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Als er Candice gegenübersteht, holen Gideon die Bilder der Vergangenheit ein: Anfang zwanzig und am Beginn einer Karriere, küsst er leidenschaftlich die Tochter seines Chefs - allerdings erweist sich das Rendezvous als Falle. Denn das nächtliche Intermezzo kostet Gideon den Job. Aber jetzt ist die Zeit für seine Rache gekommen: Candice soll für das Vergangene büßen!


  • Erscheinungstag 12.04.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777876
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Candice widerstand der Versuchung, glättend über den Rock ihres makellosen Kostüms zu streichen … der Kopie eines Chanel-Modells, die sie in Hongkong für ein Zehntel des Originalpreises erstanden hatte … und so ihre Nervosität zu verraten. Obwohl niemand im Raum war, der sie hätte beobachten können. Scheinbar war sie die letzte Bewerberin, die auf ihr Vorstellungsgespräch für die Stelle einer Wirtschafterin im Hause des millionenschweren Geschäftsmannes Gideon Reynolds wartete.

Unter normalen Umständen wäre sie nicht so nervös gewesen. Im Lauf ihrer Karriere hatte sie schon härtere Bewerbungsgespräche durchgestanden. Aber noch nie hatte sie sich eine Stelle so sehr gewünscht wie diese. Da half es auch nichts, wenn sie sich ins Gedächtnis rief, dass sie in vieler Hinsicht sogar überqualifiziert dafür war. Ihre Fähigkeiten und Ausbildung als erfolgreiche Geschäftsführerin bei einer angesehenen europäischen Hotelkette mit Kongresszentren ließen sich nur schwer auf die Stellenanforderungen in einem verschlafenen Markstädtchen in Dorset übertragen.

In der vergangenen Woche hatte sie halbtags im örtlichen Supermarkt Regale aufgefüllt und das Geld gut gebrauchen können. Denn im Hotelgewerbe waren die Gehälter selbst in leitenden Positionen nicht sehr üppig. In der Vergangenheit war das für Candice kein Thema gewesen. Die Arbeit hatte ihr viel Spaß gemacht, und zusätzliche Anreize wie kostenlose Reisen, freie Unterkunft und der Umgang mit interessanten Menschen hatten die eher magere Bezahlung aufgewogen. In der Vergangenheit hatte sie davon auch nur ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten müssen. Nun aber musste sie der Tatsache ins Auge sehen, dass ihre geliebte Großmutter schon bald nicht nur finanziell, sondern auch körperlich auf ihre Hilfe angewiesen sein würde.

Ihre Arbeitgeber waren sehr verständnisvoll gewesen und hatten ihr erlaubt, fristlos zu kündigen, nachdem Grans Hausarzt, ein alter Freund der Familie, sich ohne Wissen ihrer Großmutter mit ihr in Verbindung gesetzt hatte. Gran war sich nicht bewusst, wie besorgniserregend der Zustand ihres Herzens wirklich war.

Der Arzt hatte von einer möglichen Operation gesprochen, die bei einer Frau von siebenundsechzig gute Aussichten auf Erfolg habe. Aber die übliche Wartezeit würde leider mindestens zwei Jahre betragen, und angesichts der bedrohlichen Herzschwäche ihrer Großmutter …

Die Vorstellung, ihre Großmutter leiden zu sehen oder gar zu verlieren, war Candice unerträglich. Nicht Gran, die immer so voller Energie und Optimismus gewesen war, ihr Fels in der Brandung, der ihr Sicherheit und Selbstachtung gegeben hatte … das Gefühl, geliebt zu werden, zu einer Zeit, da …

Wie hätte Candice zögern können?

„Was heißt das, du bis nach Hause gekommen?“, hatte Gran sie skeptisch gefragt, als sie unangekündigt vor ihrer Tür gestanden hatte. „Was ist mit deiner Karriere?“

„Ach, ich hatte noch einigen Urlaub ausstehen“, war Candice ausgewichen. „Ehrlich gesagt, Gran, wollte ich mir sowieso etwas Zeit nehmen, um in aller Ruhe meine weitere Zukunftsplanung zu überdenken. Die Firma hat mir die Leitung des neuen Konferenzzentrums in Hongkong angeboten, und …“

„Das ist doch die Chance, auf die du immer gewartet hast …“

„Schon, und wenn es nicht ausgerechnet Hongkong wäre … Wer kann vorhersagen, was geschieht, wenn die Kolonie erst an China zurückgegeben worden ist?“

„Heißt das, du hast das Angebot abgelehnt?“

Candice kannte den Stolz ihrer Großmutter, den sie geerbt hatte, und Grans argwöhnischer Blick hatte sie veranlasst, nochmals zu einer Notlüge zu greifen. „Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden. Die Firma hat mir drei Monate Bedenkzeit gegeben.“

„Drei Monate? Bisher konntest du doch kaum mal zwei Wochen nach Hause kommen!“

„Deshalb habe ich ja so viel Urlaub übrig“, hatte Candice die Diskussion energisch beendet. Sie hatte Grans Arzt natürlich nach der Möglichkeit gefragt, die Operation privat durchführen zu lassen. Doch die Kosten, die er ihr genannt hatte, überstiegen hoffnungslos ihre Möglichkeiten. Grans kleines Cottage war bereits mit einer Hypothek belastet, aus der ihre Rente finanziert wurde. Candice besaß auch keine Vermögenswerte, und es gab keine anderen Verwandten, an die man sich hätte wenden können. Ihr Vater, Grans einziger Sohn, war gestorben, ehe Candice zehn geworden war. Ihre Mutter war bei einem Urlaub mit Candice’ Stiefvater und seinen Freunden bei einem tragischen Badeunfall ums Leben gekommen.

Candice erschauderte. Nach all den Jahren hasste sie es immer noch, an ihren Stiefvater und jene Zeit zurückzudenken.

Während sie wartete, sah sie sich in dem eleganten, mit kostbaren Antiquitäten, Gemälden und Seidenvorhängen eingerichteten Vorzimmer um. Auch sie hatte einmal in vergleichbarem Luxus gelebt. Das Haus ihres Stiefvaters in London war zwar nicht so groß wie dieses wunderschöne georgianische Landhaus gewesen, aber mit seinen Kunstschätzen und antiken Möbeln zweifellos genauso eindrucksvoll. Ein Blendwerk, das die leichtgläubigen Kunden ihres Stiefvaters über seine zwielichten Geschäftspraktiken hatte hinwegtäuschen sollen.

Die Polizei hatte es Betrug genannt, aber im Grunde war es Diebstahl gewesen. Doch ihr Stiefvater war der Strafe entkommen, so wie er nie für seine Taten oder dafür, dass er das Leben vieler Menschen zerstört hatte, zur Rechenschaft gezogen worden war. Nach Candice’ letzten Informationen hielt er sich in Mexiko auf und durfte nicht in die Vereinigten Staaten zurückkehren, wo er nach dem Tod ihrer Mutter zunächst gelebt hatte.

Candice schaute verstohlen auf die Uhr. Es war schon geraume Zeit vergangen, seit die letzte Bewerberin vor ihr hereingebeten worden war, was für Candice nichts Gutes verhieß. Dabei hatte sie ihr Glück kaum fassen können, als die Stellenvermittlung ihr dieses Angebot vorlegte. Zwar hatte die Leiterin der Agentur sie gewarnt, dass der Job ihren beruflichen Qualifikationen nicht gerecht und sie vermutlich nicht mehr als eine bessere Haushälterin sein würde, aber dafür die Bezahlung außerordentlich gut. Es würde ihr auch ein Auto zur Verfügung gestellt und ihr Arbeitsplatz wäre keine zwanzig Meilen vom Haus ihrer Großmutter entfernt.

Ihr möglicher Arbeitgeber war ein sehr wohlhabender Geschäftsmann, der eine Hauswirtschafterin für seinen Landsitz suchte. Zu den umschriebenen Aufgaben gehörten die Organisation verschiedener gesellschaftlicher Veranstaltungen, privater und geschäftlicher Natur, die Zusammenarbeit und Abstimmung mit seinem Londoner Büro, die volle Verantwortung für die Hausangestellten, einschließlich deren Einstellung und Entlassung, sowie die umfassende Betreuung etwaiger ausländischer Klienten, die als Gäste im Haus weilen würden.

Gideon Reynolds war Vorstandsvorsitzender und Hauptaktionär eines weitverzweigten, höchst gewinnträchtigen Unternehmenskonsortiums, ein dynamischer Gipfelstürmer, der sich in den hektischen achtziger Jahren einen Namen und sein Vermögen erworben hatte. Anders als viele weniger erfolgreiche Unternehmer aus jener Zeit hatte er es jedoch geschafft, auf dieser Grundlage ein profitables Imperium aufzubauen.

Candice hatte sich natürlich bemüht, so viel wie möglich über Gideon Reynolds in Erfahrung zu bringen. Aber sogar ihre Großmutter, die über den neuesten Klatsch der Gegend stets bestens informiert war, wusste nur sehr wenig über ihn zu berichten. Als er den Landsitz gekauft hatte, war unter den Einheimischen zunächst das besorgniserregende Gerücht umgegangen, Reynolds plane, das Anwesen in eine Art Vergnügungspark samt Golfplatz umzugestalten.

Eine unbegründete Befürchtung, wie sich herausstellte. Lediglich der Golfplatz wurde verwirklicht. Anscheinend machte Reynolds viele Geschäfte mit den Japanern, die es sehr zu schätzen wussten, wenn sie ihrem Lieblingssport auf einer Privatanlage frönen konnten. Candice, die eine Zeit lang in Japan gearbeitet hatte, wusste, dass die Anlage des Golfplatzes ein cleverer Schachzug gewesen war. Hatte Reynolds selber so viel Einsicht in die Mentalität der japanischen Männer bewiesen, oder besaß er einfach nur sehr gute Ratgeber?

Abgesehen von der Tatsache, dass er ein überaus reicher Mann war, hatte sie eigentlich nur über ihn herausgefunden, dass er vermutlich auch ein sehr schwieriger, anspruchsvoller Arbeitgeber sein würde. Der Geschäftsmann Reynolds wurde in der Wirtschaftspresse als eiskalt und erbarmungslos in der Durchsetzung seiner Ziele gehandelt. Leider war keiner der Artikel mit einem Foto bestückt gewesen. Candice wusste nur, dass er Anfang Dreißig sein musste, also sechs oder sieben Jahre älter als sie, und bislang unverheiratet war.

„Die Frauen von heute scheinen nicht mehr heiraten zu wollen“, hatte er sich in einem Interview mit einer Journalistin geäußert. „Oder eine dauerhafte Bindung genügt ihnen nicht. Sexuelle Abwechslung bedeutet ihnen mehr als Liebe und Treue.“

„Dann haben Sie also nicht vor zu heiraten?“, hatte die Journalistin gefragt.

„Eines Tages, und sei es nur, damit ich einen Erben habe, an den ich mein Unternehmen weitergeben kann. Aber das hat noch Zeit. Anders als eine Frau unterliegt ein Mann altersmäßig praktisch keiner Einschränkung, um ein Kind zu zeugen.“

„Sie sind nicht auf dem neuesten Stand“, hatte die Journalistin ihm entgegengehalten. „Auch die Frauen haben heutzutage diesbezüglich eine größere Freiheit …“

„Nicht die Frau, die ich mir wähle“, hatte Reynolds das Interview an diesem Punkt beendet.

Mit leichtem Unbehagen rief Candice sich den Artikel jetzt ins Gedächtnis. Nein, nach allem, was sie bisher über Gideon Reynolds hatte in Erfahrung bringen können, schien er nicht der Typ Mann zu sein, den sie sich freiwillig als Chef ausgesucht hätte. Doch in diesem Fall blieb ihr keine Wahl. Wenn ihre Zeit mit Gran wirklich begrenzt sein sollte, wollte sie keine Sekunde davon vergeuden. Nicht aus Pflicht, weil sie glaubte, es ihrer Großmutter für alles, was sie für sie getan hatte, schuldig zu sein, sondern aus Liebe. Candice liebte Gran so sehr, dass sich ihr Herz schon jetzt bei dem Gedanken, sie zu verlieren und allein zu sein, zusammenkrampfte.

In ihren ausdrucksvollen veilchenblauen Augen schimmerten Tränen. Die ungewöhnliche Farbe hatte sie von ihrer Großmutter geerbt, ebenso wie ihren blassen englischen Teint und die dichte dunkle Lockenmähne, die die keltischen Vorfahren verriet.

Sie riss sich zusammen. Dieses Gefühl von Verunsicherung, ja, furchtsamer Vorahnung passte so gar nicht zu ihr. Im Allgemeinen galt sie als beherrscht, selbstbewusst und nicht aus der Ruhe zu bringen. Candice hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Ängste zu beherrschen und zu verbergen, um keinem die Macht zu geben, sie zu verletzen. Sie war stolz darauf, ihr Leben selbst in der Hand zu haben und eine Frau zu sein, die ihre Entscheidungen selber traf.

„Miss Bingham? Mr Reynolds lässt bitten.“

Gideon Reynolds’ persönlicher Assistent war in der Tür erschienen. Candice erhob sich und ging mit einem Lächeln auf ihn zu, das nichts von dem verriet, wie sie sich fühlte. Das Büro, das sie nun gleich betreten würde, musste noch mindestens einen weiteren Ausgang haben, denn keine der Bewerberinnen vor ihr war in das Vorzimmer zurückgekehrt. Candice konnte nur hoffen, dass der harte, kompromisslose Mann, dem sie jeden Moment gegenüberstehen würde, sie ungeschoren ziehen gelassen und nicht etwa in der Luft zerrissen hatte, denn nach allem, was sie über ihn gelesen hatte, war mit ihm nicht gut Kirschen essen.

Schon wieder rief sie sich innerlich zur Ordnung, denn derartige Ausflüge in die Fantasie waren für ihre sonst so ruhige, vernunftbetonte Art gänzlich untypisch.

Candice war eine große Frau, weshalb man sie schon als Teenager immer für älter gehalten hatte. Ihre Zartgliedrigkeit wiederum verleitete Leute, die sie nicht gut kannten, zu der Annahme, sie sei verletzlich und zerbrechlich. Was nicht zutraf. Jedenfalls nicht mehr; nicht, seit ihre Großmutter sie gelehrt hatte, stolz auf sich und ihre Leistungen zu sein. Trotzdem zog sie es vor, ihre Zierlichkeit unter einer Kleidung zu verbergen, die zu ihrer Größe passte, und so … wie zum Beispiel in dem Kostüm, das sie für den heutige Anlass gewählt hatte … den Eindruck von Souveränität und Stärke zu vermitteln.

Männer schreckte das vielleicht eher ab, wenngleich sie als Arbeitgeber durchweg positiv reagierten. Man kam nicht auf die Idee, eine Frau mit Samthandschuhen anfassen zu müssen, die barfuß einen Meter achtzig maß und die nötige Gelassenheit ausstrahlte, um mit den Launen hysterischer Küchenchefs und selbstgefälliger Oberkellner fertig zu werden.

Auch jetzt, als sie an Reynolds’ persönlichem Assistenten vorbeiging, stellte sie fest, dass sie ihn um einige Zentimeter überragte … was ihm gewiss nicht behagte. Er war der Typ des verhätschelten Muttersöhnchens, der kleine, anschmiegsame Blondinen vorzog, die ihn bedingungslos anhimmelten. Candice zuckte nicht mit der Wimper, als er seinen Blick abschätzig auf den Ausschnitt ihrer Jacke richtete.

„Fünfundsiebzig C“, informierte sie ihn gelassen. „Durchschnittlich für meine Größe. Sie finden die Angabe in meinem Bewerbungsbogen zusammen mit dem erwünschten Foto.“ Es hatte ihr widerstrebt, dass ein Arbeitgeber derart detaillierte Angaben über ihr Aussehen einforderte, aber sie brauchte den Job so sehr, dass sie sich nicht zieren konnte.

Candice betrat einen schmalen, holzvertäfelten Flur und konnte sich eines leichten Anflugs von Klaustrophobie nicht erwehren, den sie jedoch energisch unterdrückte. Vor der verschlossenen Tür am Ende des Korridors blieb sie stehen und wich zur Seite, um dem persönlichen Assistenten die Möglichkeit zu geben, vorzutreten und sie anzukündigen. Sie hatte den Mann in seine Schranken verwiesen, aber da sie in Zukunft vielleicht eng mit ihm zusammenarbeiten würde, war es ratsam, ihn wissen zu lassen, dass sie seine beruflichen Kompetenzen achtete.

Nach kurzem Anklopfen öffnete er die Tür. „Miss Bingham, Sir.“

„Miss Bingham?“

Der Mann an dem massiven georgianischen Schreibtisch erhob sich, und Candice, die den Raum an dem persönlichen Assistenten vorbei betreten hatte, blieb wie angewurzelt stehen. Im Lauf der Jahre hatte sie in ihrem Beruf schon mit vielen gut aussehenden und ebenso vielen sehr reichen Männern zu tun gehabt, aber noch nie war sie einem Mann begegnet, der eine derart geballte Männlichkeit und Erotik ausstrahlte. Candice glaubte, sie fast mit Händen greifen zu können, und es gefiel ihr gar nicht.

Dabei trug er die übliche Kleidung des erfolgreichen Geschäftsmannes: maßgeschneiderter Anzug ohne jeglichen Schnickschnack, weißes Hemd, dezente Krawatte und abgesehen von einer schlichten Armbanduhr keinerlei Schmuck. Sein dichtes dunkles Haar war praktisch kurz geschnitten, auf Wangen und Kinn des sonnengebräunten markanten Gesichts zeigte sich bereits ein erster dunkler Schatten von Bartstoppeln. Es war geradezu beunruhigend deutlich, wie dieser Mann in seiner äußeren Erscheinung seine männlich erotische Ausstrahlung eher herunterspielte als betonte. Geschah es bewusst? Auf jeden Fall machte er auf Candice den Eindruck eines Mannes, der weder Skrupel noch Mühe haben würde, Frauen, die ihm lästig wurden, loszuwerden.

„Bitte nehmen Sie Platz, Miss Bingham.“

Candice setzte sich dankbar in den Sessel, der in beruhigender Entfernung von dem Schreibtisch platziert war, an dem Gideon Reynolds wieder Platz nahm.

„Ich ersehe aus Ihrer Bewerbung, dass Sie alleinstehend und ungebunden sind. Als nächste Verwandte geben Sie Ihre Großmutter an …“

„Meine Eltern sind beide verstorben“, erklärte Candice ruhig. Gideon Reynolds hatte sich halb von ihr abgewandt, um ein paar Papiere auf seinem Schreibtisch durchzublättern. Während Candice verstohlen sein markantes Profil betrachtete, regte sich in ihr flüchtig das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Es gelang ihr jedoch nicht, diese Erinnerung zu konkretisieren, und sie schüttelte nach kurzem Überlegen den Kopf. Möglich, dass er irgendwann in einem ihrer Hotels übernachtet und sie dabei einen Blick auf ihn erhascht hatte. Ganz gewiss hätte sie sich daran erinnert, wenn sie ihm schon einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hätte.

„Und Sie haben keine Brüder … oder Schwestern?“

Bildete sie es sich nur ein, oder legte er auf die letzten beiden Worte eine seltsame Betonung? „Nein“, antwortete sie kurz angebunden. „Meine Eltern hatten keine Kinder außer mir.“ Das war nicht gelogen, und eine Stiefschwester war schließlich keine Blutsverwandte. Überdies hatten sie und Laney niemals geschwisterliche Gefühle füreinander gehegt. Laney hatte Candice verachtet und gehasst, und Candice hatte ihrer älteren Stiefschwester vor allem Angst und Abscheu entgegengebracht.

Inzwischen hatten diese Gefühle einer großen Traurigkeit Platz gemacht … gepaart mit Erleichterung und Schuldgefühlen, weil sie, Candice, entkommen war, weil sie Gran gehabt hatte, wohingegen Laney …

Als Kind hatte Candice das enge Verhältnis zwischen Laney und ihrem Vater, Candice’ Stiefvater, nur als etwas betrachtet, das sie ausschloss und ihre Beziehung zu ihrer Mutter bedrohte. Denn ihre Mutter hatte immer alles getan, was ihr zweiter Mann von ihr verlangte, und Laney hatte Candice ständig damit gedroht, ihren Vater zu veranlassen, sie wegzuschicken. Erst als Candice älter wurde, dämmerte ihr allmählich, welcher Art das innige Verhältnis zwischen Vater und Tochter wirklich war und welche Bedeutung dabei den nächtlichen Besuchen ihres Stiefvaters in Laneys Zimmer zukommen mochte.

Ihr schauderte stets aufs Neue, wenn sie daran dachte, wie leicht auch sie in die gleiche Falle wie ihre Stiefschwester hätte tappen können. Glücklicherweise hatte sie zu viel Angst vor ihrem Stiefvater gehabt, um seine scheinbar harmlosen Angebote, in ihr Zimmer zu kommen und mit ihr „über ihre Probleme zu reden“, anzunehmen.

Inzwischen war sie überzeugt, dass die grausamen, intriganten Machenschaften ihrer Stiefschwester eine direkte Folge von Laneys verzerrter Beziehung zu ihrem Vater war. Zwar hatte Candice keinen Beweis, dass ihr Stiefvater seine Tochter sexuell missbraucht hatte, doch der Verdacht lag nahe und entsprang keineswegs nur ihrer Eifersucht, weil er ihre Mutter so ganz vereinnahmt und Candice ausgeschlossen hatte.

Die zweite Ehe ihrer Mutter war vielleicht das Einzige, worüber Candice mit ihrer Großmutter nie gesprochen hatte. Gran zählte noch zu der alten Schule und vertrat die Ansicht, dass man über einen Menschen, von dem man nichts Gutes sagen konnte, besser gar nichts sagte. Und sosehr Candice die Nachricht vom Tod ihrer Mutter auch getroffen hatte, ihre wahre Mutter, die sie geliebt hatte und von der sie geliebt worden war, war schon in den ersten Monaten ihrer zweiten Ehe gestorben.

„Nein, ich habe keine Geschwister“, wiederholte sie bestimmt.

„Keinen Ehemann. Keinen Lebensgefährten. Keine Kinder.“ Es waren Feststellungen, keine Fragen, denn Gideon Reynolds gab nur wieder, was Candice in ihrer schriftlichen Bewerbung bereits angegeben hatte. „Ist das nicht eher ungewöhnlich … heutzutage?“

Candice sah ihn an. Was wollte er andeuten? Dass sie ihm vielleicht nicht die ganze Wahrheit offenbarte? Oder zielte seine Frage darauf ab, ihren persönlichsten Entscheidungen auf den Zahn zu fühlen? „Ungewöhnlich, aber kein Einzelfall, zumindest nicht im Hotelgewerbe“, antwortete sie ruhig.

Was der Wahrheit entsprach. Die Arbeitszeit oft bis spät in die Nacht und die vielen Reisen waren nur zwei Gründe, warum es für sie nicht leicht gewesen wäre, eine enge Beziehung zu einem Mann aufzubauen und zu pflegen. Bis zu ihrer Rückkehr ins Haus ihrer Großmutter war Candice’ „Zuhause“ ein Zimmer in dem jeweiligen Hotelkomplex gewesen, dem sie gerade zugewiesen worden war, und sie hatte sich allein ihrer Karriere verpflichtet gefühlt. Einer Karriere, die sie nun Gran zuliebe bereitwillig aufgab.

Vor allem Gunther, der älteste Sohn der schweizerischen Hoteliersfamilie, der die Hotelkette gehörte, hatte versucht, sie zum Bleiben zu überreden, und ihr versichert, dass man sie jederzeit wieder willkommen heißen würde.

„In Ihrer Bewerbung schreiben Sie, dass Sie Ihre vorherige Stellung aus persönlichen Gründen aufgegeben haben …“

„Ja“, bestätigte Candice. „Ich wollte wieder nach England zurück, um bei meiner Großmutter sein zu können, die an einer Herzschwäche leidet. Sie nahm mich bei sich auf, nachdem meine Mutter wieder geheiratet hatte, und ich …“

„Sie glauben, es ihr schuldig zu sein, nach allem, was sie für Sie getan hat? Eine ziemlich altmodische Einstellung, wenn ich das so sagen darf.“

Sein zynischer Unterton missfiel Candice. „Ich bin ein altmodischer Mensch“, entgegnete sie kühl. „Tatsächlich aber bin ich nicht aus Pflicht zurückgekommen, sondern weil ich meine Großmutter liebe und bei ihr sein will. Auf sich allein gestellt, wird sie ihre Kräfte überschätzen …“

„Ist eine wirksame Therapie möglich?“

„Es besteht die Möglichkeit einer Operation, aber die Warteliste ist sehr lang. Eine Privatbehandlung steht außer Frage, aber wenn ich Gran überreden kann, sich zu schonen …“

„Ihnen ist klar, dass Sie für diese Stelle in hohem Maße überqualifiziert sind?“

„Ich muss irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen.“

„Nun, mit dem Einräumen von Regalen im Supermarkt verdient man gewiss nicht viel. Jedenfalls nicht genug, um sich davon ein Kostüm wie Ihres leisten zu können. Chanel, richtig?“

„Eine Kopie. Ich habe sie in Hongkong anfertigen lassen, als ich geschäftlich dort weilte“, verbesserte Candice ihn freundlich. „Im Hotelgewerbe verdient man selbst in leitender Position nicht genug, um sich Chanel-Modelle kaufen zu können.“

Der leise Tadel in ihren Worten war als dezenter Hinweis gemeint gewesen, dass sie derart persönliche Bemerkungen weder für nötig noch für angemessen hielt.

„Wohl nicht“, erwiderte Gideon Reynolds lakonisch und sah sie dabei so durchdringend an, dass sie richtig wütend wurde.

Wie immer man seine Bemerkungen verstehen wollte, sie deuteten alle auf das eine hin: Sie, Candice, würde die Stelle nicht bekommen. Gideon Reynolds schien es mit seinen kleinen Sticheleien darauf anzulegen, sie aus der Fassung zu bringen. Warum nur? Vielleicht war es einfach seine Art, und er fand Spaß daran. Nun, sie hatte nicht die Absicht, ihm in die Falle zu gehen.

Während sie schon überlegte, wie viele Stundenjobs sie auf sich nehmen könnte, um das nötige Geld für ihren Lebensunterhalt zusammenzubringen, überraschte er sie mit seiner nächsten Frage.

„Wie denkt Ihre Großmutter darüber, dass Sie Ihre Karriere aufgegeben haben, um sich um sie zu kümmern?“

Der Blick seiner grauen Augen ruhte hart und unbewegt auf ihrem Gesicht. Candice hatte das Gefühl, in das eisige Nordmeer zu blicken, unter dessen trügerisch ruhiger Oberfläche ungeahnte Gefahren lauerten.

„Sie weiß es nicht, sondern glaubt, dass ich einen verlängerten Urlaub eingereicht habe, um über meine weitere berufliche Karriere nachzudenken … dass ich meine internationale Tätigkeit vielleicht ganz aufgebe, weil ich keine Dauerstellung in Hongkong annehmen möchte.“

Gideon zog ungläubig die dunklen Brauen hoch. „Haben Sie keine Sorge, dass ihr jemand die Wahrheit erzählen könnte?“

„Nein, warum? Außerdem weiß es niemand“, gestand Candice.

„Und wenn Sie die Stelle bei mir nicht bekommen, was dann? Heißt das, wieder zurück an die Regale im Supermarkt?“

Das schien ihn nicht loszulassen. Vielleicht, weil er es für eine Art von Tätigkeit hielt, zu der er sich nie herablassen würde? Nun, Candice fand diese Arbeit ganz und gar nicht erniedrigend! „Es gibt schlimmere Arten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen“, entgegnete sie heftig. „Und ich persönlich habe kein Interesse, mich mit Leuten abzugeben, die ehrliche körperliche Arbeit als erniedrigend betrachten und verspotten!“

Vermutlich hatte sie damit ihre Chancen endgültig verspielt. Doch sie stand zu ihrer Überzeugung, dass nicht hart arbeitende Menschen zu verachten seien, sondern Leute wie ihr Stiefvater, die sich nach außen den Anschein ehrbarer Geschäftsmänner gaben und in Wirklichkeit kaum etwas anderes als Diebe waren, die die Schwachpunkte ihrer Mitmenschen skrupellos ausnutzten.

In den Zeitungsartikeln über Gideon Reynolds hatte sie allerdings keinen Hinweis gefunden, dass auch er seinen Erfolg und seinen Reichtum auf irgendwelchen zwielichten oder unehrenhaften Machenschaften gegründet hätte. Dennoch war Candice fast erleichtert, dass er sie für den Job wohl nicht in Betracht ziehen würde, denn er weckte unbestimmte Ängste in ihr … Er wirkte auf sie wie eine Raubkatze, die eine Beute belauert und in die Enge treibt.

Sie rief sich nervös zur Ordnung. Zweifellos war es die geballte erotische Ausstrahlung dieses Mannes, die ihre Fantasie beflügelte. Und trotzdem … die Verunsicherung blieb, gepaart mit dem beunruhigenden Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen.

„Wie viel würde es kosten, wenn Ihre Großmutter sich privat operieren ließe?“

Candice glaubte einen Moment, sich verhört zu haben. Warum stellte Gideon Reynolds so viele Fragen zu einem Punkt, der ihn doch allenfalls am Rande interessieren konnte? „Ihr Hausarzt hat die Kosten nicht genau beziffert. Dazu bestand keine Notwendigkeit“, antwortete sie ausweichend. Allein die Summe, die Grans Arzt ihr als Minimum genannt hatte, überstieg bei Weitem den Rahmen ihrer geringen Ersparnisse.

„Wie viel?“, wiederholte Gideon Reynolds unbeirrt. Seine bis dahin angenehm warme Stimme bekam einen harten Klang, der die Zielstrebigkeit und Durchsetzungskraft dieses Mannes ahnen ließ.

„Ungefähr zehntausend Pfund“, antwortete Candice. Wenn sie darüber nachdachte, erfüllte es sie jedes Mal mit Verzweiflung, dass dies der Preis für Grans Gesundheit sein sollte und sie das Geld einfach nicht aufbringen konnte.

„Zehntausend? Nun, es dürfte doch heutzutage nicht unmöglich sein, sich einen solchen Betrag zu leihen. Ihre Großmutter besitzt vermutlich ein Haus …“

„Ja, aber das hat sie bereits belastet, um daraus ihre Rente zu finanzieren“, fiel Candice ihm ins Wort. Sie hatte genug von diesen persönlichen Fragen vor allem, weil sie sich inzwischen hundertprozentig sicher war, dass sie die Stelle in Reynolds’ Haus sowieso nicht bekommen würde.

„Und es gibt niemanden … ich meine, Familie, Beziehungen … der helfen könnte?“

„Nein, niemand“, antwortete Candice zunehmend zornig. Selbst wenn sie gewusst hätte, wo sich Laney oder ihr Stiefvater gegenwärtig aufhielten, allein der Gedanke, sie um Hilfe zu bitten, weckte Verbitterung in ihr. Ihr Stiefvater hatte Gran gehasst, hatte mit allen Tricks versucht, ihre Mutter daran zu hindern, Gran schließlich die Fürsorge für Candice zu übertragen. Glücklicherweise war ihre Mutter in diesem einen Fall standhaft geblieben.

Candice hatte sich im Lauf der Jahre oft gefragt, ob ihre Großmutter irgendwie geahnt oder gespürt hatte, in welche Gefahr die zweite Ehe ihrer Schwiegertochter Candice gebracht hatte. Hübsch, zart und zerbrechlich, hatte Candice’ Mutter Partys und Geselligkeiten geliebt und zu den Frauen gehört, die einen Mann brauchen, der sich „um sie kümmert“.

Autor

Penny Jordan
<p>Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...
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