollte Olivia heiraten! Olivia hatte nie mit einem Sterbenswörtchen erwähnt, dass sich ihre Familie Hoffnungen machte, dass sie den Cousin ihres Vaters heiraten würde. Aber sie hatte ihm ja auch verschwiegen, dass ihre Großtante eine allem Anschein nach sehr stürmische Romanze mit einem amerikanischen Major gehabt hatte.

Was mochte es noch alles geben, über ihre Familie und über sie selbst, das Olivia ihm nicht erzählt hatte?

„Du siehst wunderschön aus, perfekt. Du siehst aus wie … du.“

Seltsam, dass solche Worte, solche Gefühle so wenig bedeuteten, wenn sie von dem falschen Mann zum Ausdruck gebracht wurden und eher Verlegenheit als Freude hervorriefen, wohingegen sie von dem richtigen Mann …

Natürlich hätte sich Jenny ausrechnen können, dass Guy derjenige sein würde, der sie mit Komplimenten überschütten, mit einem langen Blick von oben bis unten mustern und bei der erstbesten Gelegenheit ihre Hand ergreifen würde, um ihr zu sagen, wie schön sie sei. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie sich der törichten Hoffnung hingegeben, dass …

Das Essen war vorüber, und die Band begann zu spielen. Verschiedene Paare drehten sich bereits auf der Tanzfläche.

„Jenny! Du lieber Himmel! Du siehst ja …“

Jenny versteifte sich, als sie Tiggys Blick sah und den kritischen Unterton in ihrer Stimme hörte, aber bevor ihre Schwägerin dazu kam, ihren Satz zu beenden, mischte sich Ruth entschlossen ein. „Du siehst wundervoll aus, Jenny. Was für ein schönes Kleid.“

Es gab keinen Zweifel an der Aufrichtigkeit, die in Ruths Stimme mitschwang, oder dem warmen Beifall, der in ihren Augen aufleuchtete, wie Jenny erkannte, und selbst David, der dicht hinter Tiggy stand, nahm jetzt Notiz von ihr, seine Augen weiteten sich überrascht, dann wanderte sein Blick langsam über sie hinweg.

„Armani, stimmt’s?“, hörte sie Tiggys Stimme, während sie sich zwang, Davids Blick auszuweichen. Wie albern von ihr, deshalb rot zu werden. David war ihr Schwager, nicht mehr und nicht weniger, auch wenn sie früher einmal …

„Ja, das stimmt“, gab sie Tiggy hastig zur Antwort.

„Was um alles in der Welt ist denn auf einmal in dich gefahren? Wie kommst du bloß plötzlich auf die Idee, dir so ein Kleid zu kaufen?“, drang Tiggy weiter in sie. Ihre Augen waren schmal geworden, und ihre Stimme klang leicht schrill, sie sah fast ungesund blass aus, wie Jenny registrierte. „Es passt gar nicht zu dir.“

„Mutter …“, unterbrach Olivia sie warnend, wobei sie Jenny einen entschuldigenden Blick zuwarf, während sie versuchte, Tiggy wegzuziehen.

Jenny runzelte nachdenklich die Stirn. Spitze Bemerkungen waren eigentlich nicht Tiggys Art, deshalb fühlte sie sich jetzt veranlasst, noch einmal über ihr Kleid nachzudenken. War es womöglich doch ein Fehlgriff gewesen? Vielleicht hatte Jon ja nichts gesagt, weil er sie nicht kränken wollte.

„Lass dir von Tiggy nichts einreden …“ Sie hob den Kopf, als sie Davids Stimme hörte. Er lächelte sie warm an. „Du siehst wundervoll aus.“

Jenny konnte nur dastehen und stumm den Kopf schütteln.

„Tiggy ist eifersüchtig, das ist alles.“

„Eifersüchtig? Auf mich?“ Jenny starrte ihn an. „Das ist unmöglich“, protestierte sie. „Wo sie doch …“

„Wo sie doch was?“, drängte David und zog sie in Richtung Tanzfläche.

Jenny schüttelte erneut den Kopf. „Ich kann jetzt nicht mit dir tanzen, David“, sagte sie heiser. „Die Leute vom Cateringservice …“

„Natürlich kannst du“, widersprach er. „Die Leute vom Cateringservice können warten, aber ich nicht. Mmmm … du fühlst dich gut an“, murmelte er, als er sie in die Arme zog und zu tanzen begann.

Hilflos sah Jenny, dass David nicht die Absicht hatte, sie freizugeben, und dass es wahrscheinlich einfacher war, sich ihm zu fügen, als zu protestieren.

Im Gegensatz zu Jon war David immer ein guter Tänzer gewesen, ihm lag der Rhythmus im Blut, und ihr Gesicht begann zu glühen in dem schummrigen Licht, das auf der Tanzfläche herrschte, als sie daran dachte, was man über Männer sagte, die von Natur aus gute Tänzer waren. Zu gute, dachte sie, leise erbebend, als er ihre Bemühungen, einen angemessenen Abstand einzuhalten, ignorierte und sie enger an sich zog.

„Was ist los?“, flüsterte er in ihr Haar. „Früher hast du gern so eng mit mir getanzt.“

Jon stand an der anderen Seite der Tanzfläche und unterhielt sich angeregt mit Ruth. Er schien keine Notiz von ihnen zu nehmen.

„Du siehst wundervoll aus heute Abend“, sagte David leise zu ihr, während seine Hände langsam über ihren Rücken glitten. „Du siehst wundervoll aus, du fühlst dich wundervoll an … du bist wundervoll, Jenny, und ich wünschte mir, ich wäre damals nicht so töricht gewesen, dich gehen zu lassen.“

„Also wirklich, David …“, protestierte Jenny, nachdem sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte.

„Also wirklich was?“, fragte er rau.

Sein Atem roch leicht nach Alkohol, was gewiss der Grund dafür war, dass er so mit ihr sprach.

„Wie viele Jahre ist es her, seit wir zum letzten Mal so miteinander getanzt haben, seit wir uns so im Arm gehalten haben wie jetzt?“, fragte er.

Jon hatte sie entdeckt, und Jenny sah aus dem Augenwinkel, dass er leicht die Stirn runzelte, während er sie beobachtete. Max war auch auf sie aufmerksam geworden, und der Ausdruck, der in seinen Augen lag, während er auf Davids Rücken starrte, sprach Bände.

„Weißt du, was ich jetzt am liebsten tun würde?“, flüsterte ihr David ins Ohr. „Ich würde gern …“

„David, wir müssen jetzt wirklich wieder an unseren Tisch zurück.“ Jenny stolperte fast über die Worte, so eilig hatte sie es, wieder zur Normalität zurückzukehren. „Jetzt kommen noch ein paar Reden und die Trinksprüche.“

„Und dann die Glückwünsche und die Küsse.“ David schaute ihr tief in die Augen. „Du hast mich heute noch gar nicht geküsst, Jenny.“

„Natürlich habe ich das“, erwiderte sie. „Vorhin zur Begrüßung.“

„Nein, das hast du nicht“, wiederholte David. „Du hast vielleicht wie üblich mit deinem Gesicht meine Wange gestreift, aber geküsst hast du mich nicht. Ich kann mich noch genau erinnern, wie wir uns das erste Mal geküsst haben, Jenny. Du hast nach Blaubeeren geschmeckt und nach frischer Luft …“

„David …“, protestierte Jenny. „Lass diesen Unsinn, bitte.“

Zu Jennys Erleichterung hörte die Band auf zu spielen.

„Wir müssen an den Tisch zurück“, sagte sie entschlossen. Ihr Herz klopfte viel zu schnell, und ihr Gesicht war viel zu rot. Sie fühlte sich … sie fühlte sich wie …

Das Letzte, wirklich das Allerletzte, was sie heute Abend wollte, war, daran erinnert zu werden, wie sie sich damals gefühlt hatte, als David … Nachdem er sie schließlich widerstrebend losgelassen hatte, ging sie eilig an den Tisch zurück, aber sie wusste, dass es schon zu spät war.

Aus dem Augenwinkel sah Jenny, wie Jonathon unbehaglich auf seinem Stuhl herumrutschte; die ersten Toasts wurden ausgebracht. Abgesehen von dem kleinen Zwischenfall mit David war bis jetzt alles genau nach Plan verlaufen. Sogar Ben hatte das Essen gelobt, und Jenny hatte den Überblick verloren, wie viele Gäste sich in wahren Lobeshymnen über die Dekoration des Festzelts und vor allem über den herrlichen Blumenschmuck, der allein Ruths Verdienst war, ergangen waren.

Das Streichquartett, das sie engagiert hatten, damit es mit leisen Klängen das Essen begleitete, war eine zwar kostspielige, aber gute Idee gewesen, und selbst die jungen Familienmitglieder, die sonst wild herumtobten, passten ihr Verhalten dem festlichen Rahmen an. Woher nur kam dann dieses dumpfe Gefühl von Leere bei ihr, von … Enttäuschung?

David erhob sich, um den Gästen zu danken, während der Chef des Cateringservice ihm Champagner nachschenkte; Jenny sah den Stolz in Bens Augen aufleuchten, während er seinen Erben beobachtete, seinen meistgeliebten Sohn; und sie wusste, dass sich genau derselbe Ausdruck auch in Jons Augen widerspiegelte. Das dumpfe Gefühl verstärkte sich.

David räusperte sich. Sein Hemdkragen war zu eng, und ihm war heiß, viel zu heiß. Das Essen lag ihm wie ein Stein im Magen. Dieser verdammte Anruf. Sein Magen krampfte sich zusammen, der Schmerz paralysierte ihn einen Moment lang. Er schien aus dem Nichts zu kommen und fuhr durch ihn hindurch wie eine Rasierklinge oder der Biss einer Schlange. Zuerst kam der scharfe Stich und dann das Brennen der tödlichen Nachwirkung; es war ein Schmerz, wie er ihn noch nie verspürt hatte. Um ihn herum war plötzlich ein Tohuwabohu, aber es schien nichts mit ihm zu tun zu haben, das Einzige, was er spürte, war dieser grimmige Schmerz …

Irgendjemand schrie. Es musste Tiggy gewesen sein, wie Jenny klar wurde, während sie und Jon sich bemühten, David hinzulegen, der, noch bevor er seine Rede hatte beginnen können, über dem Tisch zusammengebrochen war, sein Körper war wie ein Tonnengewicht in ihren Armen. Sie durfte das Wort „tot“ nicht denken. Nicht jetzt … bitte, lieber Gott, nicht jetzt.

„Was ist … was ist denn passiert?“

Das war Ben, seine Stimme, die verängstigte Stimme eines alten Mannes, klang dünn und bebte, während er hilflos seine Blicke über das Chaos, das um ihn herum ausbrach, schweifen ließ.

Irgendjemand – einer von Hughs Söhnen, welcher es war, konnte sie nicht erkennen – unternahm einen Versuch, die Panik einzudämmen, die wie eine Sturmflut das Festzelt überschwemmt hatte.

„Der Krankenwagen ist unterwegs.“

Jenny wandte sich dankbar zu Neil Travers um. „Gott sei Dank, dass Sie hier sind“, sagte sie zu ihrem Arzt. „Wenn Sie nicht wären …“ Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende und erkundigte sich ängstlich: „Wie geht es ihm? Wird er …?“

„Ich weiß es nicht“, gab Neil Travers, besorgt den Kopf schüttelnd, zurück. „Es ist zu früh, um etwas Endgültiges zu sagen. Noch lebt er. Wir werden erst nach der Untersuchung im Krankenhaus Näheres wissen. Er hat offensichtlich einen schweren Herzanfall, aber wie schwer, werden wir erst erfahren, wenn …“ Er unterbrach sich, als die Sirenen des Krankenwagens näher kamen. „Bleiben Sie hier bei ihm“, befahl er Jenny unnötigerweise. Ich gehe nach draußen und sage den Sanitätern Bescheid.“

Während sie auf die Rettungsmannschaft warteten, drehte sich Jenny nach ihrem Ehemann um. Sein Gesicht war, falls überhaupt möglich, noch fahler als das seines Bruders. Er war der Erste gewesen, der auf Davids Zusammenbruch reagiert hatte, er hatte die Hände nach ihm ausgestreckt, während er ihr zugerufen hatte: „Um Gottes willen, tu etwas. Er hat einen Herzanfall.“

„David … David …“, schrie Tiggy und versuchte, sich über ihren bewegungslos daliegenden Mann zu werfen, während die Rettungsmannschaft ihn auf eine Tragbahre legte. Olivia und Caspar gelang es gerade noch rechtzeitig, sie zurückzuhalten.

Um sich herum sah sie verstörte Gesichter, auf denen sich Ungläubigkeit widerspiegelte, bis jetzt konnte noch niemand wirklich fassen, was geschehen war.

„Was ist denn mit Onkel David passiert?“, hörte sie ein kleines Kind mit einem panischen Unterton in der Stimme fragen. „Ist er tot?“

Es war eins von Sauls Kindern, das die Frage gestellt hatte, und Hillary bemühte sich sofort, es zu beruhigen.

„David … David … wo ist er? Ich muss zu ihm. Wo ist er …?“, kreischte Tiggy hysterisch, immer wieder von wilden Schluchzern unterbrochen.

„Sie bringen ihn ins Krankenhaus, Tiggy“, versuchte Jenny, sie zu beruhigen. „Er wird dort in den besten Händen sein und …“

„Sie können ihn doch nicht einfach mitnehmen. Womöglich stirbt er ja unterwegs, und ich bin nicht bei ihm … ich muss sofort zu ihm …“

„Onkel Jon ist bei ihm, Mum“, schaltete sich Olivia ein, dabei Jenny einen hilfesuchenden Blick zuwerfend. Und sie war nicht die Einzige, einfach alle warfen ihr hilfesuchende Blicke zu, wie Jenny zu ihrem Entsetzen feststellen musste, als sie in die schockierten Gesichter um sich herum schaute.

Sie holte tief Atem, und dann sagte sie so ruhig wie möglich: „Caspar, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Olivia und ihre Mutter und Ben nehmen und mit ihnen ins Krankenhaus fahren. Sie können meinen Wagen nehmen und …“

„Ich fahre sie“, unterbrach Saul sie kurz angebunden. „Das geht schneller“, fügte er hinzu, weil Caspar so aussah, als wolle er widersprechen. „Ich kenne den Weg. Kommt“, befahl er und fasste, Olivia ihre Last abnehmend, Tiggy unter, sodass Olivia zu Ben gehen und ihn sanft zum Ausgang lotsen konnte. Caspar blieb mit Jack zurück.

„Ich halte hier die Stellung“, sagte Ann, Hughs Frau, zu Jenny. „Wenn du willst, kannst du auch mitfahren.“ Sie tätschelte Jennys Arm. „Mach dir keine Sorgen, David und Jon sind zwar Zwillinge, aber das heißt noch lange nicht, dass Jon …“

Eilig schüttelte Jenny den Kopf. „Nein. Nein, ich weiß das“, sagte sie schnell, weil sie wusste, worauf Ann hinauswollte. Wie viele andere Leute mochten wohl dasselbe denken? David hatte einen Herzanfall erlitten … würde Jon dasselbe Schicksal ereilen?

„Sie sind zwei verschiedene Menschen, Jenny“, beeilte sich Ann noch einmal zu bekräftigen.

„Ich weiß das“, stimmte Jenny zu, „aber manchmal frage ich mich, ob Jon …“

Sie schüttelte den Kopf und holte tief Atem. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, ihre Verärgerung über gewisse Dinge zum Ausdruck zu bringen, und ganz gewiss nicht gegenüber Ann.

„Bist du dir sicher, dass du hier allein zurechtkommst? Und macht es dir auch nichts aus? Wenn du willst, kann ich gern …“

„Aber natürlich macht es mir nichts aus“, versicherte Ann ihr. „Ruf uns nur vom Krankenhaus an und …“

„Sobald ich etwas Neues weiß, melde ich mich“, versprach Jenny.

Während sie sich auf dem Krankenhausparkplatz vor der neu eingerichteten Spezialklinik für Herzkrankheiten eine Parklücke suchte, musste Jenny daran denken, dass sie sich ironischerweise sehr dafür engagiert hatte, dass diese Abteilung eröffnet werden konnte, indem sie immer wieder geholfen hatte, Spenden dafür zu sammeln. Ob es den Herzspezialisten jetzt allerdings auch gelingen würde, Davids Leben zu retten, war eine andere Sache.

„Die Untersuchung ist noch nicht beendet“, erfuhr Jenny kurze Zeit später an der Rezeption, nachdem sie ihren Namen genannt hatte. „Am besten, Sie nehmen im Warteraum Platz.“

Als sie dort ankam, hielt Jenny instinktiv Ausschau nach Jon. Er saß auf der anderen Seite mit Olivia und Tiggy und hatte sie nicht hereinkommen sehen. Tiggy schluchzte leise in sich hinein, und Jon hatte fürsorglich seinen Arm um ihre Schultern gelegt. Jenny beobachtete die beiden einen Augenblick mit gemischten Gefühlen.

Nachdem sie Jon erreicht hatte, registrierte sie, dass er noch immer völlig schockiert war und kaum Notiz von ihr nahm.

„Gibt es schon irgendwelche Neuigkeiten?“, erkundigte sie sich besorgt. Es war Olivia, die ihr antwortete.

„Nein, noch nichts Konkretes. Sie haben bestätigt, dass Dad einen Herzinfarkt hatte, aber bis jetzt können sie noch nicht sagen, ob er …“

Sie legte die Hand über den Mund, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.

„Beruhige dich. Wenigstens lebt er und ist in guten Händen …“

Olivia warf Saul einen dankbaren Blick zu, als er sich zu ihnen gesellte.

Er hatte sich auf der Fahrt ins Krankenhaus wunderbar verhalten, es war ihm sogar gelungen, ihre Mutter, die völlig hysterisch gewesen war, zu beruhigen, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Missbilligung oder Verachtung zu zeigen, wie es bei Caspar zu befürchten gewesen wäre. Und nachdem sie im Krankenhaus angekommen waren, hatte er schnell und effizient die Anmeldeformalitäten in die Hand genommen und es sogar noch geschafft, dafür zu sorgen, dass eine Krankenschwester einen Blick auf Ben warf, der um ein Jahrzehnt gealtert zu sein schien und sich innerhalb weniger Minuten von einem jähzornigen Patriarchen in einen geradezu erschreckend gebrechlich wirkenden alten Mann verwandelt hatte.

Genau wie der Rest der Familie auch hatte sie natürlich immer gewusst, wie viel David ihm bedeutete, weshalb sie jetzt Mitleid mit ihm verspürte, als sie die Auswirkungen sah, die Davids Zusammenbruch auf ihn hatten.

Onkel Jon wirkte ebenfalls am Boden zerstört, aber anders. Er war bei ihrem Vater geblieben, bis der Arzt gekommen war, und in demselben Augenblick, in dem er den Warteraum betreten hatte, hatte sich Tiggy ihm an die Brust geworfen und hysterisch geschluchzt: „Er ist doch nicht tot, nein? Bitte, bitte sag mir, dass er nicht tot ist. Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn leben soll. Ich kann es einfach nicht …“

„Nein. Er ist nicht tot, Tiggy“, hatte Jon ihr versichert.

Nein, David war nicht tot, Gott sei Dank. Gott sei Dank. Zweifellos war es der Schock beim Zusammenbruch seines Bruders gewesen – seine Angst um den Menschen, den er über alles liebte – der das, was er jetzt empfand, auslöste. Jon hatte das seltsame Gefühl, als ob das, was um ihn herum vorging, gar nicht wirklich passierte, fast als ob er aus sich herausgetreten wäre und neben sich stünde und sich selbst bei dem, was er tat, zuschaute.

Seine Bewegungen, sein Verhalten, seine Worte, alles kam automatisch, instinktiv. Er handelte genauso, wie er stets gehandelt hatte, er, der pflichtbewusste, verantwortungsvolle Bruder.

Er hatte versucht, sich an die Stelle seines Zwillingsbruders zu versetzen, und sich vorgestellt, wie es wäre, wenn er dort in dem Krankenhausbett läge. Würde Jenny auch seinetwegen weinen, völlig verstört von dem Gedanken, dass sie ihn verlieren könnte?

Oder würde sie David anschauen und denken … sich wünschen …

Er hatte sie früher am Abend zusammen tanzen gesehen, eng umschlungen, Jennys Kopf gegen Davids Schulter gelehnt, während er ihr etwas in ihr Ohr flüsterte. Was er wohl zu ihr gesagt hatte?

Jon hatte sich nie irgendwelchen Illusionen hingegeben über die Motive, die Jenny zu der Heirat mit ihm veranlasst hatten. Wenn das Baby nicht gewesen wäre … Und er war schließlich derjenige gewesen, der sie zu der Heirat gedrängt hatte. Jenny konnte er keinen Vorwurf machen. Er hatte von Anfang an gewusst, welche Gefühle sie David entgegenbrachte. Ebenso wie ihm natürlich nicht Bens Erleichterung entgangen war, nachdem er verkündet hatte, dass er und Jenny heiraten würden. Wenn sie erst einmal mit ihm verheiratet war, würde sie wenigstens aus dem Weg sein und keine Gefahr mehr darstellen für die strahlende Zukunft, die Ben für David geplant hatte. Natürlich hatte es die erwartete elterliche Strafpredigt gegeben, weil Jenny schwanger war, aber er hatte sie stillschweigend über sich ergehen lassen und nur einmal das Wort ergriffen, um Jenny zu verteidigen und seinen Vater daran zu erinnern, dass zwei Menschen nötig waren, um ein neues Leben entstehen zu lassen, und nicht nur einer.

Er hatte die Erleichterung in Jennys Augen gesehen, als David geschrieben hatte, dass er es nicht schaffen würde, zur Hochzeit zu kommen, und hatte naiverweise angenommen, dass das bedeutete, dass Jenny ihn nicht dabeihaben wollte, dass sie ihn überhaupt nicht mehr in ihrem Leben wollte.

Er wusste, dass Jenny sich ebenso bemüht hatte wie er selbst, aus ihrer Ehe das Beste zu machen; sie war ihm immer eine gute Ehefrau gewesen und ihren Kindern eine noch bessere Mutter – daran gab es überhaupt keinen Zweifel –, und doch hatte er früher am Abend den Blick in ihren Augen gesehen, als sie sich vor dem Spiegel im Schlafzimmer betrachtet hatte, ohne zu wissen, dass er hinter ihr stand.

Ihre Wangen waren von ungewohnter Röte überhaucht gewesen, die Lippen hatte sie halb geöffnet, ihre Augen glänzten vor … vor was? Freudiger Erwartung … Aufregung … weil sie gewusst hatte, dass David …?

Es hatte ihn schockiert und verstört, sie so zu sehen, so ganz anders als sonst … so … begehrenswert und … weiblich. Sie hatte gar nicht ausgesehen wie die Jenny, die er seit über einem Vierteljahrhundert kannte, und er war seltsam berührt gewesen, als ihm klar geworden war, wie sorgfältig sie sich für diesen Abend hergerichtet hatte; sie hatte sich schön gemacht, wirklich schön, aber nicht für ihn. Er konnte sich nicht erinnern, dass Jenny sich in all den Jahren ihrer Ehe je die Mühe gemacht hätte, sich für ihn so schön zu machen.

Und zweifellos war David ebenso beeindruckt gewesen wie er selbst, und nicht nur David. Jon war nicht blind. Er hatte gesehen, wie die männlichen Gäste Jenny angeschaut hatten, erst völlig verblüfft, dann bewundernd.

Was mochte David wohl zu ihr gesagt haben, als sie miteinander tanzten? Hatte er ihr Komplimente gemacht und sie daran erinnert, dass sie früher beide einmal …? Und was hatte Jenny gefühlt? Musste er sich das wirklich fragen? Als junges Mädchen hatte Jenny David geliebt, auch wenn sie ihre eigenen Gefühle mit Füßen getreten hatte, indem sie seinen, Jons, Heiratsantrag annahm.

David war sein Bruder, sein Zwillingsbruder, und er war von Kindesbeinen an in dem Glauben aufgewachsen, dass diese Beziehung eine unvergleichliche Nähe schaffte. War das wirklich so?

David starb jetzt vielleicht, aber das, woran er, Jon, sich erinnerte, war nicht das tödlich erschreckte Gesicht seines Bruders, als dieser zusammenbrach, sondern David, wie er mit Jenny tanzte.

Natürlich wollte er, dass David lebte. Das war überhaupt keine Frage. Warum aber verspürte er dann ganz tief in sich drin diese Leere, diese erschreckende Gleichgültigkeit?

Tiggy weinte noch immer und zitterte. Instinktiv legte er den Arm fester um sie und zog sie schützend an sich. Hier zumindest war jemand, dessen Gefühle aufrichtig waren, Tiggys ganze Sorge galt ihrem Mann. Jon wagte es nicht, Jenny einen Blick zuzuwerfen, um zu sehen, was sie fühlte, um in ihren Augen zu lesen, nur für den Fall, dass …

Tiggy klammerte sich weinend an Jon, wie Olivia beobachtete. Sie selbst hätte sich jetzt auch gern in Caspars tröstende Arme geflüchtet, aber er war nicht hier, vielleicht tröstete er ja gerade Hillary.

„Versuche, ruhig zu bleiben. Ich bin mir sicher, dass sie alles tun, was in ihrer Macht steht.“ Saul drückte Olivia tröstend die Hand, als er spürte, wie sie sich anspannte.

Die Wartezimmertür ging auf, und der Herzspezialist kam herein. Seine Augen blickten müde, und seine Stimme klang noch müder.

„David ist außer Lebensgefahr – im Moment. Aber …“ Er hielt inne, schaute sich um und suchte nach Worten, während er mit einem raschen Blick Tiggys tränenüberströmtes, bleiches Gesicht streifte.

Unbewusst trat Olivia einen Schritt näher an Saul heran, froh über den Trost, den ihr sein starker Arm spendete, als er sie einen kurzen Augenblick an sich drückte.

„Er hatte einen schweren Herzinfarkt“, erklärte der Arzt, „und er hat wirklich Glück gehabt, dass er ihn überstanden hat.“

„Was genau versuchen Sie, uns zu sagen?“, fragte Jenny ruhig.

„David ist noch nicht über den Berg. Die nächsten vierundzwanzig Stunden werden kritisch werden. Bis dahin werden wir nicht wissen, ob …“

„Wollen Sie damit sagen, dass er noch einen zweiten Infarkt erleiden kann? Ist es das?“, erkundigte sich Jenny unumwunden.

„Das kann passieren“, bestätigte der Arzt ernst, „aber wir hoffen …“

„Können wir … können wir zu ihm?“, fragte Jon heiser.

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Nicht in diesem Stadium. Er braucht absolute Ruhe. Wir haben ihm ein Beruhigungsmittel gespritzt, und er schläft jetzt. Tatsächlich ist es das Beste, wenn Sie jetzt alle nach Hause gehen und sich richtig ausschlafen.“ Als er den kurzen fragenden Blick sah, den Jenny in Bens Richtung schickte, winkte er eine in der Nähe stehende Krankenschwester zu sich und sagte leise etwas zu ihr, dann nahm er Jenny beiseite, um ihr zu versichern: „Ich werde Ihrem Schwiegervater etwas aufschreiben. Ich weiß, dass sein eigenes Herz auch nicht mehr so stark ist, wie es sein sollte.“

„Tiggy ist völlig aufgelöst, Jenny“, verkündete Jon ein paar Minuten später, nachdem Saul die Initiative zum Aufbruch ergriffen hatte. „Man kann sie nicht allein lassen. Ich denke, es ist besser, wenn ich heute Nacht bei ihr schlafe, nur für den Fall, dass sie mich braucht.“

„Ja, natürlich“, stimmte Jenny zu, wobei sie den Gedanken zu verdrängen versuchte, dass Tiggy das ganze Haus voll mit Verwandtschaft hatte, an die sie sich wenden konnte für den Fall, dass sie unbedingt eine Schulter zum Ausweinen brauchte, ganz zu schweigen von ihrer Tochter und deren Freund.

Was hatte es für einen Sinn, sich dies alles vor Augen zu führen oder es gar laut auszusprechen? Jon würde es ja doch nicht gelten lassen. Er erwartete von ihr, dass sie seine Entscheidung akzeptierte und sich zurücknahm, genau so, wie auch er sich stets zurückgenommen hatte, wenn es um Davids Wünsche und die Bedürfnisse seiner Familie ging. Und jetzt ging es um Tiggys Bedürfnisse, und Tiggy war Davids Frau.

Als sie zurück zum Wagen gingen, musste sie wieder daran denken, dass er ihr Kleid nicht mit einem einzigen Wort erwähnt hatte. Wie dumm, über solch eine Nebensächlichkeit Tränen zu vergießen, wenn es viel Wichtigeres gab, über das man Tränen vergießen konnte.

Nicht, dass sie sich nicht um Davids Gesundheit und Wohlergehen gesorgt hätte. Natürlich tat sie das. Immerhin war er ja Jons Bruder, und als dieser hatte er … Sie und Jon waren nicht einmal dazu gekommen, miteinander zu tanzen; genau genommen konnte sie sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie zum letzten Mal miteinander getanzt hatten. Sie musste sofort damit aufhören. Sie durfte jetzt nicht an ihre kleinen selbstsüchtigen Wünsche denken, wo doch Davids Leben nur noch an einem seidenen Faden hing. Aber warum hatte Jon nichts gesagt über ihr Kleid? Ob es ihm nicht gefallen hatte? Hatte er nicht … Sie rief sich energisch zur Ordnung und verbot sich jeden weiteren Gedanken über diese Frage.

7. KAPITEL

„Nun, der Arzt scheint ja ganz optimistisch zu sein, dass David zumindest das Schlimmste überstanden hat.“

Olivia wandte sich zu Saul um.

„So ist es“, pflichtete sie ihm bei, „aber Dr. Hayes hat uns dennoch gewarnt, dass es noch eine gewisse Zeit dauern wird, bis er ganz außer Gefahr ist – sie haben zwar vor, ihn Ende der Woche aus der Intensivstation zu verlegen, nach Hause darf er jedoch noch nicht. Und Dr. Hayes hat zudem gesagt, dass er auf jeden Fall mindestens drei Monate nicht arbeiten darf und selbst dann …“

„Es wird schwer werden“, gab Saul ernst zurück. „Was meinst du, was Jon tun wird, einen Vertreter einstellen?“

„Ich weiß es nicht. Niemand hat sich bisher Gedanken darüber gemacht, wie es mit der Kanzlei weitergehen soll“, gestand Olivia. „Wir waren alle viel zu viel in Sorge um David, um daran denken zu können, doch irgendeine Lösung wird man finden müssen.“

„Hmmm … ich wünschte, ich könnte meine Hilfe anbieten, aber …“ Er breitete vielsagend die Hände aus. „Es geht einfach nicht. Ich stecke selbst bis über beide Ohren in Arbeit. Hillary beklagt sich schon dauernd, dass sie mich gar nicht mehr zu Gesicht bekommt, oder besser gesagt reibt sie mir dauernd unter die Nase, dass sie sich bereits daran gewöhnt hat, mich überhaupt nicht mehr zu sehen. Was mir mittlerweile gar nicht mehr so schlimm erscheint.“

Die Bitterkeit in seiner Stimme ließ Olivia aufhorchen. Es war in den letzten drei Tagen – Saul war dazu auserwählt worden, mit seiner Familie in Haslewich zu bleiben, bis sich David etwas erholt hatte – nicht zu übersehen gewesen, dass Saul und Hillary nicht mehr glücklich miteinander waren. Saul tat Olivia leid. Es war unübersehbar, dass er seine Kinder vergötterte, und sie hatte den Verdacht, dass er nur ihretwegen an seiner Ehe noch festhielt.

Sie saßen im Wohnzimmer von Queensmead zusammen, wo sich die Familie eingefunden hatte, um die neuesten Nachrichten über Davids Gesundheitszustand zu hören.

Heute war Olivia mit einem Besuch an der Reihe gewesen. Sie und Jon wechselten sich dabei ab, ihre Mutter bei ihren täglichen Besuchen ins Krankenhaus zu begleiten. David war mittlerweile wieder bei Bewusstsein und konnte auch sprechen, obwohl er noch immer unter Beruhigungsmitteln stand und auf der Intensivstation lag. Es wurde von der Familie taktvollerweise als Selbstverständlichkeit hingenommen, dass Tiggy von den Ereignissen noch immer viel zu mitgenommen war, um die Besuche an seinem Krankenbett ohne familiäre Unterstützung durchstehen zu können.

Caspar hatte in der Nacht nach Davids Herzinfarkt bei Olivia im Zimmer geschlafen und gestern auch … Sie schloss die Augen, weil sie nicht an die Probleme denken wollte, die derzeit in ihrer Beziehung zu Caspar hochkamen.

Wie war es nur möglich, dass sich plötzlich zwischen ihnen alles so verändert hatte? Natürlich war ihr klar gewesen, dass Caspar gelegentlich noch immer mit alten Gefühlen der Zurückweisung aus der Kindheit zu kämpfen hatte. Er hatte öfter offen darüber gesprochen, ebenso, wie auch sie ihre Probleme nicht vor ihm verheimlicht hatte. Sie war davon ausgegangen, Caspar zu verstehen und umgekehrt.

Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Es hatte sie einigermaßen entsetzt, entdecken zu müssen, dass er längst nicht der reife Erwachsene war, für den sie ihn immer gehalten hatte, jemand, an dessen Schulter sie sich anlehnen konnte, wenn ihr danach zumute war und wie sie es bei ihrem Vater nie hatte tun können. Plötzlich fiel ihr auf, dass Caspar durchaus in der Lage war, ein ebenso egoistisches und forderndes Verhalten an den Tag zu legen wie David, und dass er durchaus imstande war, ihre Bedürfnisse zu ignorieren und sich allein auf seine eigenen zu konzentrieren. Dass er genauso fähig war, Druck auf sie auszuüben, um das zu bekommen, was er sich von ihrer Beziehung erwartete, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob es auch das war, was sie wollte oder brauchte. Genau, wie er es letzte Nacht getan hatte …

Angespannt schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Es war ihr Vorschlag gewesen, dass Caspar in ihr Zimmer ziehen sollte. Sie brauchte den Trost, den sein Körper ihr spendete, seine Wärme … sie wollte einfach nur wissen, dass er da war. Sie fand es bestürzend, dass sie die Entdeckung, was mit ihrer Mutter los war, in gewisser Weise mehr verstört hatte als der Herzinfarkt ihres Vaters, und sie wusste auch, warum. Ein Herzinfarkt ließ sich erklären, es war etwas, worüber man reden konnte und das jeder verstand. Wohingegen die Bulimie ihrer Mutter …

Sie hatte sich sehnlichst gewünscht, mit Caspar über ihre Gefühle sprechen zu können, um sich zu versichern, dass da jemand war, der sie verstand; sie wünschte sich, dass er nachfühlen konnte, wie hin- und hergerissen sie sich fühlte. Wie sehr sie sich einerseits danach sehnte, einfach von hier weggehen und ihr Zuhause hinter sich lassen zu können, um mit ihm in Philadelphia ein neues Leben anzufangen, ein Leben, in dem sie nach eigenen Verdiensten beurteilt würde. Und wie sehr sie sich andererseits verpflichtet fühlte, diese verletzliche Person, als die sie ihre Mutter jetzt ansah, zu beschützen und ihr zu helfen.

Sie fühlte sich so verwirrt … so hilflos. Sie brauchte Caspars Verständnis mehr als irgendetwas auf der Welt … und sie brauchte Zeit. Aber Caspar konnte ihr ganz offensichtlich weder das eine noch das andere geben.

Letzte Nacht, als sie sich zu ihm umgedreht hatte, weil sie das dringende Bedürfnis verspürt hatte, mit ihm zu reden … Sie schloss die Augen und war sofort wieder in ihrem Schlafzimmer, das nur vom schwachen Licht des Mondes, der durch die Vorhänge schien, erhellt wurde …

„Caspar“, flüsterte sie leise, „bist du noch wach?“

„Na, was glaubst du denn?“, hörte sie ihn brummen, die Bettdecke raschelte, als er einen Arm hob und ihn um sie schlang, während sein Mund die warme weiche Haut an ihrem Hals liebkoste. „Mmmm … ich habe dich vermisst.“

Er war offensichtlich zu sehr damit beschäftigt, den Geschmack und Geruch ihrer Haut auszukosten, um zu bemerken, wie angespannt sie war.

„Caspar“, begann sie zu protestieren, aber er hörte nicht auf sie und schlang ein Bein über ihre Hüfte, während er seine Hand auf ihre Wange legte und ihren Kopf zu sich herumdrehte, um sie hungrig zu küssen.

Olivia zögerte eine Sekunde, ehe sie den Kuss erwiderte. Es war nicht so, dass sie grundsätzlich keine Lust gehabt hätte, Liebe mit ihm zu machen. Es war nur einfach nicht der richtige Moment. Im Augenblick war es ihr wichtiger, mit ihm zu reden. Sie musste ihre Gefühle in Worte kleiden, um sich darüber klar zu werden, was sie empfand, und Caspar war der einzige Mensch, mit dem sie darüber sprechen konnte.

Es kam ihr so illoyal vor, und es tat so weh, sich eingestehen zu müssen, dass die Liebe, von der sie wusste, dass sie sie gegenüber ihrer Mutter empfinden sollte, einfach nicht vorhanden war. Und deshalb fühlte sie sich schuldig – sie fühlte sich schuldig, weil alles, was sie fühlen konnte, nur Mitleid war. Aber Caspars Hand bewegte sich bereits über ihre Brüste.

Sein Daumen liebkoste ihre Knospe, und Olivia versuchte, sich auf die zärtliche Berührung zu konzentrieren und sie zu genießen. Als sie sich das erste Mal geliebt hatten, hatte sie ihn so sehr begehrt, dass sie tatsächlich einen kleinen Orgasmus bekommen hatte, als er ihre Brüste liebkost und erst die eine und dann die andere aufgerichtete Knospe zärtlich mit der warmen, nassen Spitze seiner Zunge gestreichelt hatte.

Sie wäre damals am liebsten im Boden versunken vor Scham über die wilde Gier, die seine Zärtlichkeiten in ihr hervorgerufen hatten, doch Caspar hatte ihre leidenschaftliche Reaktion genossen und es gar nicht erwarten können herauszufinden, wie sie wohl reagieren würde, wenn er noch intimere Regionen ihres Körpers mit dem Mund und der Zunge stimulierte.

Und als er es dann tat, waren sie, beide unfähig, noch länger zu warten, übereinander hergefallen, aber sie hatten sich später gegenseitig entschädigt für ihre Ungeduld, und Olivia entdeckte zum ersten Mal in ihrem Leben, dass es nicht nur der Mann war, der ein sinnliches Vergnügen daraus zog, sich intim vom warmen Mund des Partners liebkosen zu lassen.

Aber das war damals gewesen, und nun lagen sie hier in ihrem Bett. Unter den Zärtlichkeiten seiner Zunge begann ihre Knospe, sich zu versteifen, ihr Körper reagierte auf ihn, auch wenn sie in Gedanken woanders war.

Unter ihren Fingerspitzen konnte sie sein Haar spüren, in das sie sich normalerweise hineingekrallt hätte, um ihn noch näher an sich zu ziehen, doch heute hätte sie ihn am liebsten weggestoßen. Wie war es nur möglich, dass er nicht spürte, dass sie einfach nicht in der richtigen Stimmung war? War er wirklich so blind, so wenig einfühlsam, oder war es ihm schlicht egal? War es ihm wichtiger, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen als ihre?

Der Druck seines Mundes auf ihrer Brust nahm zu. Er presste sich an sie, und sie konnte seine pulsierende Erregung spüren. Zum ersten Mal im Verlauf ihrer Beziehung wollte Olivia das Liebesspiel so schnell wie möglich hinter sich bringen, nur damit es endlich vorbei war.

Wenn sein Bedürfnis nach Sex schon so unmöglich im Zaum zu halten, so unendlich wichtig war, wichtiger als sie, warum beeilte er sich dann nicht ein bisschen und brachte es rasch hinter sich?

Sie bewegte sich ungeduldig gegen ihn und knirschte mit den Zähnen, was er irrtümlich als Verlangen interpretierte und deshalb begann, ihren Körper mit den Händen zu liebkosen, ihre Hüften zu streicheln, ihren Bauch zu massieren und dann ihre Pobacken zu kneten, genau so, wie sie es normalerweise liebte, ehe eine Hand zwischen ihre Schenkel schlüpfte.

Olivia spannte sich an, und Caspar merkte es.

„Was ist los?“, fragte er. „Stimmt etwas nicht?“

Dann war ihm schließlich also doch noch etwas aufgefallen.

„Nichts“, sagte sie kurz angebunden und fügte dann hinzu: „Caspar, können wir das nicht endlich hinter uns bringen? Ich bin müde, und wenn du so offensichtlich Sex brauchst, wie es scheint, dann beeil dich ein bisschen, ich bitte dich.“

Olivia wusste in demselben Moment, in dem sie sie aussprach, wie schrecklich ihre Worte klangen, aber sie konnte einfach nicht anders. War es vielleicht ihre Schuld, dass Caspar zu blind und egoistisch war, um zu bemerken, in was für einer Stimmung sie sich befand? Dass sie sich wünschte, in den Armen gehalten und getröstet zu werden, und dass sie einen Menschen brauchte, der ihr zuhörte?

Sie konnte spüren, wie er sie in der Dunkelheit anschaute, und war nicht überrascht, als er von ihr glitt. Caspar gehörte nicht zu der Art Männern, die einer Frau ihre Zärtlichkeiten aufdrängen. Er hatte ihr einmal erklärt, dass Sex für ihn immer ein gegenseitiges Geben und Nehmen sein müsse, und wenn das nicht der Fall sei, mache es ihm keinen Spaß. Doch als sie sich jetzt von ihm abwenden wollte, streckte er überraschend die Hände nach ihr aus und hielt sie fest. Er rollte sich über sie und hielt ihr die Arme über ihrem Kopf fest. „Schön“, grollte er, „wenn es das ist, was du willst …“

„Caspar“, versuchte Olivia zu protestieren, aber es war zu spät. Er war bereits dabei, in sie einzudringen.

Anscheinend war sie doch erregter gewesen, als ihr bewusst war, denn er konnte mühelos in sie hineingleiten, obwohl sie abwehrend ihre Muskeln anspannte.

„Ich dachte, du willst es so schnell wie möglich hinter dich bringen“, erinnerte Caspar sie, als er ihre Bemühungen, ihn von sich fernzuhalten, spürte.

Er bewegte sich jetzt schneller auf ihr, seine Stöße wurden härter, und zu ihrem Entsetzen wurde Olivia plötzlich klar, dass es einen Teil in ihr gab, der das Wissen, ihn so wütend gemacht zu haben, dass er sich vergaß, genoss. Fast hatte es für sie den Anschein, als ob es ihr Spaß mache, auf diese Weise von ihm genommen zu werden.

Sie versteifte sich, als sie herausfand, dass ihr Körper tatsächlich anfing, auf die leidenschaftliche, wütende Wildheit seiner Stöße zu reagieren. Sie wollte ihn wegstoßen, ihn zwingen, damit aufzuhören, ihm mit ihren Nägeln den Rücken zerkratzen, ihm die Zähne tief in das feste Fleisch seiner Schultern schlagen, sich gegen die Inbesitznahme ihres Körpers zur Wehr setzen, und gleichzeitig … zur selben Zeit …

Sie gab ein lautes, überraschtes Keuchen von sich, als sie von der ersten Welle ihres Höhepunkts überrascht wurde, und dann war es zu spät, viel zu spät für sie, um irgendetwas anderes tun zu können, als ihre Beine noch ein bisschen fester um ihn zu schlingen und laut seinen Namen herauszuschreien, während sie von einer haushohen Woge der Lust überschwemmt wurde.

Sie hatten Sex nie als ein Mittel benutzt, einander zu verletzen, nicht körperlich und ganz gewiss nicht seelisch, aber letzte Nacht hatten sie es getan. Nachdem es vorüber gewesen war, hatte sie Caspar den Rücken zugedreht und sich schlafend gestellt, während er sie zärtlich gestreichelt und ihr ihren Namen ins Ohr geflüstert hatte.

Nach einer Weile hatte sie gespürt, wie er von ihr abgerückt war und ihr ebenfalls seinen Rücken zugewandt hatte, während sie steif liegen geblieben war; insgeheim jedoch hatte sie sich danach gesehnt, sich zu ihm umdrehen zu können, damit er sie in die Arme nähme, und doch war sie zu wütend gewesen … zu verletzt, um das zuzulassen.

Am Morgen war Caspar schon im Bad gewesen, als sie aufgewacht war. Den ganzen Tag über hatten sie sich mit ausgesuchter Höflichkeit und Wachsamkeit behandelt. Trotzig hatte sich Olivia immer wieder selbst versichert, dass es Caspar gewesen war, der einen Fehler gemacht hatte und nicht sie. Er hätte wissen müssen, wie sie empfand; er hätte es verstehen müssen. Sie war sich mit verstörender Deutlichkeit bewusst, dass die Entfremdung immer mehr wuchs zwischen ihnen, aber sie war unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. In der Gewissheit, ihm nicht mehr ganz vertrauen zu können, schaffte sie es einfach nicht, ihm von den langen Stunden zu erzählen, in denen sie nachts neben ihm wach gelegen und sich nicht nur Sorgen um ihren Vater, sondern auch um ihre Mutter gemacht hatte, ständig in der Erwartung, das verräterische Treppenknarren zu vernehmen, das ihr verriet, dass ihre Mutter den Teufelskreis ihrer Selbstzerstörung erneut in Gang gesetzt hatte.

Jetzt lächelte sie müde, als Jon herüberkam, um sich zu ihr und Saul zu gesellen. Olivia nahm an, dass Jon die Krankheit ihres Vaters am schlimmsten traf. Und dies nicht nur deshalb, weil er David als dessen Zwillingsbruder gefühlsmäßig am nächsten stand, sondern weil die ganze Last der Verantwortung allein auf seinen Schultern ruhte. Ihm fiel die Aufgabe zu, der Familie ihre Ängste zu nehmen, soweit das möglich war, was ganz besonders auf ihre Mutter und seinen Vater zutraf. Im Fall ihrer Mutter äußerten sich diese Ängste in ständigen hysterischen Tränenausbrüchen und einem Bedürfnis, sich an Jon zu klammern, was für ihn schon schlimm genug sein musste, und was ihren Großvater anbetraf … Um sich ein Urteil bilden zu können, warf Olivia einen Blick zu dem Platz, wo ihr Großvater saß.

Vielleicht war es ja nicht seine Absicht, den Eindruck zu erwecken, dass, wenn es schon einem seiner Söhne vom Schicksal vorbestimmt war, einen Herzinfarkt erleiden zu müssen, es wenigstens Jon hätte sein sollen und nicht David … und doch war es schlicht unübersehbar. Ein Umstand, der Jon zutiefst verletzen musste, auch wenn er sich noch so sehr bemühte, sich dies nicht anmerken zu lassen, und die Anschuldigungen seines Vaters, nicht verhindert zu haben, dass David sich überarbeitete, mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen ließ.

„Livvy und ich haben uns eben gefragt, wie du in den nächsten Monaten mit all der Arbeit in der Kanzlei klarkommen willst“, bemerkte Saul. „Wahrscheinlich wäre es am sinnvollsten, einen Vertreter einzustellen …“

„Nein.“ Die Heftigkeit, mit der Jon Sauls Vorschlag zurückwies, überraschte Olivia. Sein Tonfall, normalerweise sanft und kontrolliert, klang fast schroff. „Ich … ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, mir Gedanken darüber zu machen“, fügte Jon steif hinzu, als Olivia und Saul instinktiv einen überraschten Blick austauschten. Eine solche Heftigkeit war ganz und gar untypisch für Jon, und das brachte sie beide ein bisschen aus der Fassung.

„Aber irgendeine Entscheidung wirst du bald treffen müssen“, mischte sich Jenny ruhig ein. „Du kannst schließlich die Kanzlei nicht allein führen. Dafür gibt es viel zu viel Arbeit, ganz abgesehen davon, dass …“

„Abgesehen wovon?“, unterbrach Jon seine Frau mit scharfer Stimme, wobei er Olivia und Saul den Rücken zuwandte. „Abgesehen wovon?“, wiederholte er. „Abgesehen davon, dass ich eben nicht David bin und deshalb nicht in der Lage, die Kanzlei zu führen?“

„Also wirklich, Jon. Du weißt ganz genau, dass ich das nicht gemeint habe.“ Jenny musterte ihren Mann reichlich fassungslos. Er hatte sich in den letzten Tagen so sehr verändert, dass sie ihn kaum wiedererkannte. Sie wusste, was für ein Druck auf ihm lastete, was für schreckliche Sorgen er sich um David machte … und wie rührend er sich um seine Schwägerin kümmerte, von seinem Vater ganz zu schweigen … Und sie spürte auch, wie sehr ihn Bens offen zur Schau getragene Überzeugung, dass er nicht in der Lage sei, Davids Platz auszufüllen, verletzte. Und doch war es einfach unmöglich für ihn, die Arbeit für zwei zu machen, und mehr hatte sie nicht sagen wollen.

„Ich könnte dir für eine Weile helfen …“

Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, fragte sich Olivia, welcher Teufel sie wohl eben geritten haben mochte. Sie plante, mit Caspar nach Amerika zu gehen. Sie hatten bereits alle Vorbereitungen getroffen.

„Oh, Livvy, würdest du das wirklich tun? Aber was ist denn mit deinem eigenen Job?“, rief Jenny in offensichtlicher Erleichterung aus.

Olivia war sich bewusst, dass Caspar, der auf der anderen Seite des Zimmers saß, zuhörte. Hillary war an seiner Seite, ein Platz, den sie immer öfter einzunehmen schien, wie Olivia mit leichter Bitterkeit bereits registriert hatte. Als Hillary sich jetzt zu Caspar hinüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, hob Olivia trotzig das Kinn.

Es war zu spät, um einen Rückzieher zu machen, ihr Angebot stand, ganz davon abgesehen, dass … „Ich … ich bin im Moment zwischen zwei Jobs“, erklärte sie ihrer Tante wahrheitsgemäß. „Ich … ich wollte es nur nicht unbedingt überall herausposaunen, aber es ist tatsächlich so, dass ich vorübergehend frei bin, sodass es also keinen Grund gibt, warum ich nicht für einige Zeit für David einspringen könnte. Es macht mir wirklich nichts aus.“

„Sie will was?“ Bens Stimme drohte umzukippen. „Ich habe mich wohl verhört! Olivia ist doch nur ein Mädchen, und sie ist in keiner Weise …“

„Ich mag wohl eine Frau sein, Gramps, aber ich bin auch eine voll qualifizierte Anwältin“, erinnerte Olivia ihren Großvater mit kühler fester Stimme. Doch trotz ihrer äußerlichen Ruhe hatte ihr Herz einen wilden Tanz begonnen, und sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. „Ich bin mir sicher, dass Dad damit einverstanden ist“, fügte sie laut und entschlossen hinzu, wobei sie ihrem Großvater fest in die Augen schaute. „Es sei denn natürlich, Max will …“

„Max kann nicht“, schnitt Ben ihr ruppig das Wort ab. „Das weißt du ganz genau. Er muss sich um sein eigenes Fortkommen kümmern.“

„Bist du dir ganz sicher, dass du weißt, was du dir da antust?“, sagte Saul so leise, sodass es die anderen nicht hören konnten. „Es wird nicht leicht werden für dich, darüber musst du dir klar sein. Wir reden über eine höchst altmodisch geführte Anwaltskanzlei auf dem Land mit nicht weniger altmodischen Mandanten.“

„Was versuchst du, mir eigentlich zu sagen, Saul?“, entgegnete sie scharf. „Dass du glaubst, dass ich damit nicht zurechtkomme?“

„Natürlich nicht“, beeilte er sich zu versichern. Doch trotz dieser Antwort konnte sie in den Gesichtern der anderen Familienmitglieder sehr deutlich lesen, was diese von der Sache hielten. Niemand von ihnen hielt sie für fähig, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten.

„Ich habe meine Entscheidung getroffen“, sagte sie laut, „und ich habe nicht die Absicht, sie ändern. Ich werde am Montagmorgen in der Kanzlei sein.“

Sie hielt ihren Atem an in der Erwartung, dass sich ein Proteststurm entfaltete, und atmete langsam aus, als er ausblieb. Sie waren einverstanden, weil sie sie brauchten, obwohl keiner, mit Ausnahme von Jenny, bereit gewesen wäre, das zuzugeben. Sie würde ihnen beweisen, dass sie genauso fähig war wie jeder männliche Crighton, und sogar ein gutes Stück fähiger als manche von ihnen. Das wurde ihr klar, während sie Max, der sie mit dem üblichen verächtlichen Grinsen beobachtete, mit einem finsteren Blick streifte.

Sie fragte sich, ob er Ben bereits erzählt hatte, dass ihm die Stelle als Sozius in der Kanzlei, in der er derzeit arbeitete, noch längst nicht so sicher war, wie er immer tat. Zumindest nicht nach dem, was Caspar ihr erzählt hatte.

„Warum wollen sie ihn denn nicht akzeptieren?“, hatte sie Caspar gefragt. „Kennst du die genauen Gründe?“

„Da gibt es eine Menge“, hatte Caspar zurückgegeben. „Zuerst einmal hat er das falsche Geschlecht, aber selbst wenn dem nicht so wäre, möchte ich bezweifeln, dass seine Kompetenzen ausreichen, um sich mit den anderen Mitbewerbern messen zu können.“

„Immerhin hat er die Examen alle bestanden.“

„Mit Hängen und Würgen“, schränkte Caspar ein, „und sonderlich beliebt ist er auch nicht gerade. Oh, ich weiß, was du sagen willst“, fuhr er fort und hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, als er sah, dass sie widersprechen wollte, „ich weiß auch, dass es manchmal gar nicht schlecht sein kann für einen Strafverteidiger, wenn seine Kollegen ein bisschen ehrfürchtigen Abstand wahren, aber in seinem Fall würde ich doch eher zu der Behauptung tendieren, dass dieser Abstand weniger auf Ehrfurcht als auf Geringschätzung basiert.“

Olivia hatte ihm einen trocken-belustigten Blick zugeworfen. Er hatte ihr nichts Neues erzählt. Die Rechtswelt war immer noch relativ klein, und Klatsch hatte die Tendenz, sich – wie überall anders auch – in Windeseile zu verbreiten.

Als sie jetzt Caspar quer durch das Wohnzimmer ihres Großvaters einen Blick zuwarf, setzte ihr Herz für einen Moment aus. Was er wohl angesichts ihrer spontanen Entscheidung, die den gesamten Zeitplan für ihre eigenen Pläne durcheinanderbringen würde, empfinden mochte? Er würde doch bestimmt verstehen, warum sie sich verpflichtet gefühlt hatte, ihre Hilfe anzubieten, oder etwa nicht?

„Fein. Du hast es also für deinen Vater getan. Du bist eine vorbildliche Tochter, wirklich. Aber was ist mit uns, Livvy? Was ist mit mir? Du hättest mich wenigstens nach meiner Meinung fragen können, findest du nicht? Das wäre wirklich das Mindeste gewesen.“

Olivia zuckte zusammen, als Caspar aufhörte, in ihrem Schlafzimmer auf und ab zu rennen, und wütend herumfuhr, um sie anzuschauen. „Ich hatte es ja noch gar nicht zu Ende gedacht“, gestand sie kleinlaut. „Ich … ich dachte, du würdest es verstehen …“

„Oh, ich verstehe sehr gut“, gab Caspar ergrimmt zur Antwort. „Ich verstehe sehr gut, dass du einfach der Versuchung nicht widerstehen konntest, deinem Großvater endlich zeigen zu können, was in dir steckt, damit er dir applaudiert und dir sagt, wie sehr er dich schätzt … wie sehr er dich liebt. Aber das wird nicht geschehen, Livvy, weil dein Großvater um nichts in der Welt bereit sein wird zuzugeben, dass er sich vielleicht geirrt haben könnte, und dass eine Frau als Anwalt ebenso gut sein kann wie ein Mann. Das kann er nicht.“

Er holte kurz Luft und fuhr dann bitter fort: „Aber darüber kannst du noch lange genug nachdenken, wenn du erst am Schreibtisch deines Vaters sitzt und krampfhaft versuchst, nur ja keinen Fehler zu machen, ebenso, wie du über alles andere auch nachdenken kannst.

Mein Gott, ich liebe dich, aber meine Gefühle scheinen nicht mehr länger für dich zu zählen. Ebenso wenig wie unsere Pläne. Nun, zumindest habe ich es herausgefunden, bevor es zu spät ist. Ich beabsichtige nicht, mir ein Leben mit einer Frau aufzubauen, die immer sofort nach Hause rennt, wenn sie sich einbildet, dass ihre Familie sie braucht, die ihre Familie immer an die erste Stelle stellt und mich dafür im Stich lässt, und die genauso süchtig nach der Liebe und Anerkennung ihrer Familie ist wie ihre Mutter nach …“

„Das ist nicht wahr“, unterbrach Olivia ihn erzürnt. „Ich lasse dich gar nicht wegen meiner Familie im Stich, Caspar. Ich lasse dich überhaupt nicht im Stich. Und was unsere Pläne anbelangt, so möchte ich nur, dass wir sie um ein paar Wochen verschieben, bis mein Vater wieder so gesund ist, dass er arbeiten kann. Du weißt, was dein Problem ist, nicht wahr?“, provozierte sie ihn, nicht weniger wütend als er selbst, und weigerte sich, auf ihre innere Stimme zu hören, die sie warnte, die Dinge auf die Spitze zu treiben.

„Du verstehst es ganz ausgezeichnet, mir ein schlechtes Gewissen einzujagen, indem du einfach behauptest, ich würde noch an alten Kindheitsmustern kleben, und deutest mein Bedürfnis zu helfen einfach um in ein kindliches Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung und lauter solche Sachen, aber was ist mit dir? Was ist damit, dass du dich wie ein kleiner Junge aufführst, der es einfach nicht ertragen kann, einmal nicht an erster Stelle zu kommen? Es ist nicht meine Schuld, dass deine Eltern sich haben scheiden lassen, Caspar. Es ist nicht meine Schuld, dass dein Vater nach dir noch andere Kinder in die Welt gesetzt hat. Ach, das bringt uns nirgendwohin“, schloss sie einen Moment später, als sie den Blick in seinen Augen sah. Das Letzte, was sie wollte, war, sich mit ihm zu streiten, nicht jetzt, wo sie so dringend auf seine Unterstützung und sein Verständnis angewiesen war. Während sie sich das Haar aus dem Gesicht schob, schaute sie ihn bittend an, und ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie seinen versteinerten Gesichtsausdruck sah.

„Nein, das ist wirklich nicht deine Schuld“, räumte er kalt ein. „Aber wahrscheinlich gibt es keinen Grund mehr für uns beide, zusammen nach Amerika zu gehen. Du hast deine Wahl getroffen, Olivia … du hast dich entschieden, und zwar ohne das Bedürfnis verspürt zu haben, über das, was daraus folgt, mit mir zu sprechen. Ich denke, das sagt alles darüber aus, wie viel dir unsere Beziehung bedeutet, meinst du nicht?“

„Caspar, was hast du denn vor?“, fragte Olivia erschrocken, als sie sah, dass er zur Tür ging.

Mit der Hand an der Klinke drehte er sich noch einmal zu Olivia um und sagte: „Ich bin mir sicher, du kennst die Antwort bereits. Es ist zu spät, noch heute Abend nach London zurückzufahren, aber ich werde gleich morgen früh die erste Maschine nehmen. Immerhin gibt es für mich ja jetzt keinen Grund mehr, noch länger hierzubleiben, nicht wahr?“

„Caspar!“, protestierte Olivia, aber es war zu spät; er war bereits fort, und doch war sich Olivia trotz ihrer Verzweiflung eines überdeutlichen Gefühls von Groll bewusst, das zu unterdrücken sie nicht imstande war.

Ja, zugegeben, sie hatte sich unberechenbar verhalten, und ja, natürlich hätte sie vorher mit ihm über ihre Pläne reden sollen, ehe sie Jon ihre Hilfe angeboten hatte – aber wie hätte sie das tun können, wo sie sich doch ganz spontan entschieden hatte? Und das, was er ihr da über ihre angeblich wahren Motive an den Kopf geworfen hatte, ging wirklich entschieden zu weit … Und im Übrigen, sie hatte ja letzte Nacht mit ihm reden wollen, aber er hatte ihr schließlich nicht zugehört, oder?

Jetzt würde sie zumindest hier sein, wenn ihre Mutter sie brauchte, und das war etwas, von dem sie sich sicher war, dass Saul es besser verstand als Caspar.

Sie warf einen müden Blick aus ihrem Schlafzimmerfenster. Caspar stand unten im Garten. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und die Hände in den Hosentaschen vergraben, sein Haar war zerzaust vom Wind. Sie würde hinuntergehen und mit ihm reden müssen, sie würde versuchen müssen, ihm noch einmal alles in jeder Einzelheit auseinanderzulegen, damit er es verstand, damit er ihre Sichtweise teilen konnte … sie würde sich entschuldigen müssen, dass sie ihn nicht vorher um Rat gefragt hatte … ihm sagen, dass sie ihn liebte und dass sie beide, wenn sie der Verpflichtungen, die sie gegenüber ihrer Familie verspürte, erst wieder ledig wäre, alles genau so machen konnten, wie sie es geplant hatten.

Er würde einsehen müssen, dass sie ihr Angebot jetzt nicht einfach wieder zurückziehen konnte. Nicht jetzt … Angenommen, sie täte es, würde dies ihren Großvater in seiner Ansicht über das schwache Geschlecht, wie er sich gern auszudrücken pflegte, nur bestärken. Aber würde Caspar es auch wirklich verstehen? Vielleicht hatte Saul ja heute Nachmittag doch recht gehabt, als er behauptet hatte, dass Amerikaner schlicht einen anderen Blick auf die Welt hätten … dass sie einfach ihre Prioritäten anders setzten.

„Nun, mit Livvys Angebot hast du jetzt zumindest eine Sorge weniger“, sagte Jenny nach ihrer Rückkehr von Queensmead zu Jon.

„Ja“, stimmte er gepresst zu. Sie waren in der Küche. Jenny bereitete das Abendessen zu.

Sie warf ihm einen forschenden Blick zu.

„Du klingst nicht sehr erfreut“, drang sie in ihn, nachdem er keine Anstalten machte, sich zu dem Thema weiter zu äußern. „Du kannst die Kanzlei nicht ganz allein führen“, sagte sie. „Du brauchst …“

„Ja, das ist mir klar, Jenny“, unterbrach Jon sie in ungewohnt scharfem Ton. „Aber es würde mir mein Leben ungeheuer erleichtern, wenn gewisse Familienmitglieder endlich damit aufhörten zu entscheiden, was für mich gut ist und was nicht, und mich meine Entscheidungen allein treffen ließen.“

Jenny starrte ihn an. Sie wusste natürlich, dass er mit „gewissen Familienmitgliedern“ sie meinte, aber seine Kritik war so ungerecht, dass sie ihren Ohren kaum trauen wollte.

„Also wirklich, Jon“, protestierte sie fassungslos.

„Ich muss jetzt zu Tiggy“, sagte er kurz angebunden. „Sie ist völlig durch den Wind, weil sie irgendein Problem mit der Bank hat, und ich habe ihr versprochen, noch kurz bei ihr reinzuschauen.“

„Olivia ist doch zu Hause“, erinnerte ihn Jenny, wobei sie sich alle Mühe gab, ihre Stimme neutral zu halten. „Ich bin mir sicher, dass sie das Problem in die Hand nimmt, wenn Tiggy ihr sagt, worum es sich handelt.“

„Ja, das würde sie wohl“, stimmte Jon zu, „aber vielleicht fällt es Tiggy ja leichter, meine Hilfe anzunehmen als Olivias. Sie hat ohnehin ständig das Gefühl, dass Olivia sie missbilligt … dass sie sie für verantwortungslos hält. Die beiden sind eben sehr verschieden. Das hast du selbst schon oft gesagt.“

„Natürlich sind sie sehr verschieden. Aber ich bin mir sicher, dass du dich irrst, wenn du glaubst, dass Olivia ihre Mutter missbilligt.“

„Ich glaube gar nichts. Ich habe lediglich wiederholt, was Tiggy mir berichtet hat … im Vertrauen“, unterstrich er. „Du solltest versuchen, ein bisschen mehr Mitgefühl und Verständnis für sie aufzubringen, Jen. Ich weiß, dass ihr beide, du und Tiggy, euch nie wirklich nahegestanden habt und dass sie gelegentlich zur Exaltiertheit neigt, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nichts empfindet …“

Er machte eine Pause, während der er unbehaglich und verunsichert dreinschaute, fast so, als ob er befürchtete, sich zu weit vorgewagt zu haben. Seit wann fühlte er sich eigentlich verpflichtet, Tiggy vor ihr in Schutz nehmen zu müssen? Und wie konnte er überhaupt auf die Idee kommen, dass das nötig war?

„Olivia stand dir schon immer viel näher als ihrer Mutter“, führte er weiter aus, aber er konnte ihr nicht mehr in die Augen schauen, wie Jenny registrierte, und die Art, wie er mit dem Besteck herumspielte, das sie bereits auf den Tisch gelegt hatte, verriet viel von seiner inneren Anspannung.

„Das ist richtig“, stimmte sie zu, „aber das heißt doch noch lange nicht … Tiggy reagiert manchmal etwas über“, setzte sie ihm vorsichtig auseinander. „Sie braucht …“

„Sie braucht Hilfe“, fiel Jon ihr ins Wort. „Richtig. Und das ist nichts, wofür sie sich schämen müsste.“

„Nein, das ist es nicht“, stimmte Jenny zu. Ihre Hände zitterten leicht, wie sie geistesabwesend registrierte, als sie nach dem Servierteller griff. Warum? Doch bestimmt nicht deshalb, weil Jon Tiggy in Schutz nahm. Verunsichert dachte sie noch einmal darüber nach, was er eben gesagt hatte. Alles, worauf sie hinauswollte, war, dass man Tiggy ihrer Meinung nach sehr behutsam behandeln musste, aber sie sah, dass Jon nicht in der Stimmung war, ihr zuzuhören.

Früher hätten sie sich hingesetzt und freundschaftlich über die ganze Sache geredet, in letzter Zeit verhielt er sich jedoch wie eine Mimose und regte sich beim kleinsten Anlass auf. Erst gestern Abend hatte er mit Joss die Geduld verloren, nur weil ihr Sohn ganz unabsichtlich ein paar Papiere, an denen er saß, durcheinandergebracht hatte.

Jon hatte sich später bei Joss entschuldigt, aber normalerweise wäre eine solche Entschuldigung überflüssig gewesen, weil ihm bei einer solchen Kleinigkeit niemals die Nerven durchgegangen wären.

Natürlich wusste Jenny um die Probleme, mit denen er sich derzeit herumschlagen musste. Schließlich war David sein Zwillingsbruder, doch das Wissen um die zweifache Bürde, die auf seinen Schultern lastete – einerseits die Angst um die Gesundheit des Bruders, andererseits die Doppelbelastung in der Kanzlei – ließ es ihr nur noch vernünftiger erscheinen, Olivias Angebot zu begrüßen, als so zu tun, als habe sie damit seinen Problemen noch ein weiteres hinzugefügt.

„Es hätte noch weitaus schlimmer kommen können“, unternahm sie jetzt in mildem Ton den Versuch, die Situation zu entspannen. „Stell dir vor, Max hätte angeboten, für David einzuspringen.“

„Max!“ Auf den Ausdruck von abgrundtiefer Missbilligung, der plötzlich in seinen Augen aufschien, war Jenny nicht vorbereitet. „Niemals! Max ist viel zu egoistisch, um auch nur einen einzigen Gedanken an die Bedürfnisse eines anderen …“

„Jon, er ist dein Sohn“, fühlte Jenny sich verpflichtet, ihn zu erinnern, aufgeschreckt durch die Tatsache, dass ihr normalerweise so ruhiger und besonnener Mann seinen Ressentiments derart freien Lauf ließ.

Sie selbst war über das Verhalten ihres Sohnes nicht glücklicher als Jon, aber wie jede Mutter war sie doch immer wieder arg in Versuchung, ihn gegen alle Angriffe in Schutz zu nehmen. Sie wünschte sich, dass Jon sehen könnte, dass die schlechten Charaktereigenschaften, die er seinem ältesten Sohn zuschrieb, dieselben Fehler waren, die sein Zwillingsbruder hatte.

„Max mag vielleicht mein Sohn sein“, gab Jon jetzt zurück, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Abscheu zu verhehlen, „aber wir wissen beide, dass er viel eher David zum Vater haben sollte – schon als Kind hat es ihm einen Heidenspaß gemacht, wenn die Leute ihn für Davids Sohn hielten, und vielleicht …“ Er hielt inne und schüttelte den Kopf, dann stand er abrupt auf, ohne Jenny die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, und ging mit langen Schritten zur Tür, wo er noch einen Augenblick stehen blieb, sich umwandte und sagte: „Mit mir brauchst du zum Abendessen nicht zu rechnen, ich esse mit Tiggy.“

8. KAPITEL

Nachdem er aus dem Auto gestiegen war, blieb Jon einen Augenblick verunsichert stehen. In Davids und Tiggys Schlafzimmer im oberen Stockwerk brannte Licht.

Olivias Wagen stand vor dem Haus, und Jon war es etwas bang ums Herz, als sie ihm auf sein Klopfen hin öffnete.

„Tiggy ist oben“, erklärte sie, während sie ihn in den kleinen Salon führte, den er in Gedanken stets mit Davids Frau in Verbindung brachte.

Der Raum hatte die gleiche feminine Ausstrahlung wie sie selbst, und immer schien der Duft ihres Parfüms über allem zu schweben. David hatte sein eigenes Arbeitszimmer auf der anderen Seite der Halle, das ihn …

„Ich würde gern ein paar Worte mit dir reden, bevor ich Tiggy Bescheid sage, dass du hier bist“, erklärte Olivia, während sie ihm das Glas mit trockenem Sherry reichte, das sie ihm eingeschenkt hatte.

Jons Herz klopfte noch ein bisschen schneller. Er brauchte sie nicht erst zu fragen, worüber sie mit ihm reden wollte.

„Ich weiß, dass es nichts gibt, wodurch man Gramps und mit ihm David überzeugen könnte, dass eine Frau – und ganz besonders eine Crighton – ein ebenso fähiger Anwalt sein kann wie ein Mann, aber ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass du anders denkst, Onkel Jon. Ich bin qualifiziert, weißt du, und … Deinem Gesichtsausdruck von gestern musste ich allerdings leider entnehmen …“

„Olivia, ich weiß, wie qualifiziert du bist“, unterbrach Jon sie schroff, „und was deine Kompetenz anbelangt …“ Er hob belustigt einen Mundwinkel. „Wir wissen beide, dass du sehr kompetent bist, aber …“

„Aber du willst dennoch nicht, dass ich in der Kanzlei arbeite.“

„Es geht überhaupt nicht darum, was ich will oder nicht will“, versuchte Jon auszuweichen. „Du weißt ganz genau …“

„Was? Dass es Gramps nicht passt? Du kannst die Kanzlei nicht allein weiterführen. Und aus dem, was mir Dr. Hayes erzählt hat, geht eindeutig hervor, dass Dads Herzinfarkt zumindest zum Teil durch den Arbeitsstress hervorgerufen wurde. Du hast einfach nicht die Zeit, langwierige Einstellungsgespräche zu führen …“

„Für solche Fälle gibt es Agenturen“, begann Jon, aber Olivia unterbrach ihn, indem sie nachdrücklich den Kopf schüttelte.

„Ja, das weiß ich auch, aber …“ Sie hörte mitten im Satz auf und ging ungeduldig zum Kamin hinüber, wo sie sich umdrehte und kampfeslustig fortfuhr: „Wenn ich ein Mann wäre … wenn ich Max wäre zum Beispiel, würdest du keine Sekunde zögern und mein Angebot auf der Stelle …“

„Hör zu, Olivia, ich versichere dir, dass jedes Zögern, das du wahrzunehmen glaubst, ganz bestimmt nichts mit deinem Geschlecht zu tun hat, glaub mir.“

„Wirklich nicht? Dann beweis es mir“, verlangte Olivia.

Jon schloss müde die Augen; es hatte keinen Zweck, sich ihrem Ansinnen noch länger zu widersetzen. Natürlich wusste er auch, dass er die ganze Arbeit, die in der Kanzlei auf ihn wartete, nicht allein bewältigen konnte. Er war bisher noch nicht dazu gekommen, sich durch Davids Unterlagen hindurchzuarbeiten, aber wenn David wirklich mit seiner Arbeit so weit im Rückstand war, wie er befürchtete … Wie sollte er Olivia erklären, dass er nur deshalb zögerte, ihr Angebot anzunehmen, weil … Wenn er bloß ein bisschen mehr Zeit hätte! Wenn ihn wenigstens vorher jemand gewarnt hätte …

„Es ist nicht so, dass ich dein Angebot nicht zu schätzen wüsste, Olivia“, sagte er ruhig.

„Gut“, gab sie fest zurück. „Dann sind wir uns ja einig. Ich fange morgen früh an.“

„Worüber seid ihr euch einig?“, wollte Tiggy wissen, als sie ins Zimmer schwebte. Sie trug ein Negligé, wie Jon registrierte, eine fließende, durchscheinende Angelegenheit in sanften Pastelltönen, die ihre zartblasse Haut aufschimmern ließ wie kostbares Porzellan.

Sie war nie robust gewesen, aber seit Davids Herzinfarkt erschien sie ihm verletzlicher und zerbrechlicher denn je.

„Wir sind uns darüber einig, dass ich Dads Platz einnehme, bis es ihm gut genug geht, dass er wieder arbeiten kann“, antwortete Olivia ihrer Mutter. Sie runzelte leicht die Stirn, während sie fortfuhr: „Ich dachte, du hättest gesagt, du wolltest nach oben gehen und dich anziehen.“

„Ja, stimmt … ich war auch oben“, räumte sie etwas kleinlaut ein, und Jon sah, dass sie den Kopf schuldbewusst hängen ließ, fast so, als wäre sie das Kind und Olivia die Mutter. „Aber dann …“ Sie wandte sich jetzt zu Jon um und schaute ihn mit großen Augen an, während sie mit leicht heiserer Stimme weitersprach: „Ich musste plötzlich an David denken und …“ Ihre Lippen begannen zu beben, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Du bist mir doch nicht böse, dass ich mich nicht richtig angezogen habe, nicht wahr, Jon? Immerhin gehörst du doch zur Familie. Ich bin ja so froh, dass du hier bist“, fügte sie hinzu, ohne eine Erwiderung abzuwarten. „Die Bank ruft dauernd an und …“

„Ich hätte schon mit der Bank gesprochen, Tiggy“, unterbrach Olivia sie. Ihre Mutter warf ihr einen tränenumflorten Blick zu.

„Ich weiß, dass du es gemacht hättest, aber es ist besser, wenn Jon mit ihnen spricht. Er ist ein Mann und …“

Sie biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe, als Olivia ihr leeres Sherryglas mit einem Knall auf dem Silbertablett abstellte.

„Oh, Saul hat angerufen“, erinnerte sich Tiggy plötzlich. „Er bittet, dass du ihn zurückrufst.“ Sie wartete, bis Olivia den Raum verlassen hatte, bevor sie sich zu Jon umwandte und entschuldigend sagte: „Vielleicht sollte ich dir nicht alle meine Probleme aufhalsen, aber ich kenne David …“

„Sschch … es ist schon in Ordnung“, beeilte Jon sich, ihr zu versichern. „Du halst mir überhaupt nichts auf. Ich will doch helfen.“

„Oh, Jon.“ Der tränenverschleierte Blick, den sie ihm schenkte, war voller Dankbarkeit und Vertrauen. „Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde. Ich bin nicht wie Jenny oder wie Olivia. Ganz gleich, was passiert, sie scheinen immer alles im Griff zu haben, aber ich bin einfach nicht wie sie.“

Nein, das war sie wirklich nicht. Jon versuchte, sich daran zu erinnern, wann Jenny ihn das letzte Mal gebraucht hatte, aber es wollte ihm partout nicht einfallen. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Die ganze Fahrt über hatte er sich nicht gestattet, an die Auseinandersetzung, die sie gehabt hatten, zu denken.

„Bin ich dir lästig, Jon? Ich bin mir sicher, dass Jenny …“

„Nein, natürlich bist du das nicht.“

Später konnte er nicht mehr sagen, wie es dazu gekommen war. In dem einen Moment streckte er noch rein instinktiv und ein bisschen schüchtern die Hand aus, um ihr tröstlich den Unterarm zu tätscheln, und im nächsten schon lag Tiggy in seinen Armen, leicht und zerbrechlich wie ein kleiner Vogel. Verhängnisvoll weiblich klammerte sie sich an ihn und schluchzte ihre Angst laut heraus.

Als er ihre festen Brüste spürte, wurde ihm bewusst, dass sie unter dem hauchdünnen Chiffon nackt war, aber dieses Wissen kam viel zu spät und wirkte sich ausgesprochen verheerend auf seinen Körper aus. Ihre warmen, weichen Brüste lagen eng an seinen Oberkörper gepresst, ihr Duft stieg ihm in die Nase. Er verspürte den überwältigenden Drang, sie zu …

Erst als Tiggy nervös flüsterte: „Wir sollten vielleicht doch nicht … womöglich kommt Olivia zurück“, kam er wieder zu Verstand und kehrte in die Realität zurück. Er spürte, wie ihm eine heiße Verlegenheitsröte in die Wangen stieg, ehe er rasch einen Schritt zurücktrat, unfähig, sie anzuschauen, während er eine Entschuldigung stotterte.

„Nein, es war nicht deine Schuld“, unterbrach Tiggy ihn mit bebender Stimme, und dann brach es aus ihr heraus: „Oh, Jon, du weißt ja gar nicht, wie lange ich mich schon nach jemandem wie dir sehne. David ist nicht … unsere Ehe …“ Sie unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Ich sollte das nicht sagen. Du bist sein Bruder … sein Zwillingsbruder.“ Sie schenkte ihm ein trauriges Lächeln. „Aber mit wem sonst könnte ich reden … wem sonst könnte ich mich anvertrauen?“ Sie legte sich die flache Hand an die Stirn.

„Mein Kopf schmerzt so, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Es gibt so viel, was ich tun sollte … Dinge, von denen ich ganz genau weiß, dass Jenny sie tun könnte, aber ich kann einfach nicht …“

Es schmerzte ihn, dass sie ständig den Drang zu verspüren schien, sich zu ihrem Nachteil mit Jenny zu vergleichen. Wie gut konnte er dieses Gefühl von Neid und die Scham darüber, so zu empfinden, nachvollziehen. Neid, Scham, Schuldgefühle, Selbstverachtung, es war ein Teufelskreis, der immer wieder von vorn begann. Er hatte diese ganze Gefühlspalette wieder und wieder durchlebt, in all ihren Schattierungen, sein ganzes Leben lang.

„Hör zu … ich muss jetzt gehen, aber mach dir keine Sorgen. Ich rede gleich morgen früh mit der Bank“, erklärte Jon.

Es gab noch etwas anderes, das er sie fragen wollte … etwas, über das er sich Klarheit verschaffen musste. Er machte eine Pause und holte tief Atem.

„Tiggy, ich habe mir überlegt … die Schlüssel zu Davids Schreibtisch hier, hast du sie vielleicht?“

„Sie sind oben“, erwiderte sie sogleich bereitwillig. „Möchtest du sie? Ich gehe rasch nach oben und hole sie dir.“

Sie war so vertrauensvoll, so arglos; sein Verrat hinterließ auf seiner Zunge einen metallischen Geschmack.

„Wenn … wenn es dir nichts ausmacht … es gibt da ein paar Papiere, einige Unterlagen, die ich …“

Er schloss die Augen, während er ihren Schritten nachlauschte, als sie zur Tür hinausging; auf seiner Stirn bildeten sich feine Schweißperlen, sein Herz hämmerte wie ein Pressluftbohrer. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sich sein Verdacht nicht bestätigen möge, der seit Tagen wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf schwebte.

Tiggy kehrte zurück und reichte ihm den Schlüssel. Vor Erleichterung hielt Jon den Atem an, als das Telefon wieder zu läuten begonnen hatte und sie sich abwandte, um abzunehmen.

Sich wie ein Einbrecher fühlend, eilte er in Davids Arbeitszimmer. Beim Öffnen der Schubladen quoll ihm unbeantwortete Post entgegen, ein Riesendurcheinander, dem er jedoch keine Aufmerksamkeit schenkte, weil er den Aktenordner, nach dem er suchte, unter einem dicken, unordentlich zusammengehefteten Bündel von Kontoauszügen bereits erspäht hatte. Sein Herz, das ohnehin schon viel zu schnell klopfte, begann zu rasen.

Er hatte den Aktenordner kaum herausgezogen, als sich die Tür des Arbeitszimmers öffnete. Olivias erstaunter Ausruf ließ ihn erstarren. „Tiggy … oh, Onkel Jon, du bist es.“

„Ja. Ich wollte nur ein paar Papiere holen … deine Mutter …“

Olivia runzelte verwundert die Stirn, als sie seinen ungeschickten Versuch bemerkte, einen Schnellhefter, den er dem Schreibtisch ihres Vaters entnommen hatte, ihren Blicken zu entziehen, indem er eilig einige andere Papiere, die er ebenfalls herausgeholt hatte, darüberlegte.

„Ich … äh … ich habe deiner Mutter versprochen, dass ich morgen bei der Bank anrufe.“

„Solltest du dann nicht besser Dads Kontoauszüge mitnehmen?“, schlug Olivia ruhig vor.

„Was? Ach ja …“ Er griff fast widerwillig nach den Kontoauszügen, wie Olivia registrierte.

Ihr Instinkt warnte sie, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Jon sah blass aus, fast krank, aber im Moment verhielt sich schließlich niemand von ihnen normal. Da brauchte man nur an Saul zu denken, beispielsweise. Nachdem sie ihn in Queensmead zurückgerufen hatte, stellte sich heraus, dass er ihren Rat wollte.

„Hillary und ich haben beschlossen, dass wir uns trennen“, hatte er ihr fest erklärt. „Sie will wieder in die Staaten zurück. Bis jetzt haben wir noch nicht über Scheidung gesprochen, aber ich bin mir sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis dieses Thema zur Sprache kommt. Ich brauche einen guten Scheidungsanwalt, Livvy. Ich möchte das alleinige Sorgerecht für die Kinder. Ich werde es nicht zulassen, dass sie wie Pakete ständig zwischen uns hin- und hergeschickt werden, und ich habe auch nicht die Absicht, ein nicht vorhandener Vater zu sein. Du kennst dich mit solchen Sachen besser aus als ich. Gibt es jemanden, den du mir empfehlen kannst?“

„Du irrst, wenn du glaubst, dass ich mich in Scheidungssachen auskenne. Ich arbeite ebenso wie du in der Industrie“, erinnerte Olivia ihn. „Hat Max nicht eine Idee?“

„Max!“ Saul ließ ein verächtliches Schnauben hören. „Die einzige Idee, die Max hat, ist, wie er Ben das nächste Geld aus der Tasche ziehen kann. Komm rüber, wenn du kannst, Livvy. Bitte. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann … oder habt ihr, du und Caspar …“

„Caspar ist nicht da“, unterbrach Olivia ihn kurz angebunden.

„Dann kannst du also jetzt rüberkommen?“

„Ja“, hatte sie nach kurzer Überlegung zugestimmt, „ich kann.“

Sie war ins Arbeitszimmer ihres Vaters gekommen, weil sie geglaubt hatte, ihre Mutter hier zu finden, um ihr zu sagen, dass sie noch einmal weggehen wolle. Sie hatte nicht erwartet, Jon hier vorzufinden, noch weniger hatte sie den schuldbewussten Ausdruck erwartet, den sie jetzt auf seinem Gesicht entdeckte.

Tiggy erschien an der Tür. „Hast du gefunden, wonach du suchtest?“, fragte sie Jon.

„Ja“, erwiderte er und fügte dann hinzu: „Hör zu, Tiggy, ich muss jetzt gehen.“

„Ja, ich weiß“, gab sie matt zurück. „Jenny wird mir schon schrecklich böse sein, weil ich dich so lange hierbehalte, aber du kommst doch morgen wieder mit ins Krankenhaus zu David, oder?“

„Ja, natürlich komme ich mit“, versicherte Jon ihr sanft.

„Ich fahre jetzt nach Queensmead zu Saul“, informierte Olivia ihre Mutter, dann wandte sie sich zu Jon um und erkundigte sich leise: „Um wie viel Uhr soll ich denn morgen früh in der Kanzlei sein?“

Ein Schatten huschte über sein Gesicht, bevor er ihr widerstrebend antwortete: „Ich komme normalerweise gegen halb neun.“

„Also gut, dann halb neun“, stimmte Olivia zu.

„Bist du dir wirklich sicher, dass du im Moment das Richtige tust?“, fragte Olivia Saul mit besorgtem Gesicht. Er hatte sie bereits draußen erwartet und den Kopf geschüttelt, als sie aufs Haus zugehen wollte.

„Macht es dir etwas aus, wenn wir uns draußen unterhalten? Es fällt mir irgendwie leichter. Wir könnten einen Spaziergang zum Fluss runter machen. Erinnerst du dich noch, wie gern du als Kind dort gewesen bist?“

„Ich erinnere mich nur noch, wie genervt du warst, wenn ich dich beim Angeln störte.“ Olivia lachte. „Weißt du noch, wie ich ins Wasser gefallen bin?“

„Wie sollte ich das jemals vergessen? Du hast mir einen heillosen Schrecken eingejagt, und ich bin mir sicher, dass deine Mutter dachte, ich hätte dich reingeworfen.“

„Ich wette, du hast oft mit diesem Gedanken gespielt“, scherzte Olivia.

„Die Versuchung war mit Sicherheit da“, stimmte er trocken zu, „und ich rede nicht nur von der Versuchung, dich zu tauchen …“

„Oh?“ Olivia schaute ihn fragend an.

„Nein“, gab er leise zurück. „Das hatte ich zumindest nicht im Kopf, als ich dich in jener Nacht beim Nacktbaden erwischte.“

Diesmal klang Olivias „Oh“ tief und vibrierend, als sie sich erinnerte, wie schrecklich peinlich ihr das damals gewesen war. „Es war in der Johannisnacht, und ich …“

„Du standest von Mondlicht übergossen splitternackt auf einem Felsen mitten im Wasser“, unterbrach Saul sie heiser, „und sahst aus wie …“

„Ein Vollidiot“, steuerte Olivia verlegen bei. „Nein, halt … wie ein splitternackter Vollidiot“, schloss sie.

„Du sahst aus wie eine Mondjungfrau, die ein Opfer darbringt, unschuldig wie ein Kind und wissend wie Eva nach dem Sündenfall zugleich. Ich wollte die Hand nach dir ausstrecken und dich berühren. Du warst im Wasser gewesen, und ich konnte die glitzernden Tropfen sehen, die dir über die Haut rannen, über deine Brüste, deinen Bauch, deine … Das Mondlicht verwandelte deinen Körper in Mondstein, weiß und fast durchscheinend. Ich wünschte mir, meinen Kopf zwischen deine Schenkel zu betten und dir die Wassertropfen von deiner Haut zu lecken.“

„Dann fiel ich vor Schreck kopfüber ins Wasser“, schaffte sie es schließlich zu sagen, während sie sich alle Mühe gab, die Hitzewelle zu ignorieren, von der sie sich unversehens überschwemmt fühlte. Saul gegenüber einzugestehen, dass er für sie den Zauber der Nacht vollkommen gemacht hätte, wenn er nur eins von den Dingen, die er eben beschrieben hatte, getan hätte, wäre gewiss nicht ratsam und würde nur bedeuten, Öl ins Feuer zu gießen, das dann möglicherweise hell und gefährlich auflodern würde und außer Kontrolle geraten könnte.

War sie damals nicht an den Fluss gegangen, um einer alten einheimischen Tradition zu folgen, die besagte, dass ein Mädchen in der Johannisnacht den Mond anblicken sollte, wenn es von dem Mann seines Herzens erhört werden wollte? Und damals war Saul … nun, er war gewiss ihr größter Schwarm gewesen.

Doch im Augenblick war Saul sehr verletzlich. Sie musste sich zurückhalten. Seine Ehe war kaputt, und er hatte sich mit der Bitte um Rat und Unterstützung an sie gewandt, als Familienmitglied … als ein Cousin ihres Vaters, wie sie sich jetzt streng wieder in Erinnerung rief.

„Und es gibt wirklich keinen Weg, wie ihr beide eurer Ehe noch mal eine zweite Chance geben könntet?“, wechselte sie abrupt das Gesprächsthema, während sie den Pfad hinunterspazierten, der durch Queensmeads Gärten und die Wiese, die an den Fluss grenzte, führte.

„Eine zweite Chance?“, spottete Saul bitter. „Unsere Ehe hatte mehr zweite Chancen als ich warme Abendessen. Nein, Meg war das Endergebnis unseres letzten Versuchs einer zweiten Chance“, gestand er freimütig ein, „und ich wünschte bei Gott, sie wäre es nicht gewesen. Ein Kind sollte nicht dazu benutzt werden, eine Ehe zu kitten.“

„Oh, Saul“, protestierte Olivia und berührte ihn instinktiv tröstlich am Arm.

Die Jahre, die sie trennten, erschienen ihr plötzlich nicht mehr als die riesige Kluft wie damals mit fünfzehn, als sie durch alle Höhen und Tiefen ihrer Schwärmerei für ihn gegangen war. Und ebenso wenig sah sie in Saul heute die gottähnliche Kreatur, die sie sich damals in ihrer schwärmerischen Fantasie zusammengezimmert hatte. Heute zog sie es vor, in ihm den fehlbaren Menschen zu sehen, der er in Wirklichkeit war, wie sie sich mit leisem Bedauern eingestand, doch auch wenn die anbetungsvolle Verehrung, die sie einst für ihn empfunden hatte, dahin sein mochte, so war doch die erotische Anziehungskraft gewiss noch immer vorhanden.

Rasch ließ sie seinen Arm los, was ihn veranlasste, stehen zu bleiben und ihr im Halbdunkel forschend in die Augen zu schauen, bevor er sehr entschlossen nach ihrer Hand griff und sanft ihren Arm durch seine Armbeuge zog.

„Caspar kann nichts dagegen haben“, sagte er, „wenn es das ist, worum du dir Sorgen machst. Wir sind Cousins.“

„Das ist es nicht, und im Übrigen sind wir keine … Cousins“, stellte sie klar. „Also gut, keine Cousins ersten Grades jedenfalls, vielleicht zweiten … Himmel, ich fange schon an, genau wie Gramps daherzureden. Er ist es doch, der immer so darauf herumreitet, dass er und dein Vater nur Halbbrüder sind.“ Sie stockte.

„Was willst du jetzt tun?“, wollte Olivia, erneut das Gesprächsthema wechselnd, wissen. „Was wird aus den Kindern, falls Hillary zurück nach Amerika geht?“

Glaub mir, es gibt kein ‚falls‘. Sie hat sich heute Nachmittag bereits einen Flug gebucht. Ich muss natürlich wieder arbeiten. Mum hat mir angeboten, dass sie sich um die Kinder kümmert, aber das kann natürlich nur eine vorübergehende Lösung sein und würde bedeuten, dass man die Kinder aus ihrer angestammten Umgebung herausreißen müsste, was ich nur höchst ungern täte. Ich vermute, das Beste wird sein, dass ich mir so schnell wie möglich eine Kinderfrau suche.“

„Wo ist Hillary jetzt?“, erkundigte sich Olivia. Sie hatten den Fluss fast erreicht, sie konnte bereits das dunkle Glitzern des Wassers unter den Schatten der Wolkenfetzen, die sich immer wieder vor den Mond schoben, sehen.

„Sie hat eine Einladung zum Abendessen, kannst du dir das vorstellen? Keine Ahnung, mit wem.“ Er lachte bitter. „Wenn es um Überraschungen geht, ist auf Hillary immer Verlass. Du weißt, dass wir jetzt gleich an die Stelle kommen, wo ich dich damals in jener Nacht gesehen habe?“, kam er wieder auf ihr vorhergehendes Gesprächsthema zurück.

„Ich kann mich gar nicht mehr richtig erinnern“, gab Olivia vage zurück und fügte dann, sich vom Fluss abwendend, etwas eilig hinzu: „Ich glaube, wir sollten jetzt besser zurückgehen, ich …“

„Livvy …“

Sie wandte sich zu ihm um, und er machte einen Schritt auf sie zu, hob die Hände, legte sie zärtlich an ihre Wangen und begann, sie mit seinen schlanken Fingern langsam und sehr einfühlsam zu liebkosen.

„Saul!“ Sie zog seine Hände von ihrem Gesicht, aber es war zu spät, um seinem Mund auszuweichen.

Ohne der Versuchung zu erliegen, den Kuss zu erwidern, beendete sie ihn, so schnell sie konnte, dann trat sie rasch einen Schritt zurück und ging den Pfad, den sie gekommen waren, entschlossen wieder zurück, ohne auf Saul zu warten.

„Livvy, es tut mir leid“, entschuldigte er sich, nachdem er sie eingeholt hatte. „Ich hätte das nicht tun dürfen.“

„Stimmt, das hättest du nicht“, gab sie leichthin zurück.

„Sind wir noch Freunde?“

Freunde ganz bestimmt.“

Saul griff lachend nach ihrer Hand, ließ sie jedoch gleich wieder los, als er spürte, dass sie versuchte, sie ihm zu entziehen.

„Schon gut, schon gut, ich hab’s ja kapiert“, versicherte er ihr und fügte mit unüberhörbarem Bedauern hinzu: „Caspar ist ein glücklicher Mann, obwohl ich den Eindruck hatte, dass er nicht allzu erfreut war, als du Jon deine Hilfe angeboten hast.“

„Hat er dir das gesagt?“, erkundigte sich Olivia in leicht scharfem Ton.

„Nicht direkt.“

„Er wird es überleben. Es ist ja nicht für lange, nur für ein paar Wochen, bis Dad wieder auf den Beinen ist.“ Nicht einmal Saul gegenüber wagte sie zu erwähnen, dass sie sich nicht nur ihres Vaters wegen zum Bleiben verpflichtet fühlte. Ihre Mutter spielte bei ihrem Entschluss eine nicht minder große Rolle.

„Du wolltest mich sehen, Großvater?“ Max blieb auf der Schwelle zu Bens Arbeitszimmer stehen.

Er hatte gerade nach Chester fahren wollen, um dem dort lebenden Zweig der Familie die neuesten Nachrichten über Davids Gesundheitszustand zu überbringen, wie er behauptete, in Wahrheit jedoch plante er, sich einen netten Abend zu machen, nachdem er diese lästige Pflicht hinter sich gebracht hatte. Er kannte einen Club, in dem die Regeln der Mitgliedschaft sehr lax gehandhabt wurden, was bedeutete, dass sie einen auch ohne Mitgliedsausweis reinließen, und die Mädchen dort …

Was zum Teufel wollte der alte Herr von ihm? Hatte womöglich Olivias amerikanischer Lover irgendeine idiotische Bemerkung hinsichtlich der freien Stelle in der Kanzlei fallen lassen? Max spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Sobald er wieder in London war, musste er unbedingt herausfinden, wer diese Mitbewerberin war, und alles tun, um ihre Chancen zu schmälern, damit er bekam, was ihm zustand. Allerdings musste er sich noch ein wenig gedulden, bis sich Davids Gesundheitszustand deutlich gebessert hatte, vorher wagte er nicht abzufahren. Er wusste genau, was Ben dazu sagen würde, falls er es tat.

Er hatte den alten Mann noch nie so aus dem Gleichgewicht gesehen wie derzeit. Im Geiste probte Max bereits seine Verteidigung. Falls sein Großvater auf die Soziusstelle zu sprechen käme, würde dieser mit Sicherheit seinen Standpunkt teilen, dass es ausgesprochen unfair wäre, wenn man ihm einen anderen Mitbewerber vorziehen würde – und noch dazu eine Frau! Bens Meinung über Frauen, die die Juristenlaufbahn einschlugen, war schließlich kein Geheimnis. Es hatte Max früher immer einen Heidenspaß gemacht, Olivia dabei zu beobachten, wie sie um Bens Gunst buhlte. Erfolglos, natürlich. Es war offensichtlich, dass Ben sie nicht in der Kanzlei haben wollte.

Glücklicherweise hatte er sich für eine Karriere als Strafverteidiger vor Gericht und nicht als einfacher Rechtsanwalt entschieden, sodass die Familienkanzlei sowieso kein Thema für ihn war. Der Gedanke, so wie David, gefangen in Haslewich, zu enden, brachte ihm den kalten Schweiß auf die Stirn.

Ben hatte einige Papiere vor sich auf dem Schreibtisch liegen, und Max’ Herz begann zu hämmern, als er ihn zu sich heranwinkte und er sah, worum es sich handelte.

„Ich sitze gerade über meinem Testament“, begann Ben bedeutungsschwanger. „Das ist in meinem Alter eine notwendige Vorsichtsmaßnahme, obwohl …“

Er legte eine Pause ein und schaute zum Kamin, während Max sich alle Mühe gab, seine Ungeduld im Zaum zu halten. Was zum Teufel wollte der Alte? Hatte Caspar die Katze aus dem Sack gelassen?

„So, wie die Dinge im Moment stehen, wird David als mein ältester Sohn sowohl Queensmead erben als auch den größten Teil meines persönlichen Besitzes“, begann Ben feierlich. „Daneben gibt es natürlich noch ein paar andere Regelungen – wie deine monatliche finanzielle Unterstützung beispielsweise. Zumindest bis …“

Max knirschte mit den Zähnen. Er wusste dies alles längst, jeder wusste es; worum ging es also wirklich, und warum rückte der alte Knabe nicht endlich damit raus? Wurde er langsam senil oder was?

„Nun, wie auch immer, die schwere Krankheit deines Onkels verändert alles.“

Er unterbrach sich, und Max beobachtete ungerührt, wie Ben das Zittern seiner Hände zu verbergen suchte, als er sein Testament aufnahm. Der Alte wurde immer tatteriger. Wie alt war er genau?

Max begann sich zu entspannen, nun, da klar war, dass Ben ihn nicht hatte kommen lassen, weil ihm irgendwelche möglichen Probleme im Zusammenhang mit seinem Einstieg in die Kanzlei zu Ohren gekommen waren.

„Ich kann nicht daran vorbeisehen, dass David womöglich vor mir sterben könnte. Wenn alles seinen normalen Gang geht, würde Queensmead in diesem Fall Jack zufallen, aber der Junge ist erst zehn und seine Mutter … nun, meiner Meinung nach soll man Frauen keinen Besitz in die Finger geben. Da braucht nur irgendein Süßholzraspler daherzukommen, und Queensmead wäre für die Familie auf ewig verloren. Dieses Risiko möchte ich unter keinen Umständen eingehen.“

„David ist aber nicht tot, Großvater.“

„Nein“, räumte Ben ein. Seine Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, als er mit erstickter Stimme ausrief: „Mein Gott, was ist bloß los mit dieser Familie? Warum müssen wir immer … warum … Als es mit meinem Vater zu Ende ging, habe ich ihm auf dem Sterbebett das Versprechen gegeben, dass meine Söhne das, was er sich für sein eigenes Leben gewünscht hat, erfüllen würden.“

Max verlagerte ungeduldig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Er wusste alles über das Versprechen, das Ben seinem Vater gegeben hatte; er hatte die Geschichte schon hunderttausendmal gehört. Der alte Herr musste wirklich senil sein, dass er jetzt schon wieder damit ankam.

„David war dazu auserkoren, dieses Versprechen einzulösen. Doch die Veränderung seiner Lebensumstände machte es ihm unmöglich. Deshalb bist jetzt du dran. Ich beabsichtige, mein Testament zu ändern und dir Queensmead sowie den Hauptanteil meines persönlichen Besitzes zu hinterlassen, allerdings nur unter der Bedingung, dass du zum Zeitpunkt meines Todes ein voll anerkannter Strafverteidiger bist.“

Max traf fast der Schlag, er hatte Mühe, sich seinen Triumph nicht anmerken zu lassen. Großer Gott, und er hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet …

Sein Großvater mochte das Haus und das Land, auf dem es stand, als eine heilige Kuh betrachten, die zu schlachten sich unter allen Umständen verbot, aber er, Max, tat dies ganz gewiss nicht. Haslewich wuchs, und eines Tages würde das Weideland, auf dem Queensmead stand, ein erstklassiges Erschließungsgebiet abgeben.

Großer Gott. Max war in Hochstimmung. Es würde ihm Millionen einbringen. Dagegen würde das, was er als Strafverteidiger verdiente, ein Klacks sein. Abrupt schreckte er aus seinen Träumen auf. Queensmead würde eines Tages ihm gehören, aber erst musste er die entscheidende Bedingung erfüllen. Er kannte seinen Großvater gut genug, um zu wissen, dass dieser seinen letzten Willen in seinem Testament so fest verankern würde, dass es nicht möglich sein würde, sich darum herumzumogeln. Erneut brach ihm der Schweiß aus.

Wenn sein Einstieg in die Kanzlei vorher schon äußerst wichtig für ihn gewesen war, so war er jetzt unabdingbar. Er war die wichtigste Voraussetzung, ohne lief gar nichts. Diese Frau … diese Konkurrentin, wer immer sie sein mochte, würde aus dem Bild verschwinden müssen, und es war ihm egal, mit welchen Mitteln er dieses Ziel erreichte.

Schnell senkte er den Kopf, nur für den Fall, dass seine Augen ihn verraten könnten. „Das ist sehr großzügig von dir, Großvater“, sagte Max ruhig und zwang sich zu einem – wie er hoffte – feierlichen Gesichtsausdruck, als er jetzt den Kopf wieder hob und Ben direkt in die Augen sah, „und ich verspreche dir, dass ich mein Bestes tue, um dem … Vertrauen gerecht zu werden, das du in mich setzt.“

„Du bist ein großartiger Bursche, Max“, sagte Ben, von seinen Gefühlen überwältigt.

„Ich muss wieder nach London zurück“, erwiderte dieser mit vorgetäuschtem Bedauern, „Leider kann ich euch in dieser schweren Stunde nicht beistehen.“ Nur zu wahr, und je eher er sich auf den Weg machte, desto besser. Je eher er herausfand, wer diese Mitbewerberin war, desto besser. „Queensmead wird bei mir in guten Händen sein, Großvater“, sagte er, während er dem Älteren die Hand gab. „Das verspreche ich dir.“

9. KAPITEL

Olivia hatte noch keine Lust, auf direktem Weg nach Hause zu fahren, nachdem sie sich von Saul verabschiedet hatte. Stattdessen fuhr sie nach Haslewich hinein und suchte sich einen Parkplatz, nicht bereit zuzugeben, nicht einmal vor sich selbst, warum sie einen derartigen Widerwillen empfand, nach Hause zu fahren.

Sie wollte Caspar sehen, sie wollte mit ihm reden … musste mit ihm reden, aber nicht jetzt, nicht solange sie sich noch so – wie eigentlich? – fühlte. Während sie den Wagen abschloss und langsam auf den Marktplatz zuschlenderte, versuchte sie zu ergründen, wie ihr zumute war.

Es wäre einfach, ihre düstere Laune auf die Enthüllungen, die Saul ihr über seine Ehe gemacht hatte, zu schieben, aber das wäre nicht ehrlich.

Ihre Zweifel, ihr Gefühl, dass sie und Caspar letzten Endes womöglich doch nicht so gut zusammenpassten, waren nicht verschwunden.

Hinter ihrer Stirn pochte es. Sie könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren, und genau betrachtet gab es natürlich auch keinen wirklichen Grund, warum sie ihn verlieren sollte, wie sie sich rasch versicherte, während sie ihre Schritte beschleunigte und wieder in Richtung Auto lenkte, weil sie plötzlich schreckliche Sehnsucht nach Caspar hatte.

Ja, vielleicht gingen ihre Einschätzungen darüber, was sich derzeit in Haslewich abspielte, wirklich auseinander. Immerhin waren sie beide intelligente, willensstarke Menschen, von denen nicht zu erwarten war, dass sie stets einer Meinung waren. Natürlich hatten sie ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Dinge und empfanden auch sehr verschieden, das war schließlich nichts Neues, und je wichtiger der Punkt war, um den es ging, desto leidenschaftlicher trugen sie ihre Differenzen aus, aber das hieß noch lange nicht, dass sie unfähig wären, einen Kompromiss zu finden, wenn es darauf ankam. Sie könnte doch zum Beispiel einfach nach Philadelphia nachkommen, wenn hier wieder alles im Lot war, und unterdessen könnte Caspar sich sein Leben in Amerika einrichten. Es würde ohnehin nur für ein paar Wochen sein, bis sie nachkam. Sie könnten telefonisch miteinander in Kontakt bleiben.

Ihre Hände bebten leicht, als sie ihre Wagentür aufschloss.

Als Olivia vor dem Haus ihrer Eltern vorfuhr, sah sie, dass in ihrem Schlafzimmer Licht brannte. Hastig schloss sie die Eingangstür auf und rannte, immer gleich zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe nach oben. Sie sehnte sich so schrecklich nach Caspar, und es drängte sie, ihm genau auseinanderzusetzen, wie sie sich alles vorstellte. Sie riss die Schlafzimmertür auf und blieb abrupt stehen.

Caspar hatte offensichtlich nicht bemerkt, dass sie bereits im Haus war. Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und schaute in die Dunkelheit hinaus; auf seiner Haut glänzten noch Wassertropfen vom Duschen, die an seinem Rückgrat hinabrannen.

Olivias Mund war plötzlich trocken geworden, ihre Beine fühlten sich ganz wacklig an, und ihr Herz hämmerte so aufgeregt, als sähe sie ihn heute zum ersten Mal nackt. Sie unterdrückte den Wunsch, ganz schnell auf ihn zuzulaufen und ihre Arme fest um ihn zu schlingen, stattdessen rief sie leise seinen Namen und wusste, noch bevor er sich umgedreht hatte, dass er beim Anblick ihres Gesichts sofort ihre Gedanken erraten würde.

Sie war nie in der Lage gewesen, ihr Begehren für ihn vor ihm geheim zu halten, wie sie jetzt mit Bedauern erkannte, als er auf den weichen Klang ihrer Stimme reagierte.

„Oh, Caspar“, flüsterte sie erschauernd, wobei sie seinen Versuch, sie von seinem nassen Körper fernzuhalten, ignorierte und fest die Arme um ihn schlang. „Was tun wir uns nur an? Warum streiten wir uns bloß dauernd so fürchterlich und werfen uns so schreckliche Sachen an den Kopf, wo wir doch …“

„Wo wir doch was?“, grollte Caspar.

Sie konnte den Druck seiner Hände auf ihren Unterarmen spüren, aber ihr war es mittlerweile ganz egal, ob ihre Kleider von der Nässe seiner Haut in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, sie sah nur, dass sie eine unerwünschte Barriere zwischen ihnen beiden bildeten.

„Wo wir doch so viele schöne Sachen machen könnten“, flüsterte sie heiser, während sie ihm ihr Gesicht entgegenhob und versuchte, seinen Kopf zu sich herunterzuziehen.

Einen Moment lang schien er sich zu sträuben, er schaute ihr tief und forschend in die Augen; ihre Pupillen waren weit geworden, und ihre Augen hatten sich verschleiert vor Verlangen. Sie wurde von einer Welle unendlicher Zärtlichkeit überschwemmt, die ihren Ursprung in der eben neu gefundenen Gewissheit hatte, dass das, was sie beide füreinander empfanden, viel zu wichtig, zu stark war, um von einem Streit bedroht werden zu können.

Sie würden ganz gewiss einen Kompromiss finden, mit dem sie beide leben konnten.

Sein Mund fühlte sich merkwürdig steif an, kalt und trocken, fast gleichgültig, doch in dem Augenblick, in dem sie den Kuss abbrechen wollte, übernahm Caspar die Führung, und sie spürte, wie sich sein Mund fest auf den ihren legte, während er mit seinen Händen ihr Gesicht liebkoste und sein Körper lebendig zu werden begann.

Olivia drängte sich noch enger an ihn.

„Du hast viel zu viel an“, flüsterte Caspar rau zwischen zwei Küssen.

„Mmmm … ich weiß“, stimmte Olivia zu, aber ihr Verlangen, es bis ins Letzte auszukosten, wie sein Mund über den ihren wanderte, und seinen muskulösen Körper zu spüren, war so stark, dass sie es nicht schaffte, den Kuss zu beenden, selbst wenn es nur lange genug gewesen wäre, um sich der störenden Kleider zu entledigen; lustvoll ergab sie sich jener köstlichen extravaganten Mischung aus geraubten Küssen und mit bebenden Fingern gespendeten Zärtlichkeiten, unterbrochen nur von dem gemeinsamen verzweifelten Bemühen, ihren Körper endlich aus dem Gefängnis ihrer klammen Kleider zu befreien, bevor sie sich schließlich zitternd vor Verlangen paradiesisch nackt ins Bett fallen ließen.

„Mmmh … wie gut du dich anfühlst … und wie gut du schmeckst.“ Olivia stieß einen ekstatischen Seufzer aus, während sie eine Spur kleiner heißer Küsse über Caspars Brust zog.

„Als gut anfühlen würde ich es nicht unbedingt bezeichnen“, stöhnte Caspar, während sie ihm mit der Zungenspitze mit quälender Langsamkeit über seinen Rippenbogen fuhr, um gleich darauf einen sündhaft erotischen Kreis um seinen Nabel zu ziehen. „Genau gesagt ist das, was du mir im Moment antust … oooh“, stöhnte er mit zusammengebissenen Zähnen, als sie ihre Zärtlichkeiten noch weiter nach unten verlagerte.

„Na los, sag schon, was ist es?“, versuchte Olivia, ihn mit heiserer Stimme zu provozieren, obwohl sie in Wahrheit nicht weniger erregt war als er.

Jetzt drehte er den Spieß kurz entschlossen herum, indem er sie auf den Rücken warf und festhielt, wobei er mit leisem Spott konterte: „Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob dir diese Art Folter zusagt.“

Allerdings traf es das Wort Folter auch nicht genau, obwohl es den Gefühlen, die sein Mund, der jeden Quadratzentimeter ihrer sensibilisierten Haut erkundete, auslöste, doch sehr nahe kam.

„Caspar, hör auf“, flüsterte sie. „Ich kann nicht mehr länger warten. Ich will dich. Ich will dich in mir spüren … tief, ganz tief in mir drin … jetzt.“

Olivia erschauerte vor Lust bis in die Zehenspitzen, als Caspar sich anschickte, ihr ihren Wunsch zu erfüllen.

Gleich von Anfang an war der Sex zwischen ihnen so gut gewesen, es hatte sich stets so richtig angefühlt … sie genoss es ungeheuer, ihm ihr Verlangen so offen zeigen zu können. Und der Grund dafür lag nicht allein darin, dass sie ihn liebte, sondern – was in gewisser Hinsicht sogar noch wichtiger für ihr sexuelles Erleben war – dass sie ihm vertrauen konnte; dieses Vertrauen, das sie in ihn setzte, verlieh ihr Sicherheit. Sie fühlte sich beschützt und gehalten, was es ihr ermöglichte, sich beim Liebesspiel ganz und gar fallen zu lassen und ihm ihre sexuellen Bedürfnisse und Wünsche rückhaltlos einzugestehen, und es war diese Offenheit zwischen ihnen, diese Aufrichtigkeit, die ihre Beziehung in Olivias Augen so einzigartig und wertvoll machte – und was andererseits der Grund dafür war, weshalb sie die Richtung, in die sich die Dinge in den letzten Tagen für sie beide entwickelt hatten, so schlimm fand.

Das Gefühl von Nähe, von Ganzheit, vom Gleichklang zweier Seelen, das sie jetzt im Nachhall ihres leidenschaftlichen Liebesspiels verspürte, trieb ihr die Tränen des Glücks in die Augen, und noch während sie in seinen Armen lag, wallte eine solche Liebe und Zärtlichkeit für ihn in ihr auf, dass sie sich verzweifelt danach sehnte, Caspar irgendwie verständlich machen zu können, wie viel er ihr bedeutete.

Sie streckte die Hand aus und zeichnete mit den Fingerspitzen die Umrisse seines Kinns und seines Mundes nach, während sie flüsterte: „Caspar … ich liebe dich …“

Einen Moment lang wirkte er überrascht … schockiert fast, und dann umarmte er sie und hielt sie so fest, dass sie fast befürchtete, erdrückt zu werden.

„Na endlich … endlich“, jubelte er. „Sag es noch einmal, Livvy. Bitte sag es mir nur noch ein einziges Mal …“

„Was?“, neckte sie ihn, doch einen Moment später erfüllte sie ihm seinen Wunsch und flüsterte ihm die ersehnten Worte, auf die er so lange hatte warten müssen, noch einmal ins Ohr. Als er seine Lippen über ihren Mund wandern ließ, während er die Worte ebenfalls flüsterte, erwachte ihr Begehren, von dem sie geglaubt hatte, dass es vollkommen gestillt wäre, erneut, und sie nahm Caspars Küsse wie eine Verdurstende in sich auf.

„Mmmm … das war herrlich“, seufzte Olivia eine ganze Weile später in seliger Ermattung und kuschelte sich noch ein bisschen enger an Caspar.

„Das!“, beschwerte sich Caspar in scherzhaft-beleidigtem Ton.

„Na gut, dann eben du“, gab Olivia schläfrig nach. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass wir uns wieder vertragen“, fügte sie gleich darauf hinzu. „Ich habe Saul heute Abend getroffen. Er scheint wirklich überzeugt zu sein, dass es mit ihm und Hillary endgültig aus ist.“

„Ja, ich weiß“, gab Caspar, ein Gähnen unterdrückend, zurück.

„Du weißt es?“, fragte Olivia verdutzt und stützte sich auf den Ellbogen auf, um ihn anzuschauen. „Woher denn?“

Irgendetwas in der Art, wie er zögerte und ihrem Blick auswich, bevor er antwortete, flößte ihr Unbehagen ein. Sie schaute ihn wachsam an.

„Ich … mmmh … Hillary hat es mir heute Abend beim Essen erzählt.“

„Du warst mit Hillary essen! Du gehst mit einer anderen Frau essen, ohne es mir vorher zu sagen?“, fragte Olivia, die Worte sorgsam artikulierend, wobei sie spürte, wie ihre gelöste Stimmung von ihr abfiel, während sie Caspar schockiert anstarrte. „Warum hast du mir denn nichts davon erzählt? Warum?“

„Es war eine spontane Entscheidung“, erwiderte Caspar mit aufkommender Verärgerung. „Herrgott noch mal, Livvy“, rief er aus, sich mit den Fingern aufgebracht durchs Haar fahrend, „es ist zwei Uhr morgens, und das Letzte, worauf ich im Augenblick Lust habe, ist, mich von dir einem Kreuzverhör unterziehen zu lassen, als ob ich mich eines Gewaltverbrechens schuldig gemacht hätte. Du hast eben selbst gesagt, wie schlimm du es findest, wenn wir uns streiten, und jetzt machst du so einen Wirbel um …“

„Ich streite mich nicht mit dir“, unterbrach Olivia ihn kurz angebunden.

„Nein? Das sieht mir aber ganz danach aus“, gab Caspar ungehalten zurück.

„Caspar, wir sind ein Paar, und wir haben Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Ich würde ja auch nicht mit einem anderen Mann zum Essen ausgehen, ohne dir davon zu erzählen.“

„Nein, aber es macht dir nicht im Mindesten etwas aus, alle unsere Pläne über den Haufen zu werfen und aus mir einen Idioten zu machen, indem du großspurig verkündest, dass du fürs Erste hierzubleiben und die brave Tochter und Nichte zu spielen gedenkst. Das ist offensichtlich weit wichtiger für dich, als mit mir zusammen zu sein, auch wenn sonnenklar auf der Hand liegt, dass dein Opfer weder erwünscht noch in deinem Sinne ist“, schoss Caspar aufgebracht zurück.

Olivia saß kerzengerade im Bett und starrte ihn durch die Dunkelheit an.

„Hör zu, Caspar, das habe ich dir alles bereits erklärt“, protestierte sie. „Es ist nur für ein paar Wochen … ich habe geglaubt, du würdest es verstehen … und heute Nacht …“ Sie unterbrach sich und biss sich auf die Unterlippe, ehe sie fortfuhr: „Heute Nacht, als ich dir sagte, dass ich dich liebe … ich dachte …“

„Du dachtest, was?“, unterbrach er sie wütend. „Du dachtest, nur weil du es endlich geschafft hast, mir zu sagen, was du für mich empfindest, wäre damit alles für mich in Butter? Dass ich ab jetzt bescheuert genug bin, mir alle Einwände zu verkneifen, und still und geduldig wie ein Lamm darauf warte, bis du endlich so weit bist?“, fragte er bitter. „Hast du mir diese ganze Leidenschaft … die Lust, dein Verlangen nur vorgespielt, um mir das Maul zu stopfen? Nun, dann habe ich jetzt eine Neuigkeit für dich … es funktioniert nämlich nicht.“

„Caspar“, protestierte Olivia, aber er hatte ihr bereits den Rücken zugewandt und war bis an die äußerste Bettkante gerückt.

Ach, soll er doch die beleidigte Leberwurst spielen, entschied Olivia nicht weniger aufgebracht als er.

Warum hatte er ihr nicht erzählt, dass er vorhatte, mit Hillary essen zu gehen? War ihre heutige scheinbar so leidenschaftliche Liebesnacht womöglich nur eine Inszenierung seinerseits gewesen, um zu verhindern, dass sie ihm auf die Schliche kam … Liebte Caspar sie überhaupt?, begann Oliva zu zweifeln. Sie legte sich wieder hin und wandte ihm ebenfalls entschlossen den Rücken zu.

„Olivia, hast du eine Minute Zeit für mich?“

Olivia warf Caspar quer durch die Küche einen unsicheren Blick zu. Sie war früh aufgewacht, weil sie wusste, dass sie in die Kanzlei musste, aber er hatte nicht mehr neben ihr gelegen.

„Ich habe beschlossen, mir heute Vormittag einen Flug zu buchen“, erklärte er kurz angebunden.

In Olivia stieg eine böse Vorahnung auf. „Buch einen Flug, wann immer du willst, aber eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass wir das erst machen, wenn wir genau wissen, wann wir zurückfliegen.“

„Das würden wir unter normalen Umständen auch“, stimmte Caspar zu. „Vergiss nicht, dass wir ursprünglich geplant hatten, nicht mehr als ein paar Tage zu bleiben.“

Olivia starrte ihn bestürzt an, als ihr dämmerte, worauf er hinauswollte. „Aber Caspar, das war doch, bevor mein Vater den Herzinfarkt hatte. Kannst du denn nicht verstehen …?“ Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, während sie, jetzt in hörbar flehendem Tonfall, fortfuhr: „Caspar, bitte, tu mir das nicht an … tu uns das nicht an … Caspar …“ Ihre Stimme bebte so sehr, dass sie ihren Satz nicht beenden konnte.

„Livvy … hör zu, es ist noch nicht zu spät“, sagte Caspar eindringlich, wobei er zu ihr herüberkam und ihre Hände zwischen seine Handflächen nahm. „Sag deinem Onkel einfach, dass du es dir anders überlegt hast … dass du nicht bleiben kannst. Ich lasse uns in der nächsten Maschine zwei Plätze reservieren, und dann können wir …“

„Nein … nein, du weißt, dass ich das unmöglich tun kann“, protestierte Olivia und entzog ihm ihre Hände. „Ich muss hierbleiben.“

„Nein, das musst du nicht“, widersprach Caspar erbarmungslos. „Du willst es. Und zwar einzig nur du, Olivia, niemand sonst. Dein Onkel will dich ebenso wenig hierhaben wie dein Großvater. Du willst nur hierbleiben, weil …“

„Weil es das einzig Richtige ist. Mein Vater …“

„Das einzig Richtige?“ Caspar lachte bitter auf. „Du kennst meinen Standpunkt, was dieses Thema anbelangt“, erklärte er wütend.

„Caspar … was ist bloß los mit dir? Ich habe dich noch nie so gesehen“, sagte Olivia fassungslos, ihre Zähne fingen an zu klappern, obwohl ihr nicht einmal ansatzweise kalt war. Als Kind hatte sie „Szenen“ immer gehasst. Und eine der Eigenschaften, die sie an Caspar am meisten schätzte, war, dass er nie die Ruhe verlor; er ging die Dinge stets verstandesgemäß an und reagierte niemals irrational auf die Wechselfälle des Lebens, wie sie es von Kindesbeinen auf von ihrer Mutter gewohnt war.

„Wenn du mir damit zu sagen versuchst, dass du einen Fehler gemacht und dich mit dem falschen Menschen eingelassen hast, nur zu“, provozierte Caspar sie. „Ich schätze mal, dieses Gefühl haben wir im Augenblick beide. Vielleicht bin ich ja auch nicht gerade begeistert, zu entdecken, dass du ebenfalls nicht unbedingt die Frau bist, die ich mir vorgestellt habe“, beendete er seine verletzenden Ausführungen.

Olivia starrte ihn an, ohne das ganze Ausmaß seiner Worte zu begreifen. „Hör zu, Caspar“, protestierte sie, aber als sie einen Schritt auf ihn zu machte, wich er zurück, und als sie es sah, hielt sie ungläubig mitten im Schritt inne.

„Aber wahrscheinlich ist es ja besser für uns beide, dass wir die Wahrheit herausgefunden haben, bevor es zu spät ist“, erwiderte Caspar.

Die Wahrheit. Was denn für eine Wahrheit? Sie liebte ihn … er liebte sie, war das nicht die einzige Wahrheit, die zählte? Aber war es das wirklich? Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte und ihm sagte, dass sie es sich anders überlegt hätte, dass sie bereit sei, das Versprechen, das sie ihrem Onkel gegeben hatte, zu brechen, und sofort mit ihm nach Amerika fahren würde, wäre alles gut. Aber war das wirklich die Basis, auf der sie ihre Zukunft, ihre gemeinsame Zukunft aufbauen wollte? Würde sie ihm damit nicht ein Zeichen setzen, dass sie auch weiterhin bereit wäre, jederzeit ihre Entscheidungen infrage zu stellen, wenn sie ihm nicht passten, und dass er zukünftig immer von ihr erwarten könne, dass sie im Fall einer Meinungsverschiedenheit klein beigeben und ihm seinem Willen lassen würde? Egal, wie wichtig die Angelegenheit wäre oder wie unwichtig: Als Juristin wusste sie sehr gut um die Gefahren, die ein Präzedenzfall heraufbeschwören konnte. Sie schluckte krampfhaft.

Sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass Caspar, ihr Caspar, so engstirnig, so egoistisch sein könnte … dass er bereit wäre, ihre Liebe zu opfern, nur um seinen Willen durchzusetzen. Nur um zu zeigen, dass er der Stärkere war … Auf einmal verstand sie, was damit gemeint war, wenn man sagte, dass sich irgendetwas anfühle wie ein Stich ins Herz, eine schwere Last auf den Schultern … eine krank machende Bürde. Sie fühlte dies alles und mehr, aber zumindest hatte sie noch ihren Stolz, der sie aufrecht hielt, es war derselbe Stolz, der sie durch ihr Jurastudium gebracht hatte, obwohl sie von ihrer Familie keinerlei Unterstützung, geschweige denn Ermutigung erfahren hatte. Sie hatte das überlebt, und sie würde auch dies hier überleben. Irgendwie …

„Ganz, wie du meinst“, stimmte sie ihm ruhig zu, wobei sie sich bemühte, so leise wie möglich zu sprechen, um zu verhindern, dass ihre Stimme brach.

Ohne seine Erwiderung abzuwarten, ging sie schnellen, entschlossenen Schritts zur Tür und eilte die Treppe nach oben. Obwohl sie ein paar Sekunden mit der Türklinke kämpfte, unternahm er keinen Versuch, sie einzuholen, sie in die Arme zu nehmen, um ihr zu sagen, dass er sich geirrt habe und dass alles ein Missverständnis sei, dass er es nicht ertragen könne, wenn sie sich trennten, dass er sie noch immer liebte und sie nicht verlieren wollte.

Vielleicht war ja wirklich alles ein Missverständnis gewesen. Vielleicht hatte sie eine flüchtige Zuneigung mit Liebe verwechselt. Denn gewiss ließ sich Liebe – wahre Liebe, jene Art Liebe, von der sie geglaubt hatte, dass sie sie verband – nicht so leicht zerstören.

Caspar schaute ihr nach, wie sie mit hoch erhobenem Kopf die Küche verließ. Er sehnte sich danach, sie zurückzuhalten, aber das ließ sein Stolz nicht zu.

Olivia hatte ihm nur allzu deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihr nicht wichtig genug war, um ihre gesamte Aufmerksamkeit und Sorge zu verdienen. Sie hatte mit ihrer Entscheidung bewiesen, dass sie nicht bereit war, ihn stets an die erste Stelle zu setzen.

Caspar war die unübersehbare gefühlsmäßige Nähe, die die einzelnen Mitglieder von Olivias Familie ungeachtet all ihrer persönlichen Macken und Irrtümer aneinanderschweißte, völlig fremd, verglichen damit, wie seine eigenen Familienbindungen strukturiert waren; diese emotionale Nähe war etwas, das er instinktiv ablehnte, ja, sogar als ausgesprochen bedrohlich empfand, und das nicht allein wegen seiner Beziehung zu Olivia, sondern auch, weil er der festen Überzeugung war, dass eine solche Nähe im besten Fall nicht mehr als Selbsttäuschung sein konnte und im schlechtesten ein Mittel war, die Individualität des Einzelnen zu zerstören.

Als Kind hatte er miterleben müssen, mit welch einer offensichtlichen Leichtigkeit die Erwachsenen um ihn herum die eine Beziehung achtlos weggeworfen hatten, um sich alsbald in die nächste zu stürzen. Von da an war er überzeugt gewesen, dass ein Mensch nicht mehr als eine enge gefühlsmäßige Bindung gleichzeitig verkraften konnte.

Obwohl er die Absicht hatte, in seine Heimatstadt zurückzukehren, kamen in dem Leben, das Caspar für sich und Olivia anvisiert hatte, nur sie beide und die Kinder, die sie vielleicht irgendwann einmal haben würden, vor. Natürlich hatte er nicht vor, den Kontakt zu seiner Familie völlig abzubrechen, aber für ihn war von jeher klar gewesen, dass jeder sein eigenes Leben lebte und er es niemandem gestatten würde, in sein und Olivias Privatleben einzudringen. Genau, wie es ihm nie gestattet gewesen war, in das Privatleben seiner Eltern einzudringen?

Gestern hatte sich Hillary beklagt, dass sie sich niemals richtig als Teil der Familie gefühlt hätte; dass sie sich immer wie ein Fremdkörper vorgekommen sei – wie ein Außenseiter.

„Saul hätte eine nette Engländerin heiraten sollen, am besten vielleicht eine aus Cheshire oder noch besser ein Mädchen aus der eigenen Familie“, hatte sie voller Bitterkeit festgestellt und spitz hinzugefügt: „Olivia wäre natürlich perfekt gewesen für ihn.“

Natürlich. Und Caspar war der Ausdruck der sinnlichen Wertschätzung und sexuellen Wachsamkeit in Sauls Augen nicht entgangen, als dieser Olivia beobachtet hatte.

Er stieg die Treppe nach oben und ging, ohne zu zögern, an Olivias Zimmertür vorbei.

Olivia in ihrem Zimmer stieß den Atem, den sie angehalten hatte, aus. Dann sollte sich Caspar doch wie ein beleidigtes Kind aufführen, wenn es das war, was er wollte. Er hatte sich nicht im Geringsten bemüht, die Dinge von ihrem Standpunkt aus zu sehen, warum um alles in der Welt sollte sie dann jetzt klein beigeben?

Jenny spannte sich an, als Jon sich auf die andere Seite wälzte und irgendetwas in sich hineinbrummelte. Sie hatte von jeher einen leichten Schlaf, und jetzt war sie durch seine Unruhe wach geworden. Sie warf einen Blick auf ihren Wecker; es war bald Zeit aufzustehen.

Warum bloß hatte er ihr gestern Abend diese bitteren Vorwürfe gemacht? Keiner von ihnen hatte je das Problem von Max’ Egoismus und seinem ausgeprägten Hang zur Egozentrik angeschnitten. Eigenschaften, die ihnen beiden fremd waren, besonders jedoch Jon. Vielleicht war das ja eine der größten Schwachstellen in ihrer Beziehung – die Tatsache, dass sie über solche Dinge nie sprachen, sondern eher dazu neigten, sie unter den Teppich zu kehren. Sie waren beide ausgesprochen friedfertige Menschen, die die Harmonie dem Streit stets vorzogen, obwohl sich Jon, wie sie wusste, niemals scheuen würde, für seine moralischen Überzeugungen einzutreten, wenn es nötig wäre – egal, was ihn das auch kosten mochte.

Jenny hatte nicht nur erkannt, wie sehr Jon Davids Zusammenbruch mitgenommen hatte, sondern sie hatte auch gesehen, unter was für einem Stress er bereits vorher gestanden hatte. Glaubte er wirklich, ihr fiele nicht auf, dass er immer mehr Zeit hinter Bergen von Arbeit in der Kanzlei zubrachte, ohne dass sie den Grund dafür erriete? Wenn sie bisher noch nichts gesagt hatte, dann wohl eher deshalb, weil ihr klar war, dass eine Diskussion über Davids Verhalten nutzlos im Sand verlaufen würde, denn Jon duldete nicht die leiseste Kritik an seinem Bruder. Und jetzt schien es so, als hätte Jon zu allem Überfluss auch noch die Beschützerrolle für Tiggy übernommen.

Tiggy. Jenny konnte sich noch lebhaft erinnern, wie erbärmlich sie sich gefühlt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Die strahlend schöne Tiggy, ein Ausbund an Lebenslust, hatte an Davids Arm gehangen und voller Anbetung zu ihm aufgeblickt.

Im Vergleich zu ihr war sie, Jenny, sich wie ein Trampel vorgekommen, grobschlächtig und ungewandt, eine Frau, die sich das aufregende Leben nicht einmal vorstellen konnte, das David und Tiggy in London geführt hatten und das Tiggy ganz offensichtlich noch immer vermisste.

Sie schwang ihre Beine über die Bettkante. Gewiss war sie nicht töricht genug, um eifersüchtig zu sein. Der arme Jon hatte schon so genug am Hals. Die Sonne ging bald auf, und sie war zu hellwach, um noch einmal einschlafen zu können, und ganz davon abgesehen war es nicht nur Jon, der ihr im Kopf herumging.

Max war gestern, kurz nachdem er von dem Besuch bei seinem Großvater zurückgekehrt war, wieder nach London abgereist, und zwar in einer Laune, die Jenny nur als euphorisch beschreiben konnte. Dies machte sie höchst misstrauisch.

Es war so ganz untypisch für ihn. Max bezeichnete sich gern als Zukurzgekommenen, als jemanden, mit dem das Schicksal es nicht sonderlich gut meinte und der sich nur auf seine eigene Kraft verlassen konnte, wenn er es zu etwas bringen wollte. Er schob gern anderen die Schuld für sein Versagen in die Schuhe und hatte Freude daran, die Leute zu manipulieren, wie Jenny sich jetzt ehrlich eingestehen musste, als sie barfuß die Treppe nach unten in die Küche tappte.

Wie erwartet hatte er ihr nicht erzählt, warum Ben ihn sehen wollte, und sie hatte auch nicht gefragt. So vertraulich war ihre Beziehung nicht. Vielleicht war es ja ihr Fehler gewesen, weil sie es zugelassen hatte, dass seine Geburt von der Trauer über den Tod ihres ersten Sohnes überschattet wurde. Wer konnte schon sagen, was ein Ungeborenes im Mutterleib alles mitbekam? Und doch hatte sie ihn sich sehnlichst gewünscht.

In London wachte Max ebenfalls zeitig auf, den Kopf randvoll mit Plänen.

Beim Duschen ging er in Gedanken noch einmal die Alternativen durch, die er sich am vergangenen Abend auf der Heimfahrt hinsichtlich der Aufdeckung der Identität seiner Konkurrentin zurechtgelegt hatte, und verwarf jene, die ihm zu zeitraubend erschienen oder ganz einfach undurchführbar waren.

Der Versuch, aus dem Kanzleivorsteher etwas herauszubekommen, war zwecklos, weil der ihn nicht leiden konnte. Mit den anderen männlichen Angestellten verhielt es sich nicht viel anders. Max hatte nie einsehen können, was es für einen Sinn machen sollte, sich bei gewissen Leuten lieb Kind zu machen, es sei denn, man konnte sie für eigene Zwecke einspannen, ganz abgesehen davon, dass es in Max’ Augen immer leichter war, eine Frau auf seine Seite zu ziehen als einen Mann, eine Strategie, die noch einiges andere für sich hatte.

Die einzigen Frauen, die in der Kanzlei arbeiteten, waren die Sekretärinnen. Zwei davon waren alt genug, um seine Großmutter zu sein. Doch Charlotte, die dritte weibliche Angestellte, hatte ihm bereits signalisiert, dass er ein ernsthafter Anwärter auf ihre Gefühle sei, oder besser gesagt auf ihren entschlossenen Ehrgeiz, die Frau eines Anwaltes zu werden. Max hatte nicht vor, ihre Entschlossenheit zu unterschätzen. Sie besaß genug sozialen Ehrgeiz, um für einen Mann in gehobener Position eine gute Ehefrau abzugeben.

Beim Überziehen seines Jacketts im Schlafzimmer warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte noch nie eingesehen, warum er früher als unbedingt erforderlich ins Büro gehen sollte, wenn niemand da war, der ihm eine solche Tugend anrechnete, aber an diesem Morgen hatte er seine Gründe, warum er vor den meisten anderen da sein wollte.

Es hätte ihm keine Gewissensbisse bereitet, die vertraulichen Akten des Kanzleivorstehers selbst durchzustöbern, aber dazu hätte er sich erst dessen Schlüssel „ausleihen“ müssen.

Nein. Das würde schon Charlotte für ihn in die Hand nehmen müssen.

Er verzog leicht angewidert das Gesicht, als ihm der Duft des Eau de Cologne in die Nase stieg. Es war ein Geschenk seiner letzten Freundin. Charlotte würde es mögen.

Es musste etwas damit zu tun haben, dass sie draußen auf der Straße auf Jon warten musste, dass sie sich vorkam wie ein nervöses Schulmädchen, entschied Olivia, während sie auf ihre Armbanduhr schaute.

Sie hatte Caspar heute Morgen noch einmal kurz gesehen, bevor sie aus dem Haus gegangen war. Er war unnahbar und frostig gewesen. Er hatte ihr nur mitgeteilt, wann sein Flug nach London ginge und dass er zum beabsichtigten Zeitpunkt in die Staaten zurückfliegen würde, womit er ihre Hoffnungen, dass er seine Meinung schließlich doch noch geändert haben könnte, zunichtemachte. Sie wünschte sich sehnlichst, dass sie einen Kompromiss finden könnten, der es ihnen erlaubte, ihre Beziehung fortzusetzen. Doch ein Blick in Caspars Gesicht hatte genügt, um ihr klarzumachen, wie sinnlos das war.

Deshalb hatte sie das Haus verlassen, ohne irgendetwas von den Dingen zu sagen, die ihr auf dem Herzen lagen, und eine halbe Stunde früher als notwendig, was der Grund dafür war, dass sie sich jetzt hier vor der Kanzlei die Beine in den Bauch stehen musste. Sie atmete erleichtert auf, als sie Jon schließlich aus einer der zahlreichen kleinen Seitenstraßen, die in den Marktplatz mündeten, auftauchen sah.

„Olivia.“

Er lächelte nicht bei der Begrüßung. Die Sorge um ihren Vater hatte auf seinem Gesicht deutliche Spuren hinterlassen, seine Züge wirkten hager und eingefallen, was ihm ein einschüchternd asketisches Aussehen verlieh.

Während Olivia wartete, bis Jon die Tür aufgeschlossen hatte, fragte sie sich, wie Saul sich wohl heute Morgen fühlen mochte. War es eine Art Omen, ein Wink des Schicksals, dass sie sich beide zur gleichen Zeit mit Beziehungsproblemen herumschlagen mussten?

Sie folgte Jon die schmale Treppe nach oben und erinnerte sich daran, wie aufregend sie es als Kind gefunden hatte, hierherzukommen.

Von den beiden Räumen hatte ihr Vater stets den größeren Raum mit Beschlag belegt, und Olivia blieb jetzt etwas unbehaglich vor dessen Tür stehen, dann wandte sie sich zu Jon um. „Wenn du lieber Dads Büro haben möchtest …“, schlug sie vor.

Jon schüttelte den Kopf.

Leicht verunsichert öffnete Olivia die Tür zum Büro ihres Vaters und blieb auf der Schwelle stehen. Sie stutzte einen Moment, während sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen ließ; es wirkte viel größer, als sie es in Erinnerung hatte. Dann wurde ihr klar, dass die schweren Aktenschränke aus Stahl, die eine ganze Wand eingenommen hatten, verschwunden waren.

„Wo …?“, begann sie, auf den leeren Platz starrend.

„Wir haben sie in mein Zimmer gestellt“, erklärte Jon ruhig, aber Olivia spürte, dass ihm ihre Frage aus irgendeinem Grund nicht willkommen war. „Wir sind dabei, alles auf Computer umzustellen, und da ich den Einführungskurs besucht habe, war David der Meinung, dass es wohl am vernünftigsten ist, wenn ich die ganze Sache in die Hand nehme.“

Eine durchaus einleuchtende Erklärung, aber Olivia fühlte sich dennoch merkwürdig unbehaglich. Irgendetwas, sie wusste nur nicht, was, klang nicht ganz wahr daran.

„Ich werde ein paar Tage brauchen, bis ich mich eingearbeitet habe“, sagte sie zu Jon. „Ich werde mich ja wohl oder übel mit Dads Fällen und Mandanten vertraut machen und natürlich die Akten studieren müssen. Soweit ich weiß, machst du alles, was mit Eigentumsübertragungen zu tun hat, während sich Dad um die Treuhandfonds und die Testamente kümmert, ist das richtig?“

„Im Großen und Ganzen, ja“, stimmte Jon zu, aber er schaute sie dabei nicht an, wie Olivia mit einem unguten Gefühl registrierte, und wieder hörte sie den merkwürdig angespannten Unterton aus seiner Stimme heraus, der ihrer Meinung nach nicht allein daher rührte, dass er ihre Hilfe im Grunde genommen nicht wirklich wollte.

Sie sagte sich, dass sie nicht überempfindlich sein dürfe. Schließlich war sie hier, um zu helfen, und nicht, um noch mehr Probleme zu verursachen.

„Nun, ich bin hier, um zu tun, was ich kann“, verkündete sie mit einem Lächeln. „Was ich als Erstes brauche, ist eine Liste von Dads Mandanten, und dann …“

„Äh, ich fürchte, wir handhaben die Dinge hier nicht ganz so formal“, unterbrach Jon sie. „Es war bisher nicht wirklich notwendig, und dann hatten wir auch oft überlappende Interessen.“

Olivia stutzte. Dass die Kanzlei so geführt wurde, hatte sie nicht gewusst. Sie war bisher immer davon ausgegangen, dass die beiden Brüder streng getrennte Arbeitsbereiche hatten.

„Nun, vielleicht ist es am besten, wenn du mir die Schlüssel für Dads Schreibtisch gibst, dann gehe ich zunächst seinen Terminkalender durch“, schlug Olivia vor.

Es dauerte einige Zeit, bis Jon schließlich die Schlüssel ihres Vaters herausgekramt hatte, und sie wurde den Verdacht nicht los, dass er sie ihr eigentlich nicht geben wollte. Mit einem unguten Gefühl ging sie in das Büro und machte die Tür fest hinter sich zu.

Ihr Onkel hatte erwähnt, dass sie ihr altes Ablagesystem durch Computer ersetzt hatten, aber aus der Art, wie der Bildschirm und die Tastatur in eine Ecke des Schreibtischs außer Reichweite geschoben waren, ließ sich schließen, dass ihr Vater den Computer nur höchst selten oder sogar gar nicht benutzte.

Entschlossen ging Olivia zum Schreibtisch ihres Vaters hinüber. Er war über hundert Jahre alt, ein schwerer Doppelschreibtisch aus Mahagoni mit einer ausgebleichten Lederplatte. Ihr Großvater hatte bereits daran gearbeitet und davor dessen Vater; sehr behutsam fuhr sie mit den Fingerspitzen über das alte Leder. Der ganze Raum atmete Tradition; sie hing so schwer in der Luft, dass sie sich wie eine Last auf Olivias Schultern legte, unter der sie sich unwillkürlich bog. Wenn Caspar kommen und dies hier sehen würde, hätte er es vielleicht verstanden.

Caspar … Sie warf einen Blick auf das Telefon. Er würde das Haus nicht vor zwölf verlassen. Noch war Zeit, ihn anzurufen … nach Hause zu fahren.

Entschlossen kehrte sie der Versuchung in Gestalt des Telefons den Rücken und schloss den Schreibtisch ihres Vaters auf. Sie entdeckte in den fast zu ordentlichen Schubladen seinen Terminkalender. Die Schubladen wirkten … sie wirkten fast, als ob … als ob schon jemand vor ihr da gewesen wäre und …

Sie setzte sich hinter den Schreibtisch und schlug den Kalender auf. Für heute war kein Termin eingetragen, Gott sei Dank. Das würde ihr Zeit lassen, sich mit den Akten vertraut zu machen. Morgen hatte David auch keinen Termin, und für übermorgen galt dasselbe. Olivia runzelte verdutzt die Stirn, während sie das Buch durchblätterte und es bis auf einige Verabredungen zum Golf leer fand.

Verunsichert begann sie, den Kalender noch einmal durchzuschauen, wobei sie spürte, wie sich beim Anblick der leeren Seiten ihre Nackenmuskeln anspannten. Vielleicht hatte ihr Vater ja noch einen anderen Terminkalender, und dies hier war nur das Buch, in das er seine privaten Verabredungen eintrug. Ja, ganz bestimmt, so muss es sein, entschied sie, während sie den Kalender sinken ließ und sich in den Schreibtischschubladen erneut auf die Suche machte.

Nichts!

Verwirrt schlug sie den Terminkalender wieder auf und ging ihn noch einmal ganz von vorn durch. Am Anfang des Jahres waren noch eine Menge Termine eingetragen, aber das hatte immer mehr nachgelassen, bis es nicht mehr als zwei oder drei pro Woche waren, und dann sogar noch weniger, was bedeutete …

„Olivia.“ Sie zuckte zusammen, als die Tür aufging und Jon hereinkam. „Die Post ist da“, verkündete er. „Wenn du mit in mein Büro kommen willst, können wir sie zusammen durchgehen … oh, du hast ja den Terminkalender deines Vaters gefunden“, bemerkte er überflüssigerweise.

„Ja“, erwiderte Olivia. Sie holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln. „Glücklicherweise scheint er ja diese Woche bis auf eine Verabredung zum Golf keine Termine zu haben.“

„Oh ja, das ist wirklich Glück“, stimmte Jon zu, aber sein Lächeln wirkte gezwungen, obwohl er sich ein bisschen zu entspannen schien, als sie aufstand, um ihm in sein Büro zu folgen. War es, weil er sich langsam an den Gedanken gewöhnte, dass sie hier mit ihm zusammen in seinem Büro arbeiten würde, oder weil sie sich nicht weiter darüber gewundert hatte, dass der Terminkalender ihres Vaters praktisch leer war?

Im Vergleich zum Büro ihres Vaters erschien ihr das von Jon kleiner, als sie es in Erinnerung hatte, und natürlich waren da die vertrauten Aktenschränke sowie einige moderne Errungenschaften, die das Computersystem beherbergten. Aber anders als der Schreibtisch ihres Vaters war sein Schreibtisch über und über mit Aktenstapeln und Papieren bedeckt, und sein Terminkalender, der aufgeschlagen neben seiner Tastatur lag, war voll.

„Dann haben wir ja zumindest immer noch ein paar Mandanten, Onkel Jon“, konnte Olivia sich nicht verkneifen zu sagen. „Nachdem ich das Büro meines Vaters und seinen Terminkalender gesehen hatte, habe ich schon befürchtet, dass niemand mehr den Weg hier in diese Kanzlei findet.“

„Oh ja … ich verstehe. Nun, du weißt ja, wie das so ist. Manchmal boomt eben der eine Zweig des Geschäfts und dann wieder der andere …“

„Mmmm. Willst du damit sagen, dass in Haslewich im Sommer keine Leute sterben?“

Du bist unfair, erkannte Olivia reumütig, als sie den fast gehetzten Ausdruck in den Augen ihres Onkels entdeckte.

„Verzeih bitte“, entschuldigte sie sich. „Ich habe nur von Tiggy immer den Eindruck vermittelt bekommen, dass Dad bis über beide Ohren in Arbeit steckt.“

„Oh ja, er war … es ist einfach nur so, dass … Also gut, um die Wahrheit zu sagen, Olivia, ich war ja gestern bei euch, um …“

„Dads Schreibtisch aufzuräumen“, half Olivia sanft nach, aber sie wusste doch, dass ihre Worte eher wie eine Anklage klangen.

„Ich wollte nur sichergehen, dass auch nichts anbrennt, das war alles“, gab Jon steif zurück.

Hatte er, nach all den Jahren, in denen er sowohl in der Familie als auch in der Kanzlei die zweite Geige gespielt hatte, womöglich plötzlich aufbegehrt und sich entschlossen, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und in die Rolle seines Bruders zu schlüpfen? Schuldbewusst versuchte Olivia, diesen beunruhigenden Gedanken zu verdrängen. Jon war ihrem Vater immer sehr zugetan gewesen. Aber es musste doch auch andere Zeiten gegeben haben, irgendwann musste er doch irgendeine Art von Neid, Eifersucht oder Wut darüber verspürt haben, dass er immer erst an zweiter Stelle kam.

Sie warf ihrem Onkel einen verstohlenen Blick aus den Augenwinkeln zu, als dieser begann, die Post zu sortieren, wobei er ihr jeden Brief reichte, damit sie ihn durchlas, und ihr anschließend ausführlich erklärte, was es damit auf sich hatte.

Eine Stunde später wusste sie, dass sie mit allem zurechtkommen würde. Aus den Briefen gingen die Anliegen klar hervor; die Kanzlei vertrat keine komplizierten Rechtsfälle oder noch kompliziertere Rechtsstreitereien aus dem Europäischen oder Internationalen Wirtschaftsrecht, worin sie Expertin war.

„Ich muss jetzt gleich weg“, erklärte Jon, als sie sich wieder in ihr eigenes Zimmer zurückziehen wollte. „Ich habe um elf einen Termin mit Lord Burrows. Und dann habe ich deiner Mutter versprochen, dass wir deinen Vater besuchen.“

Für sie gab es heute nicht so viel zu tun, um ihre Gedanken davon abzuhalten, sich mit Caspar zu beschäftigen – unglücklicherweise.

10. KAPITEL

Den ersten Rückschlag des Tages erlitt Max, als er feststellen musste, dass Charlotte noch nicht in der Firma war. Erst gegen Mittag schlenderte sie lässig in sein Büro, die Frisur und das Make-up tadellos wie immer, der Rock nur ein ganz kleines bisschen zu kurz und die Kostümjacke sehr figurbetont.

„Sie wollten mich sehen?“

Sie spitzte ihre glänzenden roten Lippen, während sie dafür sorgte, dass er in den vollen Genuss des Anblicks ihrer langen schlanken Beine und der prallen Wölbung ihrer Brüste kam. Max lehnte sich in seinen Stuhl zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und musterte sie gelassen vom Kopf bis zu den Zehenspitzen.

Ja, Charlotte war die Richtige für sein Vorhaben. Sie beide waren in mehr als in einer Hinsicht aus demselben Holz geschnitzt. Sonnenklar war aber auch, dass Charlotte ihm keinen Gefallen tun würde, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.

„Sie wissen ja, dass übernächsten Monat der Juristenball stattfindet“, wandte er sich an sie.

Dieser Ball war ein herausragendes gesellschaftliches Ereignis mit einem eng begrenzten Kontingent an Eintrittskarten, die nur an handverlesene Gäste vergeben wurden.

Max hatte es zum ersten Mal in diesem Jahr geschafft, zwei Karten zu ergattern.

Charlotte, vorausgesetzt, sie wurde nicht von jemandem eingeladen, würde niemals in den Genuss einer Eintrittskarte kommen, eine Tatsache, die beiden klar war, genauso wie sie beide wussten, wie vorteilhaft es für Charlotte bei ihrer Suche nach dem geeigneten Ehemann wäre, wenn sie auf diesen Ball gehen könnte.

„Ach ja?“, konterte Charlotte jetzt absichtsvoll vage.

Max gestattete sich ein nachsichtiges Lächeln. „Ich habe zwei Eintrittskarten und bis jetzt noch keine Partnerin.“ Er legte eine Kunstpause ein.

„Ich brauche … eine Information …“, bemerkte er dann gelassen. „Nichts Großartiges. Nur einen Namen …“

„Einen Namen … von wem denn?“, wollte Charlotte mit hochgezogenen Augenbrauen wissen.

„Nicht von wem, sondern wessen“, korrigierte Max sie im Scherz und fuhr fort: „Es gibt noch einen weiteren Kandidaten für die frei werdende Teilhaberstelle – eine Frau. Ich brauche ihren Namen.“

„Zu diesen Informationen haben nur die Teilhaber selbst Zugang“, erinnerte sie Max.

„Gewiss“, pflichtete Max ihr glatt bei, „aber irgendwann muss ein Termin zustande kommen, falls das nicht schon geschehen ist … Briefe müssen geschrieben werden.“

„Diese Art Korrespondenz erledigt für gewöhnlich meine Kollegin Laura“, informierte Charlotte ihn. „Doch ich will sehen, was ich tun kann.“

Es mochte bei den Fällen, die die Kanzlei bearbeitete, vielleicht nicht gerade um das große Geld gehen, wie Olivia das gewöhnt war, aber sie waren mit Sicherheit viel interessanter. Das wurde ihr klar, nachdem sie ihr Aktenstudium beendet hatte. Zwischen zwei Brüdern hatte sich ein Streit um ein Stück Land entsponnen, von dem jeder behauptete, dass sein Onkel es ihm vermacht hätte. Da sie für den Fall etwas in einem Gesetzesbuch nachschlagen musste, betrat sie das Büro ihres Onkels, der bereits zu seinem ersten Termin unterwegs war. Sie ging zu seinem Schreibtisch, auf dem das benötigte Buch stand. Als sie die Hand danach ausstreckte, fiel ihr Blick auf ein Bündel Kontoauszüge. Olivia sah, dass sie ihrem Vater gehörten, ihr Onkel hatte sie wahrscheinlich nur durchgeschaut. Dann entdeckte sie, dass ein Posten rot eingekringelt war, und ehe sie wusste, wie ihr geschah, fand sie sich über die Kontoauszüge gebeugt wieder. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen, als sie erkannte, was die eingekringelte Zahl bedeutete. Ihr Vater hatte einen Kredit von fast einer Viertelmillion Pfund aufgenommen.

Ihr Vater gehörte nicht zu den Leuten, die es schafften, sich eine größere Summe auf die Seite zu legen. Als Familie lebten sie sehr gut, aber ihre Eltern neigten beide, jeder auf seine Art, zur Verschwendungssucht.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Olivia sich die Kontoauszüge noch ein bisschen näher heranzog. Das Geld war per Kredittransfer überwiesen worden. Von ihrem Großvater vielleicht? Olivia wusste, dass es in der Vergangenheit verschiedentlich Gelegenheiten gegeben hatte, bei denen sich ihr Vater etwas von Ben „geliehen“ hatte, aber sie war naiverweise immer davon ausgegangen, dass es sich nicht um Summen in dieser Größenordnung handelte.

Sie blätterte die Auszüge durch und hielt dann abrupt inne, als sie erneut auf einen Geldeingang stieß – leicht genug zu finden, weil die einzelnen Posten in der Hauptsache aus Abhebungen bestanden.

Diesmal war es ein kleinerer Kredit, einhunderttausend Pfund, und der Eingang war nur ein paar Tage vor dem Herzinfarkt ihres Vaters erfolgt. Viel langsamer blätterte Olivia jetzt die Kontoauszüge noch einmal von Anfang an durch.

Als sie am Ende angelangt war, war ihr eiskalt. Grob überschlagen hatte ihr Vater im Verlauf der letzten fünf Jahre fast zwei Millionen Pfund an Krediten aufgenommen. Was hatte er mit dem ganzen Geld gemacht? Soweit sie es sehen konnte, war es für die täglichen Lebenshaltungskosten draufgegangen, die schwindelerregend hoch waren. Ja, sie sah, wo das Geld hingegangen war, aber wo war es hergekommen?

Sie hatte das ungute Gefühl, dass sie es bereits wusste, auch wenn sie die genaue Quelle noch nicht kannte. Sie schloss die Augen und holte tief Luft in der Hoffnung, sich etwas zu beruhigen.

„Oh Dad, wie konntest du nur …?“, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Ihr Blick fiel auf eine Akte, die unter den Bankauszügen steckte. Sie sah genau aus wie jene, die ihr Onkel am vergangenen Abend im Arbeitszimmer ihres Vaters in der Hand gehabt hatte. Widerstrebend griff sie danach und las den Namen: JEMINA HARDING – TREUHANDFONDS.

Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie die Akte kaum öffnen konnte. Sie hatte schon von der Harding-Familie gehört. Sie waren ursprünglich einheimische Großgrundbesitzer gewesen. Durch den Verkauf des Landes an einen großen Chemiekonzern hatte Jemina Millionen verdient. Sie war eine alte Frau Ende achtzig, wie Olivia sich erinnerte, und lebte in einem Pflegeheim.

Ihr Vater verwaltete ihren Treuhandfonds. Kam das Geld womöglich daher? Olivia war wie betäubt. Hatte ihr Vater seine Machtbefugnis missbraucht, um sich aus Jeminas Treuhandfonds zu bedienen? So etwas zu tun, wäre nicht schwierig für ihn gewesen, und er konnte sich sicher sein, dass seine Machenschaften unentdeckt blieben, bis … solange Jemina lebte und niemand nachfragte, was mit ihrem Vermögen geschehen war.

Olivia überfiel die eisige Ruhe des Schocks. Sie war sich nur ganz dunkel bewusst, dass sie die Akte wieder an ihren alten Platz zurücklegte, aufstand und in ihr Büro zurückging. Auf einmal jedoch spürte sie, wie ihre Knie weich wurden, sodass sie sich kaum mehr aufrecht halten konnte und gezwungen war, sich an einer Stuhllehne festzuhalten. Erst jetzt wurde ihr das ganze Ausmaß ihrer Entdeckung bewusst.

Ihr Vater hatte Geld gestohlen! Ihn unterschied nichts von dem Dieb, der nachts in ein Haus einbrach und es ausräumte, von einem Betrüger, der schwache alte Menschen um ihre Ersparnisse betrog. Ihr Vater …

Sie schluckte krampfhaft. Onkel Jon … hatte er davon gewusst? Ahnte er etwas? Hatte er womöglich deshalb …? Hinter ihren Schläfen begann es zu hämmern. Die Versuchung, in Jons Büro zurückzulaufen und die Bankauszüge noch einmal durchzuschauen, um sich davon zu überzeugen, dass ein Irrtum vorlag, war so stark, dass sie sich zwingen musste, sich nicht vom Fleck zu rühren.

„War er in letzter Zeit außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt?“, hatte der Arzt gefragt.

Wie um alles in der Welt hatte er es geschafft, überhaupt noch in den Spiegel zu schauen?

Auf einmal sehnte sich Olivia schrecklich nach Caspar. Und nicht allein nach ihm, sondern auch nach dem Fluchtweg, den er ihr aus diesem entsetzlichen Dilemma, dem sie sich jetzt gegenübersah, bieten konnte. Wenn sie doch bloß die Bankauszüge nie gesehen, die Akte nie geöffnet hätte. Wenn sie doch bloß jetzt mit Caspar auf dem Heimweg nach London wäre!

Es schockierte sie, erkennen zu müssen, dass sie, die sich selbst immer für stark und unabhängig gehalten hatte, jetzt, wo der Augenblick der Wahrheit gekommen war, so zutiefst verängstigt und verletzlich reagierte, und, was noch schlimmer war, sich als ein Feigling entpuppte, der, statt sich den Tatsachen zu stellen, einfach nur weglaufen und sich in die Sicherheit von Caspars Armen flüchten wollte.

Caspar. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war noch nicht zu spät, um ihn am Flughafen abzufangen.

Von ihrem Vater konnte sie ihm natürlich nicht erzählen. Caspar würde diese Art von Betrug und Ehrlosigkeit nie und nimmer verstehen – ein Vergehen, das schlimmer war als Diebstahl, weil er eine Vertrauensstellung zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte. Und doch brauchte sie ihn. Sie brauchte seine liebende Wärme, die Sicherheit, die er ihr spendete, und die Fluchtmöglichkeit …

Du großer Gott, warum hatte sie bloß diese Bankauszüge angeschaut? Was geschah eigentlich im Moment mit ihr und ihrem Leben? Warum nur musste sie all diese Dinge über ihre Eltern erfahren, die sie überhaupt nicht wissen wollte?

Zügig verließ sie das Büro und raste mit überhöhter Geschwindigkeit zum Flughafen. Begleitet von der Angst, Caspar am Ende doch noch zu verpassen. Sie musste ihn sehen … sie musste …

Kaum hatte sie die Abflughalle betreten, fiel ihr Blick auf Caspars vertrauten Rücken. Ruckartig blieb sie stehen. Der Drang, seinen Namen zu rufen, war so stark, dass sie sich auf die Zunge beißen musste, um sich davon abzuhalten, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Er unterhielt sich mit jemandem. Jetzt bewegte er sich, und sie konnte erkennen, um wen es sich handelte.

Hillary.

Der Schock raste durch ihren Körper. Ihr Kopf fühlte sich plötzlich ganz leer an.

Hillary. Was tat sie hier mit Caspar?

Jetzt stellte sich Hillary auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, machte Olivias Herz einen wilden Satz. Hillary lächelte zurück und hob Caspar ihren Mund entgegen. Caspars Hand lag auf ihrer Schulter.

Olivia glaubte einen Moment wirklich, dass sie in Ohnmacht fallen würde. Entsetzen, Unglaube und eine rasende Wut lösten einen Schmerz in ihr aus, wie sie ihn noch nie zuvor erfahren hatte.

Sah so das Ende ihrer Beziehung aus? Er hatte sie also nicht deshalb mit Vorwürfen überhäuft, weil er an ihren aufrichtigen Gefühlen zweifelte, sondern weil sich seine eigenen Gefühle für sie verändert hatten. Weil er sie nicht mehr liebte, nicht mehr wollte. Wegen Hillary, die, ebenso wie er, auch nichts von Familienbanden hielt … Wenn er glaubt, in Hillary jemand gefunden zu haben, der ihn an die erste Stelle setzt, irrt er sich ganz gewaltig, dachte Olivia rasend vor Zorn.

Sie verschwendete keine Zeit damit, zu Caspar hinüberzugehen. Stattdessen rannte sie geradewegs auf den Ausgang zu.

Caspar. Ihr Geliebter. Ihre Zuflucht … Ihr Ausweg … Sie lachte bitter auf.

Caspar starrte trübsinnig aus dem Fenster, während sein Flugzeug höher und höher in den überraschend blauen Himmel über Manchester stieg. Erst jetzt konnte er es sich eingestehen, dass, so unlogisch es auch erscheinen mochte, ein Teil von ihm bis zuletzt gehofft hatte, dass Olivia doch noch kommen würde.

Wenn sie dich wirklich lieben würde, hätte sie instinktiv deine Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche an die erste Stelle gestellt, flüsterte die trotzige Kinderstimme in seinem Kopf immer wieder.

Aber das hatte sie nicht, was ein Beweis dafür war, dass sie ihn nicht liebte. Denk daran, wie du dich fühlen würdest, wenn du in ihrer Haut stecktest; wie du reagiert hättest, wenn dir jemand ein solches Ultimatum gestellt hätte, hielt die Stimme seines Erwachsenenverstands dagegen. Hättest denn du so einem Erpressungsversuch nachgegeben? Und wäre dir überhaupt an einer Beziehung mit einem Menschen gelegen, der einem derartigen Versuch nicht standhalten kann?

Erschöpft fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. Es hätte ja wahrscheinlich ohnehin nicht funktioniert; irgendwann hätte Olivia wieder nach England zurückkehren wollen, weil ihr die Arbeit hier mehr Spaß machte. Das ganze System in Amerika war anders, viel politischer, man musste viel abgebrühter sein, und Olivia hatte sich trotz ihrer akademischen Bildung und ihrer beruflichen Fähigkeiten eine gewisse weibliche Sanftmut erhalten. Er rutschte verärgert auf seinem Sitz herum. Sie mochte vielleicht ein weiches Herz haben, aber trotzdem war sie stur wie ein Maulesel. Aber hätte er der Herausforderung, allen zu zeigen, was in ihm steckt, widerstehen können? Warum also erwartete er es von Olivia?

Sie hatte ihm das Wort im Mund herumgedreht letzte Nacht. Er hatte gar nicht die Absicht gehabt, mit Hillary zum Essen zu gehen. Es war ihm vom ersten Moment klar gewesen, dass Hillary nur nach einem Weg suchte, aus ihrer Ehe herauszukommen, und jemand, der sie in dieser Entscheidung unterstützte. Aber er hatte sich dadurch, dass er sich ihre Probleme angehört hatte, in eine äußerst prekäre Situation gebracht. Es war nur gut, dass Hilarys Familie an der Westküste lebte, was einen zukünftigen Kontakt zwischen ihnen äußerst unwahrscheinlich machte. Immerhin bleiben dir ja noch ein paar Tage, ehe du das Land verlässt, versuchte er, sich selbst zu trösten, als das Flugzeug über Heathrow zu kreisen begann. Zeit genug für Olivia, sich bei ihm zu melden … oder umgekehrt.

Olivia blieb keine andere Wahl, als sich einzugestehen, dass jetzt kein Weg mehr zurückführte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Die Gründe ihres Streits und die Ereignisse, die dazu geführt hatten, lagen klar auf der Hand, wenn sie sich nur die Mühe machte, sie nüchtern zu betrachten. Das sollte nicht heißen, dass sie sich in jeder Hinsicht im Recht fühlte; sie hatten beide Grund genug, sich verletzt zu fühlen, aber das wahrlich atemberaubende Tempo, mit dem Caspar sie ganz offensichtlich ersetzt hatte in seinem Leben – und in seinem Bett … Das war Verrat!

Nun, sie wusste, was sie zu tun hatte. Jetzt gab es keinen Grund mehr, den Kopf in den Sand zu stecken und feige nach einem Schlupfloch Ausschau zu halten … und der Erste, den sie festnageln würde, war ihr Onkel Jon, und danach … Ihre Hände zitterten, als sie die Tür ihres Autos abschloss.

Jon war in seinem Büro, als Olivia eintrat. „Ich muss mit dir reden“, erklärte sie ohne Umschweife.

„Was ist los?“, fragte er, nachdem er auf einen Stuhl gedeutet hatte. „Hast du es dir anders überlegt und beschlossen, jetzt doch gleich mit Caspar nach Amerika zu gehen?“

„Nein, ich habe es mir nicht anders überlegt“, unterbrach Olivia ihn ruhig. „Ich habe daran gedacht, aber da war es bereits zu spät.“

Als sie nicht näher ausführte, worauf sie hinauswollte, verlagerte Jon sein Gewicht nervös von einem Fuß auf den anderen.

„Es ist gut, Onkel Jon“, sagte Olivia sanft, „ich weiß jetzt, warum du nicht wolltest, dass ich hier arbeite.“

Sie konnte sehen, wie Jon sich versteifte, als sie sprach.

„Ich weiß, was Dad getan hat“, fuhr Olivia entschlossen fort. „Von dem Geld, das er aus Jemina Hardings Treuhandfonds entnommen – gestohlen – hat. Seit wann weißt du davon?“

Jon holte tief Luft und ging zum Fenster hinüber, bevor er stockend erwiderte: „Ich hatte schon seit einiger Zeit einen Verdacht, aber … ich wollte nicht … ich dachte, dass vielleicht … du darfst deinen Vater nicht zu streng verurteilen, Olivia“, stotterte er. „Er muss unter Gott weiß was für einem Druck gestanden haben. Ich wünschte mir nur …“ Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf.

„Oh Onkel Jon, wie konnte er bloß?“, brach es verzweifelt aus Olivia heraus, wobei sie aufstand und aufgebracht im Zimmer auf und ab lief.

„Ich glaube nicht, dass er die Dinge so weit treiben wollte“, versuchte Jon, sie zu trösten. „Ich bin mir sicher, dass er sich das Geld zuerst nur ausborgen wollte … dass er wirklich vorhatte, es zurückzuzahlen, aber dann …“

„Konnte er es nicht, und deshalb hat er sich gleich noch ein bisschen mehr ausgeborgt“, unterbrach Olivia ihn bitter. „Nur dass er es sich gar nicht ausgeborgt hat, nicht wahr, Onkel Jon? Er hat es gestohlen“, gab sie scharf zurück. „Ich kann es noch immer nicht glauben.“

Jon zuckte wie von einem Peitschenhieb getroffen zusammen, während er ihr zuhörte. Er hatte das Gefühl, dass ihn keine geringere Schuld traf als David. Er hätte es nicht erlauben dürfen, dass David so eine verletzliche Mandantin ganz allein betreute, vor allem nicht, wo er doch ganz genau wusste … aber das war alles lange her, und er hatte es seinem Vater als Davids Bruder und auf die Bibel geschworen, dass er diesen unglückseligen Fehler von David – diesen kleinen Fehltritt, begangen aus jugendlicher Torheit – nie wieder erwähnen würde. David war damals einem Gerichtsverfahren nur knapp entronnen, und dies nur deshalb, weil die Betroffenen kein Interesse daran hatten, dass publik wurde, dass jemand es fast geschafft hätte, sie um eine stattliche Geldsumme zu prellen.

Deshalb hatte man die ganze Angelegenheit unter den Teppich gekehrt. David hatte von dem Geld damals noch nichts ausgegeben, deshalb konnte er es zurückzahlen. Er war aus der Kanzlei entlassen worden und hatte sowohl seinem Vater als auch ihm unter Tränen geschworen, dass er einer solchen Versuchung nie wieder nachgeben würde. Schuld daran, dass es so weit gekommen sei, wäre nur das Leben, das er zu führen gezwungen sei, die Leute, mit denen er Umgang hatte, und die Tatsache, dass Tiggy schwanger sei, sonst wäre er einer solchen Versuchung niemals erlegen, hatte er damals immer wieder beteuert. Er hätte nie vorgehabt, das Geld zu stehlen, nur ausborgen wollen habe er es sich, mehr nicht. Bis er seine Zulassung hatte, das war alles.

„Onkel Jon, was sollen wir denn jetzt machen?“, unterbrach Olivia seine Gedanken. „Wir können dieses Geld niemals zurückbezahlen, und selbst wenn wir es könnten …“ Sie breitete hilflos die Hände aus. „Er hat sich des Betrugs schuldig gemacht … der Unterschlagung … und eines Berufsvergehens schlimmster Art. Es wird Gramps umbringen“, flüsterte sie, „und dies alles hier kaputt machen.“ Sie machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloss.

Jon konnte ihr nicht widersprechen. Wer würde eine Anwaltskanzlei beauftragen, in der sich einer der Teilhaber der Unterschlagung schuldig gemacht hatte? Der Name Crighton, auf den sein Vater so stolz war, wäre ruiniert!

Aber diesmal ließ sich die Wahrheit nicht geheim halten. Jemina Harding war neunundachtzig und bei schlechter Gesundheit; sie konnte nicht ewig leben, und früher oder später – wahrscheinlich früher – würde irgendjemand die Frage stellen, was mit den zwei Millionen Pfund aus ihrem Treuhandfonds geschehen war.

„Es gibt nichts, das wir tun könnten“, erwiderte Jon niedergeschlagen, und als Olivia ihm jetzt in die Augen schaute, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, welch eine große Bürde ihr Vater seinem Zwillingsbruder auf die Schultern geladen hatte.

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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