Fox River

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Ihre Ehe existiert nur noch auf dem Papier, seit Lombard Warwick seine Frau Julia wegen ihrer Erblindung in ein Heim abgeschoben hat. Jetzt lebt sie bei ihrer Mutter - gefangen in einer ewigen Nacht - in der die Verzweiflung schlimmer ist als die Tatsache, dass sie nie wieder als Malerin tätig sein wird. Doch dann tritt zum zweiten Mal Christian Carver in ihr Leben: Ihn liebte Julia damals, bis er wegen Mordes verurteilt wurde. Jetzt ist seine Unschuld bewiesen, nun will er den wahren Täter finden, der sich inmitten der High Society von Ridge’s Race verbergen muss ...


  • Erscheinungstag 01.03.2003
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782925
  • Seitenanzahl 576
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FOX RIVER

Aus dem unveröffentlichten Roman „Fox River“ von Maisy Fletcher

Wenn ich heute an Fox River zurückdenke und an all die Dinge, die dort vor so vielen Jahren geschehen sind, fallen mir vor allem die unterschiedlichen Grüntöne wieder ein: das frische, lebhafte Grün der Weiden, das zum Horizont hin dunkler wird; das Dunkelgrün der schattigen Wälder, das so untrennbar mit dem Blaugrün der Hügel von Virginia verbunden ist und bis dorthin reicht, wo die Grenze zwischen den Bergen und dem dunstigen Himmel schließlich verschwimmt.

Es ist mehr oder weniger derselbe Himmel, den auch alle anderen Menschen sehen. Der Himmel, der sich von Kalifornien über China bis hin in die entferntesten Regionen der Antarktis erstreckt. Es ist der Himmel, unter dem ich geboren wurde, unter dem ich Augenzeugin der Ereignisse wurde, die in diesem Buch geschildert werden. Derselbe Himmel, an dem die Sonne scheint und von dem der Regen fällt, um das Gras auf den Hügeln von Fox River genauso leuchtend grün und saftig zu machen wie in anderen fruchtbaren Regionen der Erde.

Aber ich, Louisa Sebastian, sehe als Einzige die Silhouette des stolzen Mannes, die sich vor dem Himmel von Fox River abzeichnet. Er sitzt auf einem Hengst, auf den kein anderer steigt. Ein Mann, der so sehr eins mit dem Pferd unter ihm ist, dass ich unwillkürlich an den Zentaur der griechischen Mythologie denken muss, und trotz allem, was ich über diesen Mann weiß, stockt mir vor Bewunderung der Atem.

Wenn ich mich heute an die Ereignisse in Fox River erinnere, scheine ich in den unterschiedlichen Grüntönen und in dem Blut zu versinken, das vor langer Zeit den Rasen rot gefärbt hat. In den zahlreichen Jahren, die seither vergangen sind, ist das Gras gewachsen, und der Regen hat das Blut fortgespült. Aber ich weiß, dass sich die Erde darunter noch immer nicht vollständig erholen konnte, und wenn ich an diesem besonderen Ort graben würde, wäre der Schmutz unter meinen Fingernägeln nach wie vor rostrot.

Hätte ich geahnt, was mich an jenem ersten Nachmittag, als ich nach Fox River ritt, erwartete, dann wäre ich in fliegendem Galopp zum Landsitz meiner Cousine zurückgekehrt, um mich in meinem Zimmer einzuschließen. Ich hätte eine Krankheit oder eine Verletzung vorgeschützt und darauf bestanden, dass man mir sofort meine Koffer packt, damit ich nach New York zurückkehren kann.

Aber natürlich wissen wir nie, was die Zukunft für uns bereithält. Wir kennen nur unsere Vergangenheit. Über sie können wir nachdenken – und unentwegt trauern.

1. KAPITEL

Die Bewohner von Ridge’s Race in Virginia behaupteten stets, dass sich Maisy Fletcher genauso wenig entscheiden könne wie eine Meute Fuchshunde, die zwischen zwei Fährten hin und her gerissen ist. Sie hatte während ihrer fünfzig Lebensjahre häufig versucht, diesen Eindruck zu zerstören, doch immer war sie die chronisch unentschlossene Frau geblieben, die jeden zur Raserei treiben konnte. Jake Fletcher, seit zwanzig Jahren ihr Ehemann, teilte diese Meinung allerdings nicht. Er vertrat die Auffassung, dass sich seine Frau sehr gut entscheiden könne – und zwar jeden Tag anders.

Am heutigen Tag allerdings wären jene, die Maisy kannten, verblüfft gewesen, hätten sie die Entschlossenheit in ihrem Gang sehen können und die Art und Weise, wie sie alles und jeden ignorierte, der zwischen ihr und dem Eingang zur Gandy-Willson-Klinik stand, die am Rande des historischen Ortes Leesburg lag. Sie würdigte weder die mit Pferdeköpfen verzierten Pfähle eines Blickes, die den gepflasterten Gehweg zu beiden Seiten säumten, noch beachtete sie die Magnolien, die den Säulenvorbau flankierten. Das junge Paar, das auf einer grünen Bank zu ihrer linken unter den Magnolien saß, nahm sie nicht einmal aus den Augenwinkeln wahr. Am überraschendsten aber war die Tatsache, dass sie an dem jungen Sicherheitsbeamten vorbeirauschte, ohne ihm ihren Ausweis zu zeigen.

„Ma’am, Sie dürfen da nicht hineingehen, ohne dass ich Ihren Ausweis gesehen habe“, sagte der junge Mann, der sich an ihre Fersen geheftet hatte.

Maisy blieb kurz stehen, um ihn von oben bis unten zu mustern. Mit seinem Bürstenhaarschnitt und den Aknenarben sah er aus, als wäre er gerade von der Militärakademie von Virginia geflohen. Er fixierte sie mit einem feindlichen Blick, den sie von vielen neuen Kadetten kannte und der wohl das Resultat von extremer Erschöpfung und ständiger Schikane war.

Unter normalen Umständen hätte sie ihm zugezwinkert, sich nach seinem Elternhaus erkundigt, ihn gefragt, wie er die Chancen der Washington Redskins in dieser Saison einschätzte oder seine Meinung über den Ausgang der Präsidentschaftswahlen hören wollen, aber heute war ihr nicht danach zu Mute. „Versuchen Sie ja nicht, mich aufzuhalten, junger Mann. Ich bin ungefährlicher als ein Schmetterling in einem Hagelschauer. Kümmern Sie sich besser um Ihre eigenen Angelegenheiten.“

„Ma’am, ich muss ...“

„Meine Tochter ist Patientin in diesem Haus.“

„Ich muss trotzdem Bescheid geben ...“

Sie griff nach der Klinke und öffnete die Tür.

Noch nie zuvor hatte sie die Gandy-Willson-Klinik aufgesucht. In den vergangenen Jahren waren Bekannte von ihr hinter diesen Mauern verschwunden, um sich eine Zeit lang „zu erholen“. Einige gaben mit den Monaten an, die sie hier verbracht hatten, und setzten ein „Ü.G.W.K.“ hinter ihren Namen, als handelte es sich um einen akademischen Grad. Dieses in der ganzen Gegend bekannte Kürzel bedeutete „Überlebender der Gandy-Willson-Klinik“ und sollte entweder zum Ausdruck bringen „Bieten Sie mir nur nichts Alkoholisches an“ oder „Geben Sie mir das Hochprozentigste, was Sie im Hause haben“ – je nachdem, wie lange die Behandlung schon zurücklag.

Maisy war nicht überrascht von dem Anblick, der sich ihr bot. In der Gandy-Willson-Klinik wurde die wohlhabende Elite umsorgt. Das Kristall des Kronleuchters, der einem Ballsaal alle Ehre gemacht hätte, glitzerte und funkelte, und der Teppich, der sich vor ihr erstreckte, hatte vermutlich Dutzende von Kindern aus der Dritten Welt daran gehindert, eine normale Jugend zu erleben.

Der Sicherheitsbeamte war ihr nicht ins Haus gefolgt, aber ein anderer, älterer Mann kam aus seinem Büro, um sie aufzuhalten, als sie sich dem Empfangsbereich näherte. Er war mindestens sechzig Jahre alt, trug eine Brille sowie einen exzellent sitzenden Anzug und hatte ein großväterliches Lächeln aufgesetzt, das jedoch wenig überzeugend wirkte.

„Ich glaube, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.“ Er streckte ihr seine Hand entgegen. „Ich bin Harmon Jeffers, der Leiter der Gandy-Willson-Klinik.“

Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie die Hand ignorieren sollte. Doch als sie das Zittern wahrnahm – war der Mann schon so alt? –, ergriff sie sie, um ihn zu beruhigen. „Ich bin Maisy Fletcher, und meine Tochter Julia Warwick ist eine Ihrer Patientinnen.“

„Julias Mutter, natürlich, man sieht’s ja.“ Sein unaufrichtiges Lä-cheln zog sich von einer Wange zur anderen.

Der Zusatz „man sieht’s ja“ war vollkommen fehl am Platz. Maisy und Julia ähnelten einander wie eine Rose einem Hibiskus. Praktisch gesehen gehörten sie zwar zur selben Familie, aber damit endete die Gemeinsamkeit auch schon. In diesem Monat hatte Maisy ihr Haar rot gefärbt und mit einer starken Dauerwelle verunstal-tet; Julias Haare dagegen waren seit jeher glatt und schwarz. Maisy hatte leider jedes Jahr ein Kilo zugelegt; Julia schien praktisch von Luft und Liebe zu leben. Maisy war mittelgroß, wohingegen ihr die zierliche Julia kaum bis zur Schulter reichte.

So viel zum Thema „Ähnlichkeit“.

Maisy richtete sich auf, so dass ihre ein Meter fünfundsechzig voll zur Geltung kamen, was ihr Kreuz jedoch mit einer kurzen Schmerzattacke quittierte. „Ich bin gekommen, um meine Tochter zu besuchen.“

„Wollen wir nicht in mein Büro gehen? Ich lasse uns einen Tee bringen, und dann können wir uns unterhalten.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, Dr. Jeffers, aber ich fürchte, dafür habe ich keine Zeit. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir Julias Zimmer zeigen könnten. Im Grunde hasse ich es nämlich, einfach so hereinzuplatzen.“

„Das geht nicht.“

„In Ordnung. Dann sagen Sie mir bitte, wo ich meine Tochter finden kann.“

„Mrs. Fletcher, wir müssen unbedingt miteinander reden. Die Genesung Ihrer Tochter hängt davon ab.“

Maisy hob ihr Kinn an – eines von mehreren. Die anderen folgten mit kurzer Verzögerung. „Meine Tochter sollte überhaupt nicht hier sein.“

„Sie sind also der Meinung, Ihre Tochter braucht keine Therapie?“

„Meine Tochter sollte zu Hause bei den Menschen sein, die sie lieben.“

Das junge Paar, das draußen auf der Bank gesessen hatte, war ins Haus gekommen und schlurfte über den Teppich. Jeffers legte Maisy eine Hand auf die Schulter und schob die rothaarige Frau von der Tür weg. „Mrs. Warwicks Ehemann vertritt einen vollkommen anderen Standpunkt als Sie. Er glaubt, dass sie bei uns gut aufgehoben ist, weil sie sich hier ausruhen und jeden Tag professionelle Hilfe in Anspruch nehmen kann.“

Maisy kochte vor Wut und redete nicht lange um den heißen Brei herum. Beides war untypisch für sie. „Wie viele Fälle von hysterischer Blindheit sind Ihnen in Ihrer beruflichen Laufbahn denn schon untergekommen?“

„Dies ist eine psychiatrische Klinik. Wir ...“

„... behandeln meistens Tabletten- und Drogensüchtige sowie Alkoholiker“, beendete sie seinen Satz. „Auf meine Tochter trifft keine dieser Bezeichnungen zu. Aber das könnte eines Tages der Fall sein, wenn sie noch länger hier bleiben muss. Sie werden sie noch in die Abhängigkeit treiben.“

„Es gibt Leute, die der Ansicht sind, dass Ihre Tochter sehr gute Fortschritte macht.“ Als wolle er seinen Worten besonderen Nachdruck verleihen, zog er seine buschigen weißen Brauen hoch. „Ihre Augen sind zwar vollkommen in Ordnung, aber sie kann trotzdem nichts sehen. Sie ist praktisch total blind. Wollen Sie etwa behaupten, dass das normal ist?“

Sie holte tief Luft und wählte ihre Worte mit Bedacht. „Mein Schwiegersohn hat meine Tochter vom Krankenhaus direkt zu Ihnen gebracht, weil er sich ihrer schämt. Sie ist hier, weil sie von ihm dazu gezwungen wurde. Aber sie ist nicht hier, weil sie glaubt, dass Sie ihr helfen können.“

„Bis jetzt darf sie noch gar nicht telefonieren. Woher wollen Sie das also wissen?“

„Weil ich meine Tochter kenne.“

„Wirklich, Mrs. Fletcher?“

Diese Frage verfehlte nicht die von Dr. Jeffers beabsichtigte Wirkung. Maisy hielt einen Moment lang inne und überlegte, ob Ärzte während ihrer medizinischen Ausbildung vielleicht lernten, Widersprüche in Argumentationsketten aufzuspüren, und dies so lange üben mussten, bis es ihnen ebenso leicht fiel, wie Rezepte für die gängigsten Medikamente auszustellen.

Sie brauchte eine Weile, um sich zu sammeln und ihre beträchtliche Energie auf das zu konzentrieren, was sie jetzt zu erledigen hatte. „Ich werde meine Tochter besuchen.“ Sie war von sich selbst überrascht, als sie, ohne mit der Wimper zu zucken oder Dr. Jeffers aus den Augen zu lassen, sagte: „Sie haben die Wahl, ich bekomme jetzt entweder Ihre Hilfe oder einen Tobsuchtsanfall.“

„Wir sollten uns erst einmal hinsetzen und ein paar Minuten miteinander reden. Wenn Sie Ihre Tochter dann immer noch sehen möchten, werde ich das arrangieren. Aber wenn sie keinen Kontakt zu Ihnen haben will, müssen Sie gehen.“

Enttäuscht schlug sie die Hände zusammen, und ihre zahlreichen Ringe blitzten.

Er führte sie den Gang entlang bis zu der Tür, durch die er vorhin auf sie zugestürmt war. Sein Büro sah genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte: eine Ledergarnitur, dunkel getäfelte Wände, an denen gerahmte Diplomurkunden hingen, und ein Schreibtisch, der wahrscheinlich so groß wie das Ego eines Psychiaters war. Sie fragte sich, ob berufstätige Männer die Maße ihrer Schreibtische vielleicht ebenso verglichen wie pubertierende Jungen die Größe ihrer Geschlechtsteile.

„Nehmen Sie bitte Platz.“

Sie hatte zwei Möglichkeiten: Entweder setzte sie sich wie ein Kind beim Schuldirektor auf die Kante der Couch, oder sie lehnte sich zurück, wodurch sie jedoch vollkommen schutzlos wirken würde. Sie war davon überzeugt, dass man die Form des Sofas absichtlich so gewählt hatte. Sie lehnte sich zurück.

Dr. Jeffers beugte sich über seinen Schreibtisch, legte die Hände auf einen Stapel Papier und nickte weise. „Sie glauben also, Mrs. Warwick sollte nicht hier sein.“

Maisy schaute auf ihre Uhr. Sie trug das wertlose, mit Strass und falschen Perlen besetzte Stück zu jeder Gelegenheit. Jetzt wünschte sie sich, die Zeiger würden sich schneller drehen.

„Wir reden hier über meine Tochter. Niemand kennt sie besser als ich, was natürlich nicht bedeutet, dass ich alles über sie weiß. Doch einer Sache bin ich mir sicher: Sie ist ein zurückhaltender Mensch, der über eine große innere Stärke verfügt. Darüber möchte Julia jedoch nicht reden – ebenso wenig wie über ihre Schwächen. Vor allem nicht mit einem Fremden. Und Sie sind ihr fremd.“

„Und mit Ihnen will sie darüber sprechen?“

„Könnten Sie bitte aufhören, mir die Worte im Munde herumzudrehen?“

„Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre: Ich habe Sie jetzt so verstanden, dass Sie glauben, ihr helfen zu können, was ich Ihrer Meinung nicht kann.“

„Es wird ihr gut tun, mit Menschen zusammen zu sein, die sie lieben. Ich weiß, dass ihr viel daran liegt, Callie wiederzusehen ...“

„Wie wollen Sie denn davon erfahren haben, Mrs. Fletcher? Ist das nicht eher Wunschdenken? Seit Ihre Tochter hier ist, hat sie mit niemandem gesprochen außer ihrem Ehemann.“

„Ich weiß, dass ihr viel daran liegt, Callie wiederzusehen“, wiederholte sie ein wenig lauter. „Sie ist vollkommen außer sich, weil sie ihr kleines Mädchen endlich wieder in die Arme schließen möchte. Wenn Sie glauben, dass eine Frau in dieser Gemütsverfassung eine geeignete Kandidatin für eine Therapie ist, dann sollten Sie noch einmal die Universität besuchen.“

„Es gibt nur eine Frau in dieser Klinik, die außer sich ist, und die sitzt mir gerade gegenüber“, entgegnete er mit seinem Pseudolächeln.

Sie erhob sich mit einiger Mühe vom Sofa. Bevor sie etwas erwidern konnte, läutete das Telefon auf dem Schreibtisch. Während Dr. Jeffers zum Hörer griff, hob er eine Hand, um Maisy am Gehen zu hindern. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, schaute er auf und zuckte mit den Schultern.

„Es scheint, dass Sie doch nicht die einzige Frau in dieser Klinik sind, die außer sich ist. Ihre Tochter hat herausbekommen, dass Sie hier sind.“

Maisy wartete darauf, dass er fortfuhr.

Er stand auf. „Sie will mit Ihnen reden. Ihr Zimmer ist oben. Gehen Sie den Korridor entlang bis zum Ende. Dort sehen Sie auf der linken Seite eine Treppe. Steigen Sie sie hinauf, und biegen Sie oben erst links und dann rechts ab. Ihr Zimmer ist am Ende des Flurs. Aber ich sag’s Ihnen gleich: Ich bin verpflichtet, Mr. Warwick davon zu unterrichten, dass Sie Mrs. Warwick entgegen ärztlichem Rat besucht haben.“

„Dr. Jeffers, sind Sie eigentlich Psychiater oder Spion?“

„Meine verehrte Dame, Sie haben ein paar psychische Probleme, die Sie dringend einmal angehen sollten.“

Als wolle sie ihm ihre mentale Gesundheit demonstrieren, verließ sie grußlos sein Büro.

Julia wusste, dass ihre Mutter gekommen war. Das Motorengeräusch von Maisys und Jakes Pick-up war markerschütternd und ebenso wenig zu überhören wie der knatternde Auspuff. Bard hatte Jake schon seit Jahren zu überreden versucht, einen neuen Truck zu kaufen, aber Julias Stiefvater hatte sich standhaft geweigert. Er gehörte zu den Männern, die eher auf Bequemlichkeit verzichteten, als Geld unnötig zum Fenster hinauszuwerfen. Dabei war er nicht einmal knauserig, sondern nur der Meinung, dass man sein Eigentum pfleglich behandeln sollte, um lange etwas davon zu haben.

Als das Motorengeräusch vom Parkplatz empordrang, war Julia zum Fenster gelaufen, um sich zu vergewissern, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte. Sie war sich nicht sicher, was sie damit bezweckte. Erwartete sie, dass die Dunkelheit plötzlich dem Licht wich oder sie einen verstohlenen Blick auf eine Welt werfen konnte, die sie seit Wochen nicht gesehen hatte? Mit den Fingerkuppen betastete sie die kühle Glasscheibe, fuhr über den glatten Fenstersims und das Gitter, das offensichtlich als Verzierung gedacht war. Doch das Vergnügen, die frische Nachmittagsluft einzuatmen, blieb ihr verwehrt. Das Fenster war verschlossen.

Sie erkannte, dass sie um Hilfe bitten musste – und zwar um tatkräftige und nicht um solche, wie sie ihr hier geboten wurde. Schon nach dem ersten Tag in der Gandy-Willson-Klinik hatte sie gemerkt, dass dies nicht der richtige Ort für sie war. Ihre Sitzungen bei Dr. Jeffers kamen eher einem Zweikampf gleich: Sie versuchte, so gut es ging, ihre Gefühle zu verbergen, und er tadelte sie dafür unterschwellig für ihren Mangel an Mitarbeit.

Zum Glück gab es wenigstens eine Angestellte, die ihr hier freundlich gesonnen war. Karen, die Dienst habende Schwester, hatte sich bereit erklärt, Dr. Jeffers zu verständigen und Julias Bitte weiterzuleiten. Wenn Maisy Fletcher gekommen war, um ihre Tochter zu besuchen, dann hatte er kein Recht, ihre Mutter fortzuschicken. Und wenn er es dennoch tun sollte, würde Julia ebenfalls das Haus verlassen.

Als Maisy um die Ecke des Korridors bog, erkannte Julia sofort die vertrauten hastigen Schritten. Ihre Mutter hatte es nämlich immer eilig, als ob sie dringend irgendwohin musste. Dabei kam es in Wahrheit selten auf das zu erreichende Ziel an, sondern eher auf die Geschwindigkeit der Fortbewegung.

„Julia?“

„Hier, in dieses Zimmer, Maisy.“

Die Tür flog auf, so dass eine Brise frischer Luft hereinströmte, und fiel dann wieder sanft ins Schloss.

„Liebling.“

Julia hörte und roch, dass ihre Mutter da war. Kurz darauf spürte sie Maisys weiche Hände auf ihren Wangen. Und dann hüllte eine große Wolke von Veilchenduft die junge Frau ein, während ihre Mutter sie zärtlich in die Arme nahm.

Julia umfasste die Taille ihrer Mutter, als sie sich gemeinsam aufs Bett setzten.

„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“ wollte Maisy wissen.

„Ich habe den Pick-up gehört. Es ist eigentlich doch gut, dass Jake keinen neuen Wagen gekauft hat.“

„Der Meinung war ich vorhin allerdings ganz und gar nicht, als ich hergefahren bin. Ich hätte ihn fast am Straßenrand stehen gelassen. Diese verdammte Kiste hat mich nie leiden können.“

„Das liegt daran, dass du ihn zu sehr malträtierst.“ Maisy hatte ein gespaltenes Verhältnis zu dem Wagen, seit er angeschafft worden war.

„Wie geht es dir?“

Julia richtete sich kerzengerade auf und faltete die Hände im Schoß. Wenigstens dieses eine Mal schien Maisy die Geste zu verstehen und rückte ein wenig von ihrer Tochter ab, um sie nicht zu sehr zu bedrängen. „Nicht besser, aber auch nicht schlechter“, antwortete Julia.

„Dr. Jefferson ist ein Mistkerl, den nur die Vorschriften interessieren und der höchstwahrscheinlich noch nicht mal einen Niednagel richtig behandeln kann.“

„Urteile nicht zu leichtfertig über ihn.“

Unter normalen Umständen wäre Julia jetzt aufgestanden und durchs Zimmer gelaufen. Doch diesmal wäre ihre Flucht mit Gefahren verbunden gewesen. Obwohl sie sich die Anordnung der Möbel so gut wie möglich eingeprägt hatte, befürchtete sie, sich unsicher durch den Raum zu bewegen, weil ihre Mutter ihr jetzt zusah. Ein paar Sekunden lang schien Julias Herz schneller zu schlagen. Ihr Atem ging stoßweise. Die Welt war ein schwarzes Loch, das sie zu verschlingen und für immer gefangen zu halten drohte.

„Was tust du hier eigentlich, Liebling?“ fragte Maisy.

Julia zwang sich, ruhig zu bleiben. „Ein Zimmer unterscheidet sich nicht groß von einem anderen, wenn man nicht sehen kann.“

„Das stimmt einfach nicht. Du musst mit Menschen zusammen sein, die dich lieben, nicht mit Fremden, und dich an einem Ort aufhalten, der dir vertraut ist.“

„Schau dich um. Es ist doch fast wie zu Hause. Ich habe meinen eigenen Kamin, ein Zimmer voller Antiquitäten – jedenfalls hat man mir das gesagt. Und die Aussicht ist zweifellos überwältigend.“

„Das einzig Überwältigende an diesem Zimmer ist meine Toch-ter, und sie gehört überhaupt nicht hierher.“

Julias blicklose Augen füllten sich mit Tränen. Sie stand auf. Lieber wollte sie das Risiko eingehen, gegen Möbelstücke zu laufen, als ihrer Mutter Kummer zu bereiten. „Bard hat gedacht, es sei für alle das Beste.“

„Und du bist seiner Meinung?“

„Ich mache nicht immer, was er will, Maisy. Diesmal glaube ich allerdings, dass er Recht hat.“

„Wieso bist du dieser Ansicht?“

„Er macht sich Sorgen um Callie.“ Julia streckte eine Hand aus und wunderte sich, dass sie nicht so nahe an der Wand war, wie sie erwartet hatte. Mit kleinen Schritten ging sie vorwärts, bis sie sie berühren konnte. Dann erst sprach sie weiter.

„Er sagt, dass mein ... Zustand sie verunsichert und wütend macht und dass sie sich irgendwie schuldig fühlt ...“

„Lächerlich.“

Julia drehte den Kopf in Maisys Richtung – das hoffte sie jedenfalls. „Woher willst du das wissen?“

„Weil ich ihre Großmutter bin. Seit dem Unfall habe ich sie jeden Tag angerufen, und gestern sind wir nach der Schule Eis essen gegangen. Callie weiß, dass es nicht ihre Schuld war, dass Duster vor dem Hindernis gescheut hat und du kopfüber von ihm geschleudert worden bist. Damit muss jeder rechnen, der anfängt, ein Pferd zu trainieren.“

„Gleich nach dem Sturz teilte mir Callie mit, sie sei sicher, dass Duster gescheut habe, weil sie ihn mit ihrem neuen Pony erschreckt hat.“

„Aber hast du ihr nicht erklärt, dass Duster schon vorher ein halbes Dutzend Mal gescheut hat und es jederzeit wieder tun könnte? Das hat sie mir nämlich erzählt. Ich glaube nicht, dass sie noch unter Schuldgefühlen leidet. Sie ist einfach nur einsam und hat Angst, dass du nicht zurückkommst.“

Julia schluckte die Tränen hinunter. „Hast du ihr gesagt, dass ich zurückkomme, sobald es mir wieder besser geht?“

„Sie ist erst acht. In diesem Alter gilt das Wort einer Großmutter weitaus weniger als das einer Mutter.“

„Der Sturz hat überhaupt nichts mit meinem ... meinem Zustand zu tun. Hast du sie auch darüber informiert?“

„Ja, aber das kann sie erst recht nicht begreifen.“

„Wie sollte sie auch? Ich verstehe es ja selbst kaum. Von einem Moment auf den anderen sehe ich nichts mehr. Dabei ist mit meinen Augen alles in Ordnung. Mein ganzer Körper funktioniert tadellos – nur mein Verstand will nicht mehr.“

Maisy schwieg. Vermutlich wartet sie darauf, dass ich mich wieder unter Kontrolle habe, dachte Julia. Eines war Mutter und Tochter nämlich gemeinsam: ihre Abneigung gegen Gefühlsausbrüche. Julia begann, mit ausgestreckten Armen im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie kam an einen Schreibtischstuhl und hielt sich daran fest. „Ich bin nicht verrückt“, sagte sie schließlich.

„Befürchtest du, dass ich das glaube?“

„Bard behauptet, mein Verstand ist für meinen Zustand verantwortlich. Er möchte, dass ich ein großes Mädchen bin, mich zusammenreiße und alles für meine Genesung tue. Wenn ich mich voll darauf konzentriere und hart arbeite, während ich hier bin, werde ich wieder sehen können.“ Sie hoffte, ein ironisches Lächeln zustande zu bringen. „So würde er sich jedenfalls verhalten.“

„Wenn er da mal keine Überraschung erlebt. Es gibt nämlich Dinge im Leben, auf die selbst Lombard Warwick keinen Einfluss hat.“

„Ich schließe oft meine Augen, und jedes Mal, wenn ich sie öffne, erwarte ich, wieder sehen zu können, aber dem ist nicht so. Ich bin früher häufig vom Pferd gefallen, aber diesmal war es irgendwie anders. Ich erinnere mich, dass ich an Christopher Reeve denken musste, während ich stürzte. Sein Pferd hat auch gescheut, und jetzt ist er für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt. Nachdem ich auf den Boden aufgeschlagen war, hatte ich Angst, mich zu bewegen, weil ich befürchtete, mich nicht mehr hinsetzen oder nicht mehr laufen zu können. Dann muss ich ohnmächtig geworden sein.“

Sie tastete sich um den Schreibtisch herum und ging zum Fenster hinüber. Wieder wandte sie das Gesicht ihrer Mutter zu. „Als ich wieder zu mir kam, habe ich meine Augen nicht aufgeschlagen, sondern nur ein Bein hochgehoben und dann einen Arm. Ich war so erleichtert. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Ich hatte mir überhaupt nichts gebrochen. Erst dann habe ich die Augen geöffnet.“

„Und du konntest nichts mehr sehen.“

Julia hatte ihrer Mutter alles bereits im Krankenhaus erzählt, wohin sie nach dem Unfall gebracht worden war, aber sie sprach weiter, weil sie aus irgendeinem Grund den Wunsch verspürte, den Unfall noch einmal Revue passieren zu lassen. „Merkwürdig, dachte ich, ich liege bestimmt schon seit Stunden hier. Callie ist wohl zurückgeritten, um Hilfe zu holen, und sie können mich jetzt nicht finden. Ich habe angenommen, es wäre Nacht, aber so eine tiefschwarze Nacht? Später hat sich dann herausgestellt, dass ich weniger als eine Minute bewusstlos gewesen bin.“

„Hilft es dir, wenn du ständig davon sprichst?“

„Nichts hilft. Der Nebel lichtet sich nicht. Er bewegt sich nicht einmal. Aber weißt du, was am schlimmsten war? Noch schlimmer, als blind aufzuwachen? Der Moment, als man mir sagte, dass mit meinen Augen alles in Ordnung sei und es sich um eine hysterische Reaktion handele. Ich bin eine Hysterikern.“

„Du bist eine wundervolle, gefühlvolle und intelligente Frau. Du bist kein Fall für die Psychiatrie.“

„Ich bin in einer psychiatrischen Klinik! Mag sein, dass es hier Kamine und Antiquitäten gibt, aber es bleibt eine Klinik für Geistesgestörte.“

„Du gehörst nicht hierher.“

Julia erkannte, dass sie ihrer Mutter nun auch den Rest erzählen musste. „Da gibt es noch ein paar Dinge, von denen du nichts weißt.“

„Das höre ich nicht zum ersten Mal.“

Julia versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. „Der ganze Tag, ich meine, bevor ich Duster damals gesattelt habe, ist nicht gut gelaufen.“

Maisy schwieg.

Hätten mir meine Augen den Dienst nicht versagt, dann könnte ich jetzt bestimmt sehen, wie meine Mutter mit den Händen ringt, überlegte Julia, ihre Finger sind bestimmt wie immer mit Ringen übersät.

Maisy liebte alles, was glitzerte. Sie liebte helle Farben, merkwürdige Stoffe, lose flatternde Kleider, die Julia stets an einen Harem oder an festlich gekleidete Teilnehmerinnen eines polynesischen Festmahls erinnert hatten. Aus jeder Menschenmenge stach sie hervor – die Mutter, über die sich Julias Schulfreundinnen lustig gemacht hatten, die grelle exotische Erscheinung in einer Masse von ehrwürdigem Tweed und auf redliche Weise abgetragenen Bluejeans.

„Du willst das nicht hören, stimmt’s?“ fragte Julia.

„Julia, was meinst du, warum ich hier sitze und warte?“

„Du willst nie hören, wenn es im Leben mal nicht so gut läuft, Maisy. Wenn du eine Brille tragen würdest, hätte sie rosarote Gläser.“

„Vollkommen richtig“, stimmte Maisy zu. „Eine Schmetterlingsbrille mit Strass, und du würdest sie hassen. Aber nur weil ich versuche, das Leben positiv zu betrachten, blende ich ihre negativen Seiten noch lange nicht aus.“

Julia fühlte sich beschämt. Sie liebte ihre Mutter, aber zwischen ihnen erstreckte sich ein Graben, der in den neunundzwanzig Jahren ihres gemeinsamen Lebens immer tiefer geworden war. Sie wusste nicht, wie er entstanden war, und nahm an, dass es Maisy ebenso ging. Es grenzte fast an ein Wunder, dass zwei Frauen, die so wenig Ähnlichkeit besaßen und zwischen denen eine solch große Distanz lag, sich so sehr lieben konnten.

„Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht kränken.“ Vorsichtig tastete sich Julia zum Bett zurück. Sie hoffte, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben. „Ich möchte nur nicht, dass es noch schlimmer für dich wird ...“

„Lass uns lieber dafür sorgen, dass es für dich besser wird. Erzähl mir, was passiert ist. Und halte dich ein bisschen weiter links“, sagte Maisy.

Julia tat, wie ihr geheißen, und stieß mit dem Schienbein gegen die Bettkante. „Ich werde einen Blindenstock benötigen.“ Der letzte Satz wirkte wie ein Donnerschlag.

Maisy ergriff die Hand ihrer Tochter, um ihr beim Hinsetzen zu helfen. „Hat Dr. Jeffers dich über den Krankheitsverlauf informiert?“

„Nein. Während unserer Sitzungen spricht er kaum, und wenn, dann stellt er nur Fragen: Warum ich mir nicht gleich Hilfe gesucht habe, als die Probleme das erste Mal auftauchten. Warum ich so zu-

rückhaltend bin. Warum ich nicht möchte, dass mein Mann in die Therapie mit einbezogen wird.“

„Würde Bard denn gerne einbezogen werden?“

„Das bezweifle ich, aber ich bin sicher, dass er es dem Doktor gegenüber niemals klar zum Ausdruck gebracht hat.“

„Erzähle mir von den Problemen, die du eben erwähnt hast.“

„Ich konnte vor Kopfschmerzen kaum aus den Augen sehen.“ Sie lächelte grimmig.

„Wissen die Ärzte darüber Bescheid?“

„Ja. Sie haben jeden Zentimeter meines Gehirns untersucht, haben alle möglichen Tests gemacht, die sich ein Neurologe nur ausdenken kann, und zahlreiche Spezialisten zu Rate gezogen. Sie haben nichts gefunden – jedenfalls nichts Physisches.“

„Und sonst?“

„Ich ...“ Julia überlegte, wie sie den nächsten Satz formulieren sollte. „Meine Arbeit hat gelitten.“

„Deine Malerei?“

Julia nickte. „Ich sollte ein Familienporträt der Trents anfertigen. Sie besitzen in der Nähe von Middleburg neben dem Anwesen der Gradys eine hübsche kleine Farm. Sie haben zwei hellblonde Kinder, die mit ihren Ponys in derselben Reitveranstaltung wie Cal-lie aufgetreten sind. Ein Junge und ein Mädchen. Erinnerst du dich noch an sie?“

„Ich glaube, ja.“

„Die ganze Familie hat mir drei Mal Modell gesessen, aber ich brachte nichts Anständiges zu Papier. Es war wirklich schlimm. Den Trents schwebte etwas Zwangloses vor; sie wollten mit ihren Pferden und Haustieren in freier Landschaft abgebildet werden. Die Skizzen, die ich anfertigte, waren eigentlich ganz gut. Ich hatte auch ein paar gute Ideen für die Ausführung in Öl. Aber als ich begann zu malen, gelang es mir nicht, meine Vorstellungen umzusetzen. Das Bild entwickelte eine Art Eigenleben. Mr. Trent – immer steif und korrekt – ist ein sehr strenger Vater. Das war alles, was ich auf die Leinwand bringen konnte. Irgendwie sah er aus wie ein SA-Mann.

Einmal ertappte ich mich sogar dabei, wie ich ein Hakenkreuz auf seinen Ärmel gezeichnet habe.“

„Möglicherweise hast du nicht gemalt, was du gesehen, sondern was du gefühlt hast. Macht das aber nicht jeder Künstler so?“

„Ja, nur hatte ich mich irgendwie nicht mehr unter Kontrolle.“ Julia merkte, dass ihre Stimme schriller wurde. Sie hielt inne, um tief durchzuatmen. „Das war bei allen Bildern so, die ich in dem Monat vor dem Unfall gemalt habe. Die Jagdszenen, an denen ich mich versuchte, verloren auf irgendeine Art ihren positiven Charakter. Dabei jagen wir Füchse doch in erster Linie um des Spaßes willen und nicht, weil wir sie töten wollen. Aber auf jedem Gemälde, das ich anfing, schien im Mittelpunkt zu stehen, wie die Hunde den Fuchs in Stücke rissen. Sie waren ... beunruhigend, und jedes Mal, wenn ich mit dem Malen aufhörte, fühlte ich mich so durcheinander, dass ich Angst hatte, am nächsten Tag wieder zu beginnen.“

„Vielleicht war es nur die Erschöpfung. Vielleicht brauchtest du eine Pause.“

„Na ja, jetzt habe ich ja eine, oder?“

Maisy schwieg, was Julia nicht wunderte. Was hätte sie auch schon sagen sollen.

Schließlich meinte Maisy: „Als du noch ein kleines Mädchen warst und Kummer hattest, bist du immer in dein Zimmer gegangen und hast gemalt. Auf diese Weise verliehst du deinen Gefühlen Ausdruck.“

„Das würde ich auch jetzt gerne tun. Aber so wird es nie wieder sein, wenn sich nicht etwas radikal ändert.“

„Komm mit mir nach Hause, Julia. Wenn Bard dich in Millcreek nicht will, dann begleite mich nach Ashbourne. Du weißt, dort gibt es genug Platz für dich und Callie. Wir suchen einen Therapeuten, zu dem du Vertrauen hast. Jake möchte auch, dass du bei uns wohnst.“

Julia liebte ihren Stiefvater, der Maisy zu einer gewissen Stabilität verhalf und sie selbst mit liebevoller Fürsorge behandelte. Er war ein freundlicher, ruhiger Mensch, dem die Verschrobenheit seiner Frau noch immer Rätsel aufgab. Julia wusste, dass er sie mit offenen Armen empfangen würde.

Einen Moment lang war sie versucht, zuzustimmen, in das Haus ihrer Kindheit zurückzukehren und ihre Tochter mitzubringen, um dort so lange zu bleiben, bis sie wieder sehen konnte oder gelernt hatte, mit ihrer Behinderung zu leben. Doch dann holte sie die Wirklichkeit wieder ein.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf. „Das kann ich nicht tun. Meine Güte, Bard würde außer sich sein. Er musste seine Verbindungen spielen lassen, damit ich hier einen Platz bekomme. Er ist der Ansicht, dass ich mich so lange von allem und jedem fernhalten muss, bis es mir wieder besser geht.“

„Und was ist deine Meinung?“

„Ich hoffe, dass sie mir hier tatsächlich schnell helfen können, wie Bard immer behauptet. Denn ich glaube nicht, dass ich es in dieser Klinik sehr lange aushalte. Ich komme mir vor wie im Gefängnis. Ich weiß, wie Christian ...“

Unvermittelt hielt sie inne, erschrocken über das, was sie beinahe gesagt hätte.

„Du weißt, wie Christian darüber denkt“, beendete Maisy den Satz für sie. „Du hast ihn schon lange nicht mehr erwähnt.“

Julia erstarrte. „Ich habe eben gar nicht an Christian gedacht. Es ist mir schleierhaft, warum er mir plötzlich einfiel.“

„Du hast dein Sehvermögen verloren und er seine Freiheit. Ihr lebt beide an Orten, die ihr euch nicht selbst ausgesucht habt. Das ist die Verbindung.“

„Ich möchte nicht über Christian sprechen.“

„Das wolltest du noch nie.“

An der Tür raschelte es. Erleichtert drehte Julia den Kopf in diese Richtung.

„Eine Krankenschwester ist gekommen“, sagte Maisy.

„Mrs. Warwick?“ Karen, die Schwester, die ausgerichtet hatte, dass Julia ihre Mutter treffen wolle, betrat das Zimmer so geräuschvoll, dass Julia mitbekam, an welcher Stelle im Raum sich die Klinikangestellte befand. „Dr. Jeffers meint, dass Sie sich jetzt ausruhen sollten.“

Wenigstens dieses Mal war Julia mit ihrem Therapeuten einer Meinung. Plötzlich fühlte sie sich schrecklich müde. Sie spürte, wie sich die Matratze hob, als Maisy aufstand.

„Du siehst tatsächlich erschöpft aus. Ich komme morgen wieder“, meinte Maisy. „Soll ich Callie irgendetwas ausrichten?“

„Sag ihr, dass ich sie liebe und dass ich bald nach Hause komme. Und dass ich sie in meinen Träumen sehen kann.“

„Lässt du dir mein Angebot durch den Kopf gehen?“

Julia nickte. Dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter sie möglicherweise gar nicht anschaute. Eine Sache, über die sich kein Sehender Gedanken zu machen brauchte.

„Ich werde darüber nachdenken.“ All die Worte, die sie nicht ausgesprochen hatte, schnürten ihr die Kehle zu. Ein Teil von ihr wollte Maisy bitten, sie mit nach Hause nach Ashbourne zu nehmen, in das idyllische Landhaus, in dem sie bis zu ihrer Heirat gelebt hatte. Der andere Teil bestand darauf, dass sie hier blieb und weiter litt, um vielleicht eines Tages geheilt zu werden, wenn die Leiden schwer genug gewesen waren.

Karen ergriff das Wort. Sie hatte eine leise, heisere Stimme und warme Hände. Merkwürdig, worauf man so achtet, wenn man blind ist, dachte Julia. „Sicherlich wissen Sie ja, dass Mrs. Warwick eigentlich nur von ihrem Mann besucht werden darf. Doch unglücklicherweise hat Dr. Jeffers morgen Nachmittag um drei Uhr eine Verabredung. Er wird also nicht im Hause sein. Jeder könnte einfach so hereinkommen ...“

„Ich verstehe“, erwiderte Maisy.

„Vielen Dank.“ Auch Julia begriff den Wink mit dem Zaunpfahl.

„Auf Wiedersehen, Liebling.“ Sie spürte erst die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter und dann Maisys Lippen an ihrer Wange. Als Karen und Maisy sie verlassen hatten, war das Zimmer ebenso leer wie Julias Herz.

2. KAPITEL

Ashbourne war ein riesiges, eigenwilliges Haus auf einem 120 Hektar großen Grundstück. Es lag zwischen gewundenen Hügelketten und Bächen voller Felsbrocken. Die Blue Ridge Mountains dominierten die Landschaft. Maisy hatte nie aufgehört, die Schönheit der Gegend zu bewundern und ihrem Schicksal zu danken, das sie als junge Braut von Harry Ashbourne, dem Master der hiesigen Fuchsjagd, hierher geführt hatte.

Harry war nun schon fast seit fünfundzwanzig Jahren tot, doch Ashbourne existierte noch und wartete darauf, wie Maisy sich einredete, dass Julia Anspruch darauf erheben und es in alter Pracht wieder auferstehen lassen würde.

Das Haupthaus des Anwesens war ein elegantes, klassizistisches Gebäude mit roten Ziegeln und dorischen Säulen. Es war drei Stockwerke hoch. Die symmetrisch angelegten Seitenflügel, die die große rückwärtige Veranda und die steingeflieste Terrasse säumten, verfügten jedoch nur über zwei Etagen. Als Harry noch lebte, waren die Holunderbüsche und der Berglorbeer, der persische Flieder und die Glyzinien stets sorgfältig gepflegt worden. Sie wirkten mustergültig und geschmackvoll wie das Haus selbst, aber niemals über-trieben perfekt.

Mit den Jahren war der Garten verwildert. Alte Akazien, Ahorn- und Walnussbäume waren Blitzeinschlägen oder Dürreperioden zum Opfer gefallen; die Buchsbaumbüsche, die Harry während Maisys Schwangerschaft gepflanzt hatte, waren zu einer undurchdringlichen Hecke zusammengewuchert und hatten die Bewegungsfreiheit und die Sicht eingeschränkt, bevor ein Landschaftsarchitekt sie entfernt hatte. Im Laufe der Zeit waren die in Reihen gesetzten Knollengewächse und immergrünen Pflanzen wild gewachsen, hatten dem Gras und den Büschen den Lebensraum streitig gemacht und sich in jedem Sommer weiter ausgebreitet.

Maisy liebte den Garten, so wie er war. Das Haus stand jetzt leer, und die Schwarzäugige Susanne, der Klatschmohn, die Wegwarte und die blauen Glockenblumen ließen die verwitternde Fassade weicher und wärmer erscheinen. Weder das Haus noch der Garten wirkten ungepflegt. Maisy sorgte stets für die nötige Pflege. Aber auch Jack – in seiner geschickten und gutmütigen Art – kümmerte sich um vieles. Doch es wurde allmählich Zeit, dass Harrys Tochter sich entschied, was mit dem Besitz geschehen sollte.

Maisy und Jake lebten im Cottage des Hausmeisters. Es war das älteste Gebäude auf dem Anwesen und lag am Rande eines Waldes, in dem sich Füchse und Murmeltiere in ihre Höhlen verkrochen und Eulen die einsamen Nächte durchwachten.

Das zweistöckige Haus hatte eine große Halle und gemütliche Zimmer, die sich ohne einen erkennbaren Bauplan aneinander reihten oder übereinander schichteten. Der Heizkessel ächzte, die Wasserrohre gluckerten, und der Wind pfiff durch die Ritzen der Fensterrahmen und Simse. Maisy und Jake waren sich einig, dass diese Absonderlichkeiten ebenso den Charme des Hauses ausmachten wie das Schieferdach und die zahlreichen Kamine.

Es dämmerte bereits, als Maisy aus der Gandy-Willson-Klinik zurückkam. Schwarze Wolken schoben sich ineinander und behinderten die Sicht auf einen prächtigen Sonnenuntergang. Auch in dieser Nacht würde man die Sterne nicht sehen können. Wie schade! Sonst lief sie nämlich oft zwei oder drei Mal pro Abend vor die Tür, um das nächtliche Schauspiel am Himmel zu bewundern. Sie suchte immer einen Vorwand, um hinauszugehen, obwohl Jake sie bestimmt durchschaute. Manchmal behauptete sie, die Katzen in der Scheune füttern zu wollen, drei alternde Schildpattkatzen, die auf die Namen Winken, Blinken und Nod hörten. Mitunter gab sie vor, dem Farmer, der auf den saftigen Weiden von Ashbourne seine langhörnigen, zotteligen Hochlandrinder grasen ließ, bei der Kontrolle seiner Gatter zu helfen. Kein Vorwand war ihr zu fadenscheinig, solange er sie nur nach draußen führte.

Sie fuhr über den breiten Weg und lenkte den Pick-up auf den Parkplatz neben der Scheune. Als sie ausgestiegen war, reckte und dehnte sie sich ausgiebig. Jeder Muskel tat ihr weh, weil sie so lange im Auto gesessen hatte und zudem die Stoßdämpfer nicht in Ordnung waren. Wie immer, wenn sie mit Jakes Truck gefahren war, schwor sie sich, den Wagen in die Werkstatt schleppen zu lassen, wenn Jake das nächste Mal nicht zu Hause war. Sie liebäugelte schon seit längerem mit einem knallroten Ford Ranger, den sie bei einem Autohändler in Leesburg gesehen hatte.

Sie fand Jake wie üblich in der Scheune, die er als Werkstatt benutzte. Es gab nichts, das er nicht auseinander nehmen und wieder zusammensetzen konnte, so dass es wieder genauso funktionierte wie zuvor. Die Menschen von ganz Loudoun und Fauquier brachten ihm ihre Toaster und Rasenmäher, Motorroller und Ventilatoren. Die meisten dieser Leute waren wie Jake selbst: Sie glaubten, dass es sich lohne, bestimmte Gegenstände reparieren zu lassen. Sie besaßen zwar alle genug Geld, um die kaputten Dinge durch neue zu ersetzen, aber sie hingen an den alten Sachen.

Als sie eintrat, beugte sich Jake gerade über seine Werkbank. An deren Ende hatte sich Winken, die Katze, zusammengerollt und schlug jedes Mal träge mit der Pfote nach seinem Ellbogen, wenn er in ihre Reichweite kam. Die drei Katzen betrachteten die Scheune als ihr Zuhause. Maisy hatte die Tiere eines Winter-morgens gefunden: Sie lagen auf dem Parkplatz des Middleburg Safeway Supermarkts und versuchten, sich aus einer Papiertüte zu befreien. Maisy nahm die kleinen miauenden Wollknäuel mit nach Hause, wo sie ihnen alle zwei Stunden die Flasche gab. Damals waren ihr die ständigen Erkundungsgänge der Katzen auf die Nerven gefallen und sie hätte gerne mal eine Nacht lang durchgeschlafen. Jahre später sorgten die Tiere nun dafür, dass die Scheune eine mäusefreie Zone blieb. Außerdem leisteten sie Jake Gesellschaft, wenn er sich dort aufhielt. Katzen verfügten über ein feines Gespür für Leistung und Gegenleistung, hatte Maisy festgestellt.

„Ich bin wieder zurück.“

Jake drehte sich um und begrüßte sie. Wenn er in seine Arbeit vertieft war, vergaß er alles um sich herum. Er konnte sich im Gegensatz zu ihr gut konzentrieren, und sie neckte ihn oft damit, dass ein Einbrecher die Scheune leer räumen und sogar die Spinnweben mitnehmen könnte, während er vor sich hin bastelte.

Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab, ehe er zu ihr hinüberging und ihr einen Kuss auf die Wange gab. „Hast du sie gesehen?“

„Ja. Aber es ging nicht ohne Kampf ab.“ Sie wusste, dass er sie nicht drängen würde, ihm mitzuteilen, was Julia ihr erzählt hatte. Er würde warten, bis sie es von sich aus tun würde. Sie blickte ihm über die Schulter. Blinken hatte sich zu ihrer Schwester gesellt, und die beiden untersuchten Jakes jüngstes Projekt. „Kommst du gut voran?“

„Liz Schaffer hat mir ihre Uhr gebracht, die sich seit drei Generationen in Familienbesitz befindet und normalerweise auf dem Kaminsims steht. Sie tickt nur fünfzig Mal pro Minute.“

„Kannst du sie reparieren?“

„Ich muss mal sehen, ob ich das passende Ersatzteil finde, aber ich denke, ich werde es schaffen.“ Er nahm sie fest in seine Arme, als spürte er, dass sie seine Nähe brauchte. „Ich habe Chili con Carne zum Abendessen gemacht. Und das Brot muss nur noch in den Ofen geschoben werden.“

„Du bist zu gut zu mir.“ Sie schmiegte sich an ihn und schaute in sein Gesicht, das mit zunehmendem Alter immer faltiger wurde. Jake war niemals ein hübscher Mann gewesen, doch immer sehr distinguiert, und das bereits zu einer Zeit, als sich unter diesem Wort noch niemand etwas vorstellen konnte. Sein Haar war schneeweiß, aber noch immer so dicht und lockig wie an jenem Tag, als sie ihn kennen gelernt hatte – und immer noch, wie damals, ein wenig zu lang. Er hatte kastanienbraune, geduldig blickende Augen, die in letzter Zeit allerdings ein wenig müde wirkten. Manchmal befürchtete sie, dass er ihrer zu guter Letzt doch noch überdrüssig werden könnte.

„Lass mich das hier nur noch wegräumen, dann kümmere ich mich um das Essen.“

Schuldbewusst löste sie sich aus seiner Umarmung. „Nein, ich schiebe jetzt das Brot in den Ofen und mache uns einen Salat.“ Sie hielt inne. „Haben wir Kopfsalat?“

Er lächelte ein wenig. „M-hm. Ich war gestern einkaufen.“

„Huch, was habe ich denn währenddessen gemacht?“

„Du hattest dich in deinem Arbeitszimmer eingeigelt.“

„Oh ...“

„Ich gehe gerne einkaufen, Maisy. Dabei treffe ich immer jemanden, den ich kenne. Zwischen Möhren und Auberginen mache ich mehr Geschäfte als am Telefon. Nun lauf los und bereite den Salat zu.“

Ehe sie durch die Tür trat, drehte sie sich noch einmal um. „Hättest du etwas dagegen, wenn Julia und Callie bei uns wohnen würden?“

Er schaute sie an. „War das Julias Idee?“

„Ich habe es ihr angeboten.“ Sie überlegte kurz. „Vielleicht bin ich ein wenig zu forsch vorgegangen.“

„Wie eine Dampfwalze mit Autopilot.“

„Sie sollte sich nicht in dieser Klinik aufhalten, Jake. Du kennst doch das Haus. Sie fühlt sich dort hundeelend.“

„Du weißt, dass Julia und Callie hier stets willkommen sind.“

„Hätte ich sie nicht drängen sollen?“

„Du bist eine gute Mutter. Du tust immer das, was du für das Beste hältst.“

Sie freute sich über seine Unterstützung. „Morgen fahre ich wieder hin.“

„Bard wird nicht gerade glücklich sein, wenn du dich einmischst.“

Sie trat aus der Scheune und betrachtete den Himmel, dessen gleichmäßige zinngraue Wolkendecke sich bis zum Horizont erstreckte. Es hatte sich abgekühlt, und sie fröstelte. Der Herbst kündigte sich an. Nach dem Essen würde sie Jake bitten, ein Feuer im Kamin anzuzünden, beschloss Maisy. Dann wollte sie ihm in allen Einzelheiten berichten, was Julia ihr erzählt hatte.

Julia wusste, dass Bard sie nach dem Abendessen besuchen würde – nicht, weil er es dann am Besten einrichten konnte, sondern um sich persönlich davon zu überzeugen, dass alles in der Klinik nach seinen Vorstellungen ablief. Sie hatte einen Mann geheiratet, der immer alles im Griff haben wollte und nie um eine Antwort verlegen war. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte sie seine dominante Art als beruhigend empfunden und es nicht ungern gesehen, dass er ihr die Verantwortung für ihr eigenes Leben abnahm.

Wie immer empfand sie jetzt Schuldgefühle, weil ihr Zweifel an Bard kamen, dem Mann, der ihr in den schlimmsten Momenten ihres Daseins unbeirrbar zur Seite gestanden hatte. Bard konnte sehr herrisch sein, aber auch sehr stark und beruhigend.

In gewisser Weise schien Bard aus einer anderen Zeit zu stammen. Zwar war er älter als sie, fast zwölf Jahre, aber es lag eher an seinem Auftreten, dass dieser Eindruck entstand. Er hätte sich am Hofe von König Artus sicherlich sehr wohl gefühlt – als Ritter, der am glücklichsten war, wenn er gegen Drachen kämpfen konnte. Aber Bard wäre nie ein Lancelot gewesen. Ihn trieb nicht religiöser Eifer, und von Romantik hielt er auch nicht viel. Er würde die Drachen einzig aus dem Grund töten, weil sie ihm im Weg stünden.

Um sieben Uhr saß Julia vor der Frisierkommode, in der sie Kämme und Bürsten aufbewahrte. Ihr glattes schwarzes Haar reichte ihr bis zu den Schultern und war leicht zu pflegen – selbst jetzt, wo sie blind war. Vom Mittelscheitel aus, den sie nur mit Mühe finden konnte, bürstete sie es glatt nach hinten.

Sie machte sich nicht die Mühe, Make-up aufzulegen, denn es war schlimmer, den Lippenstift an der falschen Stelle aufzutragen, als den Mund überhaupt nicht zu schminken. Zuvor hatte sie schon eine Wollhose und ein Twinset angezogen, denn im Zimmer war es ziemlich kalt. Maisy hatte immer behauptet, Julia würde nicht so schnell frieren, wenn sie ein paar Kilo zulegte, aber Julia bezweifelte, dass sie hier auch nur ein Gramm zunehmen würde. Das Essen in der Klinik war genau so, wie sie es erwartet hatte: fettarm und fade. Da nutzten auch die Garnierungen mit Pilzen und Senfkohl nichts.

Als sie gerade dabei war, ihre Strickjacke zuzuknöpfen, klopfte es leise an der Tür. Sie hörte Karens Stimme: „Es ist kühl im Haus. Soll ich Ihnen heute Abend ein Feuer im Kamin anzünden? Dr. Jeffers hat es erlaubt.“ Die Krankenschwester trat ein.

Kein Wunder, dass offenes Feuer in den Zimmern normalerweise nicht gestattet ist, dachte Julia. Jeder, der die Gandy-Willson-Klinik als Patient erleben musste, würde sich nach kurzer Zeit in die Flammen werfen wollen – auch wenn er vollkommen normal im Kopf war.

„Sie lächeln ja“, fiel Karen auf.

Julia merkte, dass es stimmte. „Es ist der Gedanke an ein Feuer“, log sie. „Eine hübsche Idee, wirklich.“

Sie tastete sich durch das Zimmer, setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und hörte, wie Karen Holzscheite hereintrug. Das Geräusch war ihr ebenso vertraut wie das Zischen des Schwefels, als das Streichholz aufflammte.

„Nur ein kleines Feuer“, sagte Karen. „Ein bisschen Glut, mehr nicht. Aber es wird Sie wärmen. In diesem Trakt haben wir leider Probleme mit der Heizung.“

Julia dankte ihr und hörte, wie das Holz zu knistern begann und Karen das Zimmer verließ.

Im Krankenhaus, unmittelbar nach dem Unfall, hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Wenn alles dunkel um einen war, bemerkte man das Vergehen der Zeit kaum noch. Man sah ja nicht, wie die Sonne oder der Mond durchs Fenster schien, ob die Lampen brannten oder nicht, ob im Fernsehen die Früh- oder die Spätnachrichten liefen.

Im Laufe der Zeit hatte sie neue Dinge entdeckt, an denen sie sich orientieren konnte. Das Summen der Neonleuchte an der Decke, wenn am Abend das Licht eingeschaltet werden musste, oder der Geruch des Desinfektionsmittels, wenn morgens der Korridor geputzt wurde.

Außerdem hatte sie gelernt, dass die Zeit langsamer voranschritt, als ihr bewusst war. Ohne die Ablenkungen eines normalen Lebens schien jede Sekunde wie in Zeitlupe zu vergehen. Sie hatte diese Sache mit Raum und Zeit in Einsteins Relativitätstheorie nie verstanden, aber jetzt glaubte sie, sie allmählich zu begreifen.

Nachdem sie sicher war, mindestens einen ganzen Tag lang so dagesessen zu haben, hörte sie Bard an ihrer Tür. Er klopfte immer zwei Mal, und zwar mit der Präzision eines Metronoms. Dann öffnete er schwungvoll die Tür und schritt auf sie zu, um sie auf die Wange zu küssen.

Auch an diesem Tag war es so. Noch bevor sie ihn zum Eintreten auffordern konnte, stand er bereits neben ihr. Sie roch sein Calvin-Klein-Rasierwasser – letztes Weihnachten hatte sie Callie noch geholfen, es auszusuchen – und spürte seine raue Wange an ihrem Gesicht.

„Du siehst müde aus.“ Er hatte sich wieder aufgerichtet und einen Schritt von ihr weg gemacht. Sie erkannte es an seiner Stimme.

„So ist das eben, wenn man den ganzen Tag nur herumsitzt“, erwiderte sie.

Sie war hier, damit er sich ihrer nicht schämen musste. Vermut-lich wusste nicht ein einziger ihrer Freunde, was ihr tatsächlich zugestoßen war, überlegte sie und fragte sich, was für eine Geschichte er ihnen wohl auftischte. „Zu Hause hätte ich mehr Ruhe. Da würde ich mich zurechtfinden und könnte mehr unternehmen. Dann würde ich auch besser schlafen können.“

„Darüber haben wir uns doch schon mehr als ein Mal unterhalten, Julia.“

Sie ärgerte sich über den herablassenden Tonfall in seiner Stimme. „Nur du hast davon gesprochen, Bard. Ich habe kaum etwas dazu gesagt.“

„Ich habe gehört, dass deine Sitzungen mit Dr. Jeffers nicht besonders erfolgreich sind.“

„Wenn du damit ausdrücken willst, dass ich meine Sehfähigkeit nicht auf wunderbare Weise wiedererlangt habe, dann muss ich dir Recht geben. Sie sind nicht besonders erfolgreich gewesen.“

„Das habe ich nicht gemeint.“

Sie spürte ihre zunehmende Frustration. „Bard, bitte rede nicht mit mir, als wäre ich so alt wie Callie. Ich bin blind, nicht acht Jahre alt. Was hast du denn gemeint?“

„Dr. Jeffers behauptet, dass du nicht mitarbeitest. Dass du dich gegen die Therapie sträubst.“

„Ich sträube mich dagegen, ihm mein Innerstes zu offenbaren, nur damit er irgendetwas auf seinen Notizblock kritzeln kann.“

„Woher weißt du denn, dass er etwas aufschreibt?“

„Ich kann das Kratzen seines Füllfederhalters hören. Meine anderen vier Sinne funktionieren ja noch.“

„Warum nimmst du seine Unterstützung nicht an?“

„Weil es ihm nicht darauf ankommt, mir zu helfen. In Wirklichkeit ist er ein Voyeur. Er möchte einen Blick in die Tiefen meiner Seele werfen. Doch ich sehe nicht ein, warum ich ihm das erlauben sollte.“

„Hättest du lieber einen Blindenhund?“

Sie presste die Lippen zusammen. Für Bard bestand das Leben aus einer endlosen Kette von Entscheidungen – entweder war man für oder gegen etwas. Und daher gab es für ihn auch nur zwei Möglichkeiten, was Julias Behandlung anging. Entweder ließ seine Frau zu, dass Dr. Jeffers sie gesund machte, oder sie blieb blind. Etwas anderes kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn.

„Deiner Mimik entnehme ich, dass du den Hund nicht willst.“ Es klang, als hätte er sich von ihr entfernt. Vermutlich stand er am Fenster, wo sie sich sonst so gerne aufhielt.

„Was siehst du?“ fragte sie. „Ich würde gerne wissen, wie es draußen ausschaut, damit ich es mir vorstellen kann, wenn ich mich gegen den Fensterrahmen lehne.“

Zum ersten Mal klang er verärgert. „Das hört sich ja so an, als ob du vorhast, dich in dieser Situation auf Dauer einzurichten.“

„Es war eine ganz einfache Frage. Ich hatte keinerlei Hintergedanken.“

„Es sieht so aus, wie du es dir wahrscheinlich vorgestellt hast: Bäume, Blumenbeete, Rasen, ein Parkplatz. Berge am Horizont.“

„Danke.“

„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Maisy dich heute besucht hat. Entgegen meiner Anordnung.“

Seine Stimme klang jetzt lauter; also nahm Julia an, dass er sie anschaute. Sie stellte sich vor, wie er am Fenstersims lehnte – die langen Beine lässig gekreuzt, die Arme verschränkt, während er auf ihre Antwort wartete. Sie erinnerte sich an den Moment, als ihr Lombard Warwick das erste Mal aufgefallen war.

Sie hatte Bard schon lange gekannt. Das Städtchen Ridge’s Race – es gab hier kaum mehr als eine Tankstelle, ein Postamt und einen malerischen, weiß getünchten Kolonialwarenladen – war nach dem jährlichen Jagdrennen benannt, das zwischen den beiden Hügelketten stattfand, die sich um den Ort erstreckten. Zwischen den Bergen lagen außerdem einige Dutzend riesige Farmen und Anwesen. Zu ihnen gehörten unter anderem Ashbourne und die Millcreek Farm, das Heim von Bards Familie. Ridge’s Race besaß einen Bürgermeister, einen Stadtrat, drei oder vier Kirchen und liebenswerte Bewoh-ner, die füreinander einstanden.

Wegen des Altersunterschiedes hatten Julia und Bard nie gemeinsam die Schule besucht. Und selbst wenn sie im selben Jahr geboren worden wären, hätten sich ihre Wege niemals gekreuzt, weil sie vollkommen unterschiedlich aufwuchsen. Bard musste auf das selbe Internat wie sein Vater gehen, das für seinen militärischen Drill berühmt war. Julia, Tochter einer Mutter, die von Klassentrennung nichts hielt und die Gleichheit aller Menschen propagierte, wurde auf eine der staatlichen Schulen in der Stadt geschickt.

Sie hatten auch nicht gemeinsam die Kirche besucht. An einer Wand von St. Albans, der Episkopalkirche, in der sich die einflussreichsten Bewohner von Ridge’s Race jeden Sonntagmorgen versammelten, hing eine Tafel, die Generationen von Warwicks auflistete. Die Namen der Ashbournes standen ebenfalls darauf. Julia war in dieser Kirche getauft worden. Ihr Vater hatte damals das schreiende Baby fest in den Armen gehalten. Leider war er kurz nach Julias viertem Geburtstag gestorben. Solange sie zurückdenken konnte, war Maisy nur selten mit ihr in die Kirche gegangen – und wenn, dann waren sie nach Leesburg oder Fairfax gefahren und Maisy hatte Gemeinden und Konfessionen nach Belieben ausgewählt.

Doch trotz unterschiedlicher Schulen und Kirchen war Bard in Julias Leben stets gegenwärtig gewesen. Die Millcreek Farm hatte am Ende der Straße gelegen – nicht weit weg vom Haus der Ashbournes. Als kleines Mädchen hatte sie ihn auf schlanken Vollblütern reiten oder in einem seiner teuren Sportwagen vorbeiflitzen sehen. Sie hatte ihn in der Stadt getroffen, mit ihm über das Wetter und die Kommunalpolitik geredet, während sie im Postamt Schlange standen, oder war ihm begegnet, wenn er Bourbon und Zaumzeug in Middleburg gekauft hatte. Bis zu ihrem zwanzigsten Geburtstag gehörte er genauso zu ihrem Leben wie die Zäune, die sich kilometerweit an den Weiden entlang zogen, oder wie die Pferdeanhänger der Marke Sundowner.

Doch eines Tages, als ihre Welt in Scherben lag, hatte sie sich Lombard Warwick einmal genauer angesehen, den begehrten Jung-gesellen, den Sohn von Brady Warwick und Grace Lombard, den Erben der Millcreek Farm, Absolventen der juristischen Fakultät der Universität Yale und Eigentümer preisgekrönter Jagdpferden.

Sie hatte sich nicht in ihn verliebt, war jedoch von seiner Stärke und Selbstsicherheit fasziniert gewesen.

Inzwischen glaubte sie, dass Bard in jenem Jahr den Höhepunkt seines Lebens erlebt hatte. Damals war er einunddreißig Jahre alt und sah geradezu unverschämt gut aus. Sein dunkles Haar war noch nicht angegraut; seine grünen Augen blickten klar und aufrichtig. Er trug einen pechschwarzen Bart und hatte eine langes, wohl geformtes Kinn sowie hohe Wangenknochen, die sein Gesicht ebenso markant wie aristokratisch erscheinen ließen. Außerdem schaute er Frauen auf eine ganz besondere Art an, wodurch diese mehr über ihre Sexualität erfuhren als durch Mamas holprige Aufklärungsversuche oder den Biologieunterricht an der High School.

Bard hatte seitdem nicht viel von seiner Attraktivität verloren, obwohl er massiger geworden war. Er ähnelte jetzt seinem Vater, der im ganzen Bezirk den Wert von kräftigen Quarter Horses, dieser speziellen amerikanischen Pferderasse, mit größter Sorgfalt taxierte. Bard war groß, hatte einen kräftigen Knochenbau, und seine Haltung zeugte von militärischer Disziplin. Wirkliche Herausforderungen gab es für ihn selten, und wenn, so wusste er sie fast immer zu meistern.

Sein Blick wirkte zwar noch immer klar, aber in der Zwischenzeit auch bedrohlich. Das Alter hatte ihn nicht gelassener gemacht. Bard war intelligent und gerissen, aber nicht sehr verständnisvoll und geduldig.

Das erwies sich auch jetzt. „Julia, ich warte noch immer auf deine Antwort. Warum ist Maisy hier gewesen? Dieser Wunsch, nach Hause zurückzukehren ... Kam dieser Vorschlag zufällig von ihr?“

„Soll ich jetzt etwa das Gespräch mit meiner Mutter wortwörtlich wiederholen?“

„Ich möchte nicht, dass sie dich aufregt.“

Seine Stimme war etwas schriller geworden. Sie stellte sich vor, dass er sich gerade am Ohrläppchen zupfte – eine Angewohnheit, die verriet, dass er wütend war.

„Bard, du regst mich auf.“

„Warum?“

„Weil du versuchst, mir vorzuschreiben, wie ich leben soll.“ „Dr. Jeffers glaubt, dass der Kontakt zu Maisy deinen Heilungsprozess verzögert. Ich bin sowieso überrascht, dass sie überhaupt hergefunden hat, ohne auf einer Nebenstraße anzuhalten, um Herbstblätter nach Größe und Farbe zu sortieren.“

„Sie liebt mich. Und sie macht sich Sorgen.“

Seine Stimme wurde weicher. „Wir machen uns alle Sorgen, Liebling. Und deshalb möchte ich, dass du so schnell wie möglich wieder gesund wirst.“

„Ich will aber nicht hier bleiben. Ich kann auch zu Hause eine Therapie machen. Wir können jemanden engagieren, der mir hilft. Das wäre außerdem auch sehr viel billiger, als hier in der Klinik behandelt zu werden.“

„Aber der Heilungsprozess würde sehr viel länger dauern.“

Sie wusste, dass der Zeitpunkt gekommen war, mit härteren Bandagen zu kämpfen. Sie richtete sich ein wenig auf und drehte vorsichtig den Kopf, bis sie sicher war, dass sie ihn Bard direkt zuwandte. „Du willst mich nicht zu Hause haben, weil es dir peinlich ist. Du möchtest nicht, dass irgendjemand erfährt, dass deine Frau psychische Probleme hat und für ihre eigene Behinderung verantwortlich ist.“

„Und an Callie denkst du wohl überhaupt nicht. Glaubst du, dass es gut für sie ist, wenn sie ihre Mutter in diesem Zustand sieht? Sie ist schon verwirrt genug. Sie muss nicht unbedingt auch noch erleben, wie du gegen Wände läufst und über Türschwellen stolperst.“

Ihre Verbitterung verwandelte sich in Zorn. „Warum bist du auf einmal so sehr um Callie besorgt, Bard? Normalerweise machst du dir um sie nicht viele Gedanken.“

„Ich nehme an, das ist die Ansicht deiner Mutter.“

„Das ist meine Ansicht.“

„Ich denke zwar nicht den ganzen Tag an Callie, das heißt aber noch lange nicht, dass ich mich nicht um sie kümmere.“

„Ach, tu doch nicht so. Wer ist denn immer für sie da? Ich treffe die Entscheidungen. Und ich kümmere mich um sie.“

„Und eben weil du immer für sie da bist, erwartet sie, dass es dir gut geht, damit du dich um sie kümmern kannst.“

„Sie braucht mich in ihrer Nähe, egal, ob ich sehen kann oder nicht. Kinder befürchten immer gleich das Schlimmste, wenn Erwachsene nicht aufrichtig zu ihnen sind.“

„Ich habe sie beruhigt.“

„Und verbringst du auch genug Zeit mit ihr? Bist du mit ihr Eis essen gegangen? Oder ins Kino? Hast du ihr bei den Hausaufgaben geholfen?“

„Ich habe einen Job. Ich tue, was ich kann.“

Bards Berufstätigkeit hatte noch nie Anlass zu Streitigkeiten gegeben, weil Julia immer zu Hause gewesen war und dafür gesorgt hatte, dass Callie ihren Vater nicht vermisste. Er arbeitete als Anwalt für Virginia Vistas, einer der größten Bauland-Erschließungsgesellschaften in der Region. Er hatte ein Gespür dafür, wann es an der Zeit war, Gottes grüne Erde zu kaufen oder zu verkaufen. Die Gewinne, die er damit erzielte, ließen das beträchtliche Vermögen, das er von seinen wohlhabenden Eltern geerbt hatte, wie Summen aus der Portokasse erscheinen.

„Verbringst du genug Zeit mit ihr?“ wollte sie wissen. „Sie reitet so gern mit dir aus. Habt ihr das ein Mal gemeinsam gemacht?“

„Den letzten Ausritt mit einem ihrer Elternteile kann man nicht gerade als berauschendes Erlebnis bezeichnen.“

„Umso wichtiger ist es für sie zu begreifen, dass mein Unfall ein dummer Zufall war.“

„Ich tue mein Möglichstes.“

„Das reicht nicht.“

„Dann musst du eben schneller gesund werden. Callies Wohlergehen sollte dir ein Anreiz sein.“

„Du kannst ziemlich gemein sein.“

Er schwieg. Sie versuchte, sich den Ausdruck auf seinem Gesicht vorzustellen. Höchstwahrscheinlich guckte er böse.

„Am Wochenende werde ich mit ihr ausreiten“, lenkte er ein. Julia war darüber nicht sonderlich erfreut, schließlich hatten sie heute erst Montag. „Bard, ich kann meine Genesung nicht willentlich beeinflussen. Vielleicht dauert es eine Weile, bis es mir wieder besser geht. Aber auch wenn dies nicht der Fall ist, bleibe ich auf keinen Fall in der Klinik, nur weil du mich nicht in deiner Nähe haben willst.“

„Unterstelle mir so etwas ja nicht noch einmal. Du musst hier bleiben, um wieder gesund zu werden.“

„Wenn du jetzt nach Hause fährst, ist Callie noch wach und du kannst ihr eine Geschichte vorlesen. Machst du das?

Er schwieg kurz, dann antwortete er: „Gut. Aber sie soll mir etwas vorlesen. Sie braucht Übung.“

Das behauptete Bard häufig. Callie litt an Legasthenie. Er vertrat die Ansicht, wenn die Kleine nur genug las, würden die Schwierigkeiten verschwinden, egal, ob sie es hasste oder sie es aufregte.

„Würdest du ihr bitte etwas vorlesen?“ wiederholte Julia. „Sie kann Lesen üben, wenn sich die Lage wieder etwas normalisiert hat.“

„Du möchtest, dass ich mehr Zeit mit ihr verbringe, und mir außerdem vorschreiben, wie ich sie mit ihr zu verbringen habe.“

„Wenn du dich mehr um sie kümmern würdest, müsste ich dir nicht erzählen, was Callie braucht.“

Als er sprach, stand er dicht vor ihr. Sie hatte überhaupt nicht gehört, dass er herangekommen war. „Wenn es dir Freude macht, dann werde ich ihr eben etwas vorlesen. Und würdest du jetzt bitte aufhören, gegen alles und jeden zu kämpfen, und dich darauf konzentrieren, wieder sehen zu können?“

Sie wies ihn nicht darauf hin, dass alle Konzentration der Welt ihre Sehkraft nicht zurückbringen würde, weil sie seinen Einlenkungsversuch zu würdigen wusste. „Ich werde tun, was immer nö-tig ist“, versprach sie ihm.

„So ist’s recht, mein Mädchen.“ Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie – nicht auf die Wange, sondern mitten auf den Mund.

„Sehen wir uns morgen?“

„Das wäre schön.“ Seine Stimme klang belegt. „Ich hoffe, du siehst mich morgen wirklich.“

„Ich auch.“

„Morgen früh fliege ich nach Richmond, aber ich werde nach dem Abendessen zurück sein. Jetzt schlaf gut.“

Das würde sie ihm nicht versprechen können. „Du auch.“

Leise schloss er die Tür, und noch Minuten später hallte das Geräusch in ihrem Kopf nach. Die widersprüchlichsten Empfindungen jagten durch ihren Körper.

Sie konnte ihre Gefühle nur selten deuten. Doch sie hatte sie früher immer zum Ausdruck gebracht, indem sie malte, zeichnete oder sich hin und wieder als Bildhauerin betätigte. Gut möglich, dass sie dadurch ihre Emotionen nicht besser verstand, aber sie hatte sich danach immer besser gefühlt. Und das war schließlich auch etwas wert.

Auf einmal verspürte sie den Wunsch zu zeichnen. Er besaß eine solche Intensität, dass er ihr fast den Atem nahm. Sie stand auf und lief vorsichtig durchs Zimmer, bis sie am Schreibtisch angelangt war. Auf der Suche nach einer Schublade tastete sie mit den Fingern unter der Platte entlang. Ihre Bemühungen wurden belohnt, als sie auf etwas stieß, das sich wie ein hölzerner Knauf anfühlte. Sie zog daran und eine Schublade glitt heraus. Sie suchte nach einem Bleistift und Papier, aber der einzige Gegenstand, den sie finden konnte, fühlte sich wie ein schmales Telefonbuch an, obwohl es in ihrem Zimmer gar kein Telefon gab.

Bard hatte ihr Portemonnaie an sich genommen, damit es ihr nicht gestohlen werden konnte. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass er auch alle Zeichenstifte und -blöcke aus dem Zimmer entfernen würde. Er hatte wohl nicht angenommen, dass eine blinde Frau auf den Gedanken kommen würde, etwas zu zeichnen. Die Vorstellung war einfach zu abwegig.

Doch Julias Wunsch war so übermächtig, dass sie einen Moment lang befürchtete, verrückt zu werden, wenn er sich nicht erfüllen ließ.

Ehe sie überlegen konnte, was sie tun sollte, klopfte Karen an die Tür und betrat das Zimmer. „Ich habe gesehen, dass Ihr Mann die Klinik verlassen hat. Brauchen Sie Hilfe, um ins Bett zu gehen, Mrs. Warwick?“

Vor Erleichterung hätte Julia am liebsten geweint. „Karen, es klingt wahrscheinlich lächerlich, aber ich möchte etwas zeichnen. Auch wenn ich nichts mehr sehen kann, bin ich doch noch immer Künstlerin. Ich brauche nichts Besonderes: ein oder zwei Bleistifte; ein Füllfederhalter tut’s auch. Macht das sehr viele Umstände?“

Karen zögerte einen Moment – doch offensichtlich nicht aus dem Grund, weil sie darüber nachdachte, wo sie die gewünschten Gegenstände herbekommen sollte.

„Mrs. Warwick, die Sache ist die: Dr. Jeffers hat es verboten. Er hat dem Pflegepersonal untersagt, Ihnen Malutensilien zu beschaffen.“

Julia war verwirrt. „Welchen Grund könnte er dafür haben? Befürchtet er, dass ich mir mit einem Federhalter die Kehle aufschlitze?“

„Ich glaube ... er hält es für eine Art Flucht vor der Realität. Er möchte, dass Sie sich mit Ihrem wirklichen Problem auseinander setzen.“

Julia holte tief Luft.

Karen fuhr hastig fort: „Möchten Sie, dass ich ihn zu Hause anrufe? Ich könnte ihm sagen, dass Sie mich darum gebeten haben, und vielleicht erlaubt er mir ja, Ihnen die Sachen zu bringen. Vielleicht will er sich aber auch selbst mit Ihnen über Ihren Wunsch unterhalten.“

Mit einer Handbewegung brachte Julia sie zum Schweigen. Sie kannte Dr. Jeffers’ Ansicht bereits. Er vertrat eine sehr konservative Auffassung innerhalb der Psychiatrie und glaubte, die Psychoanaly-se sei die einzige Erfolg versprechende Therapie.

„Es tut mir wirklich Leid“, sagte Karen. „Ich bin zwar nicht seiner Meinung, aber wenn ich Ihnen helfen würde ...“

„Ich kann alleine zu Bett gehen.“

„Es tut mir wirklich Leid.“

Julia schwieg, weil sie nicht ausfallend werden wollte.

„Ich werde nur noch kurz das Holz im Kamin nach hinten schieben. Das Feuer ist ohnehin schon fast heruntergebrannt.“

Julia blieb stocksteif stehen und wartete, bis Karen die Tür geschlossen hatte. Wut stieg in ihr auf wie kochendes Wasser in einem Kessel. Sie hatte sich noch nie so ungerecht behandelt und gleichzeitig verzweifelt gefühlt. Sie konnte nicht sehen, man ließ sie nicht malen und sperrte sie außerdem in eine Klinik ein, wo sie niemanden kannte. Zudem musste sie längst aus der Mode gekommene Therapien und psychiatrische Absonderlichkeiten über sich ergehen lassen.

Sie war niemals aufsässig gewesen. Immer hatte sie bei ihren Entscheidungen die Interessen anderer Menschen berücksichtigt. Auch als Künstlerin war sie nie irgendwo angeeckt. Ihre Porträts und Landschaften konnte man als ausgesprochen traditionell bezeichnen. Auf der Kunstakademie war sie das Sorgenkind ihrer Professoren gewesen, die ihr Talent gelobt und sie gedrängt hatten, die Fesseln der Konvention abzustreifen.

In diesem Moment hätte sie es gerne getan. Sie war immer angepasst gewesen – doch wozu? Ihr eigener Körper hatte sie im Stich gelassen.

Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Sie hörte das Knacken der Holzscheite im Kamin auf der anderen Seite des Zimmers. Was mochte vom Feuer übrig geblieben sein, das Karen entzündet hatte? Es sei nur noch ein wenig Glut da, hatte sie gesagt. Vermutlich gab es nur noch ein wenig verkohltes Holz.

Aber vielleicht lag da auch noch ein angebrannter Zweig, schwarz wie Holzkohle. Dann fiel ihr etwas ein. Sofort versuchte sie sich den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Womöglich brannte sie die ganze Klinik ab. Das Mindeste, womit sie rechnen musste, war, niemals mehr ein Feuer in ihrem Zimmer angezündet zu bekommen, egal, wie kalt es draußen werden würde.

Vorsichtig ging sie zum Kamin hinüber, streckte die Hände aus und stieß an einen Glasschirm. Das war zu erwarten gewesen; schließlich hatte sie gehört, wie Karen etwas öffnete und wieder schloss. Julia fand die Griffe, um die Scheiben auseinander zu ziehen, und hörte das Scharren, als sie zur Seite glitten. Sie kniete sich vor den Kamin und streckte die Hände aus. Die Hitze war kaum zu spüren. Es musste ein kleines Feuer gewesen sein, genau wie Karen gesagt hatte.

Sie wusste, dass sie sich verbrennen konnte, aber es machte ihr nichts aus. Sie ließ die Hände sinken und tastete nach der Kante zwischen den Fliesen und der Kaminsohle. Sie glitt mit den Fingern Zentimeter für Zentimeter weiter in die Feuerstelle, bis sie ein Stück Holz spürte, das sich kühl anfühlte. Vorsichtig prüfte sie es mit den Fingerspitzen. Es schien eher ein Zweig als ein Holzscheit zu sein. Sie umfasste es mit der rechten Hand und betastete es mit der linken. Es wurde immer heißer, und schließlich zog sie ihre versengten Fingerspitzen erschrocken zurück.

Sie nahm an, dass ein Ende noch glühte, hob den Stock an und drückte die Spitze ein paar Sekunden lang auf den Boden des Kamins. Dann fuhr sie mit der Hand an dem Holz entlang. Diese Prozedur wiederholte sie mehrere Male, fast wie ein Ritual, bis sie schließlich zufrieden war. Sie führte den Stock bis kurz vor ihr Gesicht und wedelte ihn hin und her. Er glühte offensichtlich kaum noch.

Bald würde sie den behelfsmäßigen Holzkohlestift benutzen können. Auch wenn sie nicht sehen würde, was sie malte, freute sie sich darauf. Ihr war der Akt des Zeichnens wichtig, das Umsetzen von Ideen, die dann direkt in das Malgerät in ihrer Hand flossen.

Sie spürte, dass sie vor Aufregung zitterte. War ihr heimliches Aufbegehren der Grund dafür oder die Begeisterung darüber, krea-tiv sein zu können? Sie wusste es nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Jetzt zählte nur, was vor ihr lag.

Sie wählte die größtmögliche Wandfläche aus, wo weder Bilder noch Regale ihre Bewegungsfreiheit einschränkten. Auf Armeslänge von der Wand entfernt, überlegte sie, in welcher Farbe sie gestrichen sein mochte. Hätte sie doch bloß Karen oder Bard danach gefragt! Sie stellte sie sich weiß vor, obwohl es sowieso keine Rolle spielte, da sie ihre Zeichnung ja niemals sehen würde.

Sie bezweifelte, dass Dr. Jeffers eine Vernissage veranstalten würde.

Laut sagte sie: „Gott sei Dank ist es keine Tapete.“

Sie atmete noch einmal tief durch und ließ dann ihrer glühenden Fantasie freien Lauf.

3. KAPITEL

Am Morgen nach ihrem Besuch bei Julia wurde Maisy durch lautes Klopfen an der Haustür geweckt. Da sie die meiste Energie und Kreativität in den späten Nachtstunden entwickelte, stand sie selten vor zehn auf, wenn es nicht nötig war. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte sieben Uhr.

Sie drehte sich um und tastete nach Jakes warmem Körper, doch die andere Hälfte des Bettes war leer. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie das Klopfen ignorieren sollte, aber es setzte erneut ein, diesmal lauter und eindringlicher.

Sie richtete sich auf und versuchte sich zu erinnern, welcher Tag heute war. Als sie feststellte, dass sie diese Frage nicht beantworten konnte, schwang sie ihre Beine über die Bettkante und suchte nach ihren Pantoffeln. Auf dem Weg zur Tür griff sie nach einem purpurroten Satinmorgenmantel und fuhr sich mit steifen Fingern durch ihr dauergewelltes Haar, während sie ihre Schritte zur Treppe lenkte. Als sie aus dem Treppenhausfenster schaute und erkannte, wer vor der Tür stand, seufzte sie. Aber um jetzt nicht aufzumachen, war es neun Jahre zu spät.

Sie hatte die Tür am Abend zuvor nicht abgeschlossen. Sie riss sie auf und musterte ihren Schwiegersohn. Bard Warwick war überzeugt, dass Maisy ihr Leben effektiver gestalten könnte, wenn sie sich an einen anderen Zeitrhythmus gewöhnte.

„Ist etwas mit Julia oder Callie passiert?“ fragte sie.

„Sag du’s mir.“

Sie machte einen Schritt zurück, und er trat ein. Er war formell gekleidet – dunkler Anzug, blaues Hemd, gemusterte Krawatte und darüber ein Trenchcoat. Jetzt erst bemerkte sie, dass es nieselte und kleine Wasserperlen in seinem dunklen Haar glitzerten.

Für Maisy gehörte Bard zum Besten und zum Schlechtesten, das Virginia zu bieten hatte. Er war sportlich, intelligent, selbstdiszipliniert und verfügte über perfekte Umgangsformen und den typischen Charme der Südstaatler. Dafür konnte man ihn weder als aufrichtig noch als besonders menschenfreundlich bezeichnen.

Bard hielt sich für das Zentrum des Universums. Von Geburt an hatte er alles bekommen, was sich ein Junge nur wünschen konnte. Während diese Tatsache andere Menschen mit Dank erfüllt hätte, nahm er sie als selbstverständlich hin. Er ging davon aus, alles auf dieser Welt wäre nur für ihn da.

Maisy befürchtete, dass er das auch von Julia glaubte. Oft verlor ein Mensch, dem alles in den Schoß fiel, den Blick für den Wert und die Bedeutung der Dinge.

„Da ich jetzt sowieso schon aufgestanden bin, können wir genauso gut Kaffee trinken.“ Sie schlurfte in die Küche und war sich im Klaren darüber, dass ihr Schwiegersohn ihren morgendlichen Aufzug unmöglich fand.

„Ich möchte keinen Kaffee. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Ich will mich nur kurz mit dir unterhalten, Maisy.“

„Ohne Kaffee bin ich zu keinem Gespräch fähig. Jedenfalls nicht vor zwölf.“

Sie lief durch die mit allerlei Möbelstücken und Krimskrams voll gestellte Halle und hörte ihn hinter sich herkommen. In der Küche zeigte sie auf einen Stuhl und holte das Kaffeepulver aus dem Kühlschrank.

„Was verschafft mir das Vergnügen deines Besuches?“

Vorsichtig setzte er sich hin, als ob er nicht sicher sei, was ihn erwartete, wenn er die Beine unter den Tisch stellte. Das Haus war zwar niemals schmutzig, aber Maisy hatte die Küche genauso zugestellt wie die Halle. Maisy war eine leidenschaftliche Sammlerin. Keine, die stapelweise Zeitungen oder alte Kisten hortete, sondern die Keramikfiguren, Bänder, Knöpfe, Handschuhe, Stofffetzen für Quilts, Lithografien und antiquarische Bücher einfach nicht wegwerfen konnte. In jedem Gegenstand, der einem anderen etwas bedeutet hatte, erkannte sie eine Geschichte, spürte sie die Emotionen eines gelebten Lebens, wenn sie ihn in die Hand nahm. Bard fand diese Haltung mehr als wunderlich – sie grenzte für ihn an Wahnsinn.

„Man erzählte mir, dass du gestern Julia besucht hast.“

Sie trug die leere Kaffeekanne zum Tisch und suchte in der Schublade nach einem Filter. Sie wühlte sich durch Geburtstagskerzen, Glasuntersätze, Garnknäuel und Pizza-Gutscheine, bevor sie feststellte, dass sie in der falschen Schublade suchte. „Ja, das stimmt. Du hast sie ja offensichtlich schon abgeschrieben.“

„Das trifft nun wirklich überhaupt nicht zu. Sie braucht Hilfe, und ich weiß nicht, wie ich sie anders unterstützen soll.“

Einen Moment lang war sie verblüfft. Er klang wirklich betroffen. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Sie sollte mit Leuten zusammen sein, die sie lieben, und nicht mit Fremden ihr Leben teilen.“

„Maisy, seit ich dich kenne, hast du dich schon als Musikerin, Vegetarierin, Sektenmitglied, Wortführerin der Demokratischen Partei und Pressesprecherin für irgendeinen fernöstlichen Guru mit Mundgeruch und schmutzigen Füßen aufgespielt. Seit wann bist du auch Psychologin?“

„Man muss keine Psychologin sein, Bard, sondern nur seinen gesunden Menschenverstand benutzen.“

Er verkniff sich die Bemerkung, dass gesunder Menschenverstand noch nie Maisys Stärke gewesen war. „Weißt du, was deine Tochter gestern Abend gemacht hat?“

„Ich bin sicher, du wirst es mir sofort mitteilen.“

„Sie hat ihre Wände bemalt. Sie hat ein Stück Holz aus dem Kamin genommen – dieser verdammte Kamin, für den ich ein Vermögen zahle, nur damit sie es schön hat – und damit die Wände beschmiert. Als wäre sie eine Höhlenbewohnerin.“

Das war ganz und gar untypisch für Julia, und es kostete Maisy einige Mühe, ihrem Schwiegersohn Glauben zu schenken.

Er ließ sein aufgesetztes Lachen hören. „Da bist du überrascht, was?“

„Warum hat sie nicht einfach um Papier und Bleistift gebeten?“

„Vielleicht aus Zorn. Was meinst du?“

Sie musste zugeben, dass es sich wirklich so anhörte, als habe es Julia aus Wut getan. „Hätte man ihr denn Zeichenmaterial gegeben, wenn sie danach gefragt hätte?“

„Dr. Jeffers ist der Meinung, dass sie Entspannung und Ruhe braucht.“

Sie begann zu verstehen. „Und keine Malutensilien.“

„Für Julia ist es jetzt nicht wichtig zu malen. Gespräche sind jetzt für sie entscheidend. Verdammt noch mal, sie kann doch überhaupt nichts sehen! Sie ist blind, oder wenigstens tut sie so.“

Verdutzt fragte Maisy: „Du glaubst, sie tut nur so, als ob? Meine Tochter mag nicht vollkommen sein, aber sie ist bestimmt keine Lügnerin.“

„Wirklich? Es gibt da allerdings ein paar Dinge in ihrer Vergangenheit, über die sie sicherlich nicht reden möchte.“

„Bard, Julia kann nicht sehen. Wenn du meinst, dass sie ...“

„Ich weiß, dass sie annimmt, nichts sehen zu können. Aber mit ihren Augen ist alles in Ordnung. Vollkommen!“

„Bis auf die Tatsache, dass sie mit ihnen nicht sehen kann.“

Er schlug mit der Faust auf den Tisch – ein Gefühlsausbruch, der vollkommen untypisch für ihn war. „Doch irgendwie mag man das nach dem gestrigen Ereignis kaum glauben, oder?“

„Es ist nur ein weiterer Beweis für die Tatsache, dass sie nicht dort sein sollte.“

„Das reicht. Ich möchte nicht, dass du sie noch einmal besuchst, solange sie in der Klinik ist, Maisy. Dr. Jeffers vertritt die Ansicht, dass du sie so weit gebracht hast, und ich denke das auch. Er hat mich vor etwa einer Stunde angerufen und war sehr verärgert.“ Er schaute sie an. „Bitte versteh mich recht – es ist nichts Persönliches. Ich kann nur nicht zulassen, dass du dich in ihre Therapie einmischst. Sie ist meine Frau.“

„Und sie ist meine Tochter.“

Er schob den Stuhl zurück und erhob sich vom Tisch. „Jetzt hör mir mal genau zu. Meistens bist du ja harmlos, aber diesmal eben nicht. Ich möchte nicht, dass du in ihrer Nähe bist, solange sie nicht sehen kann. Julia muss über vieles nachdenken, und du hinderst sie daran. Ich werde nicht zulassen ...“

„Was wirst du nicht zulassen?“ Von der Tür erklang die Stimme eines Mannes.

Maisy drehte sich um und erblickte Jake, der einen Regenmantel trug. Jake begann jeden Tag mit einem langen Spaziergang. Sie nahm an, dass er es tat, weil er nach all den Jahren, die er mit ihr zusammengelebt hatte, wenigstens eine feste Konstante in seinem Leben brauchte.

„Ich will, dass Maisy sich von Julia fernhält.“ Bard machte einen Schritt auf Jake zu. „Kannst du sie vielleicht zur Vernunft bringen?“

Jake betrachtete ihn unfreundlich. „Maisy lässt sich nichts vorschreiben – und darüber bin ich sehr froh. Wenn sie ihre Tochter besuchen möchte, dann wird sie das auch tun.“

Bard wirkte irritiert, was Maisy so faszinierte, dass sie nicht wütend darauf sein konnte, dass er versuchte, ihren Mann gegen sie aufzubringen. Sie bemühte sich erneut, auf Bard Einfluss zu nehmen. „Ich habe ihr angeboten, bei uns zu wohnen, wenn du sie in Millcreek nicht haben möchtest. Ich bin den ganzen Tag zu Hause. Ich kann ihr helfen, sich zurechtzufinden ...“

„Sie braucht niemanden, der ihr hilft, sich zurechtzufinden! Verdammt noch mal, Maisy, sie muss wieder sehen können. Und wenn du sie von morgens bis abends umsorgst und alles tust, was sie will, warum sollte sie es dann überhaupt versuchen?“

Jake machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. „Du glaubst also, deine Frau hat ihr Sehvermögen verloren, weil sie möchte, dass man sich um sie kümmert?“

Bard schwieg einen kurzen Moment, dann sagte er ausdruckslos: „Ihr seid ihre Eltern. Aber im Moment bin ich für ihre Genesung verantwortlich. Lasst sie in Ruhe. Bitte. Bis sie wieder so weit hergestellt ist, dass sie nach Hause kommen kann. Dann werden wir uns darüber unterhalten, was das Beste für sie ist.“

„Julia ist selbst für ihre Genesung verantwortlich“, sagte Maisy, wobei sie jedes Wort sorgfältig betonte.

Bard schüttelte den Kopf. „Wenn ihr nicht damit einverstanden seid, dann muss ich Dr. Jeffers gegenüber sehr deutlich werden.“

„Ich nehme an, das hast du bereits getan“, erwiderte Jake. „Willst du sonst noch irgendwas?“

Bard ging an ihm vorbei. „Ich werde später mit dir reden.“

Maisy reagierte nicht, und Jake sprach erst wieder, als die Haustür ins Schloss gefallen war. „Geht es dir gut?“

„Ich versuche mir gerade einzureden, dass ich meiner Tochter und meiner Enkelin zuliebe freundlich zu Lombard Warwick sein muss, selbst wenn er so schlecht gelaunt ist.“

„Das Ganze hat ihm schwer zugesetzt, Maisy. Er versucht, damit fertig zu werden, so gut er kann.“

„Indem er Befehle erteilt und Entscheidungen trifft.“

„Er ist gar nicht so übel. Schließlich will er für Julia nur das Beste.“

Maisy füllte die Kaffeemaschine mit frischem Wasser. „Wenigstens hat er gesagt, dass ich meistens harmlos bin.“

Jake lachte leise. „Er kennt dich doch nicht so gut, wie er glaubt.“

Sie lächelte kurz und erzählte Jake, was Bard ihr über Julias Wandmalereien berichtet hatte. „Ich werde sie heute wieder besuchen.“

„Möchtest du, dass ich mitkomme?“

Maisy überlegte einen Moment, ehe sie den Kopf schüttelte. „Nein. Nur einer von uns sollte es sich mit Bard verderben. Wenn du mich nämlich nicht begleitest, dann können wir behaupten, du hättest meine Aktion nicht gutgeheißen. Wie findest du das?“

Er ging zum Schrank, nahm zwei Tassen heraus und stellte sie auf den Küchentresen. Dann holte er die Kaffeesahne aus dem Kühlschrank. „Wenn du zu ihr fährst, um sicherzugehen, dass man sie dort nicht schikaniert, dann hast du meine volle Unterstützung.“

„Ich möchte nur das Beste für Julia.“

Er stellte die Kaffeesahne vor sie hin. „Das will Bard angeblich auch.“

Die Freude über ihre Rebellion währte für Julia nur bis zum nächsten Morgen. Sie wachte auf, als die Pflegerin der Frühschicht ins Zimmer kam, um nach ihr zu sehen. Sie hörte, wie die Frau nach Luft schnappte und eilig wieder verschwand.

Das Spiel war aus.

Als sie geduscht und gefrühstückt hatte, wusste sie, dass ein Besuch ihres Psychotherapeuten überfällig war. Sie würde auf seine Selbstbeherrschung vertrauen müssen.

Als Dr. Jeffers endlich kam, saß sie am Fenster und lauschte dem Regen, der draußen auf die Erde prasselte. Sie konnte sich das Herbstlaub vorstellen, das nass und schwer an den Bäumen hing, aber noch nicht hinunterfallen wollte.

„Nun, Julia, wir haben also den Aufstand geprobt.“

Sie war zerknirscht gewesen, doch als sie seine Stimme hörte, änderte sich dies. Wenn er nicht so getan hätte, als spräche er zu einem Wesen mit dem Intelligenzquotienten eines Regenwurms, dann hätte sie sich womöglich entschuldigt.

Sie wurde wütend. „Ich lasse mich nicht davon abhalten, die Dinge zu tun, die ich tun muss, damit es mir wieder besser geht.“

„Und Sie glauben, wenn Sie unsere Wände beschmieren, dann geht es Ihnen wieder besser?“

Sie nahm sich vor, sein Spiel nicht mitzuspielen. „Als ich herkam, habe ich Regeln erwartet. Aber Ihre merkwürdigen Methoden sind einfach nur grausam. Nur weil Sie meinen, dass ich die Kooperation verweigere, nehmen Sie mir die Dinge weg, die mir am meisten bedeuten.“

„Sie scheinen meiner guten Absicht zu misstrauen.“

Sie dachte darüber nach. „Vielleicht nehmen Sie ja an, dass Sie alles zu meinem Besten tun, aber dem ist nicht so. Mir wird es bestimmt nicht besser gehen, wenn ich mich die ganze Zeit nur mit Ihnen streite. Ich bin bereit zu bleiben, aber ich möchte Besuche empfangen dürfen und Dinge haben, mit denen ich malen kann.“

„Sie können die Malutensilien doch gar nicht sehen.“

„Dafür sehe ich die Bilder in meinem Kopf umso deutlicher vor mir.“

„Erzählen Sie mir davon.“

Sie überlegte kurz. „Nicht, bis ich sicher sein kann, dass Sie sich an die Vereinbarungen halten.“

Er lachte trocken. „Ach, wir machen ein Geschäft, ja? Funktioniert Ihr Leben auf diese Weise, Julia? Sie halten Gefälligkeiten zurück, bis Sie bekommen, was Sie wollen?“

„Ein vernünftiger Mensch gibt nicht allzu viel, ohne sicher zu sein, dass er etwas zurückbekommt. Ich bitte nur um einfache Dinge, die für andere selbstverständlich sind.“

„Ich kann mir nur schwer vorstellen, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, als Sie die Wand bemalt haben. Kann es sein, dass ich eine Art Landschaft erkenne? Hügel? Vielleicht einen Fluss?“

„Wir haben noch keine Abmachung getroffen.“

Sie glaubte, ihn seufzen zu hören. „Ich muss darüber nachdenken.“

Ein Stuhl schabte über den Boden, als ob ihr Besucher aufstand, und sie unternahm einen letzten Versuch. „Dr. Jeffers, wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das hier vielleicht nicht der beste Ort für mich ist. Wenn wir uns nicht einigen können, dann werde ich gehen. Nehmen Sie es mir nicht übel.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen das erlauben kann.“

Sie war verdutzt. „Ich bin freiwillig hergekommen. Sie werden ja wohl nicht behaupten wollen, dass eine malende Frau eine Gefahr für ihre Mitmenschen darstellt.“

„Sie könnten zu einer Gefahr für sich selbst werden, wie Ihre nächtliche Aktion es ja bewiesen hat. Ich bin überrascht, dass Sie meine Klinik nicht niedergebrannt haben.“

Sie spürte Panik in sich aufsteigen – mittlerweile ein vertrautes Gefühl. „Das Feuer glühte kaum noch, und ich bin vorsichtig gewesen.“

„Aber was werden Sie als Nächstes anstellen? Ich denke, Sie leiden an einer echten Depression und sind in der Lage, etwas Unüberlegtes zu tun. Das finde ich bedenklich.“

Merkwürdigerweise empfand sie statt Zorn eine Art von Erleichterung, die ihre Panik vollständig vertrieb. Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. „Ich denke, wir sind fertig für heute.“

Er schwieg, und sie wünschte, sie könnte seinen Gesichtsausdruck sehen. Als er wieder sprach, klang es, als habe er sich von ihr entfernt. Vermutlich stand er an der Tür. „Heute Morgen haben Sie einen Termin bei unserem Internisten.“

„Ich bin im Krankenhaus untersucht worden.“

„Wollen Sie darüber auch mit mir diskutieren? Wir sind hier nun einmal sehr sorgfältig. Ach ja, und um halb fünf werden wir beide uns erneut unterhalten. Bis später.“

Sie würde nicht mehr mit ihm reden. Bis dahin würde sie gegangen sein. Das Gespräch hatte die letzten Zweifel, ob sie bleiben sollte, ausgelöscht.

Um drei Uhr hörte Julia Jakes Pick-up vorfahren. Eine Viertelstunde später wusste sie, dass Maisy in Schwierigkeiten steckte, weil sie immer noch nicht vor ihrer Tür stand. Julia läutete nach Karen und wartete ungeduldig, bis die junge Krankenschwester in ihr Zimmer kam.

„Karen, meine Mutter ist wieder hier, um mich zu besuchen. Würden Sie bitte nachsehen, warum sie noch nicht bei mir ist?“

Karen klang unglücklich. „Man lässt sie nicht zu Ihnen kommen, Mrs. Warwick. Dr. Jeffers meint, es sei nicht mit der Therapie zu vereinbaren. Sicherheit gehe vor. Es tut mir Leid.“

„Ist sie noch im Haus?“

Karen zögerte, dann sprach sie leise weiter. „Ich werde nachsehen. Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Ja. Sagen Sie ihr, sie soll auf mich warten.“

„Warten?“

Julia war aufgesprungen. „Ich gehe hinunter. Ich fahre nach Hause. Das ist ein Skandal.“

„Aber das können Sie doch nicht tun. Sie haben Ihrer Aufnahme mit Ihrer Unterschrift zugestimmt.“

„Dann stimme ich nun eben meiner Entlassung zu. Und zwar jetzt sofort. Also bitte raten Sie mir nicht, dass ich noch warten soll.“

„Dr. Jeffers ist nicht hier, um ...“

„Ausgezeichnet.“

„Aber wir dürfen Sie nicht hinunterbringen. Wir haben unsere Anweisungen.“

„Verdammt noch mal. Dann finde ich eben alleine hinaus. Und wenn ich mir dabei den Hals breche, wird meine Mutter die Gandy-Willson-Klinik verklagen.“ Julia ging zur Tür. Sie tastete sich am Schreibtisch und am Schrank vorbei, ehe sie mit Karen zusammenstieß.

Karen begann sie anzuflehen. „Sie bringen uns in ziemliche Schwierigkeiten.“

Julia zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. „Es tut mir Leid. Erzählen Sie Jeffers einfach die Wahrheit. Dass Sie versucht haben, mich umzustimmen, und ich mich geweigert habe, auf Sie zu hören. Und ich habe mich geweigert; das ist keine Lüge.“

„Lassen Sie mich ihn anrufen.“

„Tun Sie, was Sie wollen. Aber er darf nicht zurück sein, bevor ich gegangen bin.“

„Lassen Sie mich mit Ihrem Mann sprechen.“

„Viel Glück. Er ist kein guter Zuhörer.“

„Bitte tun Sie das nicht. Warten Sie, bis ...“ Karens Stimme stockte.

Julia war ein kleine Frau, aber sie richtete sich jetzt zu voller Größe auf. „Bitte gehen Sie mir aus dem Weg.“

„Aber Sie werden sich verletzen“, jammerte Karen.

„Ich hoffe, Sie sind zur Seite getreten.“ Julia lief vorsichtig vorwärts und tastete nach der Klinke. Sie streifte Karen, als sie durch die Tür ging.

Erst im Korridor merkte sie, wie schlecht sie sich hier orientieren konnte. Neben dem Schwesternzimmer war ein Aufzug, aber sie erinnerte sich, dass man ihr mitgeteilt hatte, ohne Schlüssel könne man ihn nicht benutzen. Dr. Jeffers hatte sich entschuldigt, weil er keine Zimmer im Erdgeschoss mehr frei hatte, die behindertengerecht eingerichtet waren. Er hatte ihr versprochen, dass sie umziehen könne, sobald eines frei würde. Damals hatte sie sich nichts dabei gedacht. Jetzt erkannte sie, wie praktisch es für ihn war, sie in einem oberen Stockwerk unterzubringen. Sie war eine Gefangene ihrer eigenen Blindheit. Sie würde die Treppe auf gut Glück alleine hinuntergehen müssen.

„Ich nehme an, Sie verraten mir nicht, in welche Richtung ich gehen muss?“

„Ich kann es nicht“, sagte Karen mit fester Stimme. Etwas leiser fügte sie hinzu: „Wollen Sie das wirklich tun?“

„Ja. Ich gehe.“

Nun sprach sie noch leiser. „Laufen Sie nach rechts. Am Ende des Ganges befindet sich ein Fenster, biegen Sie nach links ab. Ganz am Ende dieses Korridors ist die Treppe, und zwar auf der rechten Seite. Ich werde dort auf Sie warten.“

Julia verstand. Niemand würde Karen einen Vorwurf machen können, wenn sie eine Patientin von dort aus ins Erdgeschoss führte. Im Gegenteil, es wäre unverantwortlich, es nicht zu tun. Aber zunächst einmal musste Julia den Weg zur Treppe alleine finden.

Sie holte tief Luft. Wenigstens würde sie nicht kopfüber die Stufen hinunterstürzen, und diese Gewissheit erfüllte sie mit neuem Mut. Sie drehte sich um und machte einen Schritt, dann noch einen. Es herrschte eine unheimliche Stille im Gang. Wo mochten wohl die anderen Patienten sein? Vielleicht strickten sie gerade Topflappen oder backten Schokoladenkuchen in ihrer gruppentherapeutischen Sitzung. Seitdem sie hier war, hatte sie niemanden kennen gelernt. Niemand hatte versucht, sie in eine Gruppe zu integrieren. Während sie sich an ihre Umgebung gewöhnte, sollte sie auf Wunsch von Dr. Jeffers mit ihren Gedanken allein sein.

Sie tastete sich an der Wand entlang, während sie vorsichtig weiterging. Jedes Mal, wenn sie einen Fuß auf den Boden setzte, rechnete sie damit, nicht auf festen Grund zu treten. Mit jedem Schritt wurde sie orientierungsloser und ängstlicher. Sie fürchtete, in ein schwarzes Loch zu fallen. Aber sie hatte keine andere Wahl. Wenn sie gezwungen wäre zu bleiben, dann würde die von Dr. Jeffers erwähnte Depression tatsächlich von ihr Besitz ergreifen wie die Blindheit, die sie zur Gefangenen machte.

Plötzlich war keine Wand mehr da, und erschrocken zog sie die Hand zurück. Mit den Füßen stand sie noch auf sicherem Grund. Einen Moment lang rührte sie sich nicht und versuchte, sich über ihre missliche Lage Klarheit zu verschaffen. Vermutlich stand sie vor der offenen Tür zu einem weiteren Gang, denn sicher gab es mehrere, die in diesen Korridor mündeten. Sie hob den linken Fuß, stellte ihn vor den rechten und vergewisserte sich mit einem Zeh, ob der Boden unter ihr noch da war. Zufrieden ging sie weiter. Nach mehreren Metern – so glaubte sie wenigstens – spürte sie erneut eine Wand, aber diesmal kam sie ihr näher vor, als ob sie vom Kurs abgekommen wäre.

Sie straffte die Schultern und schritt weiter voran – ohne die geringste Ahnung, wie weit sie noch laufen musste. Stand sie kurz vor dem Treppenhaus, oder war sie noch meterweit davon entfernt? Unzählige Male war sie an der Klinik vorbeigefahren, und sie versuchte nun, sich das Gebäude in Erinnerung zu rufen. Waren die Seitenflügel lang? Man hatte sie vor langer Zeit an ein Haus angebaut, das vor dem Bürgerkrieg errichtet worden war und nun als zentraler Empfangsbereich diente.

Auf ihrem endlos erscheinenden Weg hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie zählte sechs weitere Einmündungen von Korridoren, ehe sie merkte, dass sich etwas vor ihr befand. Obwohl es im Gang recht kühl war, meinte sie, schweißgebadet zu sein. Außerdem zitterte sie vor Angst, denn sie befürchtete, beim nächsten Schritt in die Tiefe zu stürzen. Zu frisch war die Erinnerung an den Schrecken, den sie verspürt hatte, als sie vom Pferd gefallen war, die Vorstellung, vollkommen gelähmt zu sein, die Gewissheit, dass sie jeden Moment auf dem harten Boden landen würde.

Die Erkenntnis, dass sie nicht mehr sehen konnte.

Sie streckte die Hände aus, aber sie griffen ins Leere. Zentimeter für Zentimeter schritt sie mit ausgestreckten Armen weiter, bis ihre Handflächen Glas spürten. Sie hatte vermutlich das Fenster am Ende des Ganges erreicht. Jetzt musste sie sich links halten.

Sie drehte sich zur Seite, ohne die Hand von der Scheibe zu nehmen, die ihr als Orientierung diente. Trotz all ihrer Angst spürte sie eine Welle der Erleichterung. Sie würde diese entsetzliche Reise rechtzeitig beenden können, um ihre Mutter zu treffen. Maisy würde zwar nicht gehen, ohne sich mit dem Menschen am Empfang ein ausgiebiges Wortgefecht zu liefern, trotzdem musste sich Julia beeilen.

Sie machte schnell zwei Schritte hintereinander. Mit dem Zeh stieß sie an einen Gegenstand, und bevor sie das Gleichgewicht wieder finden konnte, landete sie auf den Knien.

Die Zweige eines Baumes hingen ihr ins Gesicht. Sie unterdrückte einen Schrei und versuchte, sich klar zu machen, was passiert war. Sie schien über irgendeine Pflanze gestolpert zu sein, einen kleinen Baum in einem Topf. Ein Innenarchitekt hatte offensichtlich gedacht, dass dies der richtige Platz für ihn sei.

Sie zögerte nicht lange, sondern benutzte den Übertopf, um sich aufzustützen und wieder aufzurichten. Sie war gestürzt und hatte es überlebt. Sie stand wieder auf ihren Füßen. Sie konnte sich bewegen. Möglicherweise fiel sie noch einmal hin. Aber nichts würde sie mehr aufhalten können.

Als sie das Ende des zweiten Ganges fast erreicht hatte, hörte sie eine Warnung. Eine Sekunde später stolperte sie über etwas, das sich wie eine Teppichkante anfühlte, und sie stürzte erneut zu Boden. Diesmal brauchte sie etwas länger, um sich von ihrem Schrecken zu erholen. Ein Schmerz zuckte durch ihr linkes Knie, aber ehe sie sich versah, wurde sie von starken Armen hochgezogen.

„Verdammt.“ Karen klang, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Es ist mir egal, ob ich meinen Job verliere. Es gibt bestimmt angenehmere Klinken, in denen ich arbeiten kann. Wenn Ihre Mutter schon gegangen ist, dann fahre ich Sie eben selbst nach Hause. Ich habe zwar einen kleinen Jungen, aber ich will trotzdem nicht, dass Sie ...“

Julia tastete nach Karens Händen. „Ich brauche Hilfe. Kommen Sie mit mir. Wenigstens so lange, bis Sie eine neue Stelle gefunden haben, die Ihnen besser gefällt.“

„Ich würde eher Hamburger braten als hier weitermachen.“

„Kommen Sie, suchen wir meine Mutter.“

„Schaffen Sie es, die Treppe hinunterzusteigen?“

Julia musste lächeln. „Ich schaffe alles, solange es mich nur weg von hier bringt.“

„Denken Sie daran, dass ich meinen Arm um Sie gelegt habe. Setzen Sie einfach einen Fuß vor den anderen.“

Julia fiel das Gehen sehr viel leichter, weil Karen jetzt bei ihr war.

4. KAPITEL

Die Insassen des Staatsgefängnisses von Ludwell ließen Christian Carver in Ruhe. Das war nicht immer so gewesen. Als er als verängstigter Dreiundzwanzigjähriger hier angekommen war, hatte er eine Menge Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er war muskulös und stark, trotz seiner schmalen Hüften und schlanken Figur. Damals hatte er keine Ahnung gehabt, wie wichtig es an einem Ort wie diesem war, möglichst nichts zu fühlen. Das war von den anderen Häftlingen ausgenutzt worden.

Innerhalb weniger Monate hatte er alles gelernt, was nötig war, um eine lebenslange Haftstrafe durchzustehen. Doch er musste viel Lehrgeld zahlen. Bald wusste er, mit wem er sich anfreunden konnte und wen er nicht aus den Augen lassen durfte. Wie er mit dem Lärm zurechtkam und dem Gestank. Wie es möglich war, einen gemeinsamen Nenner zu finden mit Männern, die in Häuser eingebrochen waren oder sie in Brand gesteckt hatten, mit Psychopathen, die alte Frauen ermordet und kleine Kinder missbraucht hatten. Es war Christian gelungen, die richtige Balance zwischen Wut und Hass zu finden, so dass er das Feuer, das in ihm loderte, ertragen konnte, ohne von ihm verbrannt zu werden.

Auf irgendeine Weise hatte er Frieden mit seinem Leben geschlossen. Einem der Wärter war Christian sympathisch gewesen; deshalb hatte er ihn zu einem alten Mann in die Zelle gesteckt, der im Gefängnis saß, weil er seine Frau ermordet hatte. Alf Johnson hatte seine geliebte Doris auf ihre eigene Bitte hin erstickt, als der Krebs ihre Lunge aufzufressen begann und jeden Atemzug zur Qual machte. Damals, zu der Zeit von Alfs Prozess, als über Sterbehilfe noch nicht öffentlich diskutiert wurde, war der Tod von Doris nichts anderes als vorsätzlicher Mord gewesen.

Alf hatte sein Leben im Gefängnis dazu benutzt, sich weiterzubilden, weil ihm jenseits der Mauern nicht viel beigebracht worden war, und den jungen Mann unter seine Fittiche genommen. Ein Jahr vor seinem Tod hatte er Christian darin unterwiesen, wie man das Leben hinter Gittern ertrug und ihm sogar noch einen Sinn abgewann.

Denk daran, die Gedanken sind frei.

Jetzt kam Christian all das zugute, was er gelernt hatte.

„Ich gebe prinzipiell keine Ratschläge.“ Christian betrachtete den jungen Golden Retriever zu seinen Füßen. Seesaws Fell glänzte wie Gold, und den feuchten braunen Augen der Hündin entging nichts, was um sie herum passierte. „Seesaw, sitz!“

Gehorsam nahm das Tier Platz. Sein kleiner, noch etwas unförmiger Körper zitterte vor unterdrückter Energie. Aber Seesaw blieb, wo sie war, obwohl ihr Instinkt sie zu etwas anderem verleiten wollte.

Christian beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu streicheln und zu loben.

„Hey, ich brauche deinen Rat nicht“, empörte sich der Mann neben ihm. „Ich will nur wissen, wie ich Tyrell loswerden kann.“

„Das ist doch dasselbe.“ Christian nahm Seesaw an die Leine. „Bei Fuß, Seesaw.“

„Mann, du bist doch schon so lange hier ...“

Christian richtete sich auf. „Und ich werde noch viel länger hier sein. Deshalb werde ich mich hüten, etwas zu sagen, das mich in Schwierigkeiten bringen könnte.“

„Wie wär’s, wenn du mir verrätst, was jemanden wie dich in Schwierigkeiten bringt?“ Der junge Mann lief neben Christian her, während dieser Seesaw im Hof der Anstalt spazieren führte. Timbo Baines war neu in Ludwell – jung, schwarz und ängstlich. Offensichtlich bewunderte er Christian, der das zwar nicht gut fand, aber noch nicht verbittert genug war, um sich dagegen zu wehren.

„Sieh mal, Timbo. Tyrell hat hier eine Menge Freunde. Freunde reden miteinander. Das wirst du auch tun. Und dann nennst du vielleicht meinen Namen.“

„Und wenn ich Tyrell einfach aus dem Weg gehe?“

„Das wäre schon mal ein Anfang.“ Christian blieb stehen und schimpfte leise mit der Hündin, die ungeduldig an ihrer Leine zerrte. „Er verliert schnell das Interesse.“

„Er? Ich dachte, Seesaw ist ein Weibchen.“

„Ich rede nicht von Seesaw. Sondern von Tyrell.“

„Was? Ach so. Ja, ich verstehe.“

„Kannst du mal übernehmen? Sprich nicht mit lauter Stimme zu ihr. Lobe sie, wenn sie tut, was du willst. Und ziehe sie nicht an der Leine herum.“

„Ich möchte mal wissen, wie ich dazu gekommen bin, Hunde zu trainieren.“

„Wahrscheinlich hast du einfach Glück gehabt.“ Genauso viel Glück wie damals, als Christian erwischt worden war, wie er an Teenager aus gutbürgerlichem Hause Kokain verkauft hatte.

Christian wollte gerade zum Hundezwinger zurückgehen, da trat Bertha Petersen, die Pastorin, auf ihn zu. Sie war eine übergewichtige Frau in den Fünfzigern, die meist Jeans und Sweatshirt trug. Ihr kurz geschnittenes, schwarz-grau meliertes Haar hielt ein Band zurück. Neben ihr stand stocksteif ein Wärter, der Christian nicht aus den Augen ließ.

Christian lief auf sie zu, blieb aber ein paar Meter vor ihnen stehen, um kein Misstrauen zu erwecken. „Hallo, Frau Pastorin. Wir haben gar nicht mit Ihnen gerechnet.“

„Schön, Sie zu sehen. Wie machen sich die jungen Hunde?“

„Es ist noch zu früh, um etwas zu sagen. Aber bis jetzt gibt’s keine Probleme. Die Labrador-Hündin ist sehr nervös. Vielleicht wird sie ja noch ruhiger. Wir behalten sie auf jeden Fall im Auge.“

Bertha Petersen leitete die Initiative „Tiere und Täter“. Außerdem war sie Pfarrerin einer kleinen, fundamentalistischen Sekte. Während die meisten ihrer Schäfchen unermüdlich damit beschäftigt waren, die Heiden zu bekehren, hatte sie sich der Wohltätigkeit verschrieben.

Die Initiative richtete Hunde für körperlich oder geistig behinderte Menschen ab. Ludwell war als erstes Gefängnis ausgewählt worden, Blindenhunde zu erziehen. Mehr als zwei Dutzend Tiere wurden pro Jahr trainiert und anschließend an Organisationen übergeben, die die Ausbildung der Tiere zu Ende führten und sie den Behinderten zuteilten. In Ludwell war Christian seit zwei Jahren für das Training der Hunde verantwortlich.

„Sind Sie nur vorbeigekommen, um sich nach unseren Fortschritten zu erkundigen?“

„Ich sehe gerne ab und zu nach dem Rechten, wenn es mir irgendwie möglich ist.“ Berthas Blick wanderte zum Wärter und dann zurück zu Christian. „Warum zeigen Sie mir nicht mal die Hunde, die Sie trainieren? Wie viele haben Sie denn im Moment hier?“

In Ludwell gab es zwei unterschiedliche Programme: Das neue, zu dem Seesaw gehörte, sollte beurteilen, ob junge Tiere das Zeug zum Blindenhund besaßen. In dem anderen, das schon längere Zeit lief, bildeten Gefangene drei Monate lang Blindenhunde aus, die bereits in Familien gelebt hatten und dort erzogen worden waren. Anschließend teilte man die Tiere auf weitere Programme auf.

Christian hätte gern jeden Hund bis zum Schluss geschult, doch das war unmöglich. Während des letzten Monats der Ausbildung, die meist auf öffentlichen Straßen stattfand, musste nämlich der Besitzer des Vierbeiners mit dabei sein. Und keinem wäre wohl bei dem Gedanken, die Blinden für diese Zeit jeden Tag ins Gefängnis oder die Gefangenen zu den Blinden zu schicken.

„Es sind noch vier Hunde hier“, informierte Christian die Pastorin. „Und mit zehn haben wir angefangen.“

Sie wandte sich an den Wärter. „Officer, wir gehen mal hinüber zu dem anderen Hundezwinger. Haben Sie etwas dagegen?“

Er antwortete nicht sofort. Stattdessen griff er zu seinem Walkie-Talkie, sprach etwas hinein und nickte dann.

Der zweite Hundezwinger lag auf der anderen Seite von massiven Stahltüren. Christian und Bertha warteten, bis sich die Türen öffneten und hinter ihnen wieder schlossen. Sie gingen durch einen kurzen Korridor, der von Videokameras überwacht wurde. Er war von einem Maschendrahtzaun umgeben, der im oberen Teil zusätzlich mit Stacheldraht gesichert war.

Der Wärter, der hier die Aufsicht führte, kannte Christian gut und beachtete ihn kaum. Dafür konzentrierte er sich auf einen der anderen Insassen, der mit einer Binde um die Augen durch einen Hindernisparcours geführt wurde. Ein schokoladenbrauner Labrador mit einem Lederhalsband leitete ihn durch den Irrgarten. Javier Garcia, ein riesiger Mann in Bluejeans, schien dem Hund vollkommen zu vertrauen und lief sicher hinter ihm her.

Christian und Bertha gingen hinüber zur Galerie, von der aus die Wärter das Gelände überwachten, und beobachteten das Geschehen.

Christian erklärte, was gerade passierte. „Das ist Cocoa. Sie hat ein paar Probleme mit den Hindernissen gehabt, die auf Kopfhöhe der Blinden auftauchen könnten.“ Die Hunde mussten lernen, dafür zu sorgen, dass ihre neuen Besitzer nicht gegen niedrig hängende Dinge wie Äste oder Markisen liefen – selbst dann, wenn ihnen befohlen wurde, weiterzugehen. Blindenhunden brachte man den „intelligenten Ungehorsam“ bei: Sie sollten sich auf ihre eigenen Instinkte verlassen und notfalls gegen die Anweisungen ihrer blinden Besitzer verstoßen.

„Macht sie denn Fortschritte?“

„Cocoa ist ein Siegertyp. Sehr intelligent. Sie wird es schaffen. Aber einer ihrer Brüder aus dem Wurf hat in der ersten Woche vollkommen versagt. Er scheute vor lauten Geräuschen zurück und ließ sich für einen Labrador sehr leicht ablenken. Demnächst können wir die jungen Hunde ein wenig früher begutachten, dann dürfte es solche Probleme nicht mehr geben.“

Schweigend sah die Pastorin zu, wie Javier und Cocoa den Weg abschritten, ohne dass dem Hund ein Fehler unterlief. Dann drehte sie sich um und sah Christian ins Gesicht. „Ich habe lange überlegt, wie ich es Ihnen sagen soll.“

Unbeeindruckt wartete er ab. Das war ein weiterer Überlebensstrategie, die er gelernt hatte.

„Ich habe nämlich etwas Interessantes erfahren.“

Er nahm an, dass Bertha bei ihren Besuchen in den verschiedenen Gefängnissen eine Menge Klatsch zu hören bekam. Ludwell war nicht die einzige Strafanstalt, in der Hunde trainiert wurden.

Sie sprach weiter. „Möglicherweise wird man mir vorwerfen, mich in ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren einzumischen oder zumindest voreilig zu handeln. Haben Sie mal von einem Mann namens Karl Zandoff gehört?“

Christian studierte jede Zeitung, die ihm in die Hände kam. Jeder, der lesen konnte, war schon einmal auf den Namen Karl Zandoff gestoßen. Er nickte. „Er sitzt in Florida in der Todeszelle. Seine Rechtsmittel sind praktisch ausgeschöpft.“

„Seine Hinrichtung ist für Dezember angesetzt worden.“

„Ja, und es sieht so aus, als würde sie dann auch tatsächlich stattfinden.

„Er hat mit den Anwälten gesprochen.“

„Und?“

„Offenbar hat er einen weiteren Mord zugegeben, der ihm gar nicht angelastet wurde.“

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