Die skandalöse Gouvernante

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Der gut aussehende Viscount Chepstow erlaubt sich mit seinem weihnachtlichen Heiratsantrag nur einen Scherz mit mir, dessen ist Honey sich sicher. Eine einfache Gouvernante wie sie ist passt schließlich nicht zu einem Mann wie ihm, oder?


  • Erscheinungstag 04.10.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733742928
  • Seitenanzahl 120
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Erst als er den vom Waldrand hervorschallenden Kinderlärm hörte, fiel Lord Chepstow plötzlich ein, warum unterschwellig die Überlegung an ihm genagt hatte, die Weihnachtseinladung der Budworths vielleicht besser nicht anzunehmen.

Pippas frühere Schulfreundin Miss Honeysuckle Miller arbeitete dort als Gouvernante.

Honeysuckle – nun ja, sie hatten sie stets Honey genannt –, aber dennoch, wenn je ein Mädchen weniger passend benannt war, musste es ihm erst noch begegnen. Honey beschwor Erinnerungen an warme Sommerabende herauf, an zarte, nach Honig duftende Blüten. Doch Pippas Freundin war mollig und spitzzüngig. Die wenigen Male, die er sie in den letzten Jahren gesehen hatte, war es ihr jedes Mal gelungen, ihm zu vermitteln, dass sie missbilligend über ihre Brille von oben herab auf ihn hinabschaue – ein ziemliches Kunststück, da sie ihm gerade einmal bis zum Kinn reichte.

Oh ja, Miss Miller konnte er sich sehr gut als Gouvernante vorstellen! Während Pippa Jahr um Jahr aufgeblüht und zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen war, die in die Gesellschaft einzuführen nachgerade ein Vergnügen bedeutete, hatte Miss Miller sich zu einem wahren Drachen entwickelt.

Dennoch zügelte er nun seinen Hengst und ließ den Rest der Gesellschaft vorausgaloppieren. Obwohl er es nicht verstand, betrachtete seine Schwester Miss Miller immer noch als ihre beste Freundin, und sie pflegten einen regen Briefwechsel, auch wenn die beiden jungen Frauen nun verschiedenen Milieus angehörten. Und falls Pippa herausbekam, dass er auf dem Familiensitz Lord Bedfords geweilt hatte, würde sie es sehr seltsam finden, dass er sich nicht wenigstens nach Honeys Wohlergehen erkundigt hatte.

Also sollte er es besser so bald wie möglich hinter sich bringen. In der Tat konnte er sich kaum einen besseren Moment vorstellen, sie zu treffen. Denn solange er hoch zu Ross saß – noch dazu auf einem so prachtvollen Tier wie Diamond, auf dem er wirklich eine schneidige Figur abgab –, musste sie ihn doch bestimmt bewundern? Nun, wenigstens ein kleines bisschen.

Bis heute konnte er nicht verstehen, worauf ihre kritische Haltung ihm gegenüber beruhte, vor allen Dingen, da es ihm ein Leichtes war, alle anderen weiblichen Wesen mit seinem Charme zu bezirzen. Er schüttelte den Kopf. Eigentlich sollte es ihm völlig gleichgültig sein, trotzdem würde er es auf jeden Fall vorziehen, dieses erste Treffen hinter sich zu bringen, während er hoch zu Ross saß und sie am Boden stand, damit er sich die Illusion erhalten konnte, dieses eine Mal derjenige zu sein, der hinabschaute.

Wie auch immer, selbst wenn sie willens war, Missbilligung zu verströmen, würde sie doch zu einem Gast ihres Arbeitgebers nicht unhöflich sein können, nicht unter den Augen ihrer kleinen Schutzbefohlenen. Unwillkürlich lächelte er bei dem Gedanken, Miss Miller endlich einmal eindeutig im Nachteil zu wissen.

Als er sein Pferd in Richtung der Kinder lenkte, die er schon zwischen den Bäumen ausmachen konnte, hörte er hinter sich Hufschlag, und ein weiterer Reiter schloss sich ihm an.

„Wohin wollen Sie, Lord Chepstow?“

Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass es Lady Amanda Springfield auf ihrer hübschen kleinen Stute war.

„Nur mal hinüber zu den Kindern.“ Er ließ sich ihre neugierige Frage nur gefallen, weil Lady Amanda selbst kaum aus dem Schulzimmer entlassen war. „Das heißt, eigentlich zu ihrer Gouvernante. Die ist eine gute Freundin meiner Schwester. Sie besuchten dasselbe Internat. Sollte sie begrüßen, da ich schon einmal hier bin.“

Lady Amanda verzog das Gesicht. „Oh, Gouvernanten! Eine grässlich langweilige Sorte.“

Sein Lächeln verblasste. Obwohl er eben noch wesentlich unnettere Gedanken über Miss Miller gehegt hatte, war es doch etwas ganz anderes, von jemandem, der überhaupt nichts über sie wusste, derart geringschätzige Äußerungen zu hören.

„Miss Miller ist keineswegs langweilig“, wehrte er entschieden ab. Nein, was Miss Miller war, würde er lästig nennen. Bei ihrem ersten Besuch in einem seiner Domizile hatte er noch angenommen, sie sei schüchtern und vielleicht ein wenig in Ehrfurcht vor dem großen Bruder ihrer Freundin befangen, da sie nicht ein Wort hervorbrachte, ohne blutrot anzulaufen.

Bei den folgenden Besuchen musste er seine Meinung ändern. Letztendlich hatte er dann Pippa einmal geradeheraus gefragt, warum sie andauernd ein solch mürrisches, unfrohes Geschöpf ins Haus bringe. „Warum kannst du nicht wenigstens einmal ein hübsches, liebenswertes Mädchen einladen?“ Anstatt einem, das von Jahr zu Jahr in sich gekehrter und unansehnlicher wurde.

Zu seinem Erstaunen hatte Pippa die Schultern gestrafft, tief eingeatmet und mit der Haltung einer Märtyrerin, die sich den Löwen zum Fraß hinwirft, kämpferisch verkündet: „Mir ist ihr Aussehen gleichgültig. Sie ist meine beste Freundin. Wenn sie nicht wäre, wüsste ich nicht, wie ich in der Schule zurechtkäme.“

Das mochte durchaus stimmen. Pippa war, was die Schule anging, nicht die größte Leuchte. Die kleine Miller hatte ihr vermutlich beim Lernen geholfen. Er konnte sie sich durchaus als eine jener unauffälligen Schülerinnen vorstellen, die sich mit Fleiß und Eifer an jede Aufgabe machten. In dem Zimmer, das sie während der Ferien auf einem seiner Landsitze innegehabt hatte, hing immer noch ein kleines Aquarell von ihrer Hand. Sie hatte den Garten drunten gemalt, und jedes Blatt wirkte so naturgetreu, dass man es für ein Lehrbuch hätte verwenden können.

Im Übrigen waren die Mädchen gleichzeitig in das Institut Moulsham Lodge eingetreten, nachdem sie beide gerade ihre Eltern verloren hatten. Auch dadurch war vermutlich ein enges Band zwischen ihnen entstanden. So eng sogar, dass Pippa bei ihrem Debüt in London Miss Miller während ihrer ersten Saison an ihrer Seite sehen wollte. Als das Mädchen ablehnte, weil es, wie es sagte, sich derartige Ausgaben nicht leisten konnte, war sie sehr betrübt gewesen, so sehr, dass er Miss Miller großzügig angeboten hatte, alle Kosten zu übernehmen.

Nachdenklich schaute er zu dem Baumgürtel hinüber. Sie hatte mit Dank abgelehnt, sich freihalten zu lassen, und dafür hatte er sie damals sehr bewundert. Worauf auch immer die Freundschaft der beiden Mädchen beruhte, Habgier und geldliche Vorteile spielten bei Miss Miller keine Rolle. Was eine seltene weibliche Tugend war in einer Gesellschaft, in der das eigene Interesse normalerweise vorherrschte.

Und während Pippa ihren Platz in der Gesellschaft eingenommen hatte, war Miss Miller nichts anderes übrig geblieben, als in dem Institut, in dem die Mädchen ihre Jugend verbracht hatten, als unbezahlte Lehrkraft zu arbeiten, nur gegen Kost und Unterkunft.

„Wissen Sie“, bemerkte er, an Lady Amanda gewandt, „in keinem Fall könnte ich eine junge Frau von guter Abstammung verachten, nur weil sie sich gezwungen sieht, für ihren Lebensunterhalt einer Arbeit nachzugehen.“

Dass das ein verzogenes, verhätscheltes Geschöpf wie Lady Amanda Springfield verstehen würde, konnte er sich allerdings auch nicht vorstellen, doch Miss Miller diese Anstellung zu verschaffen war das Klügste und Gütigste, was Pippa je vollbracht hatte. Irgendwie hatte sie ihren Gatten überreden können, seine Verbindungen spielen zu lassen, um ihrer Freundin eine bezahlte Stellung zu verschaffen, und so war sie hier gelandet und betreute Lord Budworths Sprösslinge.

Lady Amanda hob ihre fein gestrichelten Brauen. „Aber deshalb müssen wir doch sicher nicht ausdrücklich Umgang mit ihr pflegen?“

Er fand es ein wenig irritierend, dass er nun eine Haltung missbilligte, die er wenige Minuten zuvor noch selbst eingenommen hatte. Er hatte nicht einmal in Erwägung gezogen, aus dem Sattel zu steigen oder mehr als einen kurzen Augenblick darauf zu verschwenden, eine lästige Pflicht hinter sich zu bringen. Aber immerhin war er bereit gewesen zu tun, was sich gehörte, wenn auch widerwillig, und er würde sich nicht davon abbringen lassen, nur weil so ein gerade aus dem Schulzimmer entlassener Fratz nicht einverstanden war.

„Wir?“ Er lächelte sardonisch, wandte sich von ihr ab und trieb Diamond voran, fest entschlossen, der Freundin seiner Schwester seine Aufwartung zu machen.

Sollte doch Lady Amanda tun, was ihr beliebte.

Kaum hatte er die Lichtung erreicht, sah er, dass eine Kinderschar mit Unterstützung zweier jugendlicher Hilfsgärtner eifrig dabei war, immergrüne Zweige und Blattwerk zu sammeln. Alle schienen sich königlich zu amüsieren.

Seitwärts davon saß auf einem Baumstumpf Miss Miller, gegen die Kälte in ein buntes Sortiment an Schals, Handschuhen und Mantel gehüllt und eine unvorstellbar unkleidsame Haube auf dem Kopf.

„Du lieber Gott, Miss Miller, was sitzen Sie denn derart vermummt auf diesem Stumpf! Und wie sehen Sie nur aus!“ Er konnte sich nicht zurückhalten, er platzte vor Lachen heraus; denn wie sie da über diese Schar wachte, bot sich ihm eine völlig andere Szene, als er sich je hätte vorstellen können.

Sie stand auf. Da das Licht sich in ihren Brillengläsern spiegelte, konnte er den Ausdruck in ihren Augen nicht richtig erkennen, doch er hätte wetten mögen, dass sie ihn mit einem ihrer tadelnden Blicke durchbohrte.

Und hinter sich hörte er laut und klar die Stimme Lady Amandas: „Ein Gnom! Also wirklich, sie sieht aus wie ein Gnom.“

Miss Miller versteifte sich. Sie sagte nichts, doch ihr schoss die Röte in die Wangen.

„Lady Amanda!“, mahnte er vorwurfsvoll und sah die junge Dame stirnrunzelnd an.

Er hätte wissen müssen, dass sie sich so leicht nicht abschütteln ließ. Im Frühjahr würde sie debütieren, und er war unter den Gästen so ziemlich der jüngste und angesehenste Junggeselle. Gestern Abend beim Dinner war er noch aufs Höchste amüsiert, wie sie ihr gesamtes Repertoire an Flirtkünsten an ihm ausprobiert hatte.

Nun wünschte er, er hätte ihr eine ordentliche Abfuhr erteilt, und jetzt hätte er es nur zu gern getan. Es war unglaublich taktlos von ihr, sich über eine Person lustig zu machen, die es sich nicht leisten konnte, sich zu wehren.

Einer Dame in der Öffentlichkeit Vorwürfe zu machen, stand ihm leider nicht zu, doch als sie mit ihrer Stute zu ihm aufschloss, sagte er leise: „Das war nicht nett.“

„Nein, eher nicht.“ Sie zuckte die Schultern und warf Miss Miller einen abfälligen Blick zu. Und dann fügte sie laut genug, dass jeder es hören konnte, hinzu: „Schließlich kann sie nichts für ihr Aussehen.“

Die hinterhältige Katze! Es war ihr gelungen, ihn dastehen zu lassen, als hätte er eine weitere herabsetzende Bemerkung geäußert, obwohl er eigentlich Lady Amanda hatte erinnern wollen, was sie ihrem Rang schuldig war.

An dieser Stelle knickste Miss Miller vage in ihre Richtung und sagte in vor Verachtung triefendem Ton: „Lord Chepstow!“, so, als trage ganz allein er die Schuld an Lady Amandas Betragen und als erwarte sie von ihm auch nichts anderes.

Und man stelle sich vor! Hoch auf dem Rücken eines prachtvollen Hengstes zu sitzen, bot nicht den mindesten Vorteil! Er mochte sie nicht ‚Gnom‘ betitelt haben, doch aufgrund seines Gelächters hatte Lady Amanda sich berechtigt gefühlt, den vergifteten Pfeil fliegen zu lassen.

In diesem Moment trippelte Diamond unruhig und warf den Kopf auf, als wollte er sagen: ‚Dieser Bursche da auf meinem Rücken, mit dem habe ich nichts zu tun. Ich bin sehr wohlerzogen. Soll ich ihn in den Schmutz werfen?‘

„Das also ist Ihre Gouvernante“, sagte Lady Amanda verächtlich, während er sich bemühte, Diamond zu zügeln.

„Sie ist nicht meine Gouvernante. Sie arbeitet für Lord and Lady Budworth …“

„Ach, das ist komisch“, sagte sie geziert und schenkte ihm einen Blick, der überhaupt nicht mehr verächtlich war.

Herrgott, sie war genau das, was ihn an den Damen des ton am meisten abstieß. Sie sah ihn nicht als eigenständiges Wesen, so wenig, wie sie Miss Miller als jemanden betrachtete, der sich durchaus verletzt fühlen könnte. Nein, wenn sie ihn anschaute, sah sie in ihm nur die reichste Beute auf dem Heiratsmarkt, die, koste es, was es wolle, gewonnen werden musste. Aber welcher Mann, solange er seine Sinne beisammenhatte, wollte überhaupt an ein solches Geschöpf gefesselt sein?

Nicht dass es ihn je gelüstet hätte, ihr Hoffnungen zu machen. Um eben dieser Ehefalle zu entgehen, hatte er London verlassen! Die persönlichen Verhältnisse seines Freundes Havelock hatten sich dahingehend entwickelt, dass der Gute dringend gezwungen war, zu heiraten. Und wenn er selbst dem armen Kerl auch gern geholfen hatte, eine Liste der erwünschten Eigenschaften der zukünftigen Braut aufzustellen, so hatte er doch nicht beabsichtigt, noch dort zu sein, wenn der sich dann auf die Suche begab.

Bestimmt würde er sich nicht zu dicht an die Fersen eines Mannes heften, der derart begierig darauf aus war, seinen Hals in die Schlinge zu stecken. Zehn zu eins gewettet, würden die Damen seine brüderliche Unterstützung als Zeichen werten, dass er den gleichen Weg einzuschlagen bereit sei. Und nach allem, was er gehört hatte, gingen einige Schöne ziemlich skrupellos vor, sobald sie einen Mann als legitime Beute betrachteten.

Natürlich würde er heiraten und einen Erben zeugen müssen – irgendwann. Doch vor seinem dreißigsten Lebensjahr würde höchstens ein echter Langweiler oder jemand, der sich den gleichen Problemen wie Havelock gegenübersah, auch nur im Traum daran denken, sich mit einer Frau und Kindern zu belasten.

Und besonders nicht mit einer Frau, die über eine andere Dame derart boshafte Bemerkungen machte. Es war ihm vorgekommen, als müsste er zusehen, wie … wie jemand ein Kätzchen misshandelte.

„Also, nun haben Sie ja getan, was Sie sich vorgenommen hatten“, sagte Lady Amanda mit strahlendem Lächeln. „Wir sollten sie bei ihrem Unterricht, oder was immer sie da tut, besser nicht weiter stören.“ Sie wendete ihr Pferd und ritt fort, offensichtlich überzeugt, dass er ihr folgen werde.

Er sandte ihr nur einen gereizten Blick nach, dann wandte er sich wieder ganz Miss Miller zu. Vielleicht mochte er sie nicht besonders, doch trotzdem war sie Pippas Freundin, und als diese verdiente sie Respekt.

„Miss Miller …“

Kämpferisch hob sie das Kinn. „Ja?“

„Ah …“ Irgendetwas an ihrer stolzen Haltung gab ihm das Gefühl, als müsste er sich aufrecht hinsetzen und … sich bemühen, ihren Erwartungen zu entsprechen.

Wie gelang ihr das nur? Mit einem scharfen Blick machte sie ihm klar, dass er nicht nur sie, sondern auch sich selbst enttäuscht hatte.

Grüßend hob er die Reitgerte an seine Hut und machte sich davon. Später, wenn sie sich von diesem Treffen erholt hatte, würde er sie aufsuchen und ihr mindestens eine Stunde widmen, um die Bedingungen ihrer Stellung genauer in Augenschein zu nehmen und sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Und wenn er schon dabei war, konnte er auch gleich klarstellen, wie beklagenswert er Lady Amanda Springfields Betragen fand.

2. KAPITEL

Und so kam es, dass während der trägen Stunde nach dem Tee, als jedermann satt und untätig herumsaß, weil es noch zu früh war, um sich zum Dinner umzukleiden, Lord Chepstow einen Lakaien in Staunen versetzte, weil er den Weg zum Schulzimmer erfragte.

Nicht dass er sich auf diese Begegnung gefreut hätte. Immerhin hatte Miss Miller bei ihm etwas gut, das sich durchaus als Entschuldigung bezeichnen ließ, und er war nicht daran gewöhnt, für seine Handlungen Rechenschaft abzulegen. Doch er konnte die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Er hatte mit der erfreulichen Aussicht die Lichtung aufgesucht, endlich einmal im Vorteil zu sein. Und dann hatte es des Auftritts von Lady Amanda bedurft, um ihm zu zeigen, wie gemein dieses Verhalten in Wahrheit war. Und selbst der Anschein der Mittäterschaft war ihm zutiefst zuwider.

Im Flur vorm Schulzimmer blieb er stehen, denn zu seiner Überraschung hörte er auch hier wieder Geräusche, die klangen, als hätte eine ganze Schar Kinder ungeheuren Spaß. Er stieß die Tür auf und verharrte, die Brauen verwundert gehoben, eine Weile. Erwartet hatte er, dass die Kinder alle brav in einer Reihe hinter aufgeräumten Pulten säßen, die Köpfe über ihre Bücher gesenkt, während Miss Miller, drohend ihren Zeigestab schwingend, vor ihnen auf und ab marschierte. Stattdessen knieten zwei Knaben auf dem Kaminvorleger und – rösteten über dem munter lodernden Feuer Kastanien. Neben ihnen auf einem Berg weicher Kissen hockten zwei Mädchen, die die heißen Köstlichkeiten entgegennahmen. Sie pusteten kühlend auf die Früchte, schälten sie und teilten sie an mehrere jüngere Kinder aus.

Der ganze Raum quoll über von immergrünem Gezweig, es steckte in wassergefüllten Eimern und lag in unterschiedlichen Stadien der Verarbeitung auf diversen Tischen. Und es duftete ganz wunderbar, nicht nur nach Tanne und Kiefernharz, sondern nach den heißen Kastanien und kalter, frischer Luft, die wohl noch aus den feuchten Mänteln der Kinder ausdünstete.

Obwohl alles ein wenig chaotisch wirkte, war das hier höchstwahrscheinlich in den Augen der Kinder das Paradies.

Als die Tür geöffnet wurde, dachte Miss Miller, es sei Jane, die für die Kinder heiße Schokolade bringen sollte. Lord Chepstow war nun wirklich die letzte Person, die hier oben zu sehen sie erwartet hätte, so weit entfernt von seiner angestammten Umgebung. Es konnte nur bedeuten, dass er sich langweilte und Abwechslung suchte.

Sie rüstete sich für die drohende Begegnung, die, wie sie annahm, nicht weniger schmerzlich als die vorherige verlaufen würde.

Seit zwei Jahren hatte sie ihn nicht gesehen, und was tat er? Nutzte die erstbeste Gelegenheit, um über sie zu spotten.

Nur weil sie von nicht sonderlich großer Statur war und sich keine neuen Kleider leisten konnte, ganz zu schweigen von solchen nach der neuesten Mode, glaubten reiche, privilegierte Leute wie Lord Chepstow und diese hochmütige Person, die er bei sich gehabt hatte, dass sie sie behandeln könnten, als wäre sie irgendwie ein geringeres Wesen.

Sie presste die Lippen zusammen; das Schlimmste daran kam noch: dass er, wie sie entdeckt hatte, immer noch die Macht besaß, ihr wehzutun. Dabei hatte sie sich doch eingeredet, dass sie von diesem speziellen Übel geheilt wäre. Und dann hatte es genügt, ihn im Haus zu wissen, und die Gefühle, die sie seit ihren Schulmädchentagen hegte, erwachten schmerzhaft zum Leben. Als sie heute Vormittag Reiter an der Lichtung vorbeitraben hörte, hatten alle ihre Sinne gebebt, denn sie war sich sicher, dass auch er dabei war. Er war ein begeisterter Reiter, und zu Pferd gefiel er ihr stets besonders gut. Die Art, wie er diese großen Tiere so mühelos beherrschte, machte ihr seine Vitalität, seine Körperkraft sehr bewusst.

Sie hatte angestrengt gelauscht, um vielleicht seine Stimme aus dem Gewirr der Zurufe herauszuhören, und als sie sie tatsächlich erkannte, begann ihr Herz zu rasen, und ihre Hände zitterten, und das nur, weil sie hoffte, zwischen den Bäumen hindurch einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Und dann erschien er auf einem prächtigen Rappen, genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte, in elegantem Reitanzug von so geschicktem Schnitt, dass er seine prachtvolle Figur betonte und doch seine Bewegungsfreiheit nicht einschränkte.

Ein irgendwie zärtliches Gefühl regte sich in ihrem Herzen, als sie sah, dass er immer noch sein Haar ein klein wenig zu lang trug, sodass er die blonden Strähnen immer wieder aus der Stirn zurückwerfen musste.

Autor

Annie Burrows
<p>Annie Burrows wurde in Suffolk, England, geboren als Tochter von Eltern, die viel lasen und das Haus voller Bücher hatten. Schon als Mädchen dachte sie sich auf ihrem langen Schulweg oder wenn sie krank im Bett lag, Geschichten aus. Ihre Liebe zu Historischem entdeckte sie in den Herrenhäusern, die sie...
Mehr erfahren