Gefährliches Vermächtnis

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Aurore Gerritsen ist tot. Mit eiserner Hand hat sie die Geschicke ihrer Familie gelenkt - und lenkt sie immer noch! Mit gemischten Gefühlen fährt ihre Enkelin Dawn zur Testamentseröffnung: Auch der Journalist Ben Townsend wird anwesend sein, ihre große Liebe - die zerbrach, weil er Dawn die Mitschuld an einem schrecklichen Tod gibt. Doch mehr als die Konfrontation mit Ben erwartet die junge Fotografin auf Grand Isle: Dunkle Geheimnisse werden enthüllt, ein vertuschter Mord kommt ans Tageslicht, es geht um die getrennten Welten von Schwarz und Weiß in den Südstaaten. Und während ein Hurrikan den Himmel verdunkelt, ahnt Dawn: Diesen Sturm können sie nicht alle überleben.


  • Erscheinungstag 10.04.2012
  • Bandnummer 2
  • ISBN / Artikelnummer 9783862784004
  • Seitenanzahl 464
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Emilie Richards

Gefährliches Vermächtnis

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Barbara Minden

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Rising Tides

Copyright © 1997 by Emilie Richards McGee

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Trevillion, Brighton, UK

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /

Galen McGee – Peak Definitions Productions

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-401-1
ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-400-4

www.mira-taschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

PROLOG

New Orleans, 1965

Die schwüle Mailuft war getränkt mit dem Geruch nach getrockneten Rosenblättern, Vetiver und Tod. Es gab kein Entkommen. Aurore war gerade aufgewacht. Ihr graute davor, Luft zu holen. Noch beunruhigender war nur der Gedanke, dass sie schon wieder von Rafe geträumt hatte.

Rafe erschien ihr immer, wenn sie ihn am wenigsten erwartete. Es gab auch andere Geister, die sie im Traum verfolgten und in den Momenten, wenn sie darüber nachdachte, wie wenig Zeit ihr noch blieb. Aber Rafe kam nur, wenn sie tief und fest schlief. Rafe, der Episoden aus ihrem Leben pflückte wie Wildblumen auf einer Sommerwiese und der sie ihr dann vor Augen hielt.

Aurore zwang sich, zu atmen, obwohl die Luft immer drückender zu werden schien. Sie hatte den Hausangestellten verboten, in diesem Teil des Hauses die Klimaanlage anzustellen. Man hatte die Fenster geschlossen, während sie schlief; vermutlich damit das Gekreische der Spottdrosseln draußen auf dem Magnolienbaum sie nicht weckte. Das Personal verstand einfach nicht, dass Aurore jeden wachen Moment als kostbares Geschenk betrachtete. Ein Geschenk, das nur alte Menschen wirklich zu schätzen wussten.

Aurore war alt, obwohl sie es jahrelang geleugnet hatte. Mit sechzig war sie davon überzeugt gewesen, dass Aktivität ein wirksames Mittel gegen das Altern war, und mit siebzig hatte sie geglaubt, sie könnte den Tod genauso hartnäckig ignorieren wie andere unerfreuliche Dinge des Lebens. Inzwischen war sie siebenundsiebzig, und der Tod lungerte schon seit Wochen in ihrem Schlafzimmer herum. Beim ersten Anzeichen von Schwäche würde er sich auf sie stürzen. Doch sie war noch nicht bereit zu sterben. Noch nicht. Es gab zu viele Geheimnisse, die darauf warteten, gelüftet zu werden.

Aurore hatte fast zu lange damit gewartet. Sie hätte ihre Familie schon vor Jahren zusammenrufen und wie eine herrische Matriarchin zwingen sollen, den Geschichten einer alten Frau zuzuhören. Sie hätten es nicht gewagt, sich ihrer Aufforderung zu widersetzen.

Aber sie hatte gewartet. Aber jetzt, wo der Tod bereits seinen Anspruch auf sie erhob, konnte sie es nicht länger aufschieben. Als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass es draußen bereits dunkel wurde. Sie hatte die Dämmerung immer als besonders friedvoll empfunden. Nun blieb ihr keine Zeit mehr, um innezuhalten. Niemals wieder.

Neben dem Bett raschelte die gestärkte Tracht einer ihrer Pflegerinnen. Aurore bemühte sich, sich verständlich zu machen. „Ist Spencer schon da?“

„Ja, Mrs Gerritsen.“

Aurore, in deren Ohren die eigene Stimme rau und profan klang, war glücklich, dass man sie verstanden hatte. „Wie lange ist er schon hier?“

„Seit fast einer Stunde. Ich habe ihm gesagt, dass Sie geweckt werden wollten, aber er hat es nicht zugelassen.“

„Er beschützt mich.“ Aurore befeuchtete den Mund mit der Zunge. „Wie immer.“

„Möchten Sie etwas Wasser?“

Aurore nickte. „Nur ein Schlückchen. Dann … Spencer.“

„Sind Sie sicher, dass Sie sich gut genug fühlen?“

„Wenn ich warten würde, bis ich mich besser fühlte … würde ich ihn nie wiedersehen.“

Die Schwester nickte, während sie Wasser aus einer Karaffe in ein Glas goss, das sie an Aurores Lippen führte. „Kann ich noch etwas für Sie tun, bevor ich Mr St. Amant hole?“

„Die Fenster. Ich will nicht, dass sie … wieder geschlossen werden. Nie mehr.“

„Ich öffne auch die Balkontüren.“

Draußen zirpten die ersten Zikaden des Jahres. Die Luft traf feucht auf Aurores Haut. Für einen Augenblick war sie wieder siebzehn und stand im nebligen Dunst am Ufer des Mississippis. Sie beobachtete, wie Barkassen und Dampfer gegen die Strömung ankämpften, während sie darauf wartete, dass ihr Leben begann.

„Aurore.“

Aurore blickte den Mann an, der seit fast fünfzig Jahren ihr Anwalt war.

„Wie fühlst du dich, meine Liebe?“, fragte Spencer.

„Alt. Es tut mir leid, dass ich alt bin.“

Spencer ließ sich in dem Sessel nieder, den die Schwester neben das Bett geschoben hatte. „Tatsächlich? Ich erinnere mich noch gut an dich, als du jung warst.“

„Du erinnerst dich an zu viele Dinge.“

„Manchmal kommt es mir auch so vor.“ Er nahm ihre Hand. Seine Haut war trocken. Er zitterte, als er ihre Hand umschloss.

Ihre Gedanken schweiften ab, was inzwischen häufig geschah. Sie erinnerte sich an einen Tag in Spencers Büro in der Canal Street vor vielen Jahren. Das Büro gab es immer noch, obwohl Spencer längst im Rentenalter war. Aurore war froh, dass er seine Kanzlei noch nicht einem seiner jüngeren Partner übergeben hatte.

„Du warst so elegant“, sagte sie, „und leidenschaftlich. Ich dachte, du würdest mich abweisen.“

„Als du zum ersten Mal zu mir kamst?“ Er lachte. „Du warst so blass. Und du hast diesen Hut getragen, der deine Stirn verdeckte. Ich fand dich bezaubernd!“

„Aber was du damals gehört hast, kann dir unmöglich gefallen haben.“

„Es stand mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich versprach dir, nichts von dem, was du mir anvertraust, je weiterzusagen. Und während wir uns unterhielten, spieltest du mit einer Kette aus hellen und dunklen Perlen.“

„Hell und dunkel.“ Aurore lächelte. „Ich erinnere mich.“

„Die Perlen verschwanden zwischen deinen Fingern wie ein Rosenkranz. Du bist lange in meiner Kanzlei geblieben. In der Zeit hättest du hundert Fürbitten sprechen können.“

Sie sah ihn an. „Ich will, dass du ein neues Testament für mich aufsetzt, so wie wir es aufgeschrieben haben. Ich will … dass du das alte Testament vernichtest.“

Er drückte ihre Hände. „Hast du auch gründlich darüber nachgedacht, meine Liebe?“

„Ich denke an nichts anderes.“

„Die Dinge könnten anders verlaufen, als du es dir wünschst.

Sie könnten mehr Schaden anrichten als Gutes nach sich ziehen. Und zu guter Letzt könnten die Menschen, die du liebst, verletzt werden.“

„Mein ganzes Leben … hatte ich Angst, die Wahrheit zu sagen.“

„Und nun hast du keine Angst mehr?“

„Jetzt habe ich noch mehr Angst.“ Er streichelte ihre Hand, und sie fuhr fort, bevor er sie unterbrechen konnte. „Aber trotzdem … die Wahrheit würde niemals ans Licht kommen. Nun bekommen andere die Chance, so mutig zu sein … wie ich es nie gewesen bin.“

„Das ist ein mutiger Akt.“

Ihre Gedanken wanderten zu den beiden Männern, die sie geliebt hatte. Rafe. Und Hugh, ihren Sohn. Zwei Männer, die wussten, was es bedeutete, mutig zu sein. „Nein. Das ist nicht mutig“, widersprach sie. „Eher die letzte verzweifelte Handlung eines Feiglings.“

Während sie miteinander schwiegen, brach die Nacht herein. Schließlich fragte er: „Kann ich morgen noch einmal herkommen, um zu sehen, ob du deine Meinung geändert hast?“

„Nein. Bitte tu mir den Gefallen, Spencer, und tu, was wir besprochen haben. Wirst du nach … Grand Isle runterfahren?“

„Ich werde tun, was immer du willst.“ Er führte ihre Hand an die Lippen und küsste sie. „Ich habe Dawns Adresse. Sie lebt in England und fotografiert für ein New Yorker Magazin. Ich könnte sie bitten, nach Hause zu kommen.“

Einen Augenblick lang war Aurore versucht, Ja zu sagen. Um Dawn noch einmal wiederzusehen, sie ein letztes Mal zu berühren. Und um ihre Enkelin in alle Geheimnisse einzuweihen, so wie Dawn sie auch immer in alle ihre Kindergeheimnisse eingeweiht hatte.

Alle.

Aurore konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Sie war tatsächlich so feige, wie sie behauptet hatte. „Nein. Es ist das Beste, sie nicht nach Hause zu holen, bevor …“

„Ich verstehe.“

„Es gibt noch so vieles, das ich tun müsste.“

Spencer erhob sich. „Dann schicke ich ihr und den anderen deinen Brief … wenn es sein muss.“

„Ja. Die Briefe.“ Aurore dachte an die Briefe, die sie diktiert hatte. Und daran, wie viele Leben sie verändern würden.

„Du bist müde. Und du hast noch einen anderen Besucher.“ Aurore fragte nicht, wer dieser Besucher war. Sie konnte an Spencers Tonfall erkennen, dass es jemand war, auf den sie sich freute.

Aurore schloss die Augen, als Spencer das Zimmer verließ. Das Zirpen der Zikaden verstärkte sich. Die Abendluft roch nach süßen Oliven und den ersten Magnolien. Ihr Duft überdeckte den Geruch von Alter und Tod.

Als sie Schritte hörte, fehlte ihr die Kraft, die Augen noch ein weiteres Mal zu öffnen. Eine feste, starke Hand griff nach ihrer Hand und sie spürte warme Lippen an ihrer Wange.

„Phillip …“, flüsterte sie.

„Du brauchst nichts zu sagen, Aurore. Ich bleibe ein Weilchen bei dir. Ruh dich einfach aus.“

Die Stimme gehörte Phillip, aber einen Moment lang erschien es Aurore so, als ob Rafe an ihrem Bett säße. In diesem Augenblick fühlte sie sich nicht mehr alt, sondern wieder jung. Ihr Leben lag noch vor ihr, und sie hatte noch keine schwerwiegenden Entscheidungen getroffen. Während sie sich den Träumen hingab, summte Phillip eines der Lieder, mit denen seine Mutter berühmt geworden war. Aurore schlief ein.

1. KAPITEL

September 1965

Der junge Mann, den Dawn am Stadtrand von New Orleans aufgegabelt hatte, sah aus wie ein Rumtreiber, genau wie viele Studenten, die in jenem Sommer durch die Welt reisten. Seine Haare waren ungewaschen, seine Kleidung war ein Mix aus Rockstar und Zirkusartist. Immerhin war er wenigstens nicht so käseweiß wie diese verrückten Liverpooler Beatles oder so braun gebrannt wie diese kalifornischen Beach Boys. Im letzten Jahr war sie mehr als genügend Männern dieser Sorte begegnet. Sie tourten häufig mit Rockbands durch Europa.

Ihr Anhalter hatte Sommersprossen und Augen dunkel wie Honig. Er nannte Ortsnamen wie Biloxi und Gulfport. Und als er sie das erste Mal „Ma’am“ nannte, hätte sie ihn am liebsten zum nächsten Deich geschleppt und ihn so lange stöhnen lassen, bis sie wirklich begriffen hätte, dass sie wieder zurück im tiefen Süden war.

Doch sie schleppte ihn nirgendwohin. Sie erinnerte sich nicht mal an seinen Namen. Dawn war mit zu vielen anderen Dingen beschäftigt, um ernsthaft an Sex zu denken. Und sie suchte auch nicht nach Liebe. Nach drei prägenden Studienjahren in Berkeley hatte sie es aufgegeben, an Liebe, an Religion oder an ein Happy End zu glauben.

Glücklicherweise schien der Anhalter auch nicht auf der Suche nach Liebe zu sein. Er interessierte sich mehr für alles Essbare im Handschuhfach und den Stand der Tachonadel. Nach ihrer spontanen Gefühlsaufwallung vergaß sie fast, dass er in ihrem Auto saß, bis sie den Fehler beging, das Radio lauter zu stellen. Es war fünf nach halb eins, und die Nachrichten waren fast vorbei.

„Senator Ferris Lee Gerritsen, Vorstand von Gulf Coast Shipping mit Sitz in New Orleans, kündigte heute an, dass das Unternehmen der Stadt einen Teil seiner Ländereien am Fluss zur Verfügung stellen wird. Dort soll zum Gedenken an Henry und Aurore Gerritsen, die Eltern des Senators, ein Park errichtet werden. Mrs Gerritsen, Enkelin des Gründers der Reederei, verstarb letzte Woche. Senator Gerritsen ist das einzige noch lebende Kind des Paares. Sein Bruder, Pater Hugh Gerritsen, kam letzten Sommer bei einer Bürgerrechtsdemonstration in Bonne Chance ums Leben. Der Senator wird allen Voraussagen nach 1968 für das Amt des Gouverneurs kandidieren.“

Obwohl die Sonne bereits am Horizont versank, griff Dawn nach ihrer Sonnenbrille, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen geschossen waren. Als sie sich zurücklehnte, spürte sie auf einmal eine warme Hand auf ihrem Oberschenkel. Ihr Anhalter betrachtete sie mit demselben Gesichtsausdruck, der vor Kurzem noch ihren Twinkies gegolten hatte. Dawn ahnte, was er sah: eine langbeinige junge Frau mit kunstvoll bemalten blauen Augen. Einen Glücksfall mit Vermögen.

Er lächelte, während er die Hand nach oben wandern ließ. „Du heißt doch Gerritsen, oder? Bist du mit ihm verwandt?“

„Du verschwendest deine Zeit“, sagte sie.

„Ich hab gerade nichts anderes zu tun.“

Dawn fuhr rechts ran. Es nieselte und der Wetterbericht hatte noch mehr Regen vorhergesagt. Das änderte jedoch nichts an ihrem Entschluss. „Es wird Zeit, dir eine neue Mitfahrgelegenheit zu suchen.“

„Hey, komm schon! Du ahnst ja nicht, wie ich dir die restliche Fahrt versüßen könnte.“

„Entschuldigung, aber meine Vorstellungskraft ist besser, als du denkst.“

Fluchend zog er die Hand zurück und schnappte sich seinen Rucksack.

Als sie weiterfuhr, geriet sie ins Grübeln, was sie um jeden Preis hatte vermeiden wollen. Ihr Ausflug nach Grand Isle war keine Vergnügungsreise; sie kam wegen ihrer Großmutter, Aurore Le Danois Gerritsen. Sie hatte auf dem Totenbett verfügt, dass das Testament vor der versammelten Familie im Sommerhaus verlesen werden sollte. Das war ein Befehl.

Das letzte Mal, als Dawn die Strecke zwischen Grand Isle und New Orleans gefahren war, hatte sie ihren Führerschein gerade erst ein Jahr lang gehabt. Der Süden Louisianas war ein ständiger Dialog von Wasser und Land, und manchmal verwischten sich die Grenzen. Sie flog über das Land und pflügte durchs Wasser. Ihre Großmutter saß neben ihr und unterhielt sich mit ihr, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie von einer der unzähligen Hängebrücken in den düsteren Bayou Lafourche hätten stürzen können. Erst als Aurore danach ins Cottage humpelte, wurde Dawn klar, dass sie die ganze Zeit auf unsichtbare Gas- und Bremspedale getreten hatte.

Diese Erinnerung schnürte ihr unerwartet die Kehle zu. Der Tod ihrer Großmutter hatte sie zwar nicht überrascht, aber sie war trotzdem nicht darauf vorbereitet. Wie hätte sie auch ahnen können, dass mit Aurore ein großes Stück ihrer eigenen Identität verschwinden würde? Aurore Gerritsen hatte Dawns Leben geprägt.

Ein anderer Teil von Dawn war schon mit dem Tod ihres Onkels verschwunden. Im Radio war Hugh Gerritsens Tod nur am Rande erwähnt worden; wie eine Nachricht von vorgestern. Doch für Dawn war er noch sehr präsent. Ihr Onkel galt als umstrittene Persönlichkeit in Louisiana; ein Mann, der all die Tugenden praktizierte, die die katholische Kirche predigte. Onkel Hugh war der Mann, der ihre guten Seiten erkannt und ihr beigebracht hatte, sie ebenso zu sehen.

Zwei Tode innerhalb von zwei Jahren. Die einzigen Gerritsens, die sie je verstanden hatten, waren nun fort. Wer blieb nun übrig? Wer würde sie nun bedingungslos lieben? Sie drehte das Radio auf und zwang sich, eine Nummer von Smokey Robinson and The Miracles mitzusingen.

Eine Stunde später überquerte sie die letzte Brücke. Die Insel war alles andere als elegant, aber die Luft auf Grand Isle war so frisch wie in den Bergen und der Sand so fein wie Puderzucker. Jeden Sommer hatte Dawn hier Aurore Gesellschaft geleistet. Und Aurore hatte ihr jeden Sommer die Familiengeschichte der Gerritsens erzählt.

Heute war es windig und die Brandung gewaltig. Trotzdem ließen sich die Angler nicht abschrecken. Orkan Betsy zog von Florida herüber, aber noch glaubte niemand, dass er diesen Teil Louisianas wirklich heimsuchen würde. Falls doch, würden die Inselbewohner ihre Häuser verriegeln, alle Habseligkeiten in Autos verladen und zurückkehren, noch bevor die Evakuierung wieder aufgehoben wäre.

Die Straße, die zum Cottage der Gerritsens führte, war mit einer frischen Ladung Austernschalen aufgeschüttet worden. Das Cottage selbst wirkte wie eine Insel. Aus wettergegerbten Zypressen im traditionellen kreolischen Stil erbaut und umgeben von wild wachsendem Oleander, Jasmin und Myrten, schmiegte es sich in die Landschaft wie die knorrigen alten Wassereichen, die es umgaben. Selbst der von ihrer Großmutter entworfene Anbau sah aus, als wäre er schon immer dort gewesen.

Dawn bemerkte die frischen Spurrillen und fragte sich, ob ihre Eltern schon eingetroffen waren. Sie hatte sie weder aus London noch vom Flughafen aus angerufen, weil sie sicher war, dass sie von ihr erwartet hätten, gemeinsam mit ihnen nach Grand Isle zu fahren. Doch Dawn benötigte Zeit, um sich an die Rückkehr nach Louisiana zu gewöhnen. Sie war jetzt dreiundzwanzig und zu alt, um sich von ihrer Familie vereinnahmen zu lassen. Deshalb brauchte sie diese Extrazeit, um sich zu wappnen.

Als sie vor dem Haus ankam, entdeckte sie einen Karmann Ghia mit kalifornischem Kennzeichen unter den Bäumen. Sie wunderte sich, wer von so weit her zur Testamentseröffnung ihrer Großmutter gekommen war. Gab es einen Gerritsen oder einen entfernten Le Danois, der schon immer irgendwo im Hintergrund gelauert hatte?

Entschlossen parkte sie ihren gemieteten Pontiac neben dem kleinen Cabrio. Dann zog sie ihren Regenmantel an und setzte ihren breitkrempigen John-Lennon-Hut auf. Das Dach des Cabrios war geschlossen. Dawn schaute durch die regennasse Scheibe ins Innere des Wagens. Das Auto gehörte einem Mann. Die Sonnenbrille auf dem Armaturenbrett sah aus wie eine Pilotenbrille, und auf dem Rücksitz lagen eine gemusterte Krawatte und eine Brieftasche.

Sie wickelte den Regenmantel noch enger um sich. Mary Quant hatte ihn wohl eher für den kühlen Londoner Regen und nicht für die Sommerhitze Louisianas entworfen. Es war Dawn aber egal, ob sie sich darin fast totschwitzte. Ihr Blick wanderte über das Autodach durch Oleander- und Jasminbüsche zur Veranda. Dort stand ein Mann, von dem sie angenommen hatte, dass sie ihn nie mehr wiedersehen würde. Er beobachtete sie.

Obwohl der Regen in Strömen über ihre Stiefel lief, bewegte Dawn sich keinen Millimeter vom Fleck. Sie fragte sich, ob sie ihre Großmutter jemals wirklich gekannt hatte.

Ben Townsend verließ die Veranda. Der Regen durchnässte sein Hemd, die dunkle Hose und sein sonnengesträhntes Haar. Er hatte sich nicht verändert. Dawns Blicke glitten über seine breiten Schultern, die schmalen Hüften und die langen Beine. Sie zuckte nicht mit der Wimper, als er näher kam. Die Kunst, Gefühle zu unterdrücken, hatte sie seit ihrem letzten Wiedersehen perfektioniert.

„Ich nehme an, du hast mich nicht erwartet.“ Er blieb dicht vor ihr stehen.

„Das ist eine maßlose Untertreibung.“

„Ich habe eine Einladung zur Testamentseröffnung deiner Großmutter bekommen.“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Dawn hatte ihn schon oft so dastehen sehen. Seine Haltung verriet, dass er echt war und nicht bloß eine schemenhafte Erinnerung.

„Ich bin überrascht, dass du dir die Mühe machst.“ Sie wippte auf den Fersen, als ob sie es gemütlich fände, für immer unter einer tropfenden Eiche zu stehen. „Hoffst du auf eine Story?“

„Nö. Ich bin jetzt Redakteur. Ich kaufe ein, was andere Leute schreiben.“

Im letzten Jahr hatte Ben für Mother Lode gearbeitet, ein gefeiertes neues Magazin, das die liberale kalifornische Elite für sich entdeckt hatte. Dawn hatte nur eine Ausgabe gelesen. Offenbar schätzte man dort die Kreativität, den Intellekt und die Selbstgerechtigkeit der Westküste. Es überraschte sie nicht, dass Ben so schnell Karriere machte.

„Du warst immer schnell in deinem Urteil“, sagte sie.

Er zuckte mit den Schultern. „Und du scheinst besser darin geworden zu sein.“

„Ich bin in vielen Dingen besser geworden, nur offensichtlich nicht darin, Grandmère zu verstehen. Ich weiß nicht, ob deine Einladung der Versuch ist, ein Treffen von zwei verflossenen Liebenden zu erzwingen, oder ob sie einfach einen merkwürdigen Sinn für Humor hatte.“

„Glaubst du wirklich, dass deine Großmutter mich hierher gebeten hat, um dich zu verletzen?“

„Hast du eine andere Erklärung?“

„Vielleicht hat es etwas mit Pater Hugh zu tun.“

Sie warf ihr Haar zurück. „Ich wüsste nicht, warum. Onkel Hugh ist schon seit einem Jahr tot.“

„Ich weiß, wann er starb, Dawn. Ich war dabei.“

„Stimmt ja. Und ich war nicht dabei. Ich glaube, das war das Thema unseres letzten Gesprächs.“

Diese Unterhaltung lag inzwischen ein Jahr zurück, aber Dawn erinnerte sich jetzt wieder daran, als ob Bens Worte noch immer in der Luft schwebten wie an dem Todestag ihres Onkels, als sie neben Bens Krankenhausbett gestanden hatte. Aufgrund ihrer lauten Stimmen war eine Krankenschwester auf sie aufmerksam geworden. Dawn erinnerte sich an den Duft der Lilien, die auf dem Nachttisch eines anderen Patienten gestanden hatten. Ben hatte seine Frage herausgebrüllt und auf Antworten gewartet, die er nicht bekommen hatte.

Hast du geahnt, Dawn, dass man deinen Onkel wie einen Kriminellen abknallen würde? Dass der Mob auf dem Weg zur Kirche war, um einen guten Menschen in einen Märtyrer zu verwandeln?

„Ich bleibe!“, sagte Ben. „Ich habe zwar keine Ahnung, weshalb man mich eingeladen hat, aber ich werde so lange bleiben, bis ich eine Antwort darauf finde. Können wir so lange zivilisiert miteinander umgehen?“

„Du bist von hier, ein echter Louisiana-Boy. Du weißt, dass Gastfreundschaft in diesem Teil der Welt Tradition ist. Ich werde meinen Teil dazu beitragen.“

Dawn betrachtete ihn einen Augenblick. Sein Haar war länger als vor einem Jahr. Er trug jetzt eine Brille und wirkte nicht mehr zu jung, um Fragen nach den Problemen der Welt zu beantworten. Er sah aus wie ein siebenundzwanzigjähriger Mann, der seinen Platz in der Welt gefunden hatte und nicht beabsichtigte, ihn je wieder herzugeben.

Sein Vater war auch ein Mann gewesen, der Vertrauen ausgestrahlt hatte. Dawn fragte sich, was geschehen würde, wenn Ferris Lee Gerritsen herausfand, dass Ben Townsend eine Einladung nach Grand Isle erhalten hatte.

Ben wartete, bis sich ihre Blicke trafen. „Ich werde mich dir nicht aufdrängen.“

„Oh, mach dir um mich keine Sorgen! Mir drängt sich niemand mehr auf, und es drängt mich auch niemand mehr zu irgendwas. Bleib ruhig, wenn du willst. Aber nicht, um alte Geschichten aufzuwärmen.“

Sie zuckte die Achseln und kehrte zum Auto zurück, um ihr Gepäck zu holen und ihm zu demonstrieren, wie gleichgültig er ihr war. Sie hatte fast alles, was sie besaß, in Europa zurückgelassen. Dawn griff nach Kamera und Reisetasche, ließ aber den Koffer im Kofferraum.

In der Ferne donnerte es. Der Boden unter Dawns Füßen schien zu vibrieren. Die schwüle Luft war erfüllt von dem vertrauten Geruch nach Fäulnis und Ozon. Als sie sich umdrehte, stand Ben nicht mehr neben ihr. Sie beobachtete, wie er sich auf dem Austernschalenweg entfernte und war froh, dass sie nicht weiter so tun musste, als sei sie ganz locker.

Die Anziehungskraft, die Grand Isle auf ihre Großmutter ausgeübt hatte, konnte Dawn zwar nicht so ganz nachvollziehen, aber sie verstand sie jedes Jahr ein bisschen besser. Der Sommer war immer die Zeit gewesen, um in Großmutters Liebe zu baden. Niemand hatte etwas von Dawn erwartet. Heiße Sonne, leichte Brise. Dawn hatte auf dieser Insel nie etwas anderes zu tun, als heranzuwachsen. Aurores Stolz war Grund genug für Dawn, das Beste aus sich herauszuholen.

Was hatte Aurore kurz vor ihrem Tod gewusst? Dass Dawn sie immer noch liebte? Dass Dawn sich trotz ihrer Flucht nach dem Tod ihres Onkels immer nach ihrer Familie gesehnt hatte? Dass es einer Kriegserklärung, in einem Krieg, den Dawn sowieso nie begriffen hatte, gleichgekommen war, als sie sich in Ben verliebt hatte?

Und das Wichtigste von allem: Hatte ihre Großmutter verstanden, dass Dawn trotz der Ozeane, die zwischen ihnen lagen, niemals in der Lage gewesen war, sich von den Menschen loszusagen, die sie liebte?

Louisiana war wie ein einziges großes türkisches Bad. So erklärte sich vielleicht auch die Trägheit der Einwohner. Ihre kollektive Sicht war von der feuchten Luft gewöhnlicher Sommernachmittage getrübt. An einem Tag wie diesem, wenn Regentropfen die Sommerluft erfüllten, war verständlich, weshalb sich hier nie etwas änderte.

Ben stand am Strand und beobachtete, wie die schäumende Brandung den Seetang verteilte. Grand Isle war nur ein Sandhaufen, der wie ein ausgestreckter Mittelfinger aus dem pisswarmen Wasser herausragte. Seit der Begegnung mit Dawn vor einer Stunde hatte er schon fast die gesamte Insel umrundet.

Louisiana gehörte nicht gerade zu Bens liebsten Orten. Er war nicht weit von Grand Isle geboren worden, aber vor einem Jahr wäre er dort auch beinahe ums Leben gekommen. Vor einem Jahr hatte er mit ansehen müssen, wie ein Märtyrer von Fanatikern niedergeschossen und liegen gelassen wurde, um sein Leben auszubluten.

Wo war Pater Hugh Gerritsen jetzt? Ben glaubte weder an einen Himmel noch, dass es in der Hölle schlimmer war als in Louisiana. Trotzdem gelang es ihm nicht, zu glauben, dass Pater Hughs Leben einfach zu Ende war.

Was hätte Pater Hugh von seiner Nichte gehalten? In ihrem pinkfarbenen Regenmantel sah sie so aus, als benötige sie dringend einen Priester – oder ein Kloster. Ihre Beine waren endlos lang, und ihre kastanienroten Haare endeten nicht nur zufällig – da war er sich sicher – in Höhe ihrer Brüste. Ein Jahr in Europa hatte aus einem Teenager in geblümten T-Shirts eine Femme fatale im Minirock gemacht.

Und diese Augen, diese herausfordernden Augen! Dawn hatte durch ihn hindurchgesehen, als ob sie sich niemals geliebt hätten. Als ob er sie nie beschuldigt hätte, am Mord ihres Onkels beteiligt gewesen zu sein.

Er hätte ahnen können, dass sie auf seine Anwesenheit schockiert, vielleicht sogar wütend reagieren würde. Doch mit der eiskalten Arroganz, mit der sie ihn hatte abblitzen lassen, hatte er nicht gerechnet. Was auch immer Aurore mit ihrem Zusammentreffen bezweckt hatte: Diese Feindseligkeit, die es beinahe unmöglich erscheinen ließ, dass ihre Beziehung einmal voller Liebe und Respekt gewesen war, sicher nicht.

In der Ferne zeichnete sich die Silhouette einer Ölbohrplattform ab. Ben beobachtete die Fischer beim Einholen eines Netzes voller zappeliger Meeräschen. Er litt mit den Fischen, die nach Luft rangen und nicht verstanden, welche fremde Macht sie in diese missliche Lage gebracht hatte.

Ben ging es wie diesen Meeräschen. Er wusste auch nicht, wie er gegen etwas ankämpfen sollte, das er nicht sehen konnte. Er verstand weder Dawn noch deren Großmutter oder die Gründe, die sie dazu veranlasst hatten, ihn hierher einzuladen. Er verstand nicht, unter welchen Problemen die Gerritsens litten oder warum es ihnen nicht einmal selbst gelang, es herauszufinden.

Als die Sonne fast hinter einer Gewitterwolke am Horizont verschwand, wusste Ben, dass es Zeit war, zum Gerritsen-Cottage zurückzukehren. Dawn hatte inzwischen genügend Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Vermutlich waren mittlerweile auch ihre Eltern angekommen sowie alle anderen, die ebenfalls eingeladen waren. Er lief den von wilden Kräutern und Seetang gesäumten Weg zurück, als es zu nieseln begann. Hinter ihm stürzten sich die Möwen auf die Meeräschen, die den Fischern entkommen waren.

Nicht weit vom Cottage entfernt, öffnete der Himmel seine Schleusen. Es stürmte. Völlig durchnässt hastete Ben durch die Dämmerung und suchte Schutz in einem Fischereiladen, um wenigstens den schlimmsten Sturm abzuwarten.

Zehn Stufen führten zu dem Holzhäuschen hinauf, das etwa dreimal so groß war wie eine Garage. Drinnen führten zwei schmale Gänge an Vitrinen und Regalen vorbei. Sein Interesse galt aber mehr den anderen Personen im Laden.

Der Ladenbesitzer, ein kahler, dickbäuchiger Mann um die fünfzig, lehnte am Tresen. Vor ihm stand ein jüngerer Mann, den er selbstgefällig angrinste, wobei er eine Reihe vom Tabak vergilbter, zu langer Zähne entblößte. Er war so mit seinem anzüglichen Grinsen beschäftigt, dass er Ben nicht einmal wahrnahm. „Tja, mein Junge“, sagte er zu seinem Gegenüber. „Kann sein, dass ich weiß, wo das Haus der Gerritsens ist, kann aber auch nicht sein. Kommt drauf an, weshalb du das wissen willst. Ich kann mir nämlich keinen vernünftigen Grund vorstellen, weshalb ein Nigger so spät noch nach dem Haus des Senators suchen sollte, es sei denn, er führte Dinge im Schilde, die er besser sein lassen sollte.“

Ben stand im Gang und beobachtete, wie der andere Mann – um die siebenunddreißig und schon seit zwei Jahrzehnten kein Junge mehr – auf die Worte des Ladenbesitzers reagierte. Ben erkannte ihn.

Phillip Benedict beugte sich über den Tresen. „Glaubst du kleines dreckiges Südstaaten-Arschloch das wirklich? Dass ich ausgerechnet hierhergekommen wäre, wenn ich vorhätte, Senator Gerritsen umzubringen, damit du dich später an mich erinnern kannst?“

Der Ladenbesitzer richtete sich zu seiner vollen Größe auf, aber es fehlten ihm mindestens weitere fünfundzwanzig Zentimeter, um auf gleicher Höhe mit Phillip zu sein. Bens Meinung nach fehlte ihm weit mehr als nur diese paar Zentimeter.

„Raus aus meinem Laden! Sofort! Los! Und sieh dich vor, solange du auf dieser Insel bist! Man könnte dich sonst in der Brandung finden, mit dem Gesicht nach unten.“

Phillip hatte schöne, breite Hände mit schlanken Fingern. Damit packte er jetzt den Ladenbesitzer am Kragen, bis der sich nicht mehr rühren konnte. „Wer sich an mich heranschleichen will, muss schon sehr leise sein, du dreckiges Südstaaten-Arschloch! Und du bist nicht leise. Du hast ein großes Maul. Ich würde dein Gequatsche schon meilenweit entfernt hören. Also, sei vorsichtig, denn während du das Maul aufreißt, könnte ich den Spieß umdrehen. Du würdest mich unter Garantie nicht hören.“ Er ließ das Hemd los und stieß den Mann zurück. Dann fiel sein Blick auf Ben.

„Dreckiges Südstaaten-Arschloch?“, fragte der grinsend. „Ich wünschte, das wäre mir eingefallen.“ Er blickte über Phillips Schulter zum Ladenbesitzer, der sich an die Wand drückte. „Das ist ein übler Scheißkerl!“, erklärte er ihm. „Der frisst Weiße zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot. Und dann ist er auch noch ein Freund der Familie Gerritsen. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig! Von so einem würde ich mich lieber fernhalten.“

„Raus aus meinem Laden!“, schrie der Mann. Er kochte vor Wut. „Alle beide!“

„Unhöflichkeit ist schlecht fürs Geschäft.“ Ben schnappte sich einen Schokoriegel, fischte Kleingeld aus der Tasche und legte es auf den Tresen. „Willst du auch was, Phillip?“

„Ja. Einen Kopf auf einem Silbertablett.“

Ben legte seinen Arm um Phillips Schulter. „Im nächsten Geschäft schauen wir mal, was wir für dich tun können.“

Sie verließen den Fischereiladen, aber Ben behielt den Ladenbesitzer im Auge, bis sie heil aus der Tür draußen waren. „Es wird Zeit. Wir müssen uns auf die Socken machen“, sagte er, als sie die Treppe hinabgestiegen waren. „Hast du ein Auto?“

„Ich bin sicher nicht getrampt.“

„Dann lass uns fahren.“

Sie stiegen in den Wagen und schwiegen, bis Phillip vor einer kleinen Kirche anhielt. „Die Sonne geht unter, weißer Junge. Hier am Arsch der Welt auf ’ner Straße in Looziana isses nich’ mehr sicher für Nigger und Unruhestifter.“

„Was, zum Teufel, machst du hier?“

Phillip zog die Augenbrauen hoch. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“

Während Ben Phillip musterte, überlegte er, wie er ihm erklären sollte, was er sich selbst nicht erklären konnte.

Phillip Bendict war ein kritischer Journalist. Er war bekannt für seine scharfen Analysen und Kommentare. Mit seiner Hautfarbe und seiner freiheitlichen Überzeugung unterschied er sich von anderen hochrangigen Nachrichtenjournalisten. Er berichtete vom Kampf um die Bürgerrechte wie ein Kriegsreporter, interviewte Martin Luther King im Gefängnis und kommentierte die Aktionen von Malcolm X. Und meistens behielt Phillip recht.

Die beiden Männer hatten sich seit ihrem ersten Zusammentreffen vor einigen Jahren gemocht. Damals hatten sie beide in New York an derselben Story gearbeitet. Ben als junger Reporter, der frisch vom College kam, und Phillip als gestandener Journalist. Gemeinsam mit anderen Journalisten hatte sie lange Nächte in einer Bar an der Lower East Side verbracht und darauf gewartet, dass eine bestimmte Person aus dem gegenüberliegenden Haus kam. Phillip hatte Ben unter seine Fittiche genommen und in den vielen Stunden, die sie gemeinsam totschlagen mussten, hatten sie sich viele persönliche Dinge erzählt. Aber im Laufe der Jahre hatten sie immer weniger Zeit miteinander verbracht und im letzten Jahr überhaupt keine mehr. Ihre Karrieren hatten sie in verschiedene Richtungen geführt.

„Ich weiß selbst nicht so genau, weshalb ich hier bin“, sagte Ben. „Aber ich bin zur Testamentseröffnung eingeladen. Und du?“

„Sieht so aus, als ob ich auch eingeladen worden wäre. Aurore Gerritsen war eine interessante alte Dame.“

Ben lehnte sich gegen die Beifahrertür. Er hatte schon geahnt, dass Phillips Anwesenheit auf der Insel etwas mit der Familie Gerritsen zu tun hatte, aber er hatte vermutet, dass Phillip hier war, um darüber zu schreiben.

Es sei denn, er hatte vor, Selbstmord zu begehen.

Regentropfen schimmerten in Phillips Haar und auf den dunklen Wangen. Er wirkte nicht im Geringsten besorgt wegen der Sache mit dem Ladenbesitzer, sondern eher wie einer, der auf neue Herausforderungen wartete. „Das wird ja immer merkwürdiger“, meinte Ben. „Warum du?“

Phillip lächelte. „Du hast es dem Typen doch eben erklärt: Ich bin ein Freund der Familie.“

„Ich hab nur versucht, deinen Arsch zu retten. Was steckt wirklich dahinter?“

Phillip versuchte, seine langen Beine auszustrecken. „Hast du eine Theorie?“

„Ja. Aber du musst noch mehr Theorien haben, wenn du an einen Ort wie Grand Isle reist und Einheimische anpöbelst.“

Phillip betrachtete Ben von oben bis unten, bevor er antwortete. „Weißt du, warum man dich eingeladen hat?“

„Was weißt du über die Gerritsens?“ Ben fischte den Schokoriegel, den er im Laden gekauft hatte, aus der Brusttasche, riss das Papier auf und brach ihn in zwei Hälften. Eine davon bot er Phillip an.

Phillip schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, was man mir gesagt hat.“

„Was weißt du über Pater Hugh Gerritsen?“, fragte Ben.

„Er wurde letztes Jahr ermordet. Da hinten in Bonne Chance.“ Phillip deutete mit dem Daumen in die Richtung.

„Ja. Mit dem Segelboot nur einen kurzen Törn entfernt, aber ein Höllenritt mit dem Auto. Ich bin in Bonne Chance geboren, und manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und bin wieder dort. Ich spüre die Hitze und die Feuchtigkeit auf meiner Haut und bin wieder zurück.“

„Du warst dort, als er starb, stimmt’s?“

Es überraschte Ben nicht, dass Phillip Bescheid wusste. Sie hatten zwar nie darüber gesprochen, aber die Geschichte war in allen Zeitungen gewesen. „Ich war dort. Aber da ist noch was: Seine Nichte und ich …“ Er zuckte die Achseln. „Dawn und ich, wir standen uns sehr nah.“

„So nah?“

„Ich weiß nur, dass ich jetzt hier bin und bleiben werde.“

„Ich auch.“

„Du hast mir noch nicht erzählt, weshalb man dich eingeladen hat.“

„Aber du könntest es dir denken, wenn du müsstest?“

„Ich habe Mrs Gerritsen erst am Ende ihres Lebens kennengelernt. Dass ich hier bin, hat irgendwas damit zu tun.“

„Weißt du, wer noch kommt?“

Vielsagend lächelte Phillip. „Meine Mutter und mein Stiefvater.“

Ben stieß einen leisen Pfiff aus. Er hatte Phillips Familie nie kennengelernt, doch er hatte Phillips Mutter schon tausend Mal singen hören. Nicky Valentine war eine weltberühmte Jazz- und Bluessängerin. Ihr gehörte ein Nachtklub in New Orleans.

„Ihre Einladungen kamen am selben Tag wie meine“, sagte Phillip.

Ben hatte einhundert Fragen, aber Phillip besaß die für einen Journalisten typische Zurückhaltung. Ben würde seine Antworten im Cottage bekommen. „Das wird ja noch interessanter, als ich dachte.“

Phillips Lächeln gefror. „Vor allem wenn der Senator und seine Frau herausfinden, wen man in ihr Haus eingeladen hat.“

„Ich an deiner Stelle würde ihm nicht den Rücken zudrehen.“

Phillip startete den Motor. „Wir beide haben eine Menge Fragen, die beantwortet werden müssen. Vielleicht ist es höchste Zeit herauszufinden, was dahintersteckt. Aber was auch immer es ist, es wird sicher nicht langweilig. Hier gibt es eine Story. Dunkle und helle Gestalten. Und alle tanzen nach der Pfeife einer alten Dame.“

Ben schwieg. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Himmel blieb dunkel. Inzwischen waren vermutlich alle Eingeladenen im Cottage angekommen. Vielleicht hatte Phillip recht. Vielleicht würde sich die Sache innerhalb der nächsten Stunden aufklären. Doch eines war gewiss: Sogar nach ihrem Tod bestimmte Aurore Gerritsen noch, wo es langging.

2. KAPITEL

Mit vierundsiebzig musste sich Spencer St. Amant höchstens noch Sorgen darüber machen, ob ihn ein nachmittägliches Gewitter davon abhalten würde, die Esplanade Avenue entlangzuschlendern. Während seine Altersgenossen sich im Pickwick Club trafen, um unaufhörlich über ihre beste Zeit zu reden, saß Spencer in seiner Anwaltskanzlei in der Canal Street und leitete eine Horde frischgebackener, milchgesichtiger Universitätsabsolventen, die das Tagesgeschäft erledigten.

Er hatte seinen Ruhestand vor zehn Jahren zwar schon einmal in Erwägung gezogen, in seinem Esszimmer, zwischen einem Krabbencocktail und einer Forelle Müllerin Art. Nach dem letzten Bissen aber war er dann in sein Büro zurückgekehrt und hatte seine Mitarbeiter angewiesen, sämtliche Spekulationen über die künftige Führung der Kanzlei sofort einzustellen. Eines Tages würden sie ihn kopfüber in seinen Akten liegend am Schreibtisch finden. Bis dahin blieb er der alleinige Chef.

Spencer bezweifelte, dass man jemals auf die Gründe seiner Entscheidung kommen würde. Er war weder mit dem Gesetz verheiratet noch gefiel ihm die Arbeit besonders gut. Als junger Mann hatte er sogar einmal davon geträumt zu fliegen und, so wie die Gebrüder Wright, die Welt zu entdecken. Stattdessen war er am Boden geblieben, um seine familiären Pflichten zu erfüllen. Die Pflichten der lange verstorbenen St. Amants, die so stolz auf die Familienkanzlei gewesen waren, hatte er inzwischen längst erfüllt. Aber seine Pflicht gegenüber der Frau, die er geliebt hatte, noch nicht. Er hatte die Arbeit in der Kanzlei nur deshalb fortgeführt, um Aurore Gerritsen nah zu sein; sie hatte nie etwas davon geahnt. Sie war als Freundin gestorben. Das war mehr, als er sich je erhofft hätte, falls er ihr die Wahrheit gesagt hätte.

Seine Verpflichtung ihr gegenüber war noch nicht erledigt. Ihr Letzter Wille musste noch erfüllt werden. Ein letzter Akt der Liebe.

Trotz des Regens ging Spencer den langen Pfad zum Gerritsen-Cottage bedächtig entlang. Der Weg erinnerte ihn an das erste Mal, als er mit einem wackeligen Zweisitzer geflogen war. Und an das Gefühl, das er empfunden hatte, als ihm bewusst wurde, dass sein Leben kurz davor war, sich in etwas zu verwandeln, das er nicht mehr im Griff hatte.

Er klopfte an die Tür. Als er Schritte hörte, winkte er seinem Chauffeur, der bereits seinen Koffer vor der Tür abgestellt hatte. Der junge Mann fuhr prompt mit quietschenden Reifen in Spencers Wagen davon. Spencer hielt sich aufrecht – eine bemerkenswerte Leistung – und trat einen Schritt zurück, als Pelichere Landry nach draußen kam, um ihn zu begrüßen. Sie war eine stämmige Frau mit dunklem Haar und einer unerschütterlichen, klar erkennbaren Ergebenheit für Aurore Gerritsen. Sie und davor ihre Mutter hatten sich um die Familie Gerritsen gekümmert, solange Spencer denken konnte.

„Ich bin froh, Sie zu sehen“, sagte er. „Ich wusste nicht, wer hier sein würde.“

Mais oui, natürlich.“ Pelichere trat einen Schritt zurück, um ihn besser betrachten zu können.

Er spürte ihren abschätzenden Blick und versuchte, ein wenig aufrechter zu stehen. „Es geht mir gut.“

„So sehen Sie aber gar nicht aus.“

„Erzählen Sie mir lieber, welche Überraschungen auf mich warten. Ist schon jemand oben?“

„Dawn ist in ihrem Zimmer. Ich habe ihr etwas zu essen gemacht. Ben Townsend ist auch angekommen, aber er ist gerade unterwegs.“

„Er kommt wieder.“

„Und die anderen kommen auch?“

Spencer nickte.

„Aurore hat immer getan, was sie für richtig hielt. Selbst wenn sie sich irrte.“ Pelichere nahm Spencers Koffer. „Ihr Zimmer ist fertig und in der Küche gibt es Kaffee.“

Dann hielt ein langer dunkler Lincoln unter den Eichen. „Der Senator“, murmelte er, obwohl er sicher war, dass Pelichere das schon wusste.

„Ich muss noch ein paar Fische frittieren.“ Und schon schlug die Tür hinter Pelichere zu, und außer Spencer war niemand mehr da, um Ferris Lee Gerritsen und seine Frau Cappy zu begrüßen.

Senator Gerritsen war nicht im klassischen Sinne gut aussehend. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und eine hohe Stirn. Sein graues Haar war noch immer so dicht, dass es einen guten Haarschnitt benötigte. Seine Nase war mehr als einmal gebrochen gewesen und auch sein arrogantes Kinn hatte schon einige Schläge abbekommen.

Aber er besaß eine magische Ausstrahlung. In Ferris’ Augen spiegelte sich seine patriotische Begeisterung wider und seine Stimme konnte ebenso schmeichelnd wie vernichtend klingen. Sein Charisma und sein grundsätzliches Verständnis für die Hoffnungen und Vorurteile seiner Landsleute könnten ihn 1968 ins Haus des Gouverneurs führen.

Cappy Gerritsen, eine launische Blondine, war wie für einen Bridgenachmittag gekleidet. Ihr weißes Leinenkostüm reichte bis kurz oberhalb ihrer Knie, aber es war nicht kurz genug, um ihr einen schlechten Geschmack nachzusagen. Über Cappy Gerritsen konnte man vieles sagen, aber nicht, dass sie einen schlechten Geschmack besaß.

Ferris verschwendete keine Zeit mit Höflichkeiten. Er fing an zu sprechen, bevor er die Veranda erreichte. „Vielleicht können wir die Sache hinter uns bringen, bevor der Höllensturm losbricht.“

„Ich habe den Wetterbericht gehört“, erwiderte Spencer. „Es gibt noch keinen Grund zur Besorgnis. Vielleicht gibt es gar keinen Sturm.“

„Ich habe in den letzten Tagen ein Dutzend Mal versucht, Sie zu erreichen.“

„Ach ja?“ Spencer wusste genau, dass ein Dutzend Mal untertrieben war.

„Ich sehe keinen Sinn in dem Ganzen. Ich sollte in dieser Woche in Baton Rouge sein. Weshalb konnte das Testament nicht in New Orleans verlesen werden?“

„Das erkläre ich lieber, wenn alle da sind.“

Ferris’ Gesichtsausdruck war alles andere als herzlich. „Wer wird denn erwartet?“

„Ich würde gerne wissen, ob meine Tochter schon angekommen ist“, fragte Cappy, bevor Spencer auf Ferris’ Frage antworten konnte.

„Dawn ist hier, aber ich habe sie noch nicht gesehen.“

„Na, wenigstens hat sie nicht völlig vergessen, dass sie noch eine Familie hat.“

Ferris brachte seine Frau mit einem Stirnrunzeln zum Schweigen. „Angenommen, Sie würden die anderen einmal für einen Augenblick vergessen“, schlug er Spencer vor, „und mir genau erklären, was hier eigentlich los ist?“

„Ich befolge nur die Wünsche Ihrer Mutter. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

„Sie wollen nicht mehr sagen. Ich …“ Ferris’ Blick wanderte von Spencer zur Auffahrt, wo sich ein kleines kompaktes Auto dem Haus näherte.

Spencer wünschte sich einen Stuhl, und er hatte Lust auf einen Gin Fizz, obwohl die Zeiten, wo ihm so etwas bekam, längst vorüber waren. „Und wer ist das?“, fragte Ferris.

Spencer beobachtete, wie sich ein großer, schlanker Mann aus dem Auto schälte. Als Phillip Benedict näher kam, bewunderte Spencer seine elegante Haltung und die starken, ebenmäßigen Züge seines Gesichts.

Ferris beantwortete sich seine Frage selbst. „Ben Townsend.“

Bis zu diesem Augenblick hatte Spencer nur den einen Mann bemerkt; jetzt wanderte sein Blick zu dem anderen. Ben war fast so groß wie Phillip und bewegte sich mit der Selbstsicherheit der Jugend.

Ferris ging einen Schritt auf sie zu. Ben schob seine Hände in die Hosentaschen und sprach als Erster. „Guten Abend, Senator Gerritsen!“

„Sie sind hier nicht willkommen!“ Ferris würdigte Phillip keines Blickes. „Und ihr Freund ebenfalls nicht.“

Spencer durchquerte die Veranda, bevor Ben etwas erwidern konnte. Spencer streckte seine Hand aus, um Phillip zu begrüßen. „Phillip.“ Dann wandte er sich an Ben und reichte ihm ebenfalls die Hand. „Ich bin Spencer St. Amant. Danke, dass Sie gekommen sind.“

„Geht das nicht zu weit?“, fragte Ferris. „Ich möchte sofort wissen, was hier gespielt wird!“

„Gut. Ich werde es Ihnen erklären“, erwiderte Phillip. Er lächelte freundlich. „Ich heiße Phillip Benedict. Ihre Mutter lud mich und Townsend ein, bei der Testamentseröffnung dabei zu sein. Und nun werden Sie uns als Nachfolger Ihrer Mutter sicher Ihre Gastfreundschaft gewähren.“

„Sie werden nie in den Genuss meiner Gastfreundschaft kommen.“

„Als der Anwalt Ihrer Mutter heiße ich Ben und Phillip in ihrem Namen willkommen.“ Spencer wandte sich von Ferris und Cappy ab, um ihnen zu signalisieren, dass die Sache erledigt war. „Ich bin auch gerade erst angekommen, aber ich weiß, dass Ihre Betten bereits fertig sind.“

Phillips Antwort wurde vom Motorengeräusch eines anderen Wagens übertönt. Ein neuer Thunderbird bog in die Einfahrt ein. Niemand sagte ein Wort, als das Auto neben Phillip anhielt und seine beiden Insassen ausstiegen. Phillip begrüßte den Mann und die Frau, die direkt auf ihn zukamen. „Hallo, Nicky!“

Nicky blieb vor ihrem Sohn stehen. Sie nickte ihm zu und warf einen vorsichtigen Blick in die Runde. „Mr St. Amant?“

Spencer lächelte und streckte die Hand aus. Nicky stellte ihren Mann vor und stockte, bevor sie sich an den Senator wandte. „Ferris, Sie hatten möglicherweise noch nicht das Vergnügen, meinen Mann kennenzulernen. Das ist Jake Reynolds.“

Weder Jake noch Ferris rührten sich. Ben sprang ein und reichte Nicky die Hand. „Ich bin Ben Townsend.“

Spencer sah der Begrüßung zu, und einen Moment lang wünschte er sich, Aurore hätte sich in ihrem Leben manchmal anders entschieden. „Ich habe den anderen gerade erklärt, dass ihre Zimmer fertig sind“, ließ er die Gäste wissen. „Und sicher ist das Dinner bereits vorbereitet, falls Sie noch nicht gegessen haben.“

„Danke, aber wir sind nur wegen der Testamentseröffnung hier. Danach fahren wir wieder“, erklärte Nicky. „Vielleicht dachte Aurore Gerritsen, eine kleine schwarz-weiße Pyjamaparty würde die Sache mit den Bürgerrechten ein wenig voranbringen. Aber es ist nicht gerade nach meinem Geschmack, die Nacht in diesem Haus zu verbringen.“

Spencer hatte mit Widerstand gerechnet. Er wandte höflichen Druck an. „Es ist viel zu spät, um an eine Rückfahrt auch nur zu denken.“

„Ich fürchte, wir sind genauso wenig daran interessiert, Senator Gerritsens Gäste zu sein, wie er daran, uns zu beherbergen.“

„Es tut mir leid, aber so einfach ist es nicht.“

„Lassen Sie sie gehen!“, befahl Ferris.

Spencer war klar gewesen, dass Höflichkeit in diesem Fall nicht ausreichen würde. Er lächelte traurig. „Ich fürchte, das ist unmöglich, Senator. Ihre Mutter hat verfügt, dass alle eine Nacht im Cottage verbringen müssen. Morgen werde ich dann alle Bedingungen nennen, die für die Testamentseröffnung vonnöten sind. Aber ich warne Sie vor: Es kann nicht schaden, Ihr Gepäck auszupacken. Wir werden vier Nächte miteinander verbringen.“

„Was wird hier gespielt?“ Ferris wirkte empört. „Sie können uns doch nicht gefangen halten! Das werde ich nicht zulassen!“

Spencer seufzte. „Ich kann Sie natürlich nicht festhalten“, stimmte er dem Senator zu. „Aber es gibt da noch etwas, was ich Ihnen sagen sollte: Diejenigen, die vor der Testamentseröffnung abreisen, werden vom Erbe ausgeschlossen.“

Dawn bekam Spencers Worte mit, als sie gerade das Cottage betrat. Dann sprach Nicky Reynolds. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir eine Frau, die ich nie kennengelernt habe, etwas Wichtiges vererben könnte.“

Die Verandatür fiel hinter Dawn ins Schloss. Sie hätte damit rechnen müssen. Ben zuckte zurück, als hätte man mit einer Waffe auf ihn gezielt.

„Mrs Reynolds, wenn meine Großmutter Sie hierher gebeten hat, dann wird es nicht zu Ihrem Schaden sein.“ Dawn versuchte, sich auf nichts anderes als Nicky und deren Ehemann zu konzentrieren, als sie auf sie zuging. Sie hatte die Stimme ihres Vaters gehört, war aber noch nicht bereit, es mit ihm aufzunehmen. Dawn hatte natürlich schon von Nicky Valentine Reynolds gehört. Diese Frau, die in einer für die Rassentrennung bekannten Stadt niemals ein nach Rassen getrenntes Publikum geduldet hatte, interessierte sie schon immer enorm.

„Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Zimmer zu zeigen“, sagte Dawn. „Es gibt ein großes Zimmer neben meinem, das Ihnen sicher gefallen wird. Sie können von dort aus auf die Bucht hinausblicken.“ Sie streckte ihre Hand nach Nicky aus. „Ich bin Dawn Gerritsen. Bitte bleiben Sie.“

Nicky hob matt die Hand. Als Dawn Jake Reynolds begrüßte, verschwand ihre Hand in seiner großen Pranke. Er war ein imposanter Mann, groß und muskulös. Er schien sich überall wohlzufühlen, sogar in dieser Situation. Er stand dicht neben seiner Frau, wie ein Bodyguard.

Dawn wandte sich ab, um auch ihre Eltern zu begrüßen. Sie hatten sich wenig verändert in den letzten Monaten. Ihre Mutter blickte in die Ferne, nur ihr Vater starrte sie an. Es war nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Sie wusste, was passieren würde, wenn sie alleine waren. Sie sagte ihm dasselbe wie Nicky. „Niemand hier wird dir schaden. Ich gebe dir mein Wort.“

„Das ist ja interessant!“, mischte sich Phillip ein. „Vor allem wenn man bedenkt, dass der Einfluss dieser Familie nicht einmal verhindern konnte, dass einer von ihnen abgeknallt wurde wie ein Hund.“

Dawn sah Phillip zum ersten Mal; er war ein Fremder für sie. „Entschuldigung, aber wir wurden uns noch nicht vorgestellt.“

„Das ist mein Sohn, Phillip Benedict“, erklärte Nicky.

Dawn kannte seinen Namen; sie hatte schon oft Artikel von ihm gelesen. Bevor sie reagieren konnte, sagte Jake: „Wir bleiben. Alle.“

Dawn bemerkte den aufkommenden Unmut in Nickys Augen. Sogar verärgert war Nicky eine atemberaubend schöne Frau; Frauen wie sie hatten im neunzehnten Jahrhundert Duelle verursacht. „Wir bleiben eine Nacht“, lenkte sie ein.

Dawn bewunderte die Art, mit der Nicky ihrem Ehemann in der Öffentlichkeit weder zugestimmt noch widersprochen hatte. Sie würden eine Nacht bleiben. Im Klartext: Ob sie länger blieben, würden sie noch miteinander besprechen.

Ben, der neben Phillip stand, bot seine Hilfe beim Koffertragen an. Die Gemeinsamkeiten der beiden Männer waren interessanter als ihre Unterschiede. Beide benahmen sich, als ob sie kostbare Fracht mit sich herumtrugen, als ob das Wissen, dass sie sich mühsam angeeignet hatten, sie meilenweit von anderen sterblichen Wesen abhob. Und obwohl Phillip sie nie zuvor gesehen hatte, schienen Ben und er im Urteil über sie und ihre Familie einer Meinung zu sein.

„Warum begleiten Sie mich nicht nach oben, während die Männer sich ums Gepäck kümmern?“, fragte sie Nicky. „Vielleicht sagt Ihnen ein anderes Zimmer mehr zu.“

Nicky war einverstanden. Als sie die Stufen emporstiegen, bemerkte Dawn, dass ihre Eltern verschwunden waren. Nur Spencer blickte ihnen hinterher. Er wirkte erschöpft.

Dawn blieb einen Moment in der Eingangshalle stehen, weil sie sich trotz der merkwürdigen Situation verpflichtet fühlte, Konversation zu machen. „Das ist ein großes Haus, obwohl es von außen nicht so aussieht. Es wurde vor über hundert Jahren erbaut. Als ich klein war, lag ich nachts oft wach und horchte auf ihre Stimmen.“

„Haben Sie etwas gehört?“

„Was würden Sie von mir halten, wenn ich Ja sagen würde?“

„Dass Sie eine blühende Fantasie haben.“

„Ich bin Fotografin. Manche Menschen glauben nicht, dass man dafür viel Fantasie braucht.“

„Manche Menschen glauben auch nicht, dass man Fantasie braucht, um anderer Leute Lieder zu singen.“

Dawn spürte einen Anflug freundschaftlicher Gefühle. Sie erklärte die Anordnung der unteren Räume und begab sich in den zweiten Stock. Ihre Mutter war verschwunden; Dawn hoffte, dass sie ihr nicht begegnen würden. Seit sie sich offen über ihren Vater hinweggesetzt hatte, erwartete sie sein Erscheinen mit noch weniger Begeisterung.

Sie führte Nicky in ein Schlafzimmer am Ende des Korridors. Es war groß und luftig und mit schlichten, antiken Pinien- und Zypressenholzmöbeln ausgestattet. Auf dem Bett aus dem neunzehnten Jahrhundert lag eine gehäkelte Spitzenüberdecke.

„Dieses Zimmer gehörte meiner Großmutter.“ Dawn ging hinein und fühlte sich sofort vom vertrauten Geruch nach Rosen und Vetiver umhüllt. Düfte, die Dawn immer mit Aurore verbinden würde. „Ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Es gibt ein extra Badezimmer.“

„Das ist das Zimmer Ihrer Großmutter?“

„Es gehört zu den größeren Zimmern des Hauses, und es war ihr Lieblingszimmer, weil man von hier aus eine herrliche Aussicht hat.“ Sie öffnete die Fenster des französischen Balkons. Frische Luft drang in das Zimmer und vermischte sich mit den vorherrschenden Düften.

„Warum geben Sie mir dieses Zimmer?“

Dawn sah ihr ins Gesicht. „Warum nicht?“

„Sie kennen die Antwort.“

Nicky hatte recht: Dawn war die Tochter von Ferris Lee Gerritsen, der dafür bekannt war, die Bürgerrechte abzulehnen. „Ich hoffe, Sie verwenden Vaters Vorurteile nicht gegen mich. Ich bin nicht wie er.“

„Sie sind überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte.“

„Sie dafür umso mehr.“ Als Fotojournalistin hatte Dawn gelernt, Gesichter einschätzen zu können. Nicky gehörte zu den seltenen Frauen, die im wirklichen Leben genauso schön waren wie auf Fotos. Nicky war mindestens so alt wie Dawns Eltern, aber das Alter schien ihre Vorzüge nur noch hervorzuheben. Dawn ertappte sich dabei, wie sie sie anstarrte. „Sie waren Grandmères Lieblingssängerin. Ich bin mit ihrer Stimme aufgewachsen. Zuerst hörten wir Singles, dann Langspielplatten, und Ihr Foto lächelte von der Hülle.“

„Ich kenne Ihre Großmutter überhaupt nicht.“

„Ich glaube, Sie hätten sie gemocht.“

Nicky strich mit der Hand über die Spitzendecke, aber sie antwortete nicht. Als Dawn Schritte hörte, wurde ihr bewusst, dass der private Augenblick zu Ende war. „Wir sind in einer ungewöhnlichen Situation, Mrs Reynolds. Bitte sagen Sie mir, falls ich etwas tun kann, um Ihnen den Aufenthalt angenehmer zu gestalten.“

„Die Situation wird sich nicht ändern, egal, was wir tun.“

„Sie haben Pelichere Landry noch nicht kennengelernt. Sie war eine Freundin von Grandmère und kümmert sich um das Cottage, wenn niemand da ist. Sie hat etwas zu essen vorbereitet. Wenn Sie fertig sind, wird sie Ihnen alles zeigen.“

Dawn trat beiseite, als Jake und Phillip in das Zimmer kamen. Ben blieb mit einem Koffer vor dem Zimmer stehen. Sie ging wortlos an ihm vorbei.

„Ihr habt euch also entschlossen hierherzukommen.“ Phillip küsste seine Mutter auf die Stirn. Dafür musste er sich nicht weit hinunterbeugen. Sie war nur einen halben Kopf kleiner als er.

„Ich weiß nicht, weshalb ich das tue.“ Nicky schubste ihn von sich weg, bevor er reagieren konnte. Phillip und sie hatten immer und immer wieder über diese Einladung nach Grand Isle diskutiert. Sie hatte es rundweg abgelehnt, ihr zu folgen, aber irgendwie war sie nun doch hier gelandet. „Und gib dir keine Mühe, mir zu erzählen, du wüsstest nicht, weshalb ich eingeladen wurde. Du warst noch nie ein guter Lügner. Du weißt eine ganze Menge mehr, als du zugibst.“

„Hast du schon zu Abend gegessen?“, fragte Jake Phillip.

„Es gibt hier offenbar nicht viele Möglichkeiten, mit einem vollen Magen und einem intakten Oberkiefer davonzukommen.“

Jake lachte, aber die beiden Männer wussten, dass sich hinter Phillips schwarzem Humor eine Menge Wahrheit verbarg.

„Dawn hat mir erzählt, dass in der Küche jemand mit dem Essen auf uns wartet“, sagte Nicky.

Jake stellte den Koffer ab. „Hoffentlich meinte sie nicht, dass wir in der Küche essen sollen, während die Weißen im Esszimmer dinieren?“

„Nein, ich glaube nicht, dass sie es so gemeint hat. Sie versucht, uns das Gefühl zu geben, willkommen zu sein.“

„Wenn Dawn so ist wie ihr Vater“, sagte Phillip, „dann kann sie dir die größten Lügen mit ungeheurem Charme auftischen, ohne dass du es merkst.“

„Willst du, dass ich uns etwas aus der Küche hole?“, fragte Jake seine Frau.

Phillip zuckte die Achseln. „Du musst uns nicht alleine lassen, Jake.“

„Ich glaube, ich gehe trotzdem.“

Nicky sah ihrem Mann hinterher. „Ich finde, es ist Zeit, dass du mir einiges erklärst.“

Phillip wanderte im Zimmer umher. „Du gehörst zu den wenigen Menschen, die wissen, dass Aurore Gerritsen mich engagiert hatte, um ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben.“

„Wissen heißt nicht verstehen.“

„Hast du dich je gefragt, was und wie viel sie mir aus ihrem Leben erzählt hat?“

Nicky schwieg.

Phillip schaute sie an. „Sie hat nichts ausgelassen.“

„Woher willst du das wissen?“ Nicky ging zu den Fenstern des französischen Balkons und beobachtete, wie sich die Äste der Wassereichen im Wind bogen.

Phillip folgte ihr und legte ihr eine Hand auf den Arm. Seine braune Haut hob sich von ihrer helleren Haut ab. „Ich habe erfahren, dass der Mann, den ich in Marokko Hap nannte, in Wirklichkeit Hugh Gerritsen war.“

Nicky erstarrte und schüttelte Phillips Hand ab. „Deshalb sind wir hier? Weil wir vor langer Zeit Aurore Gerritsens Sohn kannten?“

„Ich glaube, es hat teilweise damit zu tun.“

Endlich sah sie ihn an. „Und was noch?“, fragte sie.

„Ich kann nicht für Aurore sprechen, noch nicht, aber vielleicht für dich. Ich glaube, du bist gekommen, um Antworten auf die Fragen zu finden, die du dir seit Langem stellst – Fragen, die du bald mit Jake besprechen musst. Ich glaube nämlich nicht, dass wir hier unsere Geheimnisse für uns behalten können.“

„Du bist doch derjenige, der andauernd Fragen stellt“, erwiderte Nicky. „Deshalb verdienst du jetzt auch dein Geld damit. Du stocherst so lange herum, bis du den Dingen auf den Grund kommst.“

„Und meistens klappt es.“

„Glaubst du, das wird auch hier der Fall sein?“

„Ich denke, da können wir sicher sein.“

Sie fragte sich, was Phillip wirklich über ihr Verhältnis zu Hugh Gerritsen wusste. Wie viel Aurore ihm tatsächlich darüber erzählt hatte. Woran er sich noch erinnerte. Phillip war damals noch ein kleiner Junge gewesen, aber sein Erinnerungsvermögen war immer schon phänomenal.

Er nickte, als ob er in ihren Gedanken lesen konnte. „Du weißt, wie man vorsichtig ist, oder?“, fragte er.

„Vorsichtig? Womit? Mit der Wahrheit? Dem Senator?“

„Beginnen wir mal mit dem Senator.“

„Ach, tauschen wir nun die Rollen? Als du klein warst, habe ich dich davor gewarnt, über die Straße zu laufen, und jetzt warnst du mich alte Frau vor Geistern und Fanatikern?“

„So in etwa, bis auf die Sache mit der alten Frau.“

„Ich kann schon selbst auf mich aufpassen. Deshalb wäre ich beinahe nicht hierhergekommen. Aber du solltest dich auch in Acht nehmen.“

„Ich hab die Vorsicht mit der Muttermilch aufgesogen. Nur deshalb bin ich noch am Leben.“

Jake erschien mit einem Tablett. „Ich konnte nur zwei Teller transportieren, Phillip, aber es gibt noch jede Menge davon in der Küche, und du kannst gerne wieder hochkommen, um mit uns zu essen.“

„Ich glaube, ich werde mich erst einmal etwas einleben.“

Schweigsam folgte Nicky ihrem Sohn zur Tür. Beide waren erleichtert, aber gleichzeitig auch traurig darüber, dass ihre Unterhaltung schon vorbei war. Sie hatten zu viele Dinge angesprochen, aber trotzdem nicht genug. Nicky war zu ungehalten, um sich noch weiter Gedanken darüber zu machen.

Jake kam näher. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Es geht mir gut.“ Sie wartete, bis er das Tablett abstellte und flüchtete in seine Arme. In der Ferne donnerte es. „Wir können immer noch abreisen, Jake.“

Er drückte sie an sich. „Willst du damit sagen, du hast Angst? Dass du nicht gut genug bist, um es mit den Gerritsens aufzunehmen und herauszufinden, was hier los ist?“

Sie fürchtete eigentlich eher, dass sie zu gut wusste, was los war. „Es ist mir egal, was die anderen von mir halten.“

„Und du würdest es deinen Sohn alleine mit ihnen aufnehmen lassen?“

„Immerhin riecht wenigstens das Essen gut.“

„Außerdem sind hier ein paar Menschen, die es wert sind, dass man sie kennenlernt.“ Nicky dachte an Dawn und die Dinge, die Phillip über sie gesagt hatte. Sie fragte sich, ob Dawn wusste, wie sehr sie dem jungen Hugh Gerritsen ähnelte.

„Wollen wir essen?“

Jake bewegte sich in Richtung Bett und wirkte nicht, als ob er es eilig hätte, ans Tablett heranzukommen. Er strich mit der Hand über die Spitzenüberdecke. „Ich glaube, wir sollten uns erst einmal ausruhen.“

Ausruhen trifft nicht ganz das, was du im Kopf hast, oder?“

Er lächelte selbstsicher. „Ich dachte, dass wir uns einen Ausgleich verdient haben, wenn wir schon hier sein müssen.“

Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass sie die Sache ohne ihn niemals durchstehen würde, egal, wie wichtig ihre Anwesenheit im Cottage war. Aber dann entschied sie sich dagegen, streckte ihre Arme nach ihm aus und ließ es ihn auf eine andere, ihr ganz eigene Art spüren.

3. KAPITEL

C appy warf nur einen Blick ins Schlafzimmer, in dem sie und Ferris Gerritsen immer wohnten, und schon brach es aus ihr heraus: „Ich habe gleich gesagt, dass wir nicht hätten herkommen sollen!“

Ferris zuckte nicht mit der Wimper. Er verlor auch kein Wort darüber, dass sie während der zweieinhalbstündigen Autofahrt von New Orleans keinen Ton gesagt hatte. Cappy schwankte regelmäßig zwischen Totenstille oder leidenschaftlichen Ausbrüchen. Nach mehr als zwanzig Ehejahren regte ihn weder das eine noch das andere sonderlich auf.

Er zündete sich eine Zigarette an und beobachtete, wie der Rauch spiralförmig zur Decke aufstieg, wo ihn ein Ventilator verteilte. Eines der wenigen Dinge, die Cappy und seine Mutter gemeinsam hatten, war ihre Abneigung gegen Klimaanlagen. Jedes Frühjahr bis Mitte Juni nahmen Hitze und Feuchtigkeit sein Haus in New Orleans in Geiselhaft. Im Cottage war es dank seiner Mutter den ganzen Sommer über unerträglich.

„Sieh mich nicht so an! Dir geht es doch offenbar genauso.“ Cappy biss sich auf die Unterlippe – eine Geste, die bei einer Abiturientin hinreißend provokativ gewirkt hätte, bei einer Siebenundvierzigjährigen jedoch jegliche Wirkung verfehlte. Ferris drückte die Zigarette in einem Blumentopf aus und zündete eine neue an. „Ich bin aus Respekt vor meiner Mutter hier.“

„Ach, so nennst du das? Wir sind den ganzen weiten Weg hierher gefahren, damit du dich mit diesen Leuten auseinandersetzt?“

Als Ferris nicht einmal versuchte, sie zu trösten, begann Cappy, mit den Muscheln zu spielen, die aufgereiht auf dem oberen Regal der Kommode lagen. „Du siehst sicher auch keinen Sinn in dieser Geschichte. Ist es nicht schlimm genug, dass deine Mutter auf eine Einäscherung bestand? Alle hatten von der Familie ein Datum für die Beerdigung erwartet und jetzt so etwas. Wenn sich das herumspricht, werden unsere Freunde denken, dass deine Mutter uns immer noch an der Nase herumführt.“

„Ich bezweifle, dass sie so einfühlsam sein werden.“

Sie sortierte die Muscheln nach der Größe. „Dawn hat nicht einmal angerufen! Ich habe Telegramme an alle Welt geschickt, um sie darüber zu informieren, dass deine Mutter gestorben ist, und sie hat nicht einmal angerufen. Bevor ich sie eben gesehen habe, wusste ich nicht einmal, ob sie meine Nachricht bekommen hat.“

Ferris hatte Verständnis für Cappys kleinen Wutanfall. Trotzdem ließ er sich, während er selbst versuchte, einen Sinn im letzten Wunsch seiner Mutter zu erkennen, zu einem Lippenbekenntnis hinreißen. „Dawn hat schon vor einiger Zeit klargestellt, dass sie tut, was sie will.“

„Es ist lächerlich! Ich möchte nicht hierbleiben, keine einzige Nacht! Das kann keinen Einfluss auf dein Erbe haben!“

„Spencer St. Amant mag so alt sein, wie er will, aber er ist dennoch ein ernst zu nehmender Gegner. Er hat schon oft getan, was er wollte, und er ist immer damit durchgekommen. Ich bin sicher, dass Mutter ihn auch aus diesem Grund mit diesem Spektakel beauftragt hat.“

Cappy rückte eine große Muschel in die Mitte und trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. „Ich kenne das Gesetz. Deiner Mutter bleibt gar nichts anderes übrig, als dir ein Drittel ihres Vermögens zu hinterlassen.“

„Wollen wir ein Drittel oder wollen wir alles? Wir müssen auch unser Interesse an der Reederei berücksichtigen.“

Er beobachtete Cappys Reaktion auf seine Worte. Sie rührte sich nicht. Gulf Coast Shipping war das Kronjuwel der Familie Gerritsen, ein milliardenschweres Finanzimperium, Synonym für den Hafen von New Orleans und den gesamten Schiffsverkehr auf dem Mississippi. Cappy stammte selbst aus einer sehr wohlhabenden Familie, aber erst Ferris’ Verbindung zu Gulf Coast hatte ihr die gewünschte gesellschaftliche Machtposition in New Orleans verschafft.

Ferris schätzte ihren Ehrgeiz sehr. Cappy war ein Gewinn für ihn, das hatte er schon vor langer Zeit bemerkt. Wenn sie wollte, konnte sie einen unwiderstehlichen Charme entfalten und ihn nutzbringend zur Unterstützung seiner politischen Aktivitäten einbringen. Cappy hätte die Südstaatenversion von Jackie Kennedy sein können.

Er gab ihr einen Moment zum Nachdenken, bevor er fortfuhr: „Ich werde mit Spencer sprechen und darauf bestehen, dass wir das hier möglichst schnell hinter uns bringen. Falls er nicht damit einverstanden ist, dann können wir immer noch in die Stadt zurückfahren. Aber wenn wir fahren, werden wir natürlich nie genau erfahren, was hier vor sich geht.“

„Du willst nichts verpassen?“

Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange. „Das heißt also, du bleibst?“

„Wie immer zählt meine Meinung nur begrenzt.“

„Komm, pack die Sachen aus! Ich sehe mal nach, ob ich etwas herausbekommen kann.“

An der Tür blickte Ferris noch einmal zurück. Cappy lehnte an der Kommode und arrangierte die Muscheln neu. Der Raum war schlicht, gemütlich und etwas altmodisch, wie es für Sommerhäuser typisch war. Gleichzeitig umgab ein Hauch von altem Geld und Tradition dieses und auch alle anderen Zimmer des Zwölf-Zimmer-Hauses. Und es gab nichts, das nicht an die Familie erinnerte, die nun für immer verschwunden war.

Ferris hatte jeden Sommer seiner Kindheit hier verbracht. Er hoffte, dass dies der letzte Sommer war, in dem er das alles wiedersehen musste.

Dawn packte ihre Reisetasche aus. Sie hatte nicht viel dabei. Schließlich, als ihre Erinnerungen übermächtig wurden, wanderte sie im Schlafzimmer umher. Manche Dinge hatten sich in all den Jahren nicht verändert. Im Schrank hingen immer noch Kleider, die sie als Teenager getragen hatte. Ein pinkfarbener Badeanzug, Flipflops und ein gebügelter Rock lagen in der unteren Schublade der Kommode aus Pinienholz. Der Ausblick aus dem Fenster war derselbe. Sie blieb stehen und sah hinaus in den grauen Nieselregen und die Bucht. Die aufgewühlte See glich ihrem eigenen Gemütszustand.

Sie wandte sich um, als es an der Tür klopfte. „Herein.“

Drei Männer hatten sie zu der Frau gemacht, die sie heute war. Ben war Nummer drei, ihr Onkel Hugh Nummer zwei. Der Mann, der in ihrem Zimmer erschien, war der erste und vermutlich wichtigste Mann in ihrem Leben.

Sie begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. „Daddy.“

Ferris lächelte. „Du musst meine Tochter sein. Kein Mensch nennt mich sonst Daddy.“

Ihr Lächeln verschwand. „Wenn du so weitermachst, wäre es mir lieber, ich wäre nie hierhergekommen.“

„Du hättest deine Mutter anrufen sollen, Liebes.“

„Das weiß ich.“ Sie durchquerte das Zimmer und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Begrüßungskuss zu geben. „Ich brauchte nach Grandmères Tod einfach ein bisschen Zeit für mich alleine.“

„Das ist eins deiner Probleme: Du denkst einfach zu viel.“

Dawn trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Wir leben in den Sixties. Frauen dürfen selbst denken. Du solltest dich ab und zu daran erinnern, wenn du der nächste Gouverneur werden willst.“

„Du liest also auch? Wie schätzt du meine Chancen ein?“

Dawn glaubte, dass seine Chancen gut standen, aber sie hielt es für eine schlechte Idee, ihm das zu sagen. Der Staat Louisiana würde vielleicht von Ferris Gerritsen im Gouverneurshaus profitieren – aber noch viel mehr von einem liberalen Politiker.

„Ich denke, du solltest jetzt besser zu deiner Mutter gehen und es hinter dich bringen. Sie ist stinksauer auf dich, weil du dich nicht bei ihr gemeldet hast.“

Sie zögerte diesen Augenblick hinaus, weil sie nur zu gut wusste, was auf sie zukam. „Daddy, weißt du, was hier los ist?“

„Nein, aber ich habe vor, es herauszufinden. Ich glaube nicht, dass deine Großmutter wirklich Nicky Reynolds und ihre Familie eingeladen hat.“

Dawn wollte nicht über dieses Thema sprechen. Noch nicht. „Weißt du, weshalb Ben Townsend eingeladen wurde?“

Der Gesichtsausdruck ihres Vaters veränderte sich nicht, aber seine Gedanken waren unschwer zu erraten. „Nein. Seid ihr beide …“

Sie hob die Hand. „Ich habe ihn seit … einem Jahr nicht mehr gesehen.“

„Deine Großmutter hatte offensichtlich einen merkwürdigen Sinn für Humor, den ich nicht mit ihr teile.“

Dawn betrachtete ihren Vater etwas genauer. „Wärm bloß nicht die alten Sachen auf, nur um eine Rechnung mit Ben zu begleichen.“

Sein Gesichtsausdruck wirkte immer noch freundlich. Seine Stimme nicht. „Ben Townsend gehört nicht in dieses Haus und er gehört nicht zu dir.“

Das war unzweifelhaft wahr, aber sie gönnte ihrem Vater die Genugtuung nicht. „Das ist vorbei.“

„Es hätte niemals anfangen dürfen.“

„Wenn wir die Vergangenheit verändern könnten, dann gäbe es da vermutlich noch mehr entscheidende Fehler, über die wir uns Gedanken machen müssten, oder?“

Seine Antwort wurde von einem Geräusch im Treppenhaus unterbrochen. Dawn sah ihre Mutter auf sich zukommen. Nun kam zu den gemischten Gefühlen, die Dawn in den letzten Stunden empfunden hatte, auch noch Schuld dazu.

„Mutter.“

Cappy Gerritsen blieb in majestätischer Haltung auf dem oberen Treppenabsatz stehen. Dawn stellte sich vor, wie die junge Cappy mit einem dicken Wälzer auf dem Kopf durch das große Haus ihrer Familie geschwebt war.

Cappys fester Körper war immer noch graziös geformt und weder das Alter noch zusätzliche zehn Kilo hatten ihrer Schönheit etwas anhaben können. In ihrem hellen, goldenen Haar zeigte sich noch keine Spur von Grau. Bis auf zwei feine Fältchen zwischen den perfekt geschwungenen Augenbrauen wies nichts auf ihre grundsätzliche Unzufriedenheit mit dem Leben hin.

„Schimpf nicht mit Dawn, Cappy!“, bat Ferris seine Frau. „Freu dich darüber, dass sie nach Hause gekommen ist.“

Dawn ging zur Treppe, aber ihre Mutter ließ sich nicht umarmen. „Du siehst wundervoll aus“, sagte Dawn. „Daddys Karrierepläne scheinen dir gutzutun.“

Cappy versuchte nicht einmal, höflich zu bleiben. „Du hättest anrufen können.“

„Ich weiß.“

„Deine Großmutter stirbt, und du bist nicht einmal in der Lage, deinen Vater oder mich anrufen, um uns zu sagen, dass es dir leidtut?“

„Cappy!“, kam Ferris seiner Tochter zu Hilfe. „Dawn und ich haben bereits darüber gesprochen.“

Dawn brachte ein Lächeln zustande. „Ich fasse zusammen: Ich bin eine Katastrophe als Tochter. Okay? Können wir uns nun bitte über etwas anderes unterhalten?“

„Du warst ein Jahr lang wie vom Erdboden verschluckt! Du hast nicht angerufen. Du hast nicht geschrieben. Du hast uns nicht besucht. Was sind wir für dich?“

Dawns Lächeln erstarb. „Du bist die leibhaftige Erinnerung daran, warum ich all diese Dinge unterlassen habe.“

„Deine Großmutter kann dich ja jetzt nicht mehr daran erinnern“, konterte Cappy sarkastisch. „Wo warst du, als sie dich gebraucht hätte?“

„Du weißt genau, wo ich war. Ich war in England.“ Dawn versuchte, ruhig zu bleiben. „Ich habe versucht, herauszufinden, ob es irgendwo auf dieser Welt einen Platz gibt, wo ich noch etwas anderes bin als nur ein Mitglied dieser Familie.“

„Du musst kein Teil dieser Familie sein!“

Ferris stellte sich zwischen sie. „Ich werde mir das nicht länger mit anhören!“ Er wandte sich an Dawn. „Hier ist genug los, ohne dass ihr euch gegenseitig an die Gurgel geht.“

Dawn schüttelte verwundert den Kopf. „Mein Gott, ich bin wieder ein Kind.“

„Ihr seid beide müde“, sagte Ferris beruhigend. „Das ist eine schwierige Zeit. Wartet lieber, bis ihr ausgeruht seid, bevor ihr miteinander sprecht.“

„Pelichere hat Drinks für uns vorbereitet.“ Cappy trat den Rückzug an.

Dawn ließ Ferris’ Umarmung über sich ergehen, ohne sie zu erwidern. „Ich komme gleich nach unten“, nickte sie. „Ich will mir nur erst die Haare kämmen.“ Sie wartete, bis er gegangen war, bevor sie sich wieder ans Fenster stellte. Vor einem Jahr war sie auf einen anderen Kontinent gereist, um ihren Gefühlen zu entkommen, aber jetzt wusste sie, dass es nichts gebracht hatte. Das Kind, das seine Sommer hier verbracht hatte, steckte immer noch in ihr. Der Teenager, der sich nach der Liebe seiner Eltern gesehnt hatte, auch. Und die junge Frau, die Ben Townsend ihren Körper und ihre Seele geschenkt hatte, bat immer noch um Verständnis und Vergebung.

Im fahlen Mondlicht wischte Pelichere die Veranda so lange, bis kein Sandkörnchen mehr zwischen den verwitterten Bodendielen zu sehen war. Dawn hatte ihr angeboten, die Arbeit für sie zu übernehmen, aber Pelichere hatte abgelehnt.

„Ich bezweifle, dass jemand bemerkt, welch einen großartigen Job ich da mache“, sagte sie. „Aber deine Mutter würde sofort bemerken, wenn es mal anders wäre. Mais oui! Sie würde es bemerken – so wie die Wasserflecken an der Decke ihres Schlafzimmers letzte Woche, als die Dachziegel weggeflogen waren.“

Dawn hatte keine Lust, nach drinnen zu gehen. Nach einem schier endlos erscheinenden Abend war es endlich still im Haus, weil alle in ihre Zimmer geflüchtet waren. Dawn hoffte, dass sie alle dortbleiben würden, vor allem ihre Eltern. „Hat sie dir Schwierigkeiten gemacht?“

„Wie hätte ich ahnen sollen, dass der Sturm die Ziegel wegblasen würde, die seit Jahrhunderten unbeweglich dalagen? Soll ich mit fünfundsiebzig aufs Dach klettern, um die Dachziegel zu kontrollieren, wenn’s regnet? Dann wäre ich öfter oben als unten. Vielleicht sollten deine Eltern jetzt, wo deine Großmutter tot ist, ihren Wohnsitz ganz nach Grand Isle verlegen. Welche Schindel würde schon weggeblasen werden, wenn Senator und Mrs Ferris Lee hier lebten?“

„Wird das Haus nach der Testamentseröffnung nicht dir gehören? Ich dachte, Grandmère wollte dir das Haus vermachen.“

„Das hat sie gesagt, ja. Aber noch viel mehr hat sie nicht gesagt.“

Ein schriller Pfiff ertönte. Pelichere wandte sich um und winkte, als ein Pick-up den Oakland Drive hinaufkam. „Das sind Joe und Izzy Means. Erinnerst du dich an sie, Chérie?

„Wenig.“

Joe und Izzy stiegen aus, und Joe ging zum hinteren Teil des Wagens, während Izzy ein großes Bündel den Pfad zum Haus hinaufschleppte. „Ich hab gekocht“, rief Izzy, noch bevor sie die Stufen der Veranda erreicht hatte, „und gekocht und gekocht und gekocht. Es ist nicht richtig, dass du die nächsten vier Tage kochen sollst. Du hast Gäste.“

Dawn war sicher, dass Izzy wusste, dass die sogenannten Gäste nicht Pelicheres Gäste waren. Sie vermutete darin auch den wahren Grund für Izzys Besuch. Im Süden Louisianas gehörte es zu den bevorzugten Abendvergnügungen, sich die Zeit mit seinen Nachbarn zu vertreiben.

Pelichere stellte Dawn vor, und Dawn beugte sich vor, um sich einen herzlichen Kuss von Izzy abzuholen. Dann betrachtete sie Joe, der mit Taschen beladen hinter seiner Frau den Weg hinaufgekommen war.

„Was hast du gemacht, Izzy? Die ganze Bucht trockengelegt und alles gekocht, was auf dem Meeresgrund herumwimmelte?“ Pelichere schimpfte mit ihrer Freundin, während Joe mehrfach zwischen Cottage und Pick-up hin- und herlief. Als er fertig war, ging er zum Wasser hinunter, um, wie er erklärte, nachzusehen, was die Fischer gefangen hatten.

„Pelichere, du bleibst hier mit Izzy sitzen“, entschied Dawn. „Ich bringe euch beiden einen Kaffee.“

Pelichere widersprach, aber Dawn ignorierte sie einfach. Sie kehrte mit Tassen und einer Kanne Kaffee zurück, die Pelichere in der Küche vorbereitet hatte. Der Kaffee war heiß, stark und schwarz wie die Nacht, so wie Pelichere und Izzy ihn am liebsten mochten. Stark gerösteter Kaffee gehörte zu der Gegend wie Fischernetze und Möwen.

„Jetzt erzähl mal, Peli!“ Izzy rührte drei Löffel Zucker in ihren Kaffee. „Wie stehen die Aktien?“

Dawn ließ sie alleine und begutachtete den Inhalt der Taschen, die Joe mitgebracht hatte: literweise Gumbo, den für die Südstaaten so typischen Eintopf mit Krabben und Okraschoten, und jede Menge Jambalaya, das traditionelle Reisgericht der Cajun-Küche mit Würstchen und grünem Pfeffer. Außerdem gab es mehrere Kilo würzige Shrimps und gekochte Flusskrebse, frisch gefangenen Rotbarsch, der auf Pelicheres Spezialbehandlung wartete, und fast zwei Kilo frische Austern.

„Gute Nachrichten, Grandmère“, kicherte sie, als sie alles im Kühlschrank verstaut hatte. „Bei deiner kleinen Party herrscht zwar ziemlich dicke Luft, aber die Verpflegung ist königlich.“

Hinter ihr ertönte eine Stimme. „Fehlt noch was?“

Dawn wusste, auch ohne sich umzudrehen, dass es Ben war. „Du hast immer noch großen Appetit, stimmt’s?“ Sie verschanzte sich hinter der Kühlschranktür, holte die gekochten Shrimps heraus und reichte sie ihm nach hinten. „Cocktailsoße?“

„Bitte.“

Sie öffnete ein Glas und schnüffelte daran. „Pelis selbst gemachte Remoulade. Du kannst dich glücklich schätzen.“ Sie richtete sich auf und sah ihn an. „Die sollte eigentlich für morgen und übermorgen reichen. Peli hatte das Essen heute Abend über eine Stunde lang warm gehalten. Hat dir niemand Bescheid gesagt?“

Autor