Historical Saison Band 114

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DER EARL UND DIE UNBEZÄHMBARE MISS GILBERT von VIRGINIA HEATH

Auf die Barrikaden! Kämpferisch setzt sich Miss Sophie Gilbert gegen den neuen Earl zur Wehr. Herzlos plant er, sein Landgut zu verkaufen. Was soll nur aus den armen Bauern werden? Sophie hasst ihn – bis sie dem Earl eines Tages allein begegnet. Kann das Schicksal wirklich wollen, dass sie sich Hals über Kopf in ihren Feind verliebt?

EIN STALLKNECHT ZUM VERLIEBEN von LIZ TYNER

Sie sind füreinander geschaffen: Die junge Lady Guinevere ist entschlossen, den Marquess of Hartcroft zu heiraten. Doch davon wollen ihre Eltern nichts wissen. Sie verbannen Guinevere aufs Land zu ihrer Tante, wo gerade ein überaus attraktiver Stallknecht die Arbeit aufnimmt – der dem Marquess zum Verwechseln ähnlich sieht …


  • Erscheinungstag 25.01.2025
  • Bandnummer 114
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531931
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

VIRGINIA HEATH

1. KAPITEL

Februar 1818

„Er ist offenbar ein ehemaliger Soldat. Er kämpfte bei Waterloo.“

Mrs. Outhwaite beugte sich vor, senkte die Stimme und ließ den Blick vielsagend über die Runde der Damen schweifen, die den Neuankömmling in Whittleston-on-the-Water mit kaum verhohlener Neugier anstarrten. Da Sophie es keineswegs behagte, so derart unverhohlen zu glotzen, beschäftigte sie sich stattdessen angelegentlich damit, einige Äpfel an einem Marktstand zu inspizieren, während sie heimlich einen Blick auf den gut aussehenden und wohlproportionierten neuen Gutsherrn warf, der vor der Schmiede herumlungerte.

„Er stammt aus dem entfernten Somerset-Zweig der Familie Peel und ist – oder vielmehr war – Lord Hockleys Vetter zweiten Grades. Ein weiteres Einzelkind natürlich, denn die Peels scheinen immer nur einen Erben auf einmal zu haben. Sie sind eine sehr unfruchtbare Familie. Lady Hockley, Gott hab sie selig, war unfruchtbar wie eine Wüste, und wie ich höre, hat die Mutter des neuen Earls weniger als ein Jahr nach seiner Geburt das Zeitliche gesegnet. Und Geld hat er angeblich auch keins.“

Mrs. Outhwaite war eine schamlose Klatschtante, die stets das aussprach, was ihr durch den Kopf ging, ohne Rücksicht darauf, ob es angemessen war. Keine der Anwesenden würde es wagen, sie wegen ihres mangelnden Anstands zurechtzuweisen, denn abgesehen davon, dass sie die Frau des Eigentümers der South Essex Gazette und damit die beste Quelle für Klatsch und Tratsch im Umkreis war, hatte sie nicht nur eine lose Zunge, sondern war auch überaus bissig. Sophie hatte dies schon mehr als einmal zu spüren bekommen, wann immer sie Mrs. Outhwaite im Laufe der Jahre hatte widersprechen müssen, was dank ihrer eigenen Unfähigkeit, den Mund zu halten, öfter der Fall gewesen war, als sie zählen konnte. Aber seit sich der Gesundheitszustand ihrer Tante Jemima drastisch verschlechtert hatte, bemühte sie sich, ihre Schlachten sorgfältig auszuwählen, und diese hier war es nicht würdig, um ihre Rüstung anzuziehen und alle Zurückhaltung in den Wind zu schlagen. Außerdem war Sophie genauso gespannt auf den neuesten Zuwachs im Dorf wie alle anderen auch.

„Allerdings …“ Mrs. Outhwaite legte eine dramatische Pause ein, und die versammelten Damen rückten näher zusammen. „Gestern, als der Metzger seine wöchentliche Lieferung ins große Haus brachte, glaubt er gehört zu haben, wie die Haushälterin dem Butler erzählte, sie habe gehört, wie der neue Lord Hockley seinem Anwalt sagte, er habe kein Interesse an dem Anwesen und nicht vor, jemals hier zu leben. Ihm geht es nur ums Geld!“

„Das hat er gesagt?“ Tante Jemima war über diese Einstellung des neuen Lords ebenso empört wie alle anderen Damen, ganz abgesehen davon, dass die dürftigen Behauptungen aus einem offenbar belauschten Gespräch eines belauschten Gesprächs stammten. „Wie geldgierig!“ Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, als würde sie gleich einen ihrer legendären Anfälle bekommen, und Sophie kramte rasch in ihrem Retikül nach dem Riechsalz, das sie für solche Fälle immer bei sich trug. Allerdings verdrehte sie diesmal nicht wie üblich die Augen, als sie es überreichte, denn ihre Tante war ja jetzt wirklich krank – und hatte es nicht nur mit den Nerven – und die ganze Unruhe und Ungewissheit, die die aktuelle Situation mit sich brachte, war nicht gut für sie.

„Merkt euch meine Worte und denkt an Hinkwell-on-the-Hill!“ Mrs. Outhwaite reckte einen Finger himmelwärts und wackelte damit wie ein Mann Gottes, der Feuer und Schwefel auf der Kanzel predigt. „Er plant bereits, uns das Land unter den Füßen wegzuverkaufen!“

Alle Damen keuchten vor Entsetzen auf, als sie plötzlich mit dem Schlimmsten rechneten. Niemand wollte, dass es hier zu einem Ausverkauf des Landes kam, aber die nackte Realität war, dass sie alle machtlos waren, es zu verhindern, wenn die Räder erst einmal in Bewegung gesetzt wurden. Neben seinem großen Anwesen im Westen des Dorfes besaß Lord Hockley praktisch das gesamte Land, das an das Dorf grenzte. Das bedeutete, dass ihm quasi jeder Hektar im Umkreis von fünf Meilen gehörte, die meisten Gebäude darauf und die Mauern jedes einzelnen Ladens rund um diesen Marktplatz, auf dem sie sich gerade befanden.

Das allein machte ihr Dorf noch lange nicht einzigartig, denn es gab wahrscheinlich Hunderte im ganzen Land, die ähnlich waren, aber bis auf drei armselige Hektar war das Hockley-Land nicht verpachtet, was sie angreifbar machte. Vor allem die Nähe zur Hauptstadt und die Annehmlichkeiten der Themse, die buchstäblich vor der Haustür lag, machten Whittleston-on-the-Water zu einem verlockenden Ort. Gutes Land in dieser Gegend war rar und kostete viel Geld. Eine Tatsache, die die unglücklichen Bewohner des nahe gelegenen Dorfes Hinkwell erst vor vier Sommern hatten erfahren müssen, als der örtliche Gutsherr sein Land für eine horrende Summe an den wohlhabenden Besitzer einer Schiffsflotte verkaufte.

Damals hatte sich zunächst niemand Sorgen wegen der Transaktion gemacht, da die riesigen Landflächen seit dem Domesday Book schon viele Male den Besitzer gewechselt hatten – doch dann trafen die Räumungsbescheide ein. Innerhalb weniger Monate hatte der Schifffahrtsmagnat alle Dorfbewohner vor die Tür gesetzt und das arme Hinkwell-on-the-Hill dem Erdboden gleichgemacht. Auf dem Hügel stand nun das prunkvollste Herrenhaus, das je ein Mensch gesehen hatte, und anstelle der jahrhundertealten Bauernhöfe und den betriebsamen Werkstätten, die ihm angeblich die Aussicht verdarben, gab es nun Hektar für Hektar künstliches Parkland mit importierten Moorhühnern und Hirschen. All das hatte der selbstverliebte neue Besitzer dort angesiedelt, um gelegentlich zu jagen, wenn er die Hauptstadt lange genug verließ, um den Gutsherrn zu spielen, seine Geschäftspartner zu beeindrucken oder auf seinem Weg nach oben Freunde aus der High Society zu umwerben.

Mrs. Outhwaite starrte den Neuankömmling jetzt so furchtsam an, als wäre er der Leibhaftige. „Das gemeine Blut des alten Hockley fließt durch seine Adern, und sein entschlossenes Schweigen ist ohrenbetäubend. Denkt an meine Worte, wenn es nach dem neuen Lord geht, werden wir alle bis Weihnachten obdachlos sein!“

Aller Blicke schweiften über den Platz zu dem besagten Mann. Sogar Sophie ließ für einen Moment die Äpfel Äpfel sein, um ihn von oben bis unten zu mustern, und als ob er die intensiven Blicke spürte, wandte der neue Gutsherr ihnen demonstrativ den Rücken zu und starrte eine Wand an. Besorgniserregend distanziert und losgelöst von all dem Markttreiben um ihn herum, als ob er sich nicht im Geringsten um ihr kleines Dorf oder die Menschen, die darin wohnten, scherte.

Die selbst ernannte Vorbotin des Untergangs gestikulierte ausgiebig, darauf bedacht, ihr Publikum in Angst und Schrecken zu versetzen, unabhängig davon, ob der Oberbösewicht des Stücks in der Nähe war oder nicht. „Und all das wird bis zum nächsten Sommer verschwunden sein!“

Sophie war zwar stets darauf bedacht, Mrs. Outhwaites Ausführungen mit Vorsicht zu genießen, aber heute kam sie nicht umhin, über ihre Worte nachzudenken.

In den acht Tagen, seit der neue Lord hier angekommen war, hatte er sehr zurückgezogen gelebt und schien es auch nicht eilig zu haben, etwas an diesem Zustand zu ändern. Selbst seinen nächsten Nachbarn, zu denen auch sie gehörte, war er durch seine Abwesenheit aufgefallen. Bisher hatte er nur einige wenige Herren empfangen, aber sich bei diesen bedauerlich kurzen Gesprächen über seine Pläne bedeckt gehalten, selbst wenn er direkt gefragt worden war. Die einzige Person, die er täglich empfing, war Mr. Spiggot, der Anwalt, und der war verpflichtet, nichts von diesen Gesprächen preiszugeben, da er sonst Gefahr lief, seine Zulassung zu verlieren. Sie war jedoch nicht die Einzige, die bemerkt hatte, dass der sonst so joviale Anwalt nach seinen Besuchen im Herrenhaus blass und verschlossen wirkte. Heute Morgen konnte er kaum jemandem in die Augen sehen, wenn er über den Marktplatz huschte, und das war überaus untypisch für ihn.

Das alles war wirklich sehr beunruhigend.

Heute, bei seinem ersten Ausflug ins Dorf, hatte der neue Lord Hockley jedem, an dem er vorbeikam, einen guten Morgen gewünscht – wenn auch nur widerwillig – und war dann zwar freundlich lächelnd, aber überaus geschäftig seiner Wege gezogen. Er wollte offensichtlich in Ruhe gelassen werden und nicht verraten, was er im Sinn hatte, obwohl Mr. Spiggot ihm bei ihrer ersten Begegnung mitgeteilt hatte, dass er das Schicksal des Dorfes in den Händen hielt und sich alle Bewohner in schrecklichem Aufruhr befanden.

Sein entschlossenes Schweigen war in der Tat bedrohlich. Deshalb wurde viel geklatscht. In Ermangelung konkreter Fakten gelangte die Nachbarschaft, wie auch Mrs. Outhwaite, zu ihren eigenen apokalyptischen Schlüssen.

Das bedeutete nicht, dass Sophie nicht ein wenig zusammenzuckte angesichts der unverhohlenen Gehässigkeit der älteren Frau.

Es stimmte zwar, dass niemand in Whittleston-on-the-Water viel Sympathie für den kürzlich verstorbenen Earl gehegt hatte, vor allem, weil er sein ganzes Leben lang ein durch und durch grausamer Mensch gewesen war, aber es erschien ihr falsch, seinen Nachfolger aufgrund wilder Vermutungen, für die es bislang keine Beweise gab, in einen Topf mit seinem Vorgänger zu werfen. Der neue Earl of Hockley könnte nach allem, was sie wussten, ein absolut umgänglicher Gentleman sein, großzügig im Geiste und in der Tat, und ein Mann, der seine Verantwortung ernst nahm. Daher verdiente er sicherlich Unvoreingenommenheit, bis er das Gegenteil bewies? Vor allem, wenn seine familiären Verbindungen so ungünstig waren, wie sie zu sein schienen. Somerset lag gut hundertfünfzig Meilen von dieser verschlafenen kleinen Enklave an der Themse entfernt, und niemand hatte ihn je zuvor gesehen. Mit seinem markanten Aussehen, dem vom Wind zerzausten, sandfarbenen Haar, den stechend blauen Augen und den übermäßig breiten Schultern hätte Sophie sich bestimmt an ihn erinnert.

„Wir sind in großer Gefahr, uns mit wilden Spekulationen und dürftigen Gerüchten über Gebühr aufzuregen. Ich bin mir nicht sicher, ob jemand so verdorben sein könnte wie sein Vorgänger.“ Tante Jemima, die trotz ihrer Neigung, jedes kleine Drama in eine große Krise zu verwandeln, immer diplomatisch war, riskierte Mrs. Outhwaites Zorn. „Reverend Spears hat ihn gestern aufgesucht und gesagt, er sei sehr höflich gewesen, und obwohl man ihm keinen Tee angeboten habe …“ – eine Kardinalsünde, was dieses Dorf betraf – „… hätten sie ein recht angenehmes Gespräch geführt, und er habe nicht den Eindruck gehabt, dass der neue Lord Hockley beabsichtige, uns den Boden unter den Füßen wegzuverkaufen.“

Wie Sophie hoffte auch ihre Tante verzweifelt, dass der neue Gutsherr etwas Gutes zu bieten hatte. Sie drückten beide die Daumen, dass er nachsichtiger und vernünftiger sein würde als sein Vorgänger. Wenn nicht, dann hätten sie ein Problem.

Ihr klägliches Vermögen reichte ohnehin kaum aus, und es war nichts in Reserve, um eine Mieterhöhung zu finanzieren, geschweige denn einen Umzug. Abgesehen davon würde Tante Jemima es schrecklich finden, nach siebenundsechzig Jahren im selben Haus noch einmal ganz von vorn anfangen zu müssen. Sie hatte so viel Angst vor einer Zwangsräumung, dass man sie bereits zweimal innerhalb weniger Tage davon hatte abhalten müssen, ihn aufzusuchen und um Gnade zu bitten. Sie war auch zu verängstigt, um auf ihrem geliebten Klavier zu spielen, und saß stattdessen stundenlang da und starrte ins Leere. Es war tragisch anzusehen und nicht gut für ihr schwächelndes Herz. Sicherlich war er nicht so grausam, eine kranke alte Dame gewaltsam aus dem tröstlichen Schoß des Lebens zu reißen, das sie immer gekannt hatte?

Sophie riskierte es, ihn noch einmal aus dem Augenwinkel zu betrachten, und zuckte zusammen, als er sich schließlich entschloss, zurückzublicken. An seinem missbilligenden Gesichtsausdruck konnte man erkennen, dass der neue Lord Hockley ohne den geringsten Zweifel wusste, dass die versammelte Schar von Frauen, die alle miteinander schnatterten, in ein wenig schmeichelhaftes Gespräch über ihn verwickelt war.

Sie lächelte die Damen freundlich an, als ob sie sich nur über das Wetter unterhielten. „Da der betreffende Herr sich nur einen Katzensprung entfernt befindet und uns anstarrt, sollten wir vielleicht alle mit unseren Einkäufen fortfahren und dies später in der Privatsphäre unseres Nähzirkels besprechen?“

Mrs. Outhwaite runzelte die Stirn über Sophies Vorschlag, aber ließ sich nicht beirren. „Hat er den Reverend über seine Pläne informiert? Hat er angedeutet, dass er vorhat zu bleiben? Hat er erwähnt, was er mit all dem Ackerland und den Besitztümern zu tun gedenkt, die ihm nicht gehören, oder warum Mr. Spiggot nach jedem ihrer Treffen aschfahl ist?“ Sie schüttelte den Kopf und stieß erneut mit dem Zeigefinger in die Luft. „Natürlich hat er das nicht! Wenn mein Mann ihm keine Antworten entlocken kann, kann es niemand, und einem Mann, der so wortkarg bleibt, während alle um ihn herum um ihre Existenz fürchten, kann man nicht trauen. Sein Schweigen hat den Beigeschmack von Verrat. Von Hintergedanken und purer, unverfälschter Gier.“ Sie holte tief Luft. „Merkt euch meine Worte, meine Damen, unser neuer Earl wird unsere Häuser und Geschäfte an den Meistbietenden verkaufen, ohne sich um irgendjemanden von uns zu kümmern.“

Mrs. Outhwaite beugte sich noch weiter vor, und alle anderen Damen folgten ihr gebannt. „Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er einmal verheiratet war und dann unter dubiosen Umständen Witwer wurde.“ Alle zuckten zusammen.

Sophie nicht, denn die Information stammte angeblich aus „zuverlässiger Quelle“, was immer ein sicheres Zeichen dafür war, dass Mrs. Outhwaite eigentlich keine Ahnung hatte, ob ihre Anschuldigungen wahr waren, aber trotzdem so tun wollte, als wäre sie das Orakel aller Dinge. Während sie die Anschuldigung genüsslich in der Welt verbreitete, schauderten die anderen alle vor Entsetzen, als hätte er seine arme, unglückliche Frau mit bloßen Händen erwürgt, während sie um Gnade bettelte, und sie dann im Wald vergraben. „Er hat auch keine Kinder, was angesichts seiner Familiengeschichte nicht verwunderlich ist, und wahrscheinlich ist das auch gut so. Die Welt kann auf weitere Peels und ihr verdorbenes Blut verzichten.“

„Das könnte sich durchaus ändern, wenn er sich hier niederlässt, eine Frau findet und eine Familie gründet.“ Isobel Cartwright strich sich über ihre perfekte Frisur, während sie in Richtung des Earls blickte und sich offensichtlich innerlich schon auf diese Rolle vorbereitete. „Hat eine von Ihnen das in Erwägung gezogen? Denn ich kann Ihnen versichern, dass ich es getan habe.“ Sie schenkte Lord Hockley ein aufmunterndes Lächeln, um ihm zu zeigen, dass sie verfügbar war.

„Hör auf, mit dem Feind zu flirten, Mädchen!“ Mrs. Outhwaite bedachte Isobel mit einem strengen Blick. „Du verschwendest deine Zeit. Kein Earl wird jemals die Tochter eines Ladenbesitzers heiraten!“

Fairerweise muss man sagen, dass die kokette Isobel, die einige Jahre jünger als Sophie war, über gute Beziehungen verfügte, modisch gekleidet, schlank und deutlich hübscher war als alle anderen im Umkreis, ob sie nun die Tochter eines Ladenbesitzers war oder nicht, viel bessere Chancen hatte als jede andere alleinstehende Frau in Whittleston-on-the-Water, sich einen Titel zu ergattern. „Als Adeliger ist er verpflichtet, Erben zu zeugen, und es versteht sich von selbst, dass er in Hockley Hall Gesellschaft brauchen wird. Ich habe immer gedacht, dass es ein zu großes Haus für einen einsamen Junggesellen ist. Ich frage mich, ob ihn jemand zur monatlichen Versammlung eingeladen hat. Wenn nicht, sollte man es tun, denn es wäre schlechter Stil, ihn auszuschließen.“ Unverfroren warf Isobel ihm ein weiteres verführerisches Lächeln über den Platz zu, doch ihr unverhohlener Flirtversuch wurde von dem örtlichen Metzger vereitelt, der genau in diesem Moment aus seinem Laden trat und sich dem neuen Lord vorstellte. Das hielt Isobel nicht davon ab, ihn anzustarren, während sie Sophie mit dem Ellbogen anstieß.

„Wer hätte gedacht, dass der griesgrämige alte Hockley einen Cousin zweiten Grades hat, der ein goldhaariger Adonis ist?“, flüsterte sie gut hörbar für alle.

„Der Schein kann trügen, junge Dame“, sagte Mrs. Outhwaite. „Aber ich wage zu behaupten, dass wir alle schon bald sein wahres Wesen kennenlernen werden, obwohl, wenn ihr meine Meinung hören wollt …“ Was Sophie natürlich nicht tat, aber alle anderen schon. „Sein hübsches Gesicht wird durch die Grausamkeit in seinen Augen zunichte gemacht. Die Familie Peel ist bekannt für ihre Bösartigkeit, und diese Augen sind so kalt wie der Winter.“ Sie erzitterte, was die arme Tante Jemima erbleichen ließ.

„Haben Sie in Erwägung gezogen, dass er einfach nur schüchtern sein könnte?“ Sophie glaubte es in Anbetracht des grimmigen Blicks, mit dem er den Metzger jetzt bedachte, selbst nicht, aber trotzdem verspürte sie das Bedürfnis, ihn in Schutz zu nehmen. „Oder überfordert? Es muss entmutigend sein, sich einer so eng verbundenen Gemeinschaft gegenüberzusehen. Vor allem, wenn man nicht daran gewöhnt ist.“

An den engen Zusammenhalt im Dorf hatte sich Sophie auch erst gewöhnen müssen, als sie vor zehn Jahren hier angekommen war und dringend Ruhe gebraucht hatte, also hatte sie Verständnis dafür, wenn er sich von all der Neugier überwältigt fühlte. „Es muss ein ziemlicher Schock gewesen sein, die starre Struktur der Armee verlassen zu müssen, wo man ihm gesagt hat, was er zu tun hat, und plötzlich der allmächtige Herr zu sein, der für alles verantwortlich ist.“

Mrs. Outhwaite neigte den Kopf in Richtung des finster dreinblickenden Lord Hockley, der jetzt mit verschränkten Armen vor dem Metzger stand, sodass dieser so wirkte, als wäre er um ein paar Zentimeter geschrumpft. „Sieht dieser Mann für dich überfordert oder schüchtern aus?“

Das tat er nicht.

Wenn überhaupt, schien der neue Lord Hockley sich keinen Deut darum zu scheren, was man über ihn dachte oder was er für einen Eindruck machte. Aber selbst aus dieser Entfernung konnte sie sehen, dass Mrs. Outhwaite sich in einem Punkt geirrt hatte. An den Augen des neuen Earls war nichts Kaltes. Die unergründliche und intensive Hitze in ihnen brannte wie die Sonne.

Während sie alle ihn anstarrten, ließ Lord Hockley den Metzger stehen und kam zum Entsetzen der Damen über den Platz direkt auf sie zu. Fast so, als hätte er genug von ihrem Gerede und wäre entschlossen, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Mrs. Outhwaite war die Erste, die flüchtete, und innerhalb von Sekunden hatten sich alle Damen wie Ameisen zerstreut, sodass nur Sophie und Tante Jemima übrig blieben.

Da Sophie keine andere Wahl hatte, drückte sie dem Gemüsehändler schnell zwei Äpfel in die Hand. „Kann ich bitte auch ein Pfund Kartoffeln haben, Mr. Lynch?“ Mit etwas Glück würde der neue Earl an ihnen vorbeistürmen, während sie ihr Geschäft abschlossen, sodass sie und ihre Tante so tun konnten, als hätten sie ihn nicht bemerkt. „Und ein halbes Pfund Zwiebeln.“ Das Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen vibrierte unter seinen resoluten Schritten, und in wenigen Augenblicken würde er verschwunden sein, und sie konnten beide wieder aufatmen.

„Guten Tag, Lord Hockley.“ Beim Klang der zittrigen Stimme ihrer Tante zuckte Sophie den Bruchteil einer Sekunde zusammen, während sie im Rücken spürte, dass der Mann bei ihnen stehen geblieben war. „Ich wollte mich schon die ganze Woche vorstellen … da wir ja Ihre nächsten Nachbarn sind.“

Dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um sein Mitleid zu betteln, und Sophie betete, dass ihre Tante dies rasch einsehen würde. Mit einem wütenden Mann zu verhandeln, konnte nicht gut ausgehen. „Ich bin Miss Jemima Gilbert, eine alte Jungfer aus dieser Gemeinde, und das ist meine Nichte …“ Tante Jemima griff nach Sophies Ärmel und zwang sie, sich umzudrehen.

Aus zusammengekniffenen blauen Augen sah er sie an, als wäre er über ihren Anblick verärgert. Nach einem kurzen Blick, bei dem er zweifellos zu dem niederschmetternden Schluss gelangte, dass auch sie eine verstaubte alte Jungfer aus dieser Gemeinde war, wandte er sich mit unverhohlener Ungeduld wieder an ihre Tante. „Wir sind Ihre Mieter in …“

Er verdrehte die blauen Augen. „Natürlich sind Sie das. Ist das nicht jeder an diesem gottverlassenen Ort?“

Und mit diesen Worten schritt er davon, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.

2. KAPITEL

Eine Stunde später und endlich auf dem Heimweg, ärgerte sich Rafe immer noch über seinen unüberlegten Besuch im Dorf, da er doch nur ein ruhiges Leben führen wollte, so weit weg von allem, wie es nur möglich war.

Nachdem er in der glücklichen Anonymität von Cheapside gelebt hatte, hatte er vergessen, dass es praktisch unmöglich war, in einem englischen Dorf etwas unbemerkt zu tun. Aber er hatte es sattgehabt, in dem deprimierenden Mausoleum eingesperrt zu sein, das er geerbt hatte. Leider hatte er ausgerechnet den Markttag erwischt, um sein Pferd beschlagen zu lassen. Da er dringend einen Tapetenwechsel gebraucht hatte und fest davon überzeugt gewesen war, dass es ihm gelingen würde, nicht weiter aufzufallen, hatte er sich sorglos auf den Weg gemacht. Ein schrecklicher Fehler, den er auf keinen Fall noch einmal wiederholen würde, bevor er mit Archie zu neuen Ufern aufbrach.

Und je eher sie das taten, desto besser! Er verabscheute dieses Provinznest mitsamt seiner nörgelnden Einwohner schon jetzt und konnte es kaum erwarten, es hinter sich zu lassen.

Das war eigentlich keine große Überraschung.

Solange er denken konnte, hatte Rafe das enge Dorfleben gehasst. Es gab so viele Dinge, die er an einem uralten und malerischen englischen Dorf nicht mochte. Die Herdenmentalität und die aufgeblasene Wichtigkeit der wenigen, denen sie alle wie hirnlose Schafe folgten. Die kleingeistige Engstirnigkeit, die überall grassierte. Die Vorurteile und die Unwissenheit, die auf Schritt und Tritt verbreitet wurden. Die isolierte Gesellschaft, die sich in der Regel für etwas Besseres hielt als der Rest der Nation. Die Art und Weise, wie jeder schamlos über die Angelegenheiten der anderen Bescheid wusste und, weil man nicht dazu in der Lage war, sich um die eigenen zu kümmern, überall seine Meinung verkünden musste, ob sie nun erwünscht war oder nicht.

Und dann war da natürlich noch die unvermeidliche Gerüchteküche eines jeden Dorfes, angeheizt durch den unsinnigen und hirnlosen Klatsch, an dem sie alle so fieberhaft interessiert waren. Als ob die Betroffenen blind, taub und so dickhäutig wären, dass sie nicht wüssten, dass das grausame Geflüster hinter vorgehaltener Hand auch sie betraf. Es war genau das Gegenteil von dem ruhigen Leben, das er sich mit jeder Faser seiner überlasteten Seele wünschte.

Die Leute hier waren nicht zimperlich, das stand fest, vor allem wenn man von dem dreisten Hexenzirkel ausging, der mitten auf dem Marktplatz Hof gehalten hatte. Sie hatten ihn unverhohlen angestarrt und über ihn spekuliert. Zweifellos hatten sie ihn gnadenlos verleumdet, obwohl sie ihn gar nicht kannten. Sie waren so ätzend, dass ihm die Ohren buchstäblich von ihrem Gift aus fünfzig Fuß Entfernung gebrannt hatten.

Das böse Gerede hatte er in seiner Jugend am meisten verabscheut – vor allem, weil seine Familie immer im Mittelpunkt gestanden hatte – und es hatte nie aufgehört, ihn zu ärgern. Deshalb hatte ihn der heutige Tag tiefer getroffen, als er es hätte zulassen dürfen. Er hatte die Worte „verdorbenes Blut“ gehört, die in einer Brise über den Marktplatz getragen worden waren, und die Galle war ihm in den Hals gestiegen. Sein ganzes Leben lang hatte er Ähnliches zu hören bekommen. Doch die wenig subtilen Blicke und Kommentare, wenn sie alle dachten, dass er nicht hinsah, standen in krassem Gegensatz zu dem falschen Lächeln und den unaufrichtigen Höflichkeiten, die sie ihm entgegenbrachten, wenn sie ihm begegneten.

Und er schämte sich immer noch für die Art und Weise, wie das Dorf, in dem er früher gewohnt hatte, Archie von dem Moment an behandelt hatte, an dem er zur Welt gekommen war. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass er ihm so etwas noch einmal antun würde.

Nach einer Woche fühlte sich dieses Dorf schon genauso bedrückend an wie das, das er einst sein Zuhause genannt hatte, und die Bewohner schienen alle entschlossen zu sein, so viel Schuld auf sich zu laden, wie sie konnten, um ihn auf seinen Platz zu verweisen. Damals waren es die Schulden seines Vaters gewesen, die sie sich alle hatten um ihn scharen lassen, als ob er Geld aus dem Nichts hätte zaubern können, um es ihnen zu geben. Auch hier schienen die Dorfbewohner zu glauben, dass er ihnen allen etwas schuldete, und dank seines idiotischen Besuchs beim Schmied heute Morgen fühlte er sich jetzt unendlich schuldig, obwohl er keinen Grund dazu hatte.

Bis vor zwei Wochen, als Mr. Spiggot ihn in Cheapside gefunden hatte, hatte Rafe nicht gewusst, dass er noch weitere Verwandte hatte. Die Entdeckung, dass er schon immer einen Cousin gehabt hatte und der einzige entfernte Verwandte väterlicherseits nun mausetot war, war ein ziemlicher Schock gewesen. Noch schockierender war die Nachricht gewesen, dass er nicht nur den Nachlass des geheimnisvollen Mannes, sondern auch dessen Titel geerbt hatte, was ihm neben dem Geld eine Fülle neuer und unwillkommener Verpflichtungen beschert hatte, die er absolut nicht wollte und über die er immer noch überaus unglücklich war.

Er hatte seine Zeit im seelenzerstörenden Dienst an anderen mehr als abgesessen. Zu viele Jahre, als Junge und als Mann, und keine dieser Verantwortlichkeiten, die immer auf seinen Schultern gelastet hatten, abgesehen von Archie, hatte ihm jemals Freude bereitet. Er empfand kein Gefühl der Genugtuung darüber, dass er mit seinem hart verdienten Gehalt die Schulden seines gütigen, aber finanziell hoffnungslos fahrlässigen Vaters hatte begleichen können. Er war nicht stolz auf seine militärische Karriere. Wie sollte er auch, wenn die Hälfte der Männer, die ihm blindlings ins Gefecht gefolgt waren, nie wieder hatten zurückmarschieren können?

In den letzten anderthalb Jahren hatte Rafe in der komfortablen und gemütlichen Zuflucht seiner gemieteten Zimmer in Cheapside von einem Tag auf den anderen von dem gelebt, was von seinen Ersparnissen übrig geblieben war. Er knauserte und schnallte den Gürtel enger, während er von der Zukunft träumte, die er sich für seinen Bruder und sich ausgemalt hatte. Es waren keine einfachen achtzehn Monate gewesen, denn sie hatten mit einer Tragödie begonnen, aber sobald Archie sich eingelebt hatte, war er aufgeblüht, und es war, in Ermangelung einer besseren Beschreibung, das reine, unverfälschte Paradies gewesen, niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen.

Rafe hatte Träume, die sich nicht auf Menschen bezogen. Er war von einem Ehrgeiz getrieben, den er nicht ignorieren konnte, und von einer Million unerfüllter Pläne, deren Umsetzung in die Tat schon seit einem Jahrzehnt überfällig war. Er hatte die Absicht, das Geld aus dem Erbe zu nehmen und damit in den Sonnenuntergang zu verschwinden. Er hatte keinerlei Beziehung zu diesem Ort, abgesehen von der unglücklichen Verbindung zu einem Fremden, der nun in der Erde begraben war. Für ihn gab es hier keinerlei Bindungen, und darüber war er froh. Bindungen und ein ruhiges Leben gingen nicht Hand in Hand, und er und Archie hatten sich den Frieden mehr als verdient.

Die Irrungen und Wirrungen des verfluchten Whittleston-on-the-Water gingen ihn nichts an, ganz gleich, was das Testament seines Cousins zweiten Grades, Mr. Spiggot, sein belehrender Anwalt oder seine Legionen neuer und bedürftiger Pächter zu diesem Thema zu sagen hatten, und es würde ein kalter Tag in der Hölle werden, bevor er sich auf irgendetwas davon einließ!

Nein, in der Tat! Je schneller er die unerwünschten, unappetitlichen Aspekte seiner unerwarteten Erbschaft loswerden konnte, desto besser. Mr. Spiggot hatte bereits begonnen, das Verfahren einzuleiten, aber er hatte ihn gewarnt, dass es viele, viele Monate dauern könnte, bis ein Verkauf zum richtigen Preis zustande käme. Da er ungeduldig war und sich über das riesige Vermögen freute, das sich schon auf seinem Bankkonto befand, hatte Rafe die unziemliche Entscheidung getroffen, am kommenden Samstag eine halbseitige Anzeige in der Times zu schalten, um den Verkauf voranzutreiben. Zusammen mit dem Rest dieser wundersamen Erbschaft würde ihm das mehr als genug Geld einbringen, um gleich mehrere Leben zu finanzieren.

Er könnte sich endlich eine abgelegene Farm kaufen und mit Archie nach Herzenslust Pferde züchten. Lesen, reiten, sogar malen lernen, wenn ihm danach war … was immer er und Archie wollten, wann immer sie es wollten, völlig autark und ohne andere Menschen. Für kein Geld in der Welt wäre er bereit, in Whittleston-on-the-Water zu bleiben – ganz gleich, wie sehr die Bewohner dieses miesen Kaffs der Meinung zu sein schienen, dass er ihnen genau dies schuldig war.

Als der Weg nach links in die ungepflegte Zufahrt zum Mausoleum abbog, weigerte sich Atlas, sein streitlustiger Hengst, diese Richtung einzuschlagen, und strebte stattdessen nach rechts auf ein klappriges, strohgedecktes Cottage an einem Bach zu. Rafe konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte es auch nicht eilig, ins Herrenhaus mit seinen Stapeln von Papierkram und Haushaltsbüchern zurückzukehren, also gab er der Laune des Pferdes nach, stieg ab und setzte sich ans Ufer des Bachs, während das Tier trank. Er genoss den Frieden und die Stille, die ihn hier umgab.

Leider hielt dieser glückliche Zustand nicht lange an.

„Lord Hockley – auf ein Wort, bitte.“

Er drehte sich um und sah eine der Hexen vom Marktplatz aus dem Cottage auf ihn zustürmen, und innerlich stöhnte er auf. Es war diejenige, die so getan hatte, als wäre sie mit der Auswahl von Äpfeln beschäftigt, während sie ihn mit den anderen öffentlich zum Teufel schickte. Die Nichte der alten Jungfer. Na, großartig.

Die guten Manieren verlangten, dass er aufstand, und das tat er, wenn auch widerwillig. „Guten Tag, Mrs… “ Wie war noch mal ihr verflixter Name?

„Miss Gilbert.“

Miss? Das überraschte ihn.

Erstens, weil sie ungefähr in seinem Alter zu sein schien. Und zweitens, weil sie, wenn man von ihrem strengen Gesichtsausdruck absah, eine hübsche Frau war, sodass es einem Wunder gleichkam, dass sie noch nicht unter der Haube war. Er konnte nicht umhin, einige schöne Kurven unter ihrem langweiligen Kleid zu bemerken. Ein hübsches Gesicht unter ihrer schlichten Haube. Und schöne schokoladenbraune Augen. Alles in allem wirklich sehr hübsch, auch wenn es ihn ärgerte, dass ihm so etwas in diesem verfluchten Dorf überhaupt auffiel. „Guten Tag, Miss Gilbert.“

„Sie waren vorhin sehr unhöflich zu meiner Tante, und sie ist immer noch verärgert darüber. So sehr, dass sie sich heute Nachmittag ins Bett legen musste, weil sie nicht einmal mehr die Kraft hat, zum freitäglichen Nähkreis zu gehen, den sie in dreißig Jahren noch nie versäumt hat.“ Sie wedelte mit einem Finger vor seinem Gesicht herum, und schon wurden die Gründe dafür, dass sie noch nicht verheiratet war, offensichtlich. Sie war eine rechthaberische Nervensäge ersten Ranges. „Was um alles in der Welt gibt Ihnen das Recht, so unhöflich zu einer rechtschaffenen Frau in so fortgeschrittenem Alter zu sein?“

„Dasselbe Recht, das es Ihnen erlaubt, mich heute Morgen in aller Öffentlichkeit mit den anderen Hexen zu verunglimpfen, während Sie so taten, als würden Sie sich an einem Obststand umsehen, falls ich es bemerken sollte. Was ich übrigens getan habe. Ich hätte blind und taub sein müssen, um es nicht zu bemerken.“ Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet, und sie blinzelte hektisch.

„Wir haben Sie nicht verunglimpft, Mylord, wir haben uns lediglich über Sie ausgetauscht, wie es die Menschen zu tun pflegen, wenn sie wenig über eine Person wissen. Vor allem, wenn diese Person im selben Dorf wohnt, aber sich nur ungern mit ihren Nachbarn bekannt macht.“

„Warum sollte ich Sie kennenlernen wollen, wenn Sie alle der Meinung zu sein scheinen, dass die Welt ohne weitere Peels und ihr verdorbenes Blut auskommen kann?“

Er lächelte süßlich, als er diese gehässige Bemerkung wiederholte, obwohl sie ihm im Hals stecken zu bleiben drohte. Es war nicht einfacher, die Gemeinheiten zu sagen, als sie zu hören, und er hatte so oft welche gehört, dass er sie nicht mehr zählen konnte. Fast immer aus dem Munde von Frauen, bevor sie sich eilig aus dem Staub machten.

Ihr Gesicht nahm den Ausdruck widerwilliger Zerknirschung an. „Das waren nicht meine Worte, Lord Hockley. Das entschuldigt sie jedoch nicht, und wenn ich mich heute Morgen wegen etwas schuldig gemacht haben sollte, dann dafür, dass ich den Damen nicht in die Parade gefahren bin. Über jemanden hinter seinem Rücken zu sprechen, ist unhöflich und unentschuldbar, und ich möchte Sie um Verzeihung bitten, wenn ich Sie in irgendeiner Weise beleidigt haben sollte.“

Bei Gott! Die Frau hatte Nerven. Als ob er ihre verstohlenen Blicke und entsetzten Gesichtsausdrücke falsch gedeutet hätte. Und es war nicht hinter seinem Rücken geschehen, sondern direkt vor seinen Augen. Unverfroren.

„Aber zweimal Unrecht ergibt nicht einmal Recht, Mylord, und meine arme Tante war heute Morgen bestenfalls eine unschuldige Zuschauerin, die an diesem unangebrachten Gespräch nicht beteiligt war. Daher hat sie Ihre gefühllose Behandlung auch keineswegs verdient, als sie versucht hat, sich Ihnen vorzustellen. Wenn Sie mir erlauben, offen zu sein, Mylord …“

„Habe ich denn eine Wahl in dieser Angelegenheit, Miss Gilbert?“

Ihre schönen dunklen Augen verengten sich bei seinen Worten, aber sie versuchte, sich in ihrem Ton zu mäßigen, obwohl es ihr nicht gelang, dasselbe mit ihren Worten zu tun. „Es ist schlechter Stil, dass eine brave Mieterin Sie aufsuchen muss, um sich vorzustellen, während ein verantwortungsvoller Vermieter sie aufgesucht hätte, um sie nicht im Unklaren zu lassen. Meine Tante hat ein Recht darauf zu wissen, an wen sie ihre Miete zahlt.“

„Soweit ich weiß, kümmert sich der Verwalter, Mr. Higgins, um die Mieter, und das schon seit zwanzig Jahren.“

Bei der Erwähnung des Namens des Verwalters presste sie die Lippen aufeinander. „Er treibt das Geld regelmäßig ein – und zwar gewissenhaft –, aber sofern mir bekannt ist, wird es dann direkt in Ihre Kasse eingezahlt. Daher gebieten es die guten Sitten …“

Rafe lachte. Sie war so scheinheilig und selbstgerecht, dass er es sich nicht verkneifen konnte. „Sie sollten sich nicht anmaßen, mich über gute Manieren zu belehren, Miss, wenn Sie selbst so wenig davon haben. Aber bitte entschuldigen Sie mich bei Ihrer Tante für meine Grobheit heute Morgen. Normalerweise ist es nicht meine Art, alten Damen gegenüber unhöflich zu sein, also hat sie mich an einem schlechten Tag erwischt.“ Und weil das alles war, was Rafe um seiner Ruhe willen zu diesem Thema zu sagen bereit war, neigte er höflich den Kopf. Er ergriff Atlas’ Zügel und genoss die sichtbare Empörung der Frau vielleicht ein wenig zu sehr, als es sich für einen Gentleman gehörte, denn sie wirkte Wunder auf ihren Busen, der sich aufgrund ihrer Entrüstung rasch hob und senkte, und ließ diese attraktiven Augen funkeln. „Guten Tag, Miss Gilbert.“

Er hatte sich gut drei Meter entfernt, als sie sich wieder zu Wort meldete. „Wenn ich mich bei meiner Tante in Ihrem Namen entschuldige, kann ich ihr dann auch versichern, dass sie auch in Zukunft Mieterin der Familie Peel sein wird?“ Er hielt inne, als ihn Schuldgefühle überkamen. „Sie kennt kein anderes Zuhause, Mylord, und ihre Gesundheit ist nicht gut, sodass der Verlust des Hauses, in dem sie ihr Leben lang gelebt hat, wahrscheinlich ihr Tod wäre.“

„Ich habe keine unmittelbaren Pläne, sie zu vertreiben.“ Das war eine feige Antwort, auf die er nicht stolz war, aber eine Version der Wahrheit. Als ihr derzeitiger Vermieter hatte er absolut nicht die Absicht, irgendetwas zu unternehmen, solange es dauerte, bis er den Ort los war.

Was danach geschah, war reine Spekulation, aber bis dahin hatte er vor, meilenweit entfernt zu sein, und es würde ihn nicht mehr interessieren. Er hatte einen guten Plan, und daran würde er sich auf jeden Fall halten.

„Es sind nicht Ihre unmittelbaren Pläne, die mich beunruhigen, Mylord, es sind Ihre Zukunftspläne. Darf ich fragen, was Sie vorhaben?“

Rafe drehte sich um und wünschte dann, er hätte es nicht getan. Diese hübschen braunen Augen waren jetzt voller Bitterkeit, und das zerrte an seinem Herzen und wühlte sein Gewissen auf. Aber er musste standhaft bleiben, denn er war diesen Fremden nichts schuldig. Nichts! Archie hingegen schuldete er die Welt.

Er verhärtete sein weiches Herz und lächelte, wobei er versuchte, den schockierenden Zustand der Wände des Hauses, das ihm offenbar gehörte, hinter ihr zu ignorieren. Mauern, die aussahen, als ob das Einzige, was sie aufrecht hielt, ein Gebet und die uralten, verworrenen Ranken der Glyzinie waren, die an ihnen emporwuchs. „Sobald ich welche habe, werde ich sie Ihnen vorlegen, Miss Gilbert.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“

Unbehaglich fummelte Rafe an Atlas’ Trense herum. „Vielleicht … aber das Beste, was ich heute habe.“

Sie wussten beide, dass das eine Lüge war.

„Dann muss ich aufgrund Ihrer Zurückhaltung und Ihrer Unfähigkeit, mir in die Augen zu sehen, davon ausgehen, dass alle Befürchtungen wahr sind, Sir.“ Sie betrachtete ihn nun, als wäre er ein Monster und nicht nur ein Ärgernis oder eine Enttäuschung. „Sie haben also die Absicht, uns Whittleston-on-the-Water unter den Füßen wegzuverkaufen.“

Er zuckte mit den Schultern und zwang sich, ihr in die Augen zu sehen, wobei er sich seltsamerweise für die Wahrheit schämte, obwohl er keinen Grund dazu hatte. „Es ist zu Ihrem Besten, das kann ich Ihnen versichern. Ich bin nicht dazu geschaffen, ein Gutsherr zu sein, und hatte auch nie den Wunsch, einer zu sein.“ Wenigstens das war die Wahrheit. „Und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass mein Nachfolger viel besser für diese Rolle geeignet ist, als ich es je wäre.“ Er versuchte sich an einem beruhigenden Lächeln, befürchtete allerdings, sein Ziel weit zu verfehlen. „Und er wird es wahrscheinlich auch besser machen als mein Vorgänger, wenn man sich den heruntergekommenen Zustand des Dorfes ansieht.“

Er ließ den Blick wieder zu ihrem Häuschen wandern, und es kostete ihn all seine Willenskraft, nicht zusammenzuzucken, denn Teile des Cottages wirkten wirklich so, als wären sie einsturzgefährdet. Vor allem der bröcklige Schornstein sah aus, als ob ein Windstoß ihn zum Einsturz bringen könnte. Sein mausetoter Cousin zweiten Grades hätte etwas dagegen unternehmen müssen, wenn er die Frechheit besaß, von einer alten Dame Miete für diese Bruchbude zu verlangen.

„Und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er einfach nur das Land haben will, Lord Hockley. Die Gelegenheit, ein weitläufiges, weitgehend unbewohntes Anwesen in der Nähe von London zu erwerben, ist seltener, als dass ein Huhn Zähne hätte. Er hätte einen spektakulären Blick auf die Themse, wenn unser baufälliges Dorf nicht länger im Weg wäre.“

3. KAPITEL

Rasch machte sie sich zurück auf den Weg ins Dorf, gleichermaßen wütend und beunruhigt. Sie hatte keine Ahnung, wie sie Tante Jemima die Nachricht überbringen oder was aus ihnen werden sollte, wenn das Schlimmste passierte, aber Sophie wusste ohne den geringsten Zweifel, dass sie es nicht kampflos hinnehmen würde.

Sie verdankte ihrer Tante alles.

Tante Jemima war der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der ihr beigestanden hatte, als sie ganz allein gewesen war. Sie hatte ihr nicht nur trotz des Skandals ein Zuhause gegeben, sondern war auch ihr Fels in der Brandung gewesen, als das Schlimmste passiert war. Tante Jemima hatte sie gerettet und erwartete nicht mal Dankbarkeit. Da der Verlust ihres geliebten Cottages zweifellos das Schrecklichste wäre, was ihr passieren konnte, war es selbstverständlich, dass Sophie alles tun würde, um ihre Schuld bei ihr zu begleichen. Sie musste einen Weg finden, ihre Tante vor diesem Albtraum zu bewahren.

Ganz gleich, was das Gesetz sagte, dies war ihr Dorf. Seit achthundert Jahren stand es stolz an den Ufern der Themse. Es hatte Kriege und Seuchen und mehr Gutsherren überlebt, als man zählen konnte. Deshalb betete Sophie, dass es mehr als einen gierigen Earl brauchte, der weniger als fünf Minuten hier gewesen war, um zu verhindern, dass es auch die nächsten achthundert Jahre stolz dastand.

Sie beschleunigte ihr Tempo, als sie sich St. Hildelith näherte, und raffte dann ihre Röcke, als sie auf das Gemeindehaus zuhielt. Sie sah offenbar ziemlich mitgenommen aus, als sie in den Nähkreis hineinplatzte, denn mehrere Damen schrien erschrocken auf und ließen ihre Stickarbeiten fallen.

„Er wird alles verkaufen!“ Es war nicht die Zeit, um um den heißen Brei herumzureden. „Ich habe es vor nicht einmal zehn Minuten direkt aus erster Hand erfahren!“ Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn sie hatte die Worte ausgesprochen, aber er hatte sie nicht geleugnet.

„An wen verkauft er denn?“ Die erste Frage kam von der Frau des Pfarrers. „Kennst du den Namen, Sophie? Oder hast du eine Vorstellung vom Charakter des Käufers? Oder von seinen Absichten?“

Sophie schüttelte den Kopf. „Er weigerte sich, Genaueres zu sagen, und schien sich zu ärgern, es überhaupt zugegeben zu haben. Was, wie wir alle wissen, nichts Gutes verheißt. Obwohl ich den Eindruck habe, dass er zwar verkaufen will, aber noch keinen Käufer hat.“

„Er will den größtmöglichen Profit herausschlagen, darauf wette ich! Habe ich euch nicht gesagt, dass er bösartig und gefühllos ist?“ Mrs. Outhwaite warf ihren Stickrahmen achtlos beiseite. „Ich muss meinem Mann die schlechte Nachricht überbringen … er wird am Boden zerstört sein.“

„Wir sollten alle nach Hause gehen und das Gleiche tun.“ Die Postmeisterin griff mit Tränen in den Augen nach den Händen ihrer Zwillingstöchter. „Kommt, meine Lieben … lasst uns bei eurem Vater Trost suchen. Obwohl wir alle schon lange befürchtet haben, dass dieser furchtbare Tag kommen würde, muss ich gestehen, dass ich nie erwartet hätte, dass es uns so bald nach Lord Hockleys Ableben treffen würde. Ich hatte gehofft, wenn sie auf wundersame Weise einen Erben finden …“ Sie verstummte und tupfte sich mit einem Taschentuch die Wangen.

„Ich habe die Gästezimmer renovieren lassen … was für eine schreckliche Geldverschwendung das war.“ Selbst die sonst so temperamentvolle Wirtstochter war so niedergeschlagen, als hätte sie bereits ihre Kündigung erhalten. Die anderen saßen ebenso bedrückt und fassungslos da. Sie schienen ihr Schicksal bereits als besiegelt zu betrachten.

Sophie stellte sich vor die Tür und versperrte ihnen den Ausgang. Sie konnte das nicht zulassen. Auf gar keinen Fall! „Er hat das Dorf noch nicht verkauft, also können wir ihn vielleicht noch aufhalten!“

Mrs. Outhwaite stieß einen resignierten Atemzug aus. „Und wie sollen wir das anstellen, wenn ihm das ganze Land gehört?“

„Es mag ihm gehören, aber wir alle leben davon und kümmern uns darum! Das verschafft uns doch sicher etwas Macht. Wenigstens ein Mitspracherecht? Wenn wir unsere Argumente richtig vortragen, hört er uns vielleicht zu.“ Eben allerdings hatte er einen anderen Eindruck gemacht. „Wir könnten den Pfarrer um Unterstützung bitten.“ Sophie wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben. Sie war nicht bereit, dieses Gefühl jemals wieder zu empfinden. „Vielleicht könnten wir auch unseren Abgeordneten für unsere Sache gewinnen. Es könnte viel bewirken, wenn er sich die Mühe macht, den neuen Earl über die wirtschaftlichen Vorteile eines prosperierenden Dorfes in der Nähe der Hauptstadt aufzuklären.“

Einige der älteren Frauen tuschelten, bevor Mrs. Outhwaite das Wort ergriff. „Gütiger Himmel, Mädchen! In was für einer Welt lebst du denn, dass du so einen Unsinn in Erwägung ziehst? Niemanden interessiert es, was wir über irgendetwas denken – am allerwenigsten unseren Abgeordneten. Es ist ja auch nicht so, dass jeder von uns für ihn stimmen könnte. Nur diejenigen, die Land besitzen, können ihn wählen, und das macht ihn unweigerlich zu Lord Hockleys größtem Anhänger!“

Das stimmte leider, wie Sophie nicht leugnen konnte. „Wenn wir also nicht an sein Gewissen appellieren können …“ Nicht, dass sie glaubte, er hätte eins! „Wir könnten unsere Kräfte bündeln und eine Klage anstrengen.“

„Mit welcher Begründung, Sophie?“ Die Frau des Pfarrers schüttelte den Kopf, während sie sie mitleidig ansah. „Mrs. Outhwaite hat recht, Liebes. Sein Name steht auf den Urkunden, also ist das Gesetz auf seiner Seite. Wir haben keine rechtliche Handhabe. Erinnerst du dich nicht, was in Hinkwell geschehen ist? Es war der neue Landbesitzer, der die Richter einsetzte, um seinen Willen durchzusetzen, ohne Rücksicht auf die Wünsche der Dorfbewohner.

„Das lag daran, dass die Dorfbewohner erst von dem Verkauf erfahren haben, nachdem alle Papiere unterzeichnet waren und das Geld überwiesen worden war. Wir wissen von Lord Hockleys Plänen, bevor er sie in die Tat umgesetzt hat, also muss es doch noch eine Chance geben, ihn aufzuhalten? Zumindest können wir Einfluss auf den Prozess nehmen, um sicherzustellen, dass er das Land an jemanden verkauft, der unser Dorf nicht zerstört.“

Die Damen starrten alle betreten auf den Boden. Sophie konnte es nicht fassen! „Ich kann nicht glauben, dass ihr das einfach so akzeptiert! Dass ihr bereits kapituliert habt und nicht bereit seid, für unsere Heimat zu kämpfen!“

„Ihm gehört das Land, Sophie.“ Mrs. Outhwaite schien all ihren Elan und ihren Kampfgeist verloren zu haben. „Daher sind wir seinen Entscheidungen ausgeliefert. Wir können jetzt nur beten, dass derjenige, der das Dorf kauft, den Wert der Höfe und Geschäfte erkennt, obwohl ich befürchte, dass das unwahrscheinlich ist, da der alte Earl so viele der Gebäude hat verkommen lassen. In seinem derzeitigen Zustand bietet Whittleston-on-the-Water kaum eine verlockende Perspektive für einen Unternehmer.“

Heruntergekommen.

Das war es, was Lord Hockley gesagt hatte, und er hatte recht. Sein Vorgänger war ein alter Geizkragen gewesen, dem der Profit immer wichtiger gewesen war als die Menschen, wie das alte, undichte Strohdach und der brüchige Schornstein des Cottages ihrer Tante bewiesen. Jahrelang hatten sie ihn angefleht, beides zu reparieren, aber stets hatte er irgendwelche Ausreden erfunden.

Den anderen Dorfbewohnern war es nicht viel besser ergangen. Im besten Fall wurden Löcher im Dach geflickt, und zwar meist eher schlecht als recht, von irgendwelchen Handlangern, die am wenigsten für ihre Arbeit verlangten. Da diese gewieften Gauner wussten, dass der alte Earl dazu neigte, Rechnungen nicht zu bezahlen, wenn es sich vermeiden ließ, und daher auf einer Vorauszahlung bestanden, waren sie oft längst verschwunden, bevor sie die Aufgabe ordnungsgemäß beendet hatten, und der endlose Kreislauf von Beschwerden, die auf taube Ohren stießen, bis die jährlichen Mieterhöhungen fällig waren, hatte von vorn begonnen.

„Dann sollten wir entweder Lord Hockley dazu zwingen, das Dorf attraktiver zu machen, damit er den richtigen Käufer findet, oder alles in unserer Macht Stehende tun, um es so wenig attraktiv wie möglich erscheinen zu lassen!“ Sie war nicht bereit aufzugeben! „Er ist der alleinige Landbesitzer, nicht wahr? Das heißt, wir sind hundertfünfzig, und er ist allein. Wenn wir uns gemeinsam gegen ihn auflehnen, können wir ihm das Leben zur Hölle machen.“

Die Frau des Pfarrers war entsetzt über diese Idee. „Wenn du mit Revolution Gewalt meinst, Sophie, wie in Frankreich, kann und will ich das nicht gutheißen.“

„Ich schlage nicht vor, Lord Hockley mitten auf dem Platz zu guillotinieren.“ So verlockend dieser Gedanke im Moment auch war. „Wir sollten ihm nur das Leben so schwer machen, dass er uns zuhören muss. Ein friedlicher Protest, aber ein eindrucksvoller.“

„Das hört sich gut an, junge Dame.“ Mrs. Fitzherbert, die mit ihren vierundneunzig Jahren die älteste Bewohnerin des Dorfes war, wirkte regelrecht kampflustig, während sie sich schwer auf ihren Stock stützte. „Denn du hast völlig recht. Wie kann dieser Mann es wagen, hierherzukommen und zu glauben, er könnte uns so abscheulich behandeln, ohne dass wir uns wehren! Das werden wir uns nicht gefallen lassen.“ Sie sah Sophie lächelnd an und dann auch alle anderen. „Wie lautet dein Plan, liebe Sophie?“

„Mein Plan?“

„Du erinnerst mich an mich selbst in meinen besten Jahren, und eine Rebellion anzuzetteln ist genau das, was ich tun würde, wenn ich nur fünf Jahre jünger wäre. Aber leider ist das Alter eine grausame Herrin, und für eine Revolution braucht man einen jüngeren Körper als meinen verschrumpelten, und so kann ich mir niemanden vorstellen, der besser geeignet wäre als du, uns in die Schlacht gegen unseren Feind zu führen.“ Alle außer Mrs. Outhwaite, die sich sichtlich darüber ärgerte, dass man sie gar nicht erst in Betracht gezogen hatte, nickten enthusiastisch.

„Du kannst offenbar gut mit ihm umgehen“, fuhr die Frau des Pfarrers nach einer Weile fort, während Sophie nur überfordert blinzeln konnte. „Und mit uns. Eben waren wir alle bereit, die weiße Fahne der Kapitulation zu schwenken – bis du uns zu den Waffen gerufen und uns Hoffnung gegeben hast, Sophie.“

„Ich glaube, ein Mann wäre die bessere Wahl.“ Mrs. Outhwaite war nicht willens, so einfach das Feld zu räumen. „Ein angesehener Herr aus dem Dorf … wie mein Mann vielleicht? Einer, der es gewohnt ist, mit anderen Herren von Rang und Namen zu diskutieren.“ Sie nickte selbstgefällig. „Männer, so meine Erfahrung, begegnen anderen Männern eher auf Augenhöhe. Es ist viel einfacher für sie, eine Frau zu ignorieren – ganz gleich, wie beeindruckend oder fähig sie nach außen hin erscheinen mag.“ Der Blick, den sie Sophie zuwarf, machte deutlich, dass sie sie für völlig unfähig hielt.

„Ist er nicht allen Fragen deines Mannes geschickt ausgewichen, Agatha?“ Mrs. Fitzherbert sah Mrs. Outhwaite mit hochgezogenen Brauen an. „Genauso wie er jeder einzelnen sachdienlichen Frage eines jeden anderen angesehenen Gentlemans unserer Gemeinschaft auswich, der ihn in der letzten Woche direkt nach seinen Plänen gefragt hat. Sophie hingegen hat es geschafft, ihm eine Antwort zu entlocken.“ Sie schlug mit ihrem Stock hart auf den Boden und zeigte mit einem gekrümmten Finger auf Sophie. „Sie ist seine Achillesferse.“

„So weit würde ich nicht gehen … vielleicht habe ich einfach nur die richtige Frage zur richtigen Zeit gestellt?“

„Genauso wie du wusstest, was du zu uns sagen musstest, um uns aus unserem Selbstmitleid aufzurütteln und uns Hoffnung zu geben. Das ist eine Gabe, Mädchen!“ Mrs. Fitzherbert schlug noch einmal mit ihrem Stock auf den Boden, als ob die Entscheidung bereits gefallen wäre. „Wenn man so alt ist wie ich, hat man gelernt, dass es immer einen Weg gibt, wenn man nur jemanden findet, der einem die richtige Richtung weist. Heute – in diesem Moment, am Beginn dieses steinigen Weges – bist du es, Sophie Gilbert, die uns die Richtung weist.“ Zwei schlaue alte Augen blickten sie herausfordernd an. „Also lass deinen Worten Taten folgen und führe uns, junge Dame, und wir werden dir folgen.“

***

Nach einer weiteren grässlichen Nacht auf der harten, alten Matratze seines Bettes im Mausoleum erwachte Rafe mit einem Schreck durch den Klang eines Horns.

Dank eines Jahrzehnts strenger militärischer Ausbildung sprang er sofort auf und kramte kurz nach seiner Uniform und seinen Waffen, bevor ihm einfiel, dass er kein Soldat mehr war. Zumindest war es das, womit er sich tröstete, bis er aus dem Fenster schaute und den Mob wütender Menschen auf seiner Auffahrt sah, die etwas in die Höhe hielten, was anscheinend …

Großer Gott, waren das Schilder?

Ja, so war es. Ein wahres Meer von ihnen.

Da es noch recht dunkel war, musste er ein wenig blinzeln, um sie zu lesen, und der Kiefer klappte ihm bei jedem ein bisschen mehr hinunter.

Whittleston wird nicht verschachert!

Das Dorf gehört uns!

Reparieren Sie die Häuser!

Lang lebe Whittleston-on-the-Water! Wie können Sie es wagen, Ihre GIER über unsere Nöte zu stellen?

Während er ungläubig starrte, beobachtete er, wie die hübsche Miss Gilbert an der Seite einer alten Dame mit einem Gehstock, die etwa hundert Jahre alt zu sein schien, der Menge voranmarschierte. Miss Gilbert sah ihn gleichermaßen entschlossen und mit einem Ausdruck völliger Verzweiflung an, bevor sie und die alte Frau das lange Banner entrollten, das sie persönlich bis zu seiner Türschwelle getragen hatte. Die scharlachroten, gemalten Buchstaben waren so groß, dass man sie weithin hätte entziffern können.

SCHANDE ÜBER SIE, LORD HOCKLEY!

„Mylord, wir werden belagert!“ Sein neuer Butler war so weiß wie Miss Gilberts verdammtes Laken, als er durch die Tür gestürmt kam. „Was sollen wir nur tun?“ Er begann auf und ab zu laufen wie ein kopfloses Huhn. „Ich habe das Personal bereits angewiesen, die Fensterläden zu schließen, aber wenn sie angreifen …“

Rafe packte den Butler an den Schultern. „Beruhigen Sie sich, Walpole! Sie sind unbewaffnet.“

Obwohl das grimmige Funkeln in den Augen der alten Dame verriet, dass die durchaus bereit war, ihm mit ihrem Stock Schaden zuzufügen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekäme. Das Gleiche galt auch für Miss Gilbert, die dazu wohl nur ihre bloßen Hände brauchte. Er blickte zu ihr, wie sie da draußen aufrecht und stolz stand.

„Ich werde mit ihnen reden.“ Er wollte sich schon in Bewegung setzen, da fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass es wohl besser wäre, sich etwas anzuziehen. „Ein Dienstmädchen soll zu Archie gehen und bei ihm bleiben. Ein ruhiges Dienstmädchen, das ihn nicht zu Tode erschreckt.“

„Ja, Mylord.“ Der Butler nickte. „Sobald ich das getan habe, soll ich die Pistolen holen, Mylord? Oder die Donnerbüchse?“

„Wir befinden uns nicht im Krieg, Walpole!“ Zumindest noch nicht. Aber nach der Situation zu urteilen, könnte der Fall durchaus eintreten, wenn er die Dinge nicht vorsichtig anging.

„Aber so etwas habe ich in meinen fünf Jahren hier noch nie erlebt, Mylord! Die Dorfbewohner sind freundliche Leute und neigen nicht zu Unruhestifterei, also ist etwas nicht in Ordnung. Vielleicht sollte ich stattdessen den Konstabler holen lassen?“

„Nein, Walpole. Wir sollten nicht überreagieren.“ Er wollte kein Öl ins Feuer gießen. Rafe war bekannt als überaus diplomatisch und als geborener Anführer, zumindest hatten das die hohen Tiere gesagt, als sie ihm diesen wertlosen Orden an die Brust hefteten. „Lassen Sie Tee für alle im Speisesaal servieren und weisen Sie die Köchin an, ein großes Frühstück zuzubereiten.“ Die Leute schrien weniger, wenn sie beschäftigt waren, und was gab es Besseres, als sie mit Essen zu beschäftigen. „Ich werde die Rädelsführer zu einer zivilisierten Diskussion einladen, bei der wir hoffentlich eine gütliche Einigung finden werden.“ Und dann würde er hoffentlich diesen jämmerlichen Ort für immer hinter sich lassen können.

4. KAPITEL

Obwohl er nun angemessen bekleidet war, musste Sophie immer wieder daran denken, was sich unter seiner Kleidung befand, als er sich mit einem selbstbewussten Lächeln der Menge näherte. Sie hatte sich fast an ihrer eigenen Zunge verschluckt, als er die Vorhänge aufzog und sich ihnen in seiner prächtigen Nacktheit von der Taille aufwärts präsentierte. Sosehr sie ihn persönlich auch verabscheute, sein Anblick war herrlich gewesen. Jetzt wusste sie, dass die breiten Schultern, die den weinroten Mantel so gut ausfüllten, echt waren und keine durch Polster hergestellte Illusion.

„Meine Damen und Herren, ich nehme an, Sie sind wegen meiner Verkaufsabsichten beunruhigt?“

Mehrere der Dorfbewohner brachten ihren Missmut murmelnd zum Ausdruck. Einige, darunter auch die alte Dame neben ihr, buhten. Wenn ihn das störte, verbarg er es gut.

„Ich würde es begrüßen, wenn ich die Gelegenheit bekäme, mit Ihnen allen darüber zu sprechen, aber ich fürchte, dass eine solche Diskussion zwecklos ist, wenn ich nur eine Stimme bin gegen Sie alle und die Gemüter offensichtlich erhitzt sind. Außerdem ist es hier draußen eiskalt.“ Er lächelte und breitete die Arme aus, ein Bild vollkommener Gelassenheit. „Deshalb bin ich im Geiste der Eintracht bereit, eine kleinere Delegation ins Haus einzuladen, die für Sie alle sprechen kann, in der Hoffnung, dass wir gemeinsam einen Kompromiss erzielen werden, während der Rest von Ihnen in der Wärme Ihrer eigenen Häuser auf die Neuigkeiten wartet.“ Er schaute Sophie direkt an. „Wäre das in Ordnung, Miss Gilbert?“

Sie nickte misstrauisch und fragte sich, warum sich ihr dummer Puls in dem Moment beschleunigt hatte, als sich ihre Blicke trafen, wenn sie den Kerl doch so sehr verabscheute. „Wie klein soll die Delegation denn sein?“ Denn wenn es nur um sie und ihn ging, würde die Antwort laut und unmissverständlich Nein lauten.

„Mein Esszimmer ist derzeit für zwölf Personen eingerichtet, und ich würde nur einen Platz benötigen.“ Er lächelte sein charmantestes Lächeln, das so entwaffnend war wie kein anderes, das sie je gesehen hatte.

„Dann nehmen wir gerne die anderen elf, Mylord, solange wir uns aussuchen können, wer diese elf sind.“

„Sie haben freie Hand, diese Stühle mit jedem zu besetzen, den Sie für geeignet halten, Miss Gilbert …“ Sein Blick wanderte zu dem Meer von Schildern und wütenden Gesichtern. „Solange der Rest von Ihnen dann die Gnade hat, sich von meinem Grundstück zurückzuziehen, und es unterlässt, meine Angestellten zu verängstigen.“ Dann neigte er höflich den Kopf. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich halte es ebenfalls für angebracht, dass ich mich zurückziehe, während Sie Ihre Sekundanten auswählen. Ich werde geduldig und respektvoll drinnen in meinem Mausoleum warten.“ Und damit verschwand er wieder durch seine imposante Haustür, die sich hinter ihm schloss.

Sophie beschloss, die Menge in verschiedene Gruppen einzuteilen, damit die ihren jeweiligen Sprecher wählten. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie auf zehn Personen reduziert, die sich alle hinter ihr einreihten, während Sophie auf die Tür zustrebte. Sogar Mrs. Outhwaite schien zu akzeptieren, dass Sophie das Sagen hatte – wenn auch mit geschürzten Lippen.

Zu ihrer Überraschung war es Lord Hockley selbst, der sie mit einem weiteren umwerfenden Lächeln hereinbat. Ein Lächeln, von dem sie überzeugt war, dass er es mit rücksichtsloser Absicht einsetzte, um sie für sich zu gewinnen. „Meine Damen und Herren, willkommen in den vollgestopften Räumlichkeiten des Mausoleums Hockley Hall.“ Mit einem selbstironischen Schulterzucken deutete er auf die kunterbunte Mischung an Antiquitäten, die die getäfelte Halle hinter ihm füllte. „Bitte verurteilen Sie mich nicht wegen der eigenwilligen, staubigen Einrichtung meines Vorgängers, denn ich hatte damit nichts zu tun.“ Er warf einen Blick auf den von Motten zerfressenen ausgestopften Kopf eines alten Keilers, der von über dem Türrahmen auf sie hinabstarrte, und verzog das Gesicht zu einem Ausdruck komischen Ekels, der einige von ihnen zum Lächeln brachte. „Im Speisesaal warten Erfrischungen auf Sie.“

Sophie war klar, dass der neue Lord Hockley sich mit seiner Charmeoffensive alle Mühe gab, sympathisch zu wirken. Er schüttelte allen herzlich die Hand, während die Dienerschaft die Mäntel entgegennahm, und machte dabei Scherze und freundliche Bemerkungen, die eindeutig darauf abzielten, sie alle zu bezaubern. Er schaffte es sogar, die säuerliche Mrs. Outhwaite zum Lächeln zu bringen, was keine Kleinigkeit war, denn Sophie war das nie gelungen. Als das erledigt war, wies er sie an, seinem Butler zu folgen, als wären...

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