Ein Kuss, ein Ball – ein Skandal!

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Amouröse Paare und Glücksspieler: In was für einen Sündenpfuhl bin ich hier nur geraten?, fragt sich die junge Annie Fitzroy bestürzt. Zum Glück erkennt sie in diesem anrüchigen Ambiente niemand. Und doch findet sie sich am selben Abend in den Armen eines Fremden wieder, der ihr einen heißen Kuss raubt! Wie gut, dass er nicht weiß, dass sie eine adlige Debütantin ist. Sie wird ihn nie wiedersehen – Irrtum! Auf dem Ball am nächsten Abend steht sie ihm unmittelbar gegenüber. Sie sieht das Erstaunen in Captain Will Grosvenors Blick, spürt die sinnliche Sehnsucht zwischen ihnen – und plötzlich ist ein Skandal nur einen zweiten Kuss entfernt …


  • Erscheinungstag 04.03.2025
  • Bandnummer 422
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531580
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PPOLOG

26. Juni 1813

Meine lieben Lords, Ladies und Gentlemen des ton,

die Londoner Saison neigt sich dem Ende entgegen, aber es ist immer noch Zeit, uns jede saloppe Bemerkung oder schockierende Enthüllung mitzuteilen, die uns bei der Entscheidung helfen könnte, den Titel des „Skandalösesten der Gesellschaft“ von 1813 zu vergeben.

In diesem Jahr haben die Fitzroys und die Claremonts, die uns so oft mit ihrer langjährigen Rivalität unterhalten haben, enttäuschend wenig schmutzige Wäsche gewaschen. Der Waffenstillstand zwischen den beiden Familien, der mit der skandalösen Heirat von Frederick Fitzroy und Lady Dorothea Claremont in der letzten Saison begann, wurde durch die kürzliche Verbindung von George Claremont mit Miss Kitty Fitzroy weiter zementiert.

Wenn die Claremonts also nicht länger bereit sind, für unser Vergnügen zu sorgen, wer wird dann aufstehen – oder untergehen –, um den diesjährigen Preis zu gewinnen?

Schicken Sie Ihre Nominierungen noch vor der Abschlussparty der Saison an die Times, Fleet Street, London.

Der Name des glücklichen (oder unglücklichen?) Gewinners wird wie immer am Morgen nach dem Abschlussball der Saison veröffentlicht.

Mit freundlichen Grüßen,

die Times-Society-Redaktion

1. KAPITEL

Auf einer Straße am Rande der Stadt standen zwei kleinere Kutschen nebeneinander, und die temperamentvollen Pferde, die davor gespannt waren, tänzelten nervös. Ein paar Meter weiter stand ein Mann mit einem weißen Taschentuch in der Hand, mit dem er gleich den Start des Rennens signalisieren würde.

Er rief zur Ruhe, zählte bis drei und ließ das Tuch zu Boden flattern.

Annie Fitzroy ließ die Leinen knallen und musste das Gleichgewicht halten, als die Pferde sich ruckartig in Bewegung setzen. Sie ließ die Peitsche in ihrer linken Hand zucken, gerade genug, um die Ohren der Pferde zu kitzeln und sie vorwärtszutreiben.

Es funktionierte. Die Tiere waren bereits im Galopp, und sie ließen den Fahrer der anderen Kutsche hinter sich. Der Mann schien zu glauben, dass man Pferde nur mit roher Gewalt und Flüchen in den Griff bekommen konnte. Er zerrte so grob an den Leinen, dass die Pferde nicht wussten, was sie machen sollten.

Annie lachte, zog in halsbrecherischer Geschwindigkeit mit ihrem Gespann davon, sodass ein weniger erfahrener Fahrer vom Kutschenbock gestürzt wäre. Der Wind riss ihr den Hut vom Kopf und ließ ihr braunes Haar im Wind wehen.

Claudine, ihre Zofe, hätte einen Anfall bekommen, wenn sie sie in diesem Zustand gesehen hätte, da war sie sich sicher. Aber eine zerzauste Frisur war ein geringer Preis dafür, wenn es ihr gelänge, Clive Whittacre in seine Schranken zu weisen. Nichts anderes hatte er verdient, hatte er sich doch überaus respektlos ihr gegenüber über die angebliche Unfähigkeit von Frauen als Fahrerinnen geäußert. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah ihn genau dort, wo sie ihn vermutet hatte: direkt hinter ihr, aber ohne Hoffnung, sie einzuholen, als sie die Kilometermarke passierte, die ihnen als Ziellinie diente.

Dann verlangsamte sie ihre Fahrt und fuhr an den Straßenrand, um ihrem Konkurrenten mehr als genug Platz für sein eigenes unbeholfenes Finish zu lassen, hob die Hände und strich sich die Haare zurecht, während er von seiner Kutsche sprang, um Annie hinunterzuhelfen.

„Verdammt … ich meine, verflixt und zugenäht, Lady Anne, aber das war ein gutes Stück Fahrkunst.“

„Dann, Sir, nehme ich an, Sie ziehen Ihre frühere Behauptung zurück, dass alle Frauen eine Katastrophe im Straßenverkehr wären und dass man ihnen verbieten sollte, die Leinen anzufassen.“

Clive Whittacre lachte. „Ich ändere zumindest meine Aussage. Man sollte Ihnen das Rennen verbieten, damit wir anderen eine reelle Chance auf den Sieg haben.“

Sie nickte ihm zu und schenkte ihm eines ihrer besten Gesellschaftslächeln, das ihn vermutlich dazu veranlassen würde, ihr auf dem nächsten Ball hinterherzulaufen, begierig darauf, sie in noch ganz anderer Hinsicht herauszufordern.

Dabei war es bedauerlich, dass sie nicht an ihm interessiert war. Es war ja nicht so, dass sie jeden Mann ablehnen würde, der sie in einem Wettrennen nicht schlagen konnte. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, jemanden zu heiraten, der seine Pferde misshandelte, und Mr. Whittacre hatte eine harte Hand mit der Peitsche.

Ihr Bruder Freddie löste sich aus der kleinen Schar von Schaulustigen, die sich am Straßenrand versammelt hatten, und kam auf sie zu, um seine Kutsche wieder zu übernehmen. „Du musst damit aufhören“, sagte er und reichte ihr ihren Hut, wobei sein Lächeln einen Hauch von Verärgerung enthielt.

„Womit soll ich aufhören, mein Lieber?“, fragte sie betont unschuldig.

„Meine Freunde übertrumpfen zu wollen“, sagte er kopfschüttelnd. „Das ist nicht besonders ladylike.“

„Ich werde damit aufhören, wenn die Herren mir keinen Grund mehr dazu geben“, sagte sie schulterzuckend und drückte ihm seine Peitsche in die Hand. Dann setzte sie sich den Hut auf das zerzauste Haar und band sich eine elegante Schleife unter dem Kinn. „Es ist nicht meine Schuld, wenn sie immer so tun müssen, als wären sie mir überlegen, um mich zu beeindrucken. Ich kann nicht widerstehen, ihnen das Gegenteil zu beweisen.“

„Das Mindeste, was man tun kann, ist, ab und zu zu verlieren“, entgegnete er und kramte in seinen Taschen nach Zuckerstückchen, um die siegreichen Pferde zu belohnen. „Vielleicht war es ein Fehler von mir, dich heute zu Tattersall’s mitzunehmen. Es ist kein Wunder, dass du in dieser Umgebung auf dumme Ideen kommst.“

„Ideen! Gott bewahre, dass Frauen Ideen haben!“, sagte sie mit einem Schaudern, zwinkerte ihm mit ihren großen blauen Augen zu und tat ihr Bestes, um weiblich und damit harmlos zu wirken. „Und was Tattersall’s betrifft, woher soll ich sonst eine gute Stute bekommen? Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine lahme Mähre ich bekäme, wenn Vater die Wahl für mich treffen würde. Ich bin zwanzig, aber er behandelt mich immer noch wie ein Kleinkind.“

„Er würde dir ein Pferd aussuchen, das brav und verlässlich wäre“, sagte ihr Bruder vernünftig.

„Und wo bliebe da der Spaß?“, erwiderte sie grinsend. „Ich kann mit allem, was auf vier Beinen steht, genauso gut oder sogar besser umgehen als du.“

„Hast du vergessen, dass das Ziel einer Saison in London darin besteht, dir jemanden auf zwei Beinen anzulachen, nicht auf vier? Wenn du zu wild wirkst, wird es uns nicht gelingen, die Männer davon zu überzeugen, dass du eine annehmbare Ehefrau abgeben würdest.“

„Meine Manieren sind gut genug, wenn es darauf ankommt“, versicherte sie ihm. „Und im Ballsaal bin ich mehr als beliebt. Vielleicht warst du zu sehr damit beschäftigt, Dorothea den Hof zu machen, um es zu bemerken, aber ich habe bereits mehrere Angebote von Männern erhalten, die meinen Geist bewundern.“

„Warum hast du sie dann nicht angenommen, um uns allen weitere Sorgen zu ersparen? Jetzt, da Hattie und Kitty aus dem Haus sind, bin ich mir sicher, dass Mutter und Vater sich den Kopf darüber zerbrechen, dass du am Ende der Saison enttäuscht und allein dastehen könntest.“

„Ich wäre noch viel enttäuschter, wenn ich mich falsch entscheiden und mich mit einem Mann zufriedengeben würde, der mich nicht so liebt, wie Hattie und Kitty von ihren Ehemännern geliebt werden“, sagte sie so gelassen wie möglich. Auf keinen Fall sollte Freddie merken, dass sie das Thema durchaus beunruhigte.

Es wäre vielleicht einfacher gewesen, eine Entscheidung zu treffen, wenn alle um sie herum nicht so spektakulär glücklich mit ihren Partnern gewesen wären. Zu diesem Zeitpunkt war sie von jedem infrage kommenden Mann in London umschmeichelt, umworben und auf dem Tanzboden herumgewirbelt worden, und keiner von ihnen hatte ihr Herz berührt, geschweige denn, dass es so schnell geschlagen hätte, wie Hattie und Kitty es ihr beschrieben hatten. War es zu viel verlangt, sich eine Ehe zu wünschen, wie die verschiedenen Mitglieder ihrer Familie es ihr vorlebten, mit echter Liebe und Zuneigung auf beiden Seiten?

„Mutter und Vater wollen sicher nicht, dass ich mich in eine unglückliche Ehe stürze“, sagte sie, war sich dessen aber überhaupt nicht sicher. Die beiden hatten ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass es an der Zeit sei, sich für einen Mann zu entscheiden. Aber wie sollte sie das tun, wenn niemand aus der Menge herausstach?

„Du musst dich ja nicht heute entscheiden“, sagte Freddie, dem ihr besorgter Gesichtsausdruck offenbar nicht entgangen war. „Aber das Mindeste, was du jetzt tun kannst, ist, die Glückwünsche deiner vielen Bewunderer anzunehmen. Wenn es im Umkreis von drei Meilen noch einen Mann gibt, der nach diesem spektakulären Rennen nicht hinter dir her ist, fresse ich meinen Hut.“

„Nun gut“, sagte sie und lächelte vergnügt. „Ich denke, das dürfte mir nicht allzu schwerfallen, da ich selbst der Ansicht bin, dass ich das ganz fabelhaft gemacht habe.“ Schwungvoll ging sie zu der Gruppe von Freunden hinüber, die dem Rennen beigewohnt hatten, und war mehr verärgert als geschmeichelt, als der erste Mann, der sich ihr zuwandte, der letzte war, dessen Aufmerksamkeit sie auf sich ziehen wollte.

Montgomery James war ein Wüstling. Manche hätten vielleicht behauptet, dass er durch die Liebe einer guten Frau bekehrt werden könnte, aber Annie war nicht so naiv. Wenn sie keinen ehrbaren jungen Mann zum Heiraten finden konnte, hatte sie nicht die Absicht, sich an einen unehrenhaften Mann zu vergeuden.

Aber das hielt sie nicht davon ab, zu flirten, wenn sich die Gelegenheit bot, und das tat sie oft.

„Lady Anne“, sagte er mit einem süffisanten Lächeln. „Das war eine beeindruckende Darbietung Ihres Talents als Fahrer.“

„Sie meinen wohl, meines Talents als Fahrerin?“, entgegnete sie und lächelte ihn betont sanft an.

„Wie auch immer. Niemand könnte Sie übertreffen, so viel steht fest, ob Fahrer oder Fahrerin.“

„Dann nehme ich das Kompliment an“, sagte sie, „obwohl es mir schon wichtig ist, nicht wie ein fehlbarer Mann angesprochen zu werden.“

Daraufhin lachte er. „Wir sind schrecklich, nicht wahr? Aber was würden Sie ohne uns tun?“

Annie war versucht, ihm zu antworten, dass sie das wahrscheinlich demnächst herausfinden würde, wenn sie nicht bald einen geeigneten Ehemann fände. Stattdessen lachte sie ebenfalls, um ihrer Bemerkung den Stachel zu nehmen.

„Aber Sie verdienen doch sicher eine Art Trophäe zur Feier Ihres Sieges. Und Ihr Gegner hat Ihnen nichts dergleichen gegeben.“

„Leider nein“, sagte sie und bedauerte, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, auf ihren Sieg zu wetten.

Er griff in seine Tasche, zog die Hand wieder heraus und hielt sie ihr geschlossen entgegen, während er darauf wartete, dass sie ihm ihre offene Hand darbot. Als sie dies tat, ließ er eine Spielmarke hineinfallen. Das Ding war schwarz wie Stahl und recht schwer, faszinierend in seiner Schlichtheit. Annie hielt sie hoch, um sie zu bewundern, und warf Montgomery eine auffordernden Blick zu, damit er eine Erklärung abgab.

„Ich feiere heute Abend eine kleine Party in meinem Club. Alle spannenden Leute werden da sein. Sie sind natürlich eingeladen“, sagte er mit einer großzügigen Geste. „Zeigen Sie einfach die Marke an der Tür, um Einlass zu erhalten.“

Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Ich habe von den Partys gehört, die Sie veranstalten, Mr. James. Sie sind kaum angemessen für junge Damen aus gutem Hause.“

Er seufzte. „Wie trostlos muss es sein, eine solche zu sein. Aber in diesem Fall brauchen Sie keine Angst zu haben. Die Veranstaltung, die heute Abend stattfinden wird, ist vollkommen harmlos. Es ist eine Art Salon, ähnlich denen in Paris.“

„Das klingt verlockend“, gab sie zu.

„Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen. Die Gespräche werden interessant sein und die Gesellschaft gut.“

„Ich werde darüber nachdenken“, entgegnete sie. „Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“

„Natürlich“, sagte er, ergriff ihre Hand und hob sie an seine Lippen, um einen Kuss daraufzuhauchen.

Sie lächelte höflich und zog ihre Hand zurück. Es mochte zwar amüsant sein, mit Mr. James zu flirten, aber sie wusste, dass sie seine Annäherungsversuche nicht ernst nehmen durfte. Er war ein viel zu berüchtigter Schurke, um zu glauben, dass seine Aufmerksamkeiten für sie von Dauer sein würden. Sie glaubte auch nicht, dass seine Party so sein würde, wie er sie beschrieben hatte.

Doch die Idee eines Salons interessierte sie. Vielleicht könnte sie ja selbst eine Versammlung von Künstlern und Dichtern veranstalten. Sie würde jemanden wie Lord Byron einladen, der aber nicht so langweilig wäre. Jemanden, dessen die Gesellschaft noch nicht überdrüssig geworden war …

Während sie noch über verschiedene Möglichkeiten nachdachte, kam Lady Felicity Claremont auf sie zu. Wie immer grinste sie wie ein Honigkuchenpferd, wahrscheinlich hatte sie eine Idee, wie sie die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich lenken konnte. Annie war sich nicht sicher, was sie getan hatte, dass die junge Frau stets das Gefühl hatte, mit ihr wetteifern zu müssen, außer dass sie eine Fitzroy war und damit das Objekt des Neids der Claremonts. Es schien, als ob diese Familie nie mit ihrem eigenen erhabenen Platz in der Gesellschaft zufrieden sein könnte und immer nach dem schielte, was Annies Familie sagte oder tat oder hatte.

Da die Rivalität zwischen den beiden Häusern aber schon seit zwei Generationen bestand, konnte man nichts dagegen tun, außer sie zu ertragen. Heute zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte „Felicity“ in dem freundlichsten Ton, den sie zustande brachte.

„Annie“, erwiderte Felicity spitz, „du hast ja mal wieder ein ziemliches Spektakel veranstaltet.“ Es war offensichtlich, dass Felicity die Einzige unter den Zuschauern war, die von dem Rennen nicht beeindruckt war.

„Danke für die Glückwünsche zu meinem Sieg“, sagte Annie ironisch-süffisant und straffte die Schultern.

„Natürlich musstest du wie immer im Mittelpunkt stehen“, fügte Felicity hinzu, um den Tadel zu unterstreichen.

„In der Saison will keine junge Dame unbemerkt bleiben“, erinnerte Annie sie.

„Darüber brauche ich mir keine Sorgen zu machen“, parierte Felicity zufrieden. Dann hielt sie eine schwarze Spielmarke hoch. „Du bist nicht die Einzige, die Montgomery James aufgefallen ist.“

Annie schaute die Münze ungläubig an. Sie hatte nicht ernsthaft erwartet, dass sie die Einzige wäre, die er eingeladen hatte, aber es überraschte sie, dass er es auf eine so einfältige Person wie Felicity Claremont abgesehen hatte, die achtzehn Jahre alt war und ihre erste Saison hatte. „Ich weiß nicht, ob das etwas ist, worauf man stolz sein kann. Es ist sicherlich keine Einladung, der man ohne Gefahr für den eigenen Ruf folgen könnte.“

„Und doch hast du sie angenommen“, sagte Felicity und zog die Brauen hoch.

„Nur aus Höflichkeit“, antwortete Annie mit einem kühlen Lächeln. „So verrucht er auch sein mag, Mr. James ist ein Freund meines Bruders, und sein Club wird von vielen wichtigen Leuten besucht. Natürlich alles Männer“, ergänzte sie. „Ich kann mich an keine einzige Frau in meinem Bekanntenkreis erinnern, die jemals dort gewesen wäre.“

„Deshalb sollten wir hingehen“, meinte Felicity und hielt Annie ihre Münze unter die Nase, als könnte sie sie damit locken wie einen Hund mit einem Knochen. „Natürlich, wenn du zu viel Angst hast, dann …“

„Ich habe keine Angst“, protestierte Annie schnell. „Meine Skepsis hat weniger mit Angst zu tun als mit gesundem Menschenverstand.“ Sie hatte ihre Zofe überredet, ihr zu erzählen, was auf solchen Partys geschah, und obwohl es sehr erhellend gewesen war, war es nichts, was eine unverheiratete Frau wissen sollte, geschweige denn selbst erleben. Zumindest nicht, wenn es um Montgomery James ging. Der Mann war ebenso aalglatt wie gut aussehend, und schon mehrere junge Damen hatten sich bei dem Versuch, sich seine Gunst zu sichern, beinahe ruiniert.

Schließlich schüttelte sie den Kopf über Felicity und lächelte.

„Es ist so oder so nicht wichtig. Ich bin heute Abend bereits verplant und würde nicht auf die Idee kommen, die Soiree, zu der wir freundlicherweise eingeladen wurden, für einen zweifelhaften Spaß abzusagen.“

Daraufhin lachte Felicity. „Ich bin ebenfalls dort eingeladen. Es wird todlangweilig sein, das weißt du. Wie immer. Aber vielleicht würdest du dort mehr glänzen als auf einer Party von wirklich interessanten Leuten.“

„Ich brauche keine Aufmerksamkeit“, widersprach Annie, überrascht über den unverhohlenen Angriff.

„Ach, wirklich?“, entgegnete Felicity scharf und warf einen Blick auf die Kutsche, mit der Annie gerade das Rennen gefahren war.

„Das war doch gar nicht meine Absicht!“ Dachten die Leute wirklich, sie sehnte sich nach Applaus? Sie hatte sich nichts weiter dabei gedacht, als Whittacre für seine Bemerkung in seine Schranken zu weisen. Außerdem liebte sie den Rausch der Geschwindigkeit. Aber offenbar sah Felicity das anders.

Sie holte tief Luft und versuchte, das unangenehme Gefühl der Verletzung abzuschütteln. „Trotzdem würde ich es nicht riskieren, zu Mr. James’ Party zu gehen. Ich bin sicher, dass sie mir nicht gefallen würde.“

„Vielleicht nicht“, sagte Felicity und lächelte boshaft. „Ich werde ihm dein Bedauern übermitteln, wenn ich ihn heute Abend sehe.“ Dann drehte sie sich um und stolzierte davon.

Captain William Grosvenor war sowohl krank als auch müde.

Krank an Leib und Seele und müde vom Leben. Nachdem er bei einem Angriff der Franzosen eine Kugel in die Schulter bekommen hatte, war er zur Genesung nach London geschickt worden. Doch obwohl es seinem Arm von Tag zu Tag besser ging, war der Heilungsprozess noch schmerzhafter als die Verletzung. Hier gab es Probleme, die er nicht mit einem bewaffneten Bataillon lösen konnte, und er war sich nicht sicher, ob er ihnen gewachsen war.

„Wenn du nach Spanien zurückkehrst, was machst du dann mit dem Haus?“ Diese Frage kam von seinem Freund Andrew Fairfax, der ihm wie ein besonders lästiges Hündchen durch die Jermyn Street folgte.

„Was du sagen willst, Andrew, ist Wie wirst du mit der Trauer über den Tod deines Bruders fertig?“, gab Will trocken zurück.

„Edward ist schon seit einigen Monaten tot“, erinnerte Andrew ihn. „Es ist nicht so, dass wir seinen Verlust nicht bedauern würden. Wir haben uns nur schon daran gewöhnt, dass er nicht mehr da ist.“

„Für mich hingegen ist es nicht so einfach“, erwiderte Will ungehalten. Es war schwierig gewesen, Nachrichten von zu Hause zu empfangen, als er an der Front war, und da Ed ihm ohnehin nur selten geschrieben hatte, war es ihm nicht aufgefallen, dass er gar keine Briefe mehr von ihm erhielt. „Ich hatte keine Ahnung …“ Er brach ab.

Erst als ihn seine Verwundungen nach Hause zwangen, hatte er erfahren, was in seiner Abwesenheit geschehen war. Und jetzt erwartete jeder von ihm, dass er ein Erbe antrat, das er nicht wollte, ohne ihm einen Moment Zeit zum Trauern zu geben. „Ich hasse es hier“, murmelte er. Ed hatte London immer geliebt, die Architektur, die Menschenmassen und die Saisons. Und London hatte ihn im Gegenzug geliebt.

Aber Will war direkt nach Oxford zur Armee gegangen und hatte nie zurückgeblickt. In Spanien gab es niemanden, der ihn mit Ed hätte vergleichen können und der ihn für unzulänglich gehalten hätte. Er hatte seinen Platz gefunden und war dort glücklich gewesen. Und jetzt war es vorbei.

„Du bist jetzt das Oberhaupt deiner Familie, aber du hast keine Pläne geäußert, dich niederzulassen und zu heiraten. Deshalb wollte ich – wollten wir“, korrigierte Andrew sich, „etwas über das Haus wissen.“

Andrew stand kurz davor, ein Gut zu erben, aber noch war es nicht so weit. Im Moment lebte er unter dem Dach seines Vaters und sehnte sich nach Unabhängigkeit. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er bereit war, Will ohne Rücksicht auf dessen Gefühle die Schlüssel förmlich aus der Hand zu reißen.

„Solange ich hier bin, habe ich die Absicht, darin zu leben“, antwortete der. Es war viel zu groß für ihn allein, aber es ergab keinen Sinn, sich ein Zimmer zu mieten und das Haus leer stehen zu lassen.

„Aber du gehst doch zurück nach Spanien“, wandte Andrew ein.

„Ich habe den Befehl noch nicht erhalten“, entgegnete Will und versuchte, den Schmerz in seiner rechten Schulter zu ignorieren. „Ich werde morgen zu den Horse Guards gehen, und dann werden wir sehen.“

„I…“

„Ich bin nicht bereit, darüber zu reden“, fiel Will seinem Freund ins Wort.

„Nun, bist du denn bereit, darüber zu sprechen, was wir heute Abend machen?“, sagte Andrew frustriert. „Es ist nicht gesund für dich, jeden Abend allein zu sein.“

„Ich ziehe die Einsamkeit dem Trubel vor“, widersprach Will. So hatte er Zeit zum Nachdenken. Wahrscheinlich zu viel Zeit.

„Du würdest anfangen, die Stadt zu mögen, wenn du ein paar ihrer Annehmlichkeiten ausprobieren würdest“, meinte Andrew. „London ist viel zivilisierter als ein Schlachtfeld und mindestens genauso aufregend.“

„Du weißt ja nicht, wovon du sprichst“, erwiderte Will und dachte an Spanien und die Männer dort, die immer noch kämpften. Es war nicht die Aufregung, nach der er sich sehnte. Es war das Gefühl, ein Ziel zu haben. In London fühlte er sich nutzlos. „Ich gehöre nicht hierher.“

„Du gehörst nicht hierher, weil du es gar nicht erst versuchst“, sagte Andrew.

„Ich habe es versucht“, beharrte Will, „und es hat mir nicht gefallen.“ Genauer gesagt, die Gesellschaft behagte ihm nicht, und er vermochte sich darin nicht zu bewegen. Die Art von gewöhnlichem Zeitvertreib, für den Andrew sich so begeisterte, ließ ihn kalt, stieß ihn sogar ab. Er hatte kein Interesse daran.

Andrew gab ihm nun einen liebevollen Klaps auf den Arm und vergaß dabei Wills Verletzung. „Du denkst zu viel über den Krieg nach. Was du brauchst, ist Ablenkung. Etwas, das dich auf andere Gedanken bringt.“

Er nahm an, dass Andrew damit Alkohol oder Frauen meinte, wahrscheinlich beides. „Ich habe mehr als genug Hochprozentiges getrunken, und es hat keinen Unterschied gemacht.“

„Dann solltest du es mal hiermit probieren“, sagte sein Freund mit einem teuflischen Lachen, das alle Verlockungen andeutete, die Old Scratch versprechen konnte.

Dann griff er in seine Tasche und holte eine schwarze Spielmarke hervor. „Das ist es, was du brauchst. Eine Eintrittskarte in die Spielhölle von Montgomery James. Die Einsätze sind hoch, das Geld sitzt locker, und die Frauen sind hübsch. Seine Partys sind in ganz London dafür bekannt, dass sie selbst die mit dem erlesensten Geschmack in Versuchung führen. Oder die, die schon alles gesehen haben.“

Will seufzte. „Ich bin nicht abgestumpft.“ Aber wenn nicht das, wie sollte er dann beschreiben, was er fühlte? Es war ihm peinlich, zuzugeben, dass die Aussicht auf willige Frauen weder in seinem Geist noch in seinem Körper etwas anderes auslöste als eine Art Grauen und die Befürchtung, dass sein Körper beim Akt versagen würde, wie letztes Mal, als er es versucht hatte.

Dennoch nahm er die Marke und wog sie in seiner Hand. „Ist es dort wirklich so anders?“

„Ich garantiere dir, dass es dein Leben verändern wird“, antwortete Andrew.

„Das will doch hoffen“, sagte Will langsam. Er brauchte etwas, irgendetwas, um zu Kräften zu kommen, damit er wieder der Mann sein konnte, der er einmal gewesen war. Aber was dieses schwer fassbare Etwas sein könnte, wusste er nicht. Vielleicht würde er heute Abend finden, was er vermisste.

2. KAPITEL

Die Sopranistin trällerte vor sich hin, und Annie versuchte, sich nicht auf ihrem Stuhl zu winden. Wie Felicity vorausgesagt hatte, war ihr bereits sterbenslangweilig, obwohl die musikalische Darbietung gerade erst begonnen hatte. Schlimmer noch, als sie sich umdrehte, um einen Blick auf die Familie Claremont zu erhaschen, war Felicity auffallend abwesend.

Während ein Solo auf das nächste folgte, zehrte die Abwesenheit der anderen an ihren Nerven. Sie war doch wohl nicht zu der Party von Mr. James gegangen, oder? Sicherlich war sie nicht so dumm gewesen, dieser Einladung zu folgen. Wenn doch, könnte das ihr Verderben bedeuten.

Als die Pause endlich gekommen war, erkundigte sich Annie bei Lady Claremont nach ihrer Tochter und erfuhr, dass Felicity mit Kopfschmerzen zu Hause geblieben war.

„Oh, die Arme“, sagte Annie und versuchte, das Unbehagen zu unterdrücken, das die Nachricht in ihr auslöste. „Mir geht es ganz ähnlich.“ Sie rieb sich mit großer Geste die Schläfen, legte die Stirn in Falten und machte sich auf den Weg, um ihre Mutter zu bitten, nach Hause fahren zu dürfen.

„Bist du sicher, dass ich dich nicht begleiten soll?“, fragte ihre Mutter mit besorgter Miene.

„Nicht nötig“, entgegnete sie und versuchte, eher blass als nervös auszusehen. „Ich werde direkt ins Bett gehen. Es gibt keinen Grund, dir deswegen den Abend zu verderben.“ Sie log nicht, sie plante wirklich, sich direkt ins Bett zu verziehen, allerdings erst, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Felicity dort war, wo sie sein sollte.

Sie wies den Kutscher an, sie zum Haus der Claremonts zu bringen, wo sie von einem verblüfften Butler empfangen wurde, der ihr versicherte, dass Lady Felicity heute Abend bei einer Soiree mit ihren Eltern sei und erst spät zurückerwartet werde. Annie bedankte sich bei ihm und ließ sich nach Hause bringen, um ihren nächsten Schritt zu planen.

Was sollte sie jetzt tun? Es ging sie nicht wirklich etwas an, aber sie fühlte sich trotzdem verantwortlich. Wäre Felicity nicht so versessen darauf gewesen, sie in irgendetwas zu übertrumpfen, hätte sie es sich vielleicht zweimal überlegt, ob sie die Einladung von Mr. James annehmen sollte. Aber jetzt, da sie es getan hatte, bedauerte sie es wahrscheinlich und brauchte Rettung.

Aber was wäre, wenn es nicht so wäre? Angenommen, die Party war genauso, wie Mr. James gesagt hatte, ein unschuldiger intellektueller Abend. Annie würde ziemlich dumm dastehen, wenn sie Lord Claremont dorthin schickte, um seine Tochter von einem Ort zu erretten, an dem kein Risiko bestand. Und wenn die Party von der Art war, wie sie dachte, könnte eine solche Rettung zu einem Skandal und zum Ruin von Felicity führen.

Sie holte ihre eigene schwarze Spielmarke aus dem Nachttisch und untersuchte sie, als ihre Zofe das Zimmer betrat.

Als Claudine die Marke sah, stieß sie einen Schwall französischer Wörter aus und schüttelte heftig den Kopf. „Die ist von Mr. James’ Club. Il est horrible.“

„Ich weiß“, sagte Annie bekümmert. „Und ich fürchte, dass eine Freundin von mir seinetwegen in großer Gefahr ist.“ Vielleicht war es übertrieben, Felicity als Freundin zu bezeichnen, aber heute Abend fühlte Annie sich ihrer selbsternannten Konkurrentin seltsam nahe.

„Dann müssen wir etwas tun, um ihr zu helfen!“, rief Claudine und rang die Hände. „Der Club ist kein Ort für ein unschuldiges Mädchen.“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich habe eine Freundin, die manchmal dort arbeitet“, sagte sie mit einem finsteren Blick, der andeutete, worin diese Arbeit bestand.

„Und wenn ich zu dieser Party gehen und meine Freundin zurückholen wollte, ohne einen Skandal zu verursachen, wie würde ich das am besten anstellen?“

„Mon Dieu“, sagte Claudine und legte dann nachdenklich den Kopf schief. „Wir müssen Sie als Dienstmädchen verkleiden. Sie könnten durch die Hintertür ins Haus gelangen. Dann suchen Sie meine Freundin Justine und bitten sie um Hilfe. Sie wird sich in einem der Schlafzimmer im ersten Stock aufhalten, und ich hoffe für Sie, dass sie allein ist.“

„Danke“, sagte Annie und drückte der Zofe liebevoll die Hand.

Sie schlüpfte in das schlichte Kleid einer Bediensteten und steckte die schwarze Marke in ihre Tasche. Danach rief sie nach der Kutsche und stieg bald darauf vor der Hintertür von Montgomery James’ Club aus.

An der Küchentür erzählte sie den Bediensteten, dass sie das Dienstmädchen eines der Gäste sei und das Zimmer einer bestimmten Dame finden müsse, da der Gesuchte am wahrscheinlichsten dort aufzuspüren wäre.

Die Köchin verdrehte bei diesen Worten die Augen, erklärte ihr aber den Weg. Dann wurde sie aus der Küche und durch eine Tür in das Partytreiben gescheucht.

Der Anblick schockierte sie so sehr, dass sie fast in die Sicherheit der Küche zurückflohen wäre. Mr. James hatte ihr einen Abend der Extraklasse versprochen, an dem nur die Besten teilnehmen würden, aber das hier übertraf all ihre Erwartungen.

Abgesehen von den Kerzen auf den voll besetzten Spieltischen war der Raum dunkel, die Luft dick von Tabakrauch und dem Geruch verschütteten Alkohols. Überall sah sie Männer, die vom übermäßigen Alkoholkonsum schwankten, die lallten und lachten, wenn sie würfelten, oder die besinnungslos auf den Möbeln zusammensackten.

Keine der Frauen in dem Raum war ihr bekannt. Ihre Gesichter waren geschminkt und ihre Kleider waren unanständig tief ausgeschnitten. Sie schmiegten sich an die männlichen Gäste, geizten nicht mit ihren Reizen und stachelten sie zu immer gewagteren Spielzügen an. Ihr heiseres Lachen ließ vermuten, dass Karten und Würfel nicht die einzigen Spiele waren, die sie zu spielen bereit waren.

Wenn sie ihren Ruf bewahren wollte, musste sie sicherstellen, dass sie nicht erkannt wurde. Wenn Felicity hier war, musste sie sie rasch finden. Felicity mochte behaupten, weltgewandt zu sein, aber das jüngere Mädchen würde nicht wissen, was sie angesichts einer so offensichtlichen Verderbtheit tun sollte.

Annie hielt sich geduckt in den Schatten und tastete sich an den Wänden des Raumes entlang in Richtung Treppe vor. Zu ihrer Beschämung musste sie jedoch feststellen, dass einige der Stufen von tändelnden Paaren belegt waren, die sich nicht die Mühe gemacht hatten, die Treppe hinaufzusteigen, um ein Bett zu finden.

Sie schirmte ihre Augen vor dem Anblick von zu viel entblößtem Fleisch, dem Aufblitzen weißer Brüste und noch weißerer Hintern und dem Geräusch unzüchtigen Kicherns ab und eilte an der Treppe vorbei.

Als sie den Ruheraum erreichte, stürzte sie hinein, schlug die Tür hinter sich zu und starrte die Frauen an, die vor den Spiegeln standen und sie nun neugierig anstarrten. Mit ihren freizügigen Kleidern, den geschminkten Gesichtern und den aufwendigen Frisuren stach Annie unter ihnen hervor wie eine Taube in einem Schwarm von Pfauen.

Dann stieß eine der Damen einen Seufzer der Frustration aus und sagte: „Großer Gott, da ist noch eine. Was sollen wir denn mit denen machen?“ Dann traten sie auseinander und gaben den Blick auf Felicity frei, die auf einer Chaiselongue saß, die Augen rund vor Schreck und die Schultern bebend.

„Ich bin gekommen, um Felicity nach Hause zu bringen“, sagte Annie und ergriff die Hand des anderen Mädchens.

„Ich wusste nicht, dass …“, sagte Felicity mit einem hilflosen Schulterzucken.

Annie tat ihr Bestes, um ihre Gereiztheit zu verbergen, denn sie hatte das Mädchen genau vor dieser Möglichkeit gewarnt. Aber Schuldzuweisungen würden nichts nützen, also tätschelte sie ihr lediglich die Hand und murmelte: „Es ist alles in Ordnung. Wir verschwinden jetzt von hier.“ Dann blickte sie zu den anderen Frauen im Raum. „Claudine sagte, ich solle Justine um Hilfe bitten.“

Eine hübsche blonde Frau trat aus dem Kreis der Kurtisanen hervor und nickte. „Haben Sie eine Kutsche?“

„Ich habe sie weggeschickt“, antwortete Annie. „Ich wollte nicht, dass man sie mit unserem Familienwappen darauf hier herumstehen sieht.“

Justine warf ihr einen so mitleidigen Blick zu, als wollte sie ihr damit sagen: armes, reiches Mädchen. „Aber wenn Sie nicht wissen, wie Sie nach Hause kommen, müssen wir uns erst einmal darum kümmern.“

Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Mann war im Begriff einzutreten, blieb dann aber stehen und lehnte sich an den Türrahmen, als hätte er gerade gemerkt, dass er sich im Raum geirrt hatte. Anhand seiner Uniform konnte Annie erkennen, dass es sich um einen Captain der Armee handelte, und zwar um einen auffallend gut aussehenden. Sein braunes Haar war akkurat geschnitten, seine blauen Augen funkelten, und seine Brust wirkte so breit und fest wie eine Ziegelwand. Am liebsten hätte sie sich dagegen gelehnt und vor Erleichterung geschluchzt.

Mit einem verlegenen Grinsen warf er einen Blick in die Runde. „Ich bitte um Verzeihung, meine Damen. Ich habe die Türen verwechselt.“ Dann fiel sein Blick auf Annie, und seine Augen leuchteten auf.

Und genauso fühlte es sich an. Ein plötzlicher Sonnenstrahl, der eine dunkle Welt erhellte. Sie wollte in dieses Licht gehen, darin baden, sich darin auflösen. Dann verwandelte sich sein Lächeln in eine Frage, und sie erinnerte sich daran, wo sie sich befand, und sagte: „Nein!“

Überrascht wich er zurück, mit Ablehnung hatte er offenbar nicht gerechnet.

Er wollte gerade gehen, als sie sich daran erinnerte, dass sie und Felicity vor allem Hilfe brauchten. Und trotz aller Vorsicht konnte sie einfach nicht glauben, dass dieser Mann genauso war wie die, die sie unten im Haus gesehen hatte. „Warten Sie!“

Daraufhin grinste er und machte eine unsichere Verbeugung. „Für Sie, meine Liebe, würde ich doch alles tun.“

„Sind Sie ein Gentleman?“

Er lachte. „Ich hätte nicht gedacht, dass es an einem Ort wie diesem von Bedeutung wäre, aber ich nehme an, dass ich es bin, wenn die Situation es erfordert.“

„Da ist eine Lady, die Hilfe braucht“, sagte sie. Sie war wahrscheinlich eine Närrin, sich auf einen Fremden zu verlassen, aber dieser Mann hatte etwas an sich, das Vertrauen erweckte.

Er verbeugte sich erneut. „Dann kann ich das nicht ablehnen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Meine Herrin und ich müssen dieses Haus so schnell und diskret wie möglich verlassen. Haben Sie eine Kutsche, Sir?“

„Keine eigene“, gab er zu. „Aber ich könnte eine herbeirufen, falls nötig.“

„Würden Sie das bitte umgehend tun?“, fragte sie.

„Zu Ihren Diensten, Miss …“ Er ließ den Satz unvollendet und wartete darauf, dass sie sich selbst vorstellte.

„Annie, Sir“, sagte sie nur und machte einen Knicks wie ein ordentliches Dienstmädchen.

„Annie“, wiederholte er. „Und ich nehme an, besagte Lady wird namenlos bleiben.“ Er suchte den Raum hinter ihr ab, auf der Suche nach der Frau, um die es ging.

„Mit Verlaub, Sir“, sagte Annie, schlüpfte ganz in die Rolle des Dienstmädchens und trat zur Seite, um ihm einen Blick auf Felicity zu gewähren, die inzwischen aufgestanden war.

Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Mir wurde Ablenkung und Unterhaltung versprochen, aber ich wusste nicht, dass es sich um ein Mitglied meiner eigenen Familie handeln würde, das hinter den feindlichen Linien gefangen ist und gerettet werden muss.“

„Cousin William“, sagte Felicity stöhnend und ließ sich tränenüberströmt wieder auf die Chaiselongue sinken.

„Ich hätte gute Lust, deinem Vater mitzuteilen, wo ich dich gefunden habe“, sagte er mit strenger Stimme.

„Bitte, tu das nicht. Ich verspreche dir, dass so etwas nie wieder vorkommen wird“, flehte sie erschrocken.

„Sehr gut“, sagte er und seufzte. „Wenigstens warst du so vernünftig, ein Dienstmädchen mitzubringen.“ Er schaute sich um und sagte: „Ich habe zwar genug Rum getrunken, um ein ganzes Schiff zu versenken, aber ich glaube, ich kann euch über die Hintertreppe hinunterschmuggeln.“ Dann bot er Felicity seinen Arm an und wies auffordernd mit dem Kinn in Richtung Tür.

Sie zögerte und warf Annie einen verzweifelten Blick zu.

Annie schenkte ihr ein festes Lächeln und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: „Ja, Mylady. Wir müssen jetzt gehen. Nehmen Sie den Arm Ihres Cousins und lassen Sie uns gehen.“ 

Es bedurfte keiner weiteren Überredung, Felicity ergriff den Ellbogen des Captains und ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen, während Annie ihnen folgte. Doch anstatt die Haupttreppe zu nehmen, geleitete er sie an den Schlafzimmern vorbei und tiefer ins Haus hinein.

„Hier muss es irgendwo eine Dienstbotentreppe geben“, murmelte er und probierte die Tür am Ende des Flurs. „Da haben wir sie schon. Stockdunkel, aber sie führt nach unten. Pass auf, wo du hintrittst, Cousine.“ Sie kamen in der Küche heraus, und er brachte die beiden durch die Hintertür auf die Straße und begleitete sie bis zu der Ecke, wo verschiedene Droschken warteten.

„Ich werde mitkommen“, sagte er zu Felicity. Dann kletterte er zu Annies Überraschung hinter ihnen in eine der Droschken.

„Sie brauchen uns nicht weiter zu begleiten“, versicherte Annie rasch, die verhindern wollte, dass er ihre wahre Identität herausfand.

„Sie gönnen mir doch sicher einen Platz in der Droschke, für die ich bezahle? Vielleicht möchte ich die Claremonts besuchen und mich ein wenig mit dem Duke unterhalten.“

Bei diesen Worten brach Felicity erneut in Tränen aus und verbarg das Gesicht in den Händen.

Er zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es ihr. „Hab keine Angst, Cousinchen. Ich werde deinen Eltern nicht sagen, wo ich dich aufgegabelt habe. Ich werde nicht einmal fragen, warum du dort warst. Ich denke sogar, je weniger darüber gesprochen wird, desto besser. Aber ich vertraue darauf, dass ich dich nicht noch einmal von dort retten muss.“

Ihre Tränen versiegten. „Nein, William, das wirst du nicht“, sagte sie mit ruhiger Stimme. Dann schaute sie aus dem Fenster.

Annie lehnte sich in das Polster des Wagens zurück, erleichtert und gleichzeitig beschämt darüber, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Da dieser William ein Mitglied der Claremont-Familie war, waren sie nicht in Gefahr. Aber es war auch nicht nötig gewesen, dass Annie einem Mädchen zu Hilfe eilte, das sie nicht einmal besonders mochte. Es wäre möglich gewesen, dass der Captain sie gefunden und nach Hause gebracht hätte, ohne dass Annie sich überhaupt hätte einmischen müssen.

Sie hatten den Rest des Weges zum Haus der Claremonts schweigend zurückgelegt, und als sie dort ankamen, sprang Felicity aus der Droschke und eilte die Treppe zur Haustür hinauf, sodass Annie allein mit dem Captain zurückblieb.

„Nun, Annie“, sagte er und schenkte ihr ein wölfisches Lächeln, „wollen Sie nicht aussteigen? Das ist doch auch Ihr Zuhause, oder nicht?“

Wenn sie ihre Tarnung aufrechterhalten wollte, sollte sie wirklich ebenfalls hier aussteigen. Aber ihre Füße waren müde, und sie wollte einfach nur nach Hause, ohne etwas erklären zu müssen. So saß sie schweigend da und hoffte, dass der Captain aufgeben und die Kutsche verlassen würde.

„Ich glaube nicht, dass dies Ihr Zuhause ist“, erklärte er, verschränkte die Arme und warf ihr einen kritischen Blick zu. „Sie mögen sich wie ein Dienstmädchen kleiden, aber wenn Sie eines sind, dann bin ich Arthur Wellesley.“ Dann klopfte er mit seinem Stock gegen das Dach der Droschke, um dem Kutscher zu signalisieren, dass er weiterfahren solle.

Sie verschränkte ebenfalls die Arme und sah ihn mit demselben kritischen Blick an, mit dem er sie bedachte. Es schien kaum fair zu sein, dass ein Mann, der mit voller Absicht an diesem Bacchanal teilgenommen hatte, das Recht hatte, sie dafür zu bestrafen, dass sie versehentlich hineingeraten war.

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