Heimliches Feuer, wilde Leidenschaft

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Ertappt! Miss Mercy Kittinger schlägt das Herz bis zum Hals. Heimlich hat sie sich in das Arbeitszimmer des berüchtigten Spielhöllenbesitzers Silas Masters geschlichen, um dort nach den Unterlagen zu suchen, die bestätigen, dass er ihr Elternhaus beim Kartenspiel gewonnen hat. Doch nun steht der gut aussehende Schurke vor ihr, und Mercy bleibt nur die Flucht nach vorne: Die einzige Ausrede, die ein Mann wie er wohl glauben würde, ist, dass sie gekommen ist, um ihn zu verführen! Mit Feuereifer macht sich Mercy ans Werk und genießt die spontane leidenschaftliche Begegnung. Schließlich ist sie ganz sicher, dass sie Silas niemals wieder begegnen wird …


  • Erscheinungstag 25.01.2025
  • Bandnummer 170
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532150
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sophie Jordan

Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt mit ihrer Familie in Houston, und wenn sie sich nicht gerade die Finger wund tippt bei einem weiteren Schreibmarathon, sieht sie sich gerne Krimis und Reality-Shows an.

1. KAPITEL

Dieses verfluchte Korsett würde sie noch umbringen.

Mercy Kittinger zerrte an den unangenehmen Korsettstäbchen und versuchte, dasjenige, das sich ihr in die Rippen grub, zurechtzurücken. Die Modistin, die sie bei ihrer Ankunft in der Stadt aufgesucht hatte, bestand darauf, dass das Korsett ihr wie angegossen passte und dass es ihrer Figur einem Wunder gleich guttat.

Mercy interessierte sich eigentlich nicht für Mode. Sie war an die Bequemlichkeit ihrer eigenen bescheidenen Kleidung gewöhnt. Sie lebte auf einer Farm. Sie machte sich nie Gedanken über ihre Figur. Das tat auch sonst niemand. Ihre Tage drehten sich um den reibungslosen Ablauf der zu verrichtenden Arbeit, darum, sich um ihre Schwester, das Haus und die Tiere zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es allen gut ging und niemand hungerte. Das war ihr Leben, und es gefiel ihr sehr gut.

Und bis letzte Woche war auch alles seinen Gang gegangen.

Dann war ihr Bruder nach Hause gekommen. Ihr nervtötender, verschwenderischer Bruder. Ihr Zwilling.

Dabei war es keineswegs so, dass sie deshalb besonders nachsichtig mit ihm gewesen wäre. Und jetzt war sie hier und tat, was sie immer tat.

Bedes Schlamassel aufräumen.

Mercy bezahlte ihr Fahrgeld durch die Luke an den Kutscher und stieg aus der Droschke aus. Mit gestrafften Schultern wandte sie sich um und fröstelte in der Nacht – ein Frösteln, das nichts mit Kälte zu tun hatte. Ganz im Gegenteil. Es war ein angenehmer Abend. Nur die Aufgabe, die vor ihr lag, war unangenehm.

Sie raffte ihre Seidenröcke, als sie die Stufen zu dem imposanten Backsteingebäude erklomm, das heute Abend ihr Ziel war. Es war eines der schöneren Häuser in der heruntergekommenen Gegend. Es war hell erleuchtet, aber dennoch nicht anheimelnd. Das dreistöckige Haus war kein Zuhause. Es war eine der berüchtigtsten Spielhöllen Londons, in der ihr törichter Bruder alles verloren hatte. Sie vermutete, dass sehr viele törichte Männer bereits an diesem Ort ihr Vermögen verloren hatten. Aber da das Vermögen ihres Bruders auch ihr Vermögen war, war sie fest entschlossen, es zurückzuholen.

Sie nickte, als wollte sie sich Mut zusprechen, und betrat das Gebäude.

Es war viel los. Sie war nicht die Einzige, die durch die Eingangstür trat. Und sie war auch nicht die einzige Frau unter dem Dach des Gebäudes. Es waren mehrere Damen anwesend, die alle ähnlich gekleidet waren wie sie selbst.

Wie sie gehofft hatte, erregte sie in ihrem skandalösen Kleid nicht übermäßig viel Aufmerksamkeit. Sie war nur ein weiterer Gast. Eine weitere Person, die sich ins Getümmel mischte.

Als Mercy die Modistin aufgesucht hatte, hatte sie sich ein Kleid gewünscht, das zu einer Frau mit lockerer Moral passte. Es hatte wehgetan, sich von den Münzen zu trennen, aber ihr war keine Wahl geblieben. Sie hatte eine Rolle zu spielen und wusste, dass es jetzt ums Ganze ging und dass sie das Spiel nicht verlieren durfte. Zu viel hing davon ab.

Die Modistin hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als sie die Bitte äußerte. Sie hatte nur genickt und ihr ein überaus sündiges Kleidungsstück in die Hand gedrückt. Das Kleid hob Mercys Brüste auf skandalöse Art und Weise hervor, die Brusthöfe ragten fast über den Rand der steifen schwarzen Spitze hinaus: „Magnifique!“, hatte die Frau zufrieden gerufen.

Noch unanständiger als die Vorderseite des Kleides war vielleicht das Fehlen von Ärmeln. Die Luft auf ihren nackten Schultern und Armen zu spüren, fühlte sich verrucht und vollkommen ungewohnt an, als sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Es war, als ob sie gar nicht richtig angezogen wäre.

Sie fühlte sich praktisch nackt.

Eine Sache war sicher. Frauen mit lockerer Moral machten sich nichts aus bequemer Kleidung.

Mercy wünschte, sie hätte ihre wenig reizvolle Mission bereits erfüllt und könnte in ihr gewohntes Leben zurückkehren.

Sie nahm ihre Umgebung in Augenschein. Nachdem sie aus dem Dunkel der Nacht gekommen war, brauchten ihre Augen nicht lange, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen, in das die Räumlichkeiten der Spielhölle getaucht waren; die Laternen auf den Tischen und die Wandlampen brannten nur schwach.

Dutzende von Tischen standen in dem Hauptraum, der als Ballsaal hätte dienen können, wäre dies ein traditionelles Haus gewesen. Aber die Szenerie, die sich vor ihr ausbreitete, hatte nichts Traditionelles an sich.

An den Tischen wurden Kartenspiele gespielt. Die Spieler waren von unterschiedlichem Alter und Geschlecht. Einige der Spieler wirkten angespannt, andere locker und fröhlich, viele waren schon ganz rotgesichtig vom Alkoholgenuss. Die livrierten Kellner eilten durch die Räume, bedienten flink und füllten die Gläser bis zum Rand. Auf einem kleinen Podest an einem Ende saß ein Streichquartett.

Nachdenklich fragte sich Mercy, wo ihr Bruder gesessen hatte, als er hier gewesen war. An welchem Tisch hatte er gesessen, während er ihr Leben verspielte?

War der Mann, dem die Ländereien ihrer Familie jetzt gehörten, auch heute Abend hier? Saß er an einem dieser Tische und knöpfte einer anderen unglücklichen Seele den Lebensunterhalt so einfach ab, wie es ihm bei ihrem Bruder gelungen war?

Ihr war klar, dass es nicht schwer gewesen war. Sie wusste das, weil sie ihren Bruder kannte. Viele Abende hatte sie mit Bede nach dem Essen Whist gespielt. Immer hatte sie gewonnen. Sie hatte gewonnen, obwohl sie keine besondere Ahnung vom Kartenspiel hatte. Sie hatte immer nur mit der Familie oder, seltener, mit Imogen gespielt. Warum hatte der Narr geglaubt, er könnte gegen die erfahrenen Spieler einer Spielhölle gewinnen? Noch dazu, wenn es sich um den Besitzer dieser Spielhölle handelte? Sie mochte die beste Kartenspielerin in ihrer Familie sein, aber sie gab sich nicht der Illusion hin, hier hereinspazieren und sich gegen diese mit allen Wassern gewaschenen routinierten Spieler behaupten zu können.

Sie würde ihr Haus und ihr Land zurückerobern, aber nicht, indem sie Karten spielte.

Nein, sie hatte etwas anderes im Sinn.

Mercy streckte eine Hand aus und berührte den Arm einer Frau, die gerade an einem Tisch Champagner den Gästen nachschenkte.

„Entschuldigen Sie bitte, ist Mr. Masters heute Abend im Haus?“

Die Kellnerin musterte sie von Kopf bis Fuß und nickte langsam. „Er ist fast jeden Abend hier“, antwortete sie, als wäre das eine allgemein bekannte Information. „Und auch tagsüber. Er wohnt oben im Haus.“

Diese Information stimmte mit dem überein, was sie über Silas Masters hatte in Erfahrung bringen können. Er hatte keine andere Adresse. Dieser Ort war sein einziger Wohnsitz. Er arbeitete und wohnte hier.

Mercy nickte langsam und ließ den Blick durch den Raum schweifen, wobei sie so tat, als ob sie keine Dringlichkeit verspürte und nicht kurz davor wäre, heute Abend irgendwelche Gesetze zu brechen. „Ah, und könnten Sie mir den Gentleman zeigen?“

„Sie wissen nicht, wie er aussieht?“ Die Frau betrachtete sie amüsiert.

„Ähm, nein.“

„Interessant.“ Die Frau grinste süffisant.

„Was ist?“

„Es ist nur so, dass die meisten Frauen, die auf der Suche nach Silas Masters sind, wissen, wie er aussieht.“ Jetzt verzog sie die Lippen zu einem breiten Lächeln. „Deshalb suchen sie nach ihm.“

Mercy wippte nervös auf ihren Füßen. „Nun, ich weiß nicht …“ Sie verstummte, als die Frau eine Hand hob und auf etwas deutete.

Mercy schaute in die Richtung, in die die Frau wies, und ihr Blick blieb an einem balkonartigen Vorsprung im zweiten Stock und der kleinen Gruppe hängen, die dort saß und auf das Erdgeschoss hinuntersah, als wäre es ihr kleines Königreich.

Mercy ließ den Blick über einen grauhaarigen Herrn und eine Dame gleiten, bevor sie den Mann in der Mitte des Trios entdeckte. Er wirkte wie ein Magnet, der alles an sich zog – vor allem die Aufmerksamkeit seiner Begleiter.

„Das ist er, dort.“

Ja. Das war er. Silas Masters. „Oh“, hauchte Mercy.

Oh, in der Tat“, kicherte die Kellnerin.

Mercy nickte und verstand sofort, warum Frauen die Gesellschaft von Silas Masters suchten.

Abgesehen von seinem offensichtlichen Reichtum war er eine wahre Augenweide. Er war von der Art gefährlich guten Aussehens, die man vom Besitzer einer Spielhölle erwarten würde … oder vom Torwächter eines Vorzimmers zur Hölle.

Er hatte dickes dunkles Haar, das ihm länger als üblich über die Ohren fiel, und doch stand es ihm ganz hervorragend. Verlockend. Ein ganz eigener Stil. Andere Männer hätten nur ungepflegt ausgesehen, er hingegen verwegen … überaus attraktiv.

Alles an ihm ergab ein prächtiges Gesamtbild. Das Haar. Das Gesicht. Die beeindruckende Breite seiner Schultern. Ein gepflegter Bart, der Kinn und Wangen bedeckte. Sinnlich geschwungene Lippen, die Sinnlichkeit und Sünde verhießen.

Aus der Ferne war die Farbe seiner Augen unter den dramatisch geschwungenen, dichten Augenbrauen nicht zu erkennen, aber Mercy stellte sie sich ebenso dunkel vor. Auf jeden Fall war der Blick aus ihnen intensiv, das spürte sie.

Erschrocken hatte sie auf einmal den Eindruck, dass er sie ansah, aber in der Dunkelheit war das nur eine Vermutung, ein vages Gefühl … Ihre Fantasie spielte verrückt. Sie war eine Person in einem Raum voller Menschen. Warum sollte er sie anstarren?

„Er bietet einen schönen Anblick, nicht wahr?“, fragte die Frau, als könnte sie Mercys Gedanken lesen.

Sie nickte einmal zustimmend und bemühte sich um eine ungerührte Miene. „Ein attraktiver Gentleman.“

„Soll ich ihm sagen, dass Sie ihn zu sprechen wünschen?“

„Nein“, antwortete Mercy schnell. Vielleicht zu schnell, aber ihr begann der Puls bei dem Gedanken an eine Begegnung mit Masters zu rasen. Das galt es unter allen Umständen zu vermeiden. „Das ist nicht nötig.“

„Aber ich dachte, Sie wollten ihn sehen …“

„Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich den Erfrischungsraum der Damen finden kann?“ Sie wusste nun, was sie hatte wissen wollen, um gefahrlos das Unternehmen des heutigen Abends in Angriff nehmen zu können. Vorsicht und strategisches Vorgehen waren gefragt. Er schien es sich auf seinem Platz gemütlich gemacht zu haben. Die Nacht war noch jung.

Jetzt war es an der Zeit zuzuschlagen.

Die Frau zuckte mit den Schultern und wies dann auf eine Tür auf der anderen Seite des großen Raumes. „Da hindurch, dann nach oben. Zweiter Stock.“

„Danke.“ Mercy drehte sich um und durchquerte den Raum. Sie vermied es, noch einmal in Silas Masters’ Richtung zu schauen. Keine leichte Aufgabe, denn noch immer hatte sie das Gefühl, dass er den Blick auf sie gerichtet hielt. Ihr Plan war, so unauffällig wie möglich zu sein. Den Mann anzustarren, hätte genau das Gegenteil erreicht.

Sie schlängelte sich durch den Raum, ließ sich Zeit, zwang sich zu einem ruhigen Tempo und blieb gelegentlich stehen, um ein oder zwei Partien beizuwohnen, als ob sie sich für das Spiel interessierte. Sie tat dies für den Fall, dass sie beobachtet wurde. Und um wie ein ganz normaler Gast zu wirken.

Sie musste dem Drang widerstehen, die Treppen hinaufzurennen und in aller Eile die Privaträume von Silas Masters aufzusuchen, in denen er, wie sie annahm, alle seine wichtigen Dokumente aufbewahrte. Sie hoffte, dass sie in diesem Punkt richtiglag. Sie musste damit richtigliegen. Ansonsten wüsste sie nicht, was sie tun sollte. Sich ihm zu Füßen werfen und um Gnade flehen? Das schien kein erfolgversprechender Plan zu sein. Er hatte hart und kompromisslos auf sie gewirkt … nicht wie die Art von Mann, die Mitgefühl zeigt.

Jetzt war sie fast bei der Tür.

Sie zwängte sich an einem Tisch mit Männern vorbei, die ein besonders lebhaftes Hazardspiel spielten. Es wurde gejohlt und applaudiert. Einer der Herren schleuderte seine Karten mit einem wütenden Aufschrei auf den Tisch. Stöhnend lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Als er die Arme ausbreitete, stieß er mit einer Hand aus Versehen gegen Mercy, als sie gerade im Begriff war, den Tisch zu passieren.

Er warf ihr einen bösen Blick über die Schulter zu. Offensichtlich war er wegen seines Pechs im Spiel schlecht gelaunt und war bereit, seine Wut an jeder Person auszulassen, die es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen.

Leider war sie diese Person.

Sein zorniger Blick veränderte sich, als er sie musterte, und verwandelte sich in etwas ziemlich Lüsternes.

„Hallo, Kleine.“ Mit einer fleischigen Pranke griff er nach ihr und hielt sie am Handgelenk fest, sodass sie gezwungen war, stehen zu bleiben.

Sie erinnerte sich daran, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte, rang sich ein Lächeln ab und wich empört zurück.

„Na, nun bleib doch, Liebes“, sagte er unbeirrt. „Stell dich doch nicht so an, ja?“ Mit seinen dicken Wurstfingern drückte er fester zu.

Sie spürte, wie das erzwungene Lächeln auf ihrem Gesicht erstarrte. „So verlockend die Einladung auch ist, Sir, ich muss leider ablehnen.“

„Du bist wohl eine ganz Feine, wie?“ Er zerrte kräftig an ihr, und sie stolperte nach vorn. „Ich habe hier noch nie eine Frau getroffen, die nicht für ein bisschen Spaß zu haben war.“

„Autsch.“ Grob hatte er sie auf seinen Schoß gezogen.

Besitzergreifend schlang er ihr die Arme um die Taille, und sie konnte ihre Empörung nicht mehr verbergen. Sie war es nicht gewöhnt, dass man sie anfasste. Solche Dinge passierten zu Hause nicht. Zu Hause war sie Respekt gewöhnt. Wütend funkelte sie ihn an und versuchte, sich mit aller Macht, von ihm loszueisen, aber er hielt sie eisern fest. „Lassen Sie mich sofort los!“, rief sie aufgebracht, aber er grinste nur schmierig.

„Was ist los, Mädchen? Sind dir meine Münzen nicht gut genug? Bist du nicht zum Arbeiten hier?“

Sie sog scharf den Atem ein. Nun ja. Das war ziemlich anmaßend von ihm. Hielt er sie für eine Kurtisane? Sicherlich ging nicht jede Frau hier einem solchen Gewerbe nach. Und selbst wenn, eine Kurtisane hatte zweifellos ihre Ansprüche und musste nicht jeden akzeptieren.

„Lassen Sie mich los, Sir“, wiederholte sie.

Anstatt ihrer Aufforderung Folge zu leisten, senkte er den Blick auf ihr gewagtes Dekolleté.

Rasch bedeckte sie sich mit einer Hand. Sie wusste, dass sie sich von seinem beleidigenden Blick nicht beeindrucken lassen sollte, aber sie konnte nicht anders. Sein Blick fühlte sich an wie eine Schlange, die ihr über die nackte Haut glitt.

Er seufzte und wagte es, sie zu berühren, wobei er ihre Hand von ihrem Dekolleté löste und dann fallen ließ, als wäre sie ein lästiger Krümel. „Das reicht jetzt. Du brauchst deine Reize vor Howie nicht zu verstecken.“ Er war wohl Howie.

Das reichte. Sie knirschte mit den Zähnen und richtete sich auf, fest entschlossen, sich von ihm und seinen lüsternen Anzüglichkeiten zu befreien.

„Ich bin mir sicher, dass es eine andere Dame gibt, die Ihnen nur zu gern ihre Reize offenbaren würde.“

Seine Augen verengten sich. Offensichtlich gefiel ihm nicht, dass sie sich ihm verweigerte. Tyrannen schätzten es nie, wenn jemand Rückgrat bewies. Mit einem kräftigen Ruck wurde sie wieder nach unten gezogen, und er hob eine Hand, um grob ihre Brüste zu streicheln.

Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, kein Aufsehen zu erregen, konnte sie es nicht länger ertragen. Mit einem empörten Aufschrei holte sie aus und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige. Das Geräusch hallte durch die Luft. Alle Herren am Tisch erstarrten. Sogar die Gäste in ihrer Nähe blieben stehen und gafften in ihre Richtung.

Verflucht. Jetzt stand sie im Mittelpunkt eines Spektakels!

Ein knallroter Handabdruck begann auf Howies Gesicht Gestalt anzunehmen.

„Oh“, hauchte sie ein wenig erschrocken über sich selbst, wobei sie allerdings keineswegs bedauerte, ihn in seine Schranken verwiesen zu haben. Schließlich hatte er ihr keine Wahl gelassen, oder?

Verdattert tastete er nach seiner gewiss schmerzenden Wange. „Du kleines Flittchen!“

Sie nutzte seine Verwunderung aus und sprang auf die Füße. Das weckte ihn aus seiner Starre. Auch er sprang auf, warf dabei seinen Stuhl krachend um und zog damit nur noch mehr Aufmerksamkeit auf das Geschehen. Na, prächtig.

Fest packte er sie am Arm. Ihnen wurde Verschiedenes zugerufen, aber Mercy sah nirgendwo hin, außer zu Howie. Ihr Handabdruck auf seiner Wange verschmolz immer mehr mit der Zornesröte, die sein Gesicht verfärbte.

„Wie kannst du es wagen? Was glaubst du, wer du bist?“ Schmerzhaft umklammerte er ihren Oberarm und schüttelte sie so kräftig, dass sie mit den Zähnen klapperte.

„Lassen Sie mich los, bevor ich …“ Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.

„Haben Sie nicht gehört, was die Dame gesagt hat?“ Eine große Hand schloss sich um Howies Schulter.

Mercy ließ den Blick über die große Hand den Arm hinauf zum Gesicht des Mannes gleiten, der gerade mit gebieterischer Stimme ein Machtwort gesprochen hatte.

Er.

Derjenige, der ihr Leben in seinen Händen hielt.

Derjenige, den sie heute Abend ausrauben wollte.

Howie drehte sich mit einem hässlichen Knurren um, das sich schnell in ein jämmerliches Quieken verwandelte, als er sah, wer da hinter ihm stand.

Mercy hätte ebenfalls beinahe gequiekt angesichts des plötzlichen Auftauchens von Silas Masters.

Das hätte nicht passieren dürfen. Sie hätte ihm gar nicht begegnen sollen. Er hätte ihr Gesicht gar nicht sehen dürfen.

Rein und wieder raus. Unbemerkt. Das war der Plan gewesen.

Das Blut wich Howie aus dem Gesicht. „Masters“, sagte er mit einer Stimme, die ihre Schärfe verloren hatte und nur noch ein flüsterndes Zittern war.

„Sie wissen, dass ich in meinem Club kein Fehlverhalten dulde, Bassett“, sagte Masters, und der Klang seiner dunklen Stimme ließ Mercy die Knie weich werden.

„J-ja. Natürlich“, stammelte der Mann und ließ sie los, als ob er sich an ihr verbrannt hätte. „Dann sollten Sie vielleicht mal mit Ihrem Mädchen hier reden.“

„Ich bin niemandes Mädchen“, protestierte sie.

„Du bist hier“, sagte Bassett anklagend, „und angezogen wie eine Dirne.“

„Was bedeutet die Art meines Kleides?“, fragte sie. „Dass es akzeptabel ist, mich zu betatschen? Dass ich Ihre Aufmerksamkeit ertragen muss, ob ich will oder nicht?“

„Ganz genau.“ Er spuckte das Wort ohne Scham aus.

„Eben nicht“, sagte Masters mit seiner tiefen und doch sanften Stimme.

Von ihm ging eine fast einschüchternde Autorität aus. Sie bezweifelte, dass ihm jemals jemand widersprach.

Er fuhr fort: „Die Frauen hier stehen nicht in meinen Diensten, und selbst wenn es so wäre, würde ich von ihnen nicht verlangen, dass sie Ihre oder die Aufmerksamkeit eines anderen Mannes gegen ihren Willen ertragen müssten.“

Bassett schnaubte und warf Mercy einen abfälligen Blick zu. „Ich habe ein Recht auf Höflichkeit und Respekt von diesen …“

„Da täuschen Sie sich. Die Frauen, die diesen Club besuchen, sind hier genauso zu Gast wie Sie. Sie sollten sich hier frei von Belästigungen bewegen können. Da Sie offenbar nicht dazu in der Lage sind, einer Dame dieses Mindestmaß an Höflichkeit entgegenzubringen, haben Sie selbst das Anrecht auf Respekt verwirkt und sind hier nicht mehr willkommen.“

Mr. Bassett lief, falls möglich, noch röter an. „Nie wieder?“

„Sie werden sich andere Etablissements suchen müssen, um sich zu amüsieren. Und zwar genau ab jetzt.“

Ein langes Schweigen trat ein.

„Was? Jetzt? Ich soll gehen?“ Mr. Bassett blickte wild um sich, als ob irgendeines der vielen Gesichter, die ihn anstarrten, ihm eine Lösung zu bieten hätte. Seine Augen sahen plötzlich wässrig aus.

„In der Tat.“ Mr. Masters nickte entschlossen. „Verursachen Sie kein weiteres Tamtam, Mann. Haben Sie etwas Würde und gehen Sie.“

Mr. Bassett warf Mercy einen finsteren Blick zu, grunzte und stürmte durch den Raum, wobei er mit wütenden Bewegungen Menschen und Tischen auswich.

Die Herren am Tisch, mit denen er gespielt hatte, setzten ihr Glücksspiel fort, als ob nichts Ungewöhnliches geschehen wäre. Offensichtlich würde keiner von ihnen ihn vermissen.

Mercy richtete den Blick auf Masters und stellte fest, dass er sie prüfend musterte.

„Danke“, murmelte sie.

„Ich muss mich sehr bei Ihnen für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, wobei Sie die Situation gut im Griff gehabt zu haben schienen; Sie hätten sie auch ohne meine Hilfe bewältigt. Sie hätten nur nicht so lange warten sollen, bis Sie ihm diese herrliche Ohrfeige verpasst haben.“

„Sie brauchen sich wirklich nicht zu entschuldigen, Sir.“ Sie schluckte, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Ihr hatte sich in der Kehle ein riesiger Kloß gebildet.

Er legte den Kopf leicht schief. „Für alles, was unter diesem Dach geschieht, bin ich verantwortlich.“

Für alles?

Das waren genau die Worte, die sie gebraucht hatte, um sich daran zu erinnern, weshalb sie hergekommen war. Und um sich nicht von seiner überraschend höflichen Art einlullen zu lassen.

Er hatte eben selbst zugegeben, dass er für alles, was hier geschah, verantwortlich war, auch für den Ruin einer Familie. Ihrer Familie. Hier. Unter diesem Dach. War ihm das vollkommen gleichgültig? All die Familien, deren Schicksale von rücksichtslosen Brüdern oder Vätern abhingen. Und von rücksichtslosen Unternehmern wie Silas Masters.

Ihr Herz war frisch gegen ihn verhärtet, und sie verschloss sich gegen seine Höflichkeit und sein hübsches Gesicht. Manch eine Dame hätte zweifellos vor einem so attraktiven Mann das Selbstbewusstsein verloren. Mercy jedoch war aus härterem Holz geschnitzt.

Als Verantwortliche für ihre jüngere Schwester – Bede war zwar offiziell der gesetzliche Vormund ihrer Schwester, aber für Grace hatte Mercy immer die Rolle der Mutter und des Vaters übernehmen müssen – musste Mercy immun gegen Männer sein. Im Haushalt der Kittingers war nur Platz für eine heiratswillige Träumerin, die mit der Sonne um die Wette strahlte.

Die Schwangerschaft mit Grace war eine Überraschung für ihre Eltern gewesen. Damals war ihre Mutter schon keine junge Frau mehr gewesen, die Geburt von Zwillingen ein Jahrzehnt zuvor hatte ihren Tribut gefordert.

So war es nicht verwunderlich, dass sie sich von Graces Geburt nie wieder erholt hatte und traurig vor sich hinvegetierte, bis sie zwei Jahre später schließlich vollkommen geschwächt gestorben war. Schon vor Mamas Tod war es Papas Aufgabe gewesen, sich um seine drei Kinder zu kümmern – oder besser gesagt, die Aufgabe war Mercy zugefallen.

Mercy, die selbst noch ein junges Mädchen gewesen war, hatte die Zügel als Hausherrin in die Hand genommen. Papa kümmerte sich um den Hof, und sie kümmerte sich um ihre kleine Schwester und den Schlingel von einem Bruder. Zumindest so lange, bis Papa Bede zur Schule schickte. Von da an machte ihr Bruder, was er wollte.

Seit Graces Geburt hatte Mercy die Familie an erste Stelle gesetzt. Sie hatte nicht mit denselben Hoffnungen in ihre Zukunft als Erwachsene geblickt, die andere junge Frauen hegten. Sie hatte eine Hof zu führen, für eine Familie zu sorgen und eine kleine Schwester zu erziehen, während ihr Bruder eine Internatsschule besuchte und vor allem sein eigenes Vergnügen im Sinn hatte.

Es war eine mühselige und herausfordernde Aufgabe, ein junges Mädchen verantwortungsvoll zu erziehen. Vor allem, wenn man nicht auf die Hilfe von Dienern, Gouvernanten und Mägden zurückgreifen konnte. All diese Aufgaben fielen Mercy zu. Alles lag in Mercys Händen.

Mercy hatte nie Zeit für sich selbst, war nur selten zu Gast auf irgendwelchen Festen. Es gab kein Tändeln oder gar Flirten, wie man es von einer ungebundenen Dame hätte erwarten können. Diese Abenteuer waren anderen jungen Frauen vorbehalten. Frauen wie ihre Schwester – so hoffte Grace zumindest.

Grace erhoffte sich sehr viel. Bälle. Partys. Teestunden. Einem jungen Gentleman ins Auge zu fallen. Sie bat Mercy um eine Reise in die Stadt, um sich dort eine Saison lang auf dem Heiratsmarkt tummeln zu können – als wären sie Adlige und nicht einfache Leute vom Land.

Mercy sah Silas Masters an und ermahnte sich immer wieder, sich von seiner männlichen Schönheit nicht beeindrucken zu lassen. Grace wäre zu seinen Füßen zu einer Pfütze geschmolzen. Er war nicht wie die anderen Gentlemen in ihrem Umfeld. Nicht im Geringsten.

Bede hätte sie warnen müssen.

Als ihr Bruder ihr zum ersten Mal von The Rogue’s Den und dem Besitzer, Silas Masters, erzählt hatte, hatte er ihn lediglich als rücksichtslos, einschüchternd und mächtig beschrieben. Ein sehr reicher Mann ohne Gnade.

Ohne Gnade. Daran erinnerte sie sich vor allem, weil Bede ihren Namen genannt hatte. Die Ironie war ihr damals aufgefallen, als ihr Bruder weitergeredet und sich über diesen elenden Besitzer einer Spielhölle beklagt hatte, der ihm so kaltherzig alles weggenommen habe. Ihm, Bede. Mercy und Grace und was sie zu verlieren hatten, hatte er mit keinem Wort erwähnt.

Und doch hatte Mercy geschworen, dass sie in diesen Club gehen und sich dem angeblich so skrupellosen Mann notfalls selbst stellen würde. Natürlich hatte sie gehofft, dass es nicht so weit kommen würde.

Sie würde ihr Leben irgendwie zurückgewinnen. Es würde ihr gelingen, und sie würde sich weder von Silas Masters mangelndem Mitgefühl noch, wie sich nun herausgestellt hatte, von seinem guten, aber dennoch finsteren Aussehen abschrecken lassen.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, ich war auf dem Weg zum Erfrischungsraum der Damen.“

Er ließ den Blick auf ihr ruhen, vielleicht ein bisschen zu lange. Es war, als ahnte er, dass sie etwas im Schilde führte. Möglicherweise war er misstrauisch geworden oder wollte einfach nur dafür sorgen, dass in seinem Haus kein Unfug getrieben wurde. Sie fühlte sich auf jeden Fall verdächtig, wie sie dort in diesem aufreizenden Kleid stand, in dem sie sich absolut unwohl fühlte.

Aber das war dumm. Tief atmete sie durch. Er hatte keinen Grund zu vermuten, dass sie etwas anderes war als eine Dame, die wie alle anderen hier war, um sich zu vergnügen.

Auch wenn sie nicht wie alle anderen war. Weit gefehlt.

Sie war in diese Höhle des Löwen gekommen, um etwas zu stehlen.

Um den Löwen selbst zu bestehlen. Und sie würde nicht mit leeren Händen nach Hause gehen.

2. KAPITEL

Als Mercy sich im zweiten Stock umsah, wurde klar, dass sich die Privaträume von Silas Masters nicht auf dieser Etage befanden.

Es gab Rückzugsräume für Damen und Herren und weitere Räume, in denen private Kartenspiele stattfanden. Sie wusste, dass das Haus über drei Stockwerke verfügte, und sie vermutete, dass sich seine Zimmer im dritten Stock befanden. Es war leicht herauszufinden, welche Tür ins Obergeschoss führte. Die Tür mit der Aufschrift „Kein Zutritt“ schien eine gute Wahl zu sein.

Die fröhlichen Klänge der Feiernden verstummten, als sie die Tür öffnete und die Treppe dahinter hinaufstieg. Mit rasendem Herzen hob sie den Riegel der oberen Tür an und trat in einen mit dickem Teppichboden ausgelegten Korridor.

Hier oben war es ganz ruhig, weit weg von der Welt da unten. Leise öffnete sie aufs Geratewohl eine Tür und spähte hinein. Dann eine weitere. Nichts. Verdunkelte Schlafkammern, beide spärlich eingerichtet.

Sie versuchte es mit einer weiteren Tür. Dahinter befand sich eine Bibliothek. Allerdings befand sich darin kein Schreibtisch, also bezweifelte sie, dass in dem Raum wichtige Papiere aufbewahrt wurden.

Die nächste Tür öffnete sich zu einem weiteren Schlafgemach, das opulenter ausgestattet war. Doppeltüren führten auf einen Balkon hinaus. Die Türen standen offen. Es wehte eine abendliche Brise, die die Vorhänge wie die Segel eines Schiffes blähte.

Das Schlafgemach bot nicht nur ein riesiges Himmelbett, sondern auch einen großen Kamin. Ein Ohrensessel und ein Sofa standen vor dem Kamin, in dem ein Feuer knisterte.

Das Sofa wirkte einladend, und auf einer Seite lag eine Pelzdecke, als hätte sie gerade eben jemand nach einem Nickerchen achtlos beiseitegeworfen.

Sie wandte den Blick von dem verlockenden Sofa ab und schaute sich im Rest des Raumes um, bis er an einem großen Schreibtisch hängen blieb. Ein mit ledergebundenen Bänden gefülltes Bücherregal nahm die Wand dahinter ein.

Sie näherte sich dem Schreibtisch. Das Möbelstück war eindeutig mehr als ein erlesener Einrichtungsgegenstand. Es erfüllte eine Funktion. Darauf lagen geöffnete und ungeöffnete Briefe und Mappen fein säuberlich geordnet. Ein Tintenfass und eine Schreibfeder befanden sich direkt daneben.

Sie umrundete den Schreibtisch und betrachtete ihn einen Moment lang, bevor sie die Hände auf die Platte legte. Sie ging bei ihrer Suche systematisch vor und achtete peinlich genau darauf, nichts zu verändern, damit niemand merkte, dass jemand hier gewesen war.

Bevor sie sich auf den Weg in diese Spielhölle gemacht hatte, hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt, von dem sie sich vorgestellt hatte, er liefe reibungslos und ohne Komplikationen ab. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie sich unbemerkt in die Höhle des Schurken hinein- und wieder herausbewegen würde, ohne dass jemand etwas mitbekäme.

Ihm von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, war nicht Teil des Plans gewesen. Aber das bedeutete nicht, dass er gescheitert war. Und auch nicht, dass die Dinge von nun an nicht reibungslos verlaufen konnten.

Nach dem, was sie wusste, machte Silas Masters lukrative Geschäft mit dem Unglück von Männern wie ihrem Bruder, die riskierten, Pech im Spiel zu haben – törichten und leichtsinnigen Männern, die nicht dazu in der Lage waren, Verantwortung zu übernehmen. Männer, die zweifellos Angehörige hatten: Frauen und Kinder. Oder, wie in Bedes Fall, Schwestern.

Ihre Empörung loderte von Neuem auf – nicht nur über das, was Bede getan hatte, sondern auch über ihren Gläubiger Mr. Masters. Wo war seine Ehre? Sein Gefühl für Schuld? Schämte er sich nicht, das Leben Unschuldiger zu ruinieren?

Nachdem sie das Gesuchte nicht gefunden hatte, ließ sie sich in den großen Ledersessel hinter dem Schreibtisch sinken und wandte ihre Aufmerksamkeit den Schubladen zu.

Sie öffnete eine und blätterte durch Briefpapier und Umschläge.

Es war noch nicht einmal eine Woche her, dass ihr Bruder ihre Farm unter diesem Dach verspielt hatte. Sicherlich lag Bedes Schuldschein hier noch irgendwo herum. Sie zuckte zusammen. Es sei denn, Masters hatte ihn jemand anderem überlassen. Jemandem, der demnächst vor ihr Tür stehen und sie aus ihrem eigenen Haus werfen würde … aus ihrem Leben.

„Nein“, flüsterte sie inbrünstig und schüttelte heftig den Kopf. Das würde nicht passieren. Das durfte nicht passieren. „Es ist hier. Es muss hier sein.“

Sie hatte keine Alternative, sie musste das Schriftstück finden. Andernfalls drohte die Obdachlosigkeit. Verarmung. Einsamkeit.

Die rechte untere Schublade war größer als die anderen. Sie klemmte ein wenig, als Mercy versuchte, sie zu öffnen. Schließlich zog sie einmal kräftig daran.

Die Schublade öffnete sich knarrend und enthüllte ein kleines lackiertes Kästchen.

Sie nahm es heraus und stellte es vorsichtig auf den Schreibtisch. Hoffnung stieg summend in ihr auf.

Mit angehaltenem Atem klappte sie den Verschluss auf und hob den Deckel an. Ungefähr ein Dutzend Blätter füllten das Kästchen. Sie nahm eines davon heraus, überflog es und atmete erleichtert auf, als sie feststellte, dass es sich um einen Schuldschein über ein Rennpferd handelte, der auf einen gewissen Silas Masters ausgeschrieben war und das Datum von vor drei Tagen trug.

Sie warf ihn beiseite und begann schnell, die anderen Papiere zu durchforsten, bis sie nach der Hälfte innehielt.

Mit zitternder Hand und flauem Magen hob sie das Papier auf Augenhöhe. Sie erkannte die vertraute Handschrift ihres Bruders sofort. Tatsächlich hatten sie eine sehr ähnliche Handschrift. Sie hatte das immer der Tatsache zugeschrieben, dass sie Zwillinge waren. Hastig überflog sie die Worte, die bestätigten, dass er Mr. Masters ihr gesamtes Eigentum, Land und Haus und die darin befindlichen Gegenstände überschrieben hatte.

Eigentlich hätte sie sich über die Entdeckung freuen sollen, aber dies war ein unwiderlegbarer Beweis. Sie hoffte nicht mehr, dass es sich um einen Irrtum handelte, dass ihr Bruder nicht so selbstsüchtig und verantwortungslos war. Jetzt war es nicht mehr zu leugnen. Als sie diesen Beweis für seine Rücksichtslosigkeit in blauer Tinte sah, wurde ihr Zorn erneut entfacht.

„Verfluchter Narr“, murmelte sie, während sie das Dokument zusammenfaltete und in das kleine Retikül steckte, das an ihrem Handgelenk baumelte.

Ohne ein Dokument, das die Unterschrift ihres Bruders trug, würde kein Gericht im Lande den Anspruch von Mr. Masters auf ihr Eigentum anerkennen.

Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte es geschafft.

Jetzt war jedoch nicht die Zeit, in ihrer Wachsamkeit nachzulassen und in der Erleichterung über ihren Fund zu schwelgen. Sie musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Nachdem sie das Kästchen wieder ordnungsgemäß in der Schublade verstaut hatte, warf sie einen letzten Blick auf den Schreibtisch, um sich zu vergewissern, dass alles so aussah, wie sie es bei ihrer Ankunft vorgefunden hatte. Mit kritischem Blick umrundete sie den Schreibtisch und ging dann mit schnellen Schritten auf die Tür zu, bereit, in die Nacht zu fliehen, um in dem Wissen nach Hause zurückzukehren, dass es immer noch ihr Zuhause war und es hoffentlich auch immer bleiben würde.

Mercy war ungefähr einen Meter von der Tür, von der Freiheit, entfernt, als sich der Türknauf zu drehen begann. Sie erstarrte.

Alles um sie herum schien sich zu verlangsamen, während ihr das Herz plötzlich so schnell wie ein galoppierendes Pferd schlug.

Sie presste sich eine Hand auf ihr rasendes Herz und schaute hektisch nach links und rechts, auf der Suche nach einem Fluchtweg, einem Versteck.

Die Flügeltüren, die hinausführten, befanden sich auf der anderen Seite des Zimmers. Viel zu weit weg. Sie bezweifelte, dass sie die Vorhänge rechtzeitig erreichen würde. Und sich unter dem Schreibtisch zu verstecken, schien ihr eine schlechte Idee zu sein. Was, wenn er beschloss, eine Runde zu arbeiten?

Hilflosigkeit stieg in ihr auf. Ein dicker Schluchzer drohte ihrer Kehle zu entweichen, aber sie zwang ihn hinunter. Sie hielt den Laut zurück und riss sich zusammen … und fasste den Entschluss, ihm offen entgegenzutreten.

Sie reckte das Kinn und wartete darauf, dass sich die Tür öffnete. Noch einmal schien die Zeit sich zu verlangsamen, während sie darauf wartete, das er hereinkam und sie entdeckte.

Dass er es sein würde, wusste sie einfach. Und zwar mit Gewissheit.

Die Tür schwang auf, und Silas Masters trat in sein Schlafgemach. Sein Schlafgemach. Nur dass sie hier war. Sie befand sich dort, wo sie nicht sein sollte – in seinen privaten Räumlichkeiten, ohne eine vernünftige Erklärung für ihre Anwesenheit parat zu haben.

Fieberhaft suchte sie nach einer glaubwürdigen Geschichte, die sie ihm erzählen konnte.

Er zögerte, als er sie sah. Eine seiner dunklen Augenbrauen hob sich, aber ansonsten zeigte er keine Reaktion. Er wirkte sehr … ruhig. Keine Empörung darüber, eine Fremde in seinen Privaträumen vorzufinden.

Vielleicht war er es gewöhnt, fremde Frauen in seinem Schlafgemach anzutreffen. Ein mächtiger, wohlhabender Mann wie er – überaus gut aussehend – war wahrscheinlich ständig von Frauen umgeben, die sich ihm nur allzu gern anboten und vor nichts zurückschreckten. Sie erinnerte sich deutlich daran, was die Frau unten zu ihr gesagt hatte.

Die meisten Frauen, die nach Silas Masters suchen, wissen, wie er aussieht. Deshalb suchen sie auch nach ihm.

In diesem Moment wusste sie genau, was zu tun war. So skandalös und beschämend der Gedanke auch war. Sie musste es tun.

„Hallo“, murmelte er. Er schaffte es sogar, gelangweilt auszusehen. Offenbar verdiente ihre Anwesenheit hier keine nennenswerte Reaktion von ihm. „Sie haben sich wohl verlaufen, was? Dies ist nicht der Erfrischungsraum der Damen. Wollten Sie nicht vorhin dorthin? Ich glaube, Sie sagten etwas in der Art.“

Sie gab einen leisen Laut der Verneinung von sich. „Ich habe mich nicht verlaufen.“

„Nein?“

„Nein“, bestätigte sie und nickte bekräftigend. „Ich bin genau da, wo ich sein will.“ Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren unangenehm künstlich.

Er legte den Kopf schief und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wo ist das?“

Musste sie es direkt sagen? Sie schluckte heftig. Er machte es ihr wirklich nicht leicht. Oder vielleicht war sie einfach nur sehr schlecht darin, Männer zu verführen. Bei diesem Gedanken zuckte sie ein wenig zusammen.

Sie betrachtete ihn einen Moment lang und fragte sich, ob sie diesen Schritt wirklich wagen sollte. War sie bereit, sich ihm auf dem Silbertablett zu präsentieren, damit er nicht dahinterkam, was sie tatsächlich in seinem Schlafgemach gemacht hatte?

Sie machte sich keine Illusionen darüber, dass es keine Kleinigkeit sein würde. Wenn er ihre Einladung annahm, würde sie mit ihm in dem großen Bett hinter ihr landen. Zumindest nahm sie an, dass es auf dem Bett geschehen würde. Ihre Erfahrung war begrenzt, aber sie wusste Bescheid. Sie mochte zwar vom Lande sein, aber sie war nicht ahnungslos.

Sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen und hatte viel Zeit mit dem Vieh verbracht. Sie wusste, wie Fortpflanzung ablief. Nicht zu vergessen, dass sie sehr belesen war. Viel belesener, als man ihr zugetraut hätte. Tatsächlich würde ihre Auswahl an Lesestoff ganz Shropshire in Schrecken versetzen. Niemand würde das von ihr erwarten, und vielleicht war das ein Teil des Nervenkitzels, sich in diesem Moment, an diesem Ort … mit diesem Mann wiederzufinden.

Sie warf einen Blick auf das Bett und stellte sich vor, wie sie dort mit Silas Masters lag. Es war keine abschreckende Vorstellung.

Wenn er nahm, was sie ihm anbot, wäre sie keine Jungfrau mehr – nicht, dass sie sich für die Ehe hätte aufsparen wollen. Auch Mutter zu werden, spielte für sie keine Rolle. Selbst als sie süße achtzehn gewesen war, hatte sie nicht den Wunsch verspürt zu heiraten. Jetzt, mit sechsundzwanzig, hatte sie immer noch nicht das Bedürfnis entwickelt, sich an einen Mann zu binden. Für die meisten Menschen war die Ehe genau das Richtige. Sie hatte jedoch vor langer Zeit beschlossen, dass dieses Lebenskonzept nicht zu ihr passte.

Aber eine Affäre mit diesem Mann erschien ihr auf einmal mehr als reizvoll. Sie würde endlich erfahren, wie es war, was es damit auf sich hatte … und dabei hätte sie noch die perfekte Ausrede für ihre Anwesenheit in seinem Schlafgemach …

Er kam tiefer in den Raum, ging an ihr vorbei und blieb vor einem Tabletttisch mit einer Karaffe und Gläsern darauf stehen. Sie betrachtete seine schlanke Gestalt, als er sich einen Fingerbreit einschenkte und das Glas an die Lippen hob.

Sie schwieg, während er trank. „Sie wollen nicht hier sein“, sagte er sehr sachlich und wandte sich zu ihr um. „Sie kennen mich doch gar nicht.“

Stirnrunzelnd blickte sie an sich hinunter. Machte sie den Eindruck eines sittsamen, keuschen Mauerblümchens, das man abwimmeln musste, um es vor sich selbst zu schützen? „Muss ich Sie denn dafür kennen?“

Er nahm noch einen Schluck und betrachtete sie wieder langsam, nachdenklich. „Wir sind uns unten über den Weg gelaufen, ohne dass wir uns auch nur vorgestellt hätten, und jetzt sind Sie hier, um was zu tun? Mich zu verführen? Soll ich Ihnen das etwa glauben?“

Ja. Sie musste ihn dazu bringen, es zu glauben. Sonst würde er vielleicht nach anderen Gründen suchen, um zu erklären, warum sie sich in seinem Schlafgemach aufhielt, und das durfte nicht passieren.

„Ist es denn so unglaublich?“ Ihr Lächeln fühlte sich ein wenig zittrig an, und sie zwang sich, es zu unterdrücken, einen gewieften und gleichzeitig sanften Gesichtsausdruck aufzusetzen und hoffentlich wie eine Frau zu wirken, für die es vollkommen normal war, mit einem Mann, sei er ihr auch fremd, das Bett teilen zu wollen. 

„Müssen wir denn dafür langjährige Bekannte sein?“, fügte sie hinzu, während sie tief Luft holte. „Wirklich? Da ist“ – sie hielt inne, suchte nach einer Formulierung, die am besten beschrieb, was sie empfand, was in der Luft um sie herum schwirrte – „Hitze zwischen uns. Sicherlich spüren Sie das auch.“

„Hitze“, wiederholte er das Wort, als stammte es aus einer Fremdsprache und er hätte es nie zuvor gehört.

„Ja. Ich dachte, na ja … unten …“ Sie geriet ins Stocken, was sie maßlos ärgerte. Sie klang unsicher und ohne Selbstvertrauen. Zwei Eigenschaften, die nicht zu der Person passten, die sie zu verkörpern versuchte. Wenn sie die Rolle der Verführerin erfolgreich spielen wollte, musste sie überzeugender sein.

„Sie dachten, es wäre heiß“, beendete er den Satz für sie, wobei er noch immer skeptisch klang.

„Ja.“ Sie nickte langsam und stemmte eine Hand in die Hüfte. „Habe ich mir das eingebildet?“

Er musterte sie noch einmal langsam und ausführlich von oben bis unten, und sie bemühte sich, unter seinem Blick nicht unruhig von einem Bein aufs andere zu treten. „Es tut mir leid, wenn Sie einen falschen Eindruck bekommen haben. Sie sind nicht … nach meinem Geschmack.“

Sie wich zurück. Darauf konnte man nicht anders reagieren.

Es tat weh. Es stach richtig. Unwillkürlich fragte sie sich, welche Art von Frau denn nach seinem Geschmack wäre. Sie hatte die Möglichkeit einer Zurückweisung nicht bedacht, aber das hätte sie tun sollen. Wie blind und arrogant war sie gewesen?

Sie war kein Ausbund an Charme. Sie war keine hinreißende Schönheit. Oh, sie war nicht hässlich, aber eben auch nicht im klassischen Sinn hübsch. Sie hatte nie Verehrer gehabt, die um sie geworben hätten.

Natürlich war ein Mann, der so aussah wie Masters, stets umgeben von schönen Frauen. Frauen, die sie weit in den Schatten stellten. Jetzt fühlte sie sich wie eine Närrin. Eine große Närrin.

„Oh.“ Sie strich mit einer zittrigen Hand über das Vorderteil ihres Kleides. „Ich verstehe.“ In der Tat, sie konnte es nachvollziehen.

War er ein verheirateter Mann? Oder sonst irgendwie romantisch gebunden? Vielleicht glaubte er an Treue. Manche Männer taten das. Ihr Vater war ein solcher Mann gewesen, treu und hingebungsvoll, jeden Tag seines Lebens, gegenüber Mercys Mutter. Das würde die Abfuhr weniger schmerzhaft machen.

Innerlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Jetzt suchte sie nur noch nach einer Möglichkeit, ihre Gefühle zu schonen.

„Ich fühle mich geschmeichelt.“ Er lächelte ein wenig mitleidig, und das wirkte wie Salz in der Wunde.

Es war wirklich zu viel.

„Nun gut. Ihre Entscheidung.“ Sie hoffte, dass sie sich gelassen anhörte. Wie eine Frau, die an zwanglose Techtelmechtel gewöhnt war – und die mit einer Zurückweisung genauso zurechtkam wie mit einem heißen Flirt. „Es tut mir leid, dass ich in Ihr Schlafgemach eingedrungen bin“, murmelte sie und machte sich auf den Weg nach draußen, ein Teil von ihr erleichtert, ein Teil enttäuscht.

So viel zu ihrem Kleid. Sie wollte das skandalöse Ding loswerden. Sie würde es verbrennen, sobald sie wieder zu Hause war. Offenbar war es nicht verführerisch genug. Oder besser gesagt, die Frau darin war es nicht.

Sie musste an ihm vorbeigehen, um den Raum zu verlassen, und ihr stieg vor Scham das Blut in die Wangen, und es fiel ihr schwer zu atmen.

Es wäre jedoch albern gewesen, einen anderen Weg zu nehmen, nur um nicht an ihm vorbeizumüssen. Das hätte kaum wie das Verhalten einer selbstbewussten Frau ausgesehen. Eher wie das eines scheuen Tieres.

Sie atmete bewusst ein und aus, als sie dicht an ihm vorbeiging.

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