Julia Ärzte zum Verlieben Band 201

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SCHWESTER PIPPAS HEIMLICHER SCHWARM von CAROL MARINELLI

Ist das etwa ihr heimlicher Jugendschwarm? Schwester Pippa stockt der Atem, als sie den Vertretungsarzt Dr. Luke Harris trifft. Aber in einem Monat wird er London wieder verlassen. Wenn sie sich nicht das Herz brechen lassen will, muss sie seinem Sex-Appeal widerstehen!

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  • Erscheinungstag 08.03.2025
  • Bandnummer 201
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533461
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli

PROLOG

Die Schulbibliothek war zu ihrem Zufluchtsort geworden.

Hier konnte Pippa Westford ihre Hausaufgaben erledigen oder ungestört lernen.

Sie schloss nicht leicht Freundschaften. Ihre Familie war so oft umgezogen, dass Pippa es gewohnt war, die Neue zu sein – und immer die Außenseiterin.

An Kindergarten- und Vorschulzeit in dem kleinen walisischen Dorf, wo sie geboren war, hatte sie nur vage Erinnerungen. Die Familie zog nach Cardiff, wo das nächstgrößere Krankenhaus lag. Als sich der Gesundheitszustand ihrer Schwester Julia verschlechterte, suchten sie sich eine neue Bleibe, um die endlosen Arzttermine in London besser wahrnehmen zu können. Dann wurde Julia auf die Transplantationsliste gesetzt, und der nächste Umzug stand an. In die Nähe des Krankenhauses, um das knappe Zeitfenster von vier Stunden nicht zu verpassen, sollten ein Herz und Lungen für Julia verfügbar sein.

Und nun, während Julias transplantiertes Herz zu versagen drohte, fühlte sich die Bibliothek wie ein Kraftort an. Der einzige, den sie hatte.

Die Stühle waren bequem, und überall gab es Nischen, in denen sie sich verstecken konnte. Das spärliche Tageslicht, das durch die hohen, kleinen Fenster hereinfiel, wurde von dunklen Mahagonimöbeln fast geschluckt. Obwohl auf den Tischen Lampen standen, hätte man meinen können, es sei mitten im Winter statt Mai, der den herannahenden Sommer einläutete.

Pippa saß in einem ruhigen Winkel und drehte sich gedankenverloren die dunklen Locken um den Finger, während sie die wenigen Notizen las, die sie sich beim Gespräch mit dem Berufsberater der Schule gemacht hatte.

Der dumpfe Laut verriet, dass eine Tasche abgestellt wurde. Jemand setzte sich ihr gegenüber. Pippa atmete tief durch, blickte jedoch nicht auf. Der Frieden, den sie hier zu finden gehofft hatte, war gestört.

Was will ich mit dem Rest meines Lebens anfangen?

Sie ließ die zerzausten Locken los und griff zum Stift, entschlossen, das leere Blatt, das sie seit Wochen plagte, endlich zu füllen. Als Erstes schrieb sie ihren vollen Namen – Philippa – hin und seufzte. Mit gerade mal sechzehn Jahren fühlte sie sich etwas überfordert, die Leistungskurse zu wählen, die ihre Zukunft formen sollten.

Berufsberater und Lehrer hatten ihr versichert, dass sie ihre – wenn auch wichtigen – Entscheidungen auch später noch ändern könnte, was allerdings von den Prüfungsnoten für ihren Realschulabschluss abhing.

Pippa war sich ziemlich sicher, dass diese Noten anders aussehen würden, als von ihr erhofft. Sie blätterte zur ersten Seite ihres Schultagebuchs und betrachtete den Lernplan, den sie sorgfältig zu Beginn des Schuljahrs erstellt hatte.

Den Kugelschreiber fest umklammert, unterdrückte sie den Impuls, wütend auf dem Geschriebenen zu kritzeln oder die Seite einfach herauszureißen. Sie hatte nicht einmal ein Viertel der veranschlagten Lernzeit geschafft!

Irgendetwas war immer …

Pippa, kannst du kurz einkaufen gehen …?

Kannst du ins Krankenhaus kommen und Julias Morgenmantel mitbringen …?

Geh und rede mit deiner Schwester, Pippa. Sie war den ganzen Tag allein zu Hause …

So erledigte sie Hausaufgaben und Lernen irgendwie nebenher, bis schließlich die erlösende Nachricht kam, auf die sie alle gewartet hatten.

„Wir haben einen Spender!“

War sie die schlechteste Schwester der Welt, weil sie sich in den endlosen Stunden mit ihren Eltern im Wartezimmer wünschte, sie hätte ihre Hausaufgaben mitgebracht?

Mrs. Blane würde Verständnis zeigen, wenn sie sie später abgab als die anderen. Pippa bekam keinen Ärger. Aber sie lag weit zurück …

Nun, da für ihre Schwester kaum noch Hoffnung bestand, war Pippa zumute, als müsste ihr eigenes Herz versagen. Weit davon entfernt, auf Julia eifersüchtig zu sein, liebte sie sie mehr als jeden anderen auf der Welt.

Sie verlor nicht nur ihre Schwester, sondern auch ihre beste Freundin.

„Schwierige Entscheidung?“

Pippa sah auf, und ihr Herz stolperte, als sie begriff, dass es Luke Harris war, der ihr gegenübersaß.

Leider fiel ihr keine geistreiche Antwort ein. „Ein bisschen“, war das Einzige, was sie von sich geben konnte, während sie den Blick seiner braunen Augen spürte.

Alle waren in Luke verknallt.

Nun ja, vielleicht war das übertrieben, doch in ihrer Clique galt er als der beliebteste Junge der Schule. Zwei Jahre älter als Pippa, jubelten ihm die Mädchen bei schulischen Sportwettkämpfen zu oder flüsterten bewundernde Kommentare, wenn er eine Rede hielt.

Er sah umwerfend aus, hatte glattes Haar, einen Ton heller als seine Augen. Und er war in allem gut.

„Wofür hast du dich entschieden?“, fragte sie, einerseits neugierig, andererseits, weil sie die Unterhaltung verlängern wollte.

Sie rechnete mit einer Zurückweisung oder höchstens vagen Antwort, doch Luke schien ernsthaft über ihre Frage nachzudenken.

„Ich glaube, man hat für mich entschieden, noch bevor ich geboren wurde“, meinte er schließlich mit einem hörbar angespannten Unterton.

„Du wirst Arzt?“ Zusammen mit Julia hatte sie sich online die Rednernacht der Oberstufe angesehen, bei der sein Vater die Auszeichnungen verlieh.

„Ja, Chirurg.“

Endlich traute sie sich, ihm in die Augen zu blicken, und sah im Lampenlicht, dass sie gerötet waren. Einen dummen Moment lang dachte sie, dass Luke – der lässige Luke – geweint hatte. Aber wahrscheinlich kam er gerade vom Schwimmen. Natürlich war er auch ein exzellenter Schwimmer.

Verlegen, weil sie ihn anstarrte, senkte sie den Blick. Dabei entdeckte sie an seinem Kinn einen kleinen Kratzer. Sie musste lächeln. Der perfekte Luke musste sich beim Rasieren geschnitten haben.

Er erwiderte ihr Lächeln, ein wenig fragend allerdings. Wahrscheinlich überlegte er, was sie so amüsant fand. „Ich heiße Luke“, stellte er sich vor. „Luke Harris.“

„Ich weiß, ich sehe mir die Rednerabende an. Na ja, manchmal …“

Sein Lächeln vertiefte sich, und ihr Herz schlug einen kleinen Purzelbaum. Luke warf einen Blick auf ihr Formular. „Philippa?“

„Ja …“ Beinahe hätte sie ihm gesagt, dass sie meistens Pippa gerufen wurde, überlegte es sich jedoch anders. Sie wollte nicht unbedingt über Namen reden.

Vor allem nicht über Nachnamen.

Westford war kein ungewöhnlicher Name, aber er kam an der Schule noch einmal vor.

In diesem Moment lag Pippa nicht viel daran, als Julias Schwester erkannt zu werden.

Sie sahen einander nicht ähnlich. Julia war zierlich und blond, mit großen blauen Augen. Pippa dagegen war kräftiger gebaut und hatte wilde dunkle Locken. Und was ihre Augen betraf … Nun, letzte Woche hatten sie in Kunst als Hausaufgabe bekommen, auf einer Farbkarte den Ton zu finden, der den eigenen Augen am nächsten kam. Sie hatte auf etwas Wundervolles wie Jade oder Malachit gehofft, nur um festzustellen, dass ihre Augen langweilig olivgrün waren.

Vom Äußeren her miteinander verglichen zu werden, war nicht einmal das Schlimmste. Immer, wenn jemand herausfand, wer sie war, entstand eine unbehagliche Pause, bevor ein mitfühlender Blick sie traf und dann die Frage, wie es Julia ging. Sie kannte auch das lastende Schweigen, wenn jemand nicht wusste, was er sagen sollte.

Luke war in derselben Stufe wie Julia, und er kannte sie bestimmt, obwohl sie wegen ihrer Krankheit selten am Unterricht teilnahm. Wie alle anderen wusste er wahrscheinlich auch, dass Julia zystische Fibrose hatte und die Herz-Lungen-Transplantation nicht so erfolgreich verlaufen war, wie sie gehofft hatten. Also würde er sich nach Julia erkundigen …

Pippa war klar, dass es das Schicksal mit ihr besser gemeint hatte. Oft genug fühlte sie sich jedoch … unsichtbar. Sie war diejenige, die sich um sich selbst kümmern konnte und deren Pro-bleme nicht wirklich eine Rolle spielten.

Was zählte schon eine zerbrochene Brille, wenn ihre Schwester am selben Tag ins Krankenhaus musste? Wen interessierte, dass sie zum ersten Mal ihre Regel bekommen hatte, wenn ihre Schwester gerade erfahren hatte, dass sie auf die Transplanta-tionsliste gesetzt worden war? Und warum heulst du wegen ein paar Pickel, ja, sogar einem Gesicht voller Pickel, wenn deine Schwester stirbt?

Geplagt von Schuldgefühlen, rieb sie sich die Anti-Akne-Salbe, die sie gekauft hatte, in die Haut. Benutzte zu viel davon, sodass das Peroxid die Spitzen ihrer braunen Locken zu einem seltsamen Orange bleichte.

Zwar mochte sie nicht zugeben, dass sie Julias kleine Schwester war, aber sie liebte sie von ganzem Herzen. Der Gedanke an eine Welt ohne sie war kaum zu ertragen. Und sie hatte niemanden, an den sie sich mit ihren Ängsten wenden konnte. Ihre Eltern waren selbst voller Kummer und Verzweiflung.

Deshalb tat es gut, in der stillen Bibliothek zu sitzen und von sich zu erzählen.

„Die Berufsberatung war keine große Hilfe“, gestand sie.

Sie hatte versucht, sich bei Julia Rat zu holen, die auch gern dazu bereit gewesen war, aber dann schritt ihre Mutter ein. Scheuchte sie in die Küche und tadelte sie streng.

„Wo bleibt dein Taktgefühl, Pippa?“, schimpfte sie und erinnerte sie daran, dass Julia nicht der Luxus vergönnt war, eine Zukunft zu planen.

Und so wurde zur Liste der verbotenen Gesprächsthemen ein weiterer Punkt hinzugefügt. Selbstverständlich traute sie sich nicht, ihre Eltern zu fragen, und die Viertelstunde bei der Berufsberatung war eher verwirrend als erhellend gewesen.

„Welche Fächer würdest du gern nehmen?“, wollte Luke wissen.

„Ich mag Französisch, aber ich glaube nicht, dass ich damit Karriere machen kann.“

„Also nicht Richtung Übersetzerin, Dolmetscherin?“

„Ach, nein. Ich würde es eher im Urlaub nutzen.“ Pippa lächelte. „Mit Kunst ist es das Gleiche“, gestand sie. „Ich zeichne und töpfere gern …“ Sie kaute auf ihrem Stift herum. „Wirklich, ich liebe Kunst. Nun ja, bis letzte Woche jedenfalls …“ Plötzlich musste sie lächeln.

„Was ist so lustig?“

„Nichts. Ich meine …“

„Was?“

Es fühlte sich neu und ungewohnt an, dass jemand außer ihrer Schwester ernsthaft wissen wollte, was sie dachte. Oder was sie zum Lächeln brachte.

Es tat so gut, dass Pippa ihm von der Hausaufgabe erzählte und davon, wie enttäuscht sie gewesen war, dass ihre Augen olivgrün waren. „Nicht besonders aufregend.“

„Besser als braun“, antwortete er. „Du scheinst Kunst wirklich zu mögen.“

„Stimmt, aber …“ Sie zuckte mit den Schultern, als wäre es nicht so wichtig. Doch Luke wartete tatsächlich darauf, dass sie weitersprach. „Es ist wie mit Französisch, ich kann mir keinen Beruf damit vorstellen.“

„Du könntest beides verbinden und Straßenmalerin in Paris werden.“

Pippa lachte auf. „Ich glaube, ich würde mich übers Ohr gehauen fühlen, wenn ich mich in Paris porträtieren ließe und ich die Künstlerin wäre.“ Sie merkte, dass das keinen Sinn ergab und setzte zu einer neuen Erklärung an, aber er lächelte.

„Und wenn du werden könntest, was du willst?“

Sie gab die Frage an ihn zurück. „Was würdest du sein wollen?“

Luke schwieg nachdenklich, als hätte er sich diese Frage nie gestellt. „Ein Rock-Star“, meinte er schließlich grinsend.

„E-Gitarre?“

„Oh nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Schlagzeug.“

„Schlagzeuger sind die wilden Typen. Kannst du spielen?“

„Hab’s nie versucht“, gestand er, und sie lachte laut auf.

„Schsch“, mahnte der Bibliothekar.

Luke kam um den Tisch herum und setzte sich neben sie. Sie spürte deutlich seine Nähe, während er ihre Notizen las.

„Polizei?“

„Kriminalbeamtin. Hat sie jedenfalls vorgeschlagen. In Krisen bleibe ich ruhig, und ich bin vertrauenswürdig.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich finde nicht, dass der Beruf zu mir passt …“

Er blickte sie lange an. „Ich auch nicht.“ Wieder betrachtete er ihre Notizen.

„Kuchen?“ Verwundert deutete er auf das einzelne Wort. „Backst du gern?“

„Nein. Es ist nur … Ich hatte der Berufsberaterin erklärt, dass ich überlege, Krankenschwester zu werden.“

„Aber was hat das mit Kuchen zu tun?“

„Na ja …“ Ihre Stimme verlor sich.

Wenn sie es ihm erzählte, würde es vielleicht selbstsüchtig klingen. Der Gedanke war ihr weniger aus uneigennützigen Motiven gekommen, sondern weil sie etwas Schönes erlebt hatte. An ihrem siebten Geburtstag war sie morgens voller Vorfreude aufgewacht, traf unten in der Küche jedoch nur eine Nachbarin an. Sie teilte ihr mit, dass man Julia in den frühen Morgenstunden ins Krankenhaus gebracht hatte.

Am Abend durfte Pippa ihre Schwester besuchen, die inzwischen stabil war. Pippa umarmte sie, wollte zu ihr ins Bett klettern, aber man verbot es ihr. Die Erwachsenen um sie herum trugen Masken und Schutzanzüge.

Pippa hatte sich schlecht gefühlt, weil sie enttäuscht war, dass ihr niemand zum Geburtstag gratulierte. Doch dann kam eine Krankenschwester in den Angehörigenraum, einen Kuchen in den Händen. Alle sangen „Happy Birthday“, und für kurze Zeit fühlte sie sich beachtet.

„Was reizt dich an Krankenpflege?“, holte Luke sie aus ihren Erinnerungen.

Sie begriff, warum er so beliebt war. Nicht allein, weil er mit seinen dunklen Haaren und Augen unglaublich gut aussah, sondern weil er zuhörte, sich für andere interessierte.

„Ich dachte nur, es wäre etwas …“ Sie wollte Julia nicht erwähnen, aber dank jener Krankenschwester hatte Pippa sich als wichtiger Teil der Familie gefühlt. Selbst nur für eine kleine Weile. „Etwas, das mir gefallen könnte …“

„Und was brauchst du dafür?“

„A-Level in zwei, drei Fächern, eins davon naturwissenschaftlich. Biologie und Englisch, so viel steht fest“, flüsterte Pippa. Wie schön war es, darüber richtig mit jemandem zu reden! „Ich möchte wirklich gern Kunst belegen, aber …“ Achselzuckend ließ sie den Rest des Satzes in der Luft hängen.

„Aber …?“

„So gut bin ich, glaube ich, auch wieder nicht.“

„Meine Mutter malt. Grässlich, finde ich …“ Einen Moment lang schien er in Gedanken versunken, doch dann fing er sich und sah sie mit seinen wundervollen dunkelbraunen Augen an. „Du hast wirklich Freude daran?“

„Sehr viel“, gestand sie. Sie war dazu erzogen worden, ihre Gefühle zurückzuhalten, doch durch die Kunst konnte sie sie ausdrücken. „Ich finde es friedlich, erfüllend. Vor allem die Arbeit mit Ton …“

„Dann mach es.“

Ihre Köpfe kamen sich näher, und sie erwartete schwachen Chlorgeruch, da sie annahm, dass er schwimmen gewesen war. Wegen der geröteten Augen.

Pippa blickte auf, und im Licht der Leselampe wirkten sie nicht nur rot, sondern geschwollen. Sie schluckte.

Er hat geweint.

Konnte es sein, dass auch Luke Harris sich in der Bibliothek vor der Welt versteckte?

Ein Gefühl riet ihr, nicht nachzufragen.

Ihre Blicke trafen sich. Pippa vergaß ihr notdürftig geklebtes Brillenglas und die orangeroten Ponyfransen. Während sie einander in die Augen sahen, schienen sie beide zu wissen, dass sich hinter ihrem Lächeln und dem leichten Geplauder Schmerz verbarg.

„Gib Kunst nicht auf, wenn es dir etwas bedeutet“, sagte er und blickte sie immer noch an.

„Vielleicht ist es reiner Luxus.“

„Aber es ist dein Lieblingsfach.“

„Stimmt. Es ist wirklich entspannend. Gar nicht wie Schule.“

„Dann bleib dabei.“

Er bestätigte, was sie hören wollte. Nämlich, dass sie ein Fach wählen konnte, das ihr Spaß machte. „Ich glaube, ich mache es.“

„Gut.“

Ihr Problem war einigermaßen gelöst, aber Pippa mochte seinen Blick nicht loslassen. Hätte ständig in seine schokoladenbraunen Augen schauen können. „Bist du okay?“

Er antwortete nicht sofort.

Um sie herum packten die anderen ihre Sachen zusammen, die Klingel läutete das Ende der Mittagspause ein, Füße scharrten, Stühle wurden gerückt. Pippa und Luke blieben, wo sie waren, ihre Frage hing zwischen ihnen.

„Das wird wieder“, antwortete er schließlich und lächelte matt.

„Kann ich helfen?“ Kaum waren die Worte heraus, wurde sie rot. Wie könnte sie Luke Harris einen Rat geben, zu was auch immer! „Ich meine nur …“

„Es wird alles gut.“ Er stand auf. „Was hast du als Nächstes?“

„Eine Doppelstunde Kunst“, sagte sie, und sein Lächeln blitzte fröhlicher auf.

„Und du?“, fragte sie, während sie zusammen die Bibliothek verließen.

„Zwei Stunden Sport.“

Wie immer verflog der Kunstunterricht im Nu. Pippa glasierte die Schale, die sie getöpfert hatte, und bereitete auch ein kleines Keramikherz für den Brand vor.

„Ist das für Julia?“, fragte die Kunstlehrerin, weil Pippa oft für ihre Schwester hübsche Ornamente kreierte.

Pippa antwortete nicht.

Auf dem Nachhauseweg holte sie ihre neue Brille vom Optiker ab und kaufte ein, worum ihre Mutter sie gebeten hatte. Die ganze Zeit dachte sie daran, wie sie mit Luke in der Bibliothek gesessen hatte. Als sie in ihre Straße einbog, schwebte sie durch einen Tagtraum … Es hatte nicht zum Unterricht geklingelt, und sie war mit Luke in der Bibliothek eingeschlossen, über Stunden, Tage … Weil der Strom ausgefallen war oder Ähnliches … Und natürlich war sie ein, zwei Jahre älter, trug weder eine kaputte Brille noch einen orange gefärbten Pony. Aber wenn sie auf Toilette musste …? In der Bibliothek gab es keine!

Ihre Fantasie stolperte kurz, doch Pippa beschloss, die Sache mit der Toilette vorerst zu ignorieren, und schwelgte weiter in ihrem Tagtraum.

Als sie nach Hause kam, überlegte sie, ob Julia ihr vielleicht mehr über ihn erzählen könnte. Oder sollte sie ihr sogar gestehen, dass sie nicht mehr nur in Luke verknallt, sondern hin und weg war …?

„Hi!“, rief sie und sah ihre Mum aus der Küche kommen. „Ich habe die Einkäufe.“

„Wie war die Schule?“

„Gut. Wir mussten überlegen, welche Prüfungsfächer …“

„Wie schön.“

„Ich dachte, ich nehme …“

„Julia hat aufregende Neuigkeiten“, unterbrach ihre Mutter sie, ohne sich weiter für Pippas Tag zu interessieren. „Gute Neuigkeiten! Aber das lasse ich sie selbst erzählen.“

„Klar“, sagte Pippa und eilte nach oben.

„Hey …“ Sie klopfte an die offene Schlafzimmertür und lächelte ihre Schwester an, die auf Kissen gestützt im Bett saß und gerade inhaliert hatte. Pippa nahm ihr die Maske ab und hängte sie auf.

„Rate mal“, sagte Julia mit ihrer atemlosen Stimme.

„Was denn?“ Pippa setzte sich zu ihr aufs Bett.

„Luke hat angerufen. Er möchte mit mir ausgehen, endlich!“ Julia lächelte. „Luke Harris!“

Bestimmt war es selbstsüchtig, enttäuscht zu sein … und eifersüchtig auf ihre Schwester, die doch so wenig vom Leben hatte.

„Wir gehen zum Schulball“, erklärte Julia und lehnte sich zurück, ein Lächeln auf den blassen Lippen. Ihre kornblumenblauen Augen leuchteten.

„Gerade eben hat er angerufen.“ Ihre Mum kam ins Zimmer, auch sie lächelte glücklich. „Sagte, er hätte Julia in der Schule vermisst.“

„Oh.“ Mehr brachte Pippa zunächst nicht heraus. Im Grunde hatte sie gewusst, dass er nur nett gewesen war und sie niemals um ein Date bitten würde. Trotzdem tat es weh, wie ihr Tagtraum sich schlagartig in Luft auflöste. Sie zwang sich zu einer angemesseneren Antwort. „Das ist wunderbar.“

Luke kam ein paar Mal zu ihnen nach Hause, und Pippa blieb in ihrem Zimmer. Bei ihrer einzigen Begegnung in der Schule nahm er sie nicht einmal wahr, sah durch sie hindurch. Sie tröstete sich damit, dass er vielleicht gerade auf dem Weg zu einer Prüfung war oder eine abgelegt hatte.

Am Abend des Schulballs half sie Julia beim Make-up und fand ihre große Schwester in dem blasssilbernen Kleid hinreißend.

„Du bist so schön“, sagte sie, während sie etwas mehr Rouge auftrug. „Bist du aufgeregt?“

„Und wie!“, gestand Julia.

Es hatte Wochen gedauert, bis es ihr einigermaßen gut ging, um am Ball teilzunehmen. Ihre Medikation war für diesen kostbaren Abend angepasst worden, und in einem Nebenzimmer stand Sauerstoff bereit, falls sie ihn brauchen sollte. All das war ihr im Moment jedoch nicht anzumerken. Sie sah perfekt aus.

„Er ist da!“ Mum betrat das Zimmer. „Dad trägt dich die Treppe hinunter, damit du deine Kräfte für den Tanz aufsparen kannst.“

„Aber nicht, dass Luke mich so sieht“, warnte Julia.

Es war Julias Abend, also blieb Pippa oben, während ihre Schwester nach unten getragen wurde. Sie kniete sich aufs Bett und spielte mit dem kleinen Keramikherz, das sie an jenem besonderen Tag getöpfert hatte. Nun lag es auf der Fensterbank, glasiert und gebrannt in einem Farbton, der Lukes Augen am nächsten kam.

Pippa beobachtete, wie Luke Julia zum Wagen begleitete, und fühlte sich schlecht, weil sie sich danach sehnte, das Mädchen an seinem Arm zu sein.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich sehnlichst, sie wäre Julia.

1. KAPITEL

„Wow!“

An einem kalten Novembermorgen, als sie sich beeilen sollte, um rechtzeitig zur Übergabe im Dienst zu sein, stand Pippa, einen Coffee to go in der Hand, staunend am Krankenhauseingang.

„Sieht aus wie ein Raumschiff.“

May, die Stationsleitung der Notaufnahme, war vor Pippa gegangen und ebenfalls stehen geblieben, um den neuen pädiatrischen Flügel des London Primary Hospitals zu betrachten.

Zwei Jahre lang war der Betonkasten aus der Nachkriegszeit aufwendig saniert worden. Nun waren die Gerüste abgebaut, und dahinter kamen glänzende weiße Bögen und viel Glas zum Vorschein.

„Mir wird schwindlig, wenn ich nur hinsehe“, meinte May mit ihrem starken irischen Akzent. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, durch diese Flure zu gehen …“

„Ich schon.“ Pippa lächelte. Als Kinderkrankenschwester am Primary freute sie sich über den längst fälligen Umbau. „Wo ist die pädiatrische Notaufnahme?“

„Es ist die gleiche alte Notaufnahme geblieben.“ May verdrehte die Augen. „Nur ein schicker neuer Eingangsbereich und ein paar mehr Kabinen. Unterm Strich bekommen wir so gut wie keine Extrakräfte …“

„Das glaube ich nicht!“ Pippa lachte.

„Na ja, einige wenige, vielleicht. Was ist mit deiner Station?“

„Wir ziehen in den ersten Stock des Raumschiffs und … oh, sieh mal auf die Uhr! Wir kommen zu spät!“

Bevor sie ins alte Gebäude eilten, sah Pippa noch einmal zum neuen hin. Sie hatte alles über die neuen Stationen gelesen, und eine weckte ihr Interesse. Bisher hatte sie niemandem davon erzählt, aber nächste Woche war sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen …

„Es tut mir leid!“

Der Ausruf galt nicht ihm.

Als Luke Harris aus einem Seitentrakt kam, wirbelte jemand an ihm vorbei, entschuldigte sich hastig bei denen, die Übergabe machen wollten. Er nahm dunkle Locken wahr, einen grauen Mantel, den flatternden Schal.

Sie brachte die kühle Herbstluft mit sich, aber auch den Duft des Sommers. Vielleicht ihr Parfüm?

„Ich ziehe mich nur schnell um!“, rief sie dem versammelten Team zu, und Luke sah ihr nach, während sie in den Umkleideräumen verschwand.

Ja, da war etwas Vertrautes.

Da er die letzten zwei Jahre in Philadelphia verbracht hatte, war er eher fremde Gesichter gewohnt. Natürlich lief er auf seinen Reisen gelegentlich einem ehemaligen Kollegen und auch mancher Ex über den Weg … Wieder in London, erwartete er mehr davon.

Aber sie … er wusste nicht, wo er sie hintun sollte.

Die wilden dunklen Locken beschäftigten ihn so sehr, dass er momentan abgelenkt war, während Nola, die Pflegedienstleiterin, ihn und seine Assistenzärztin auf eine kurze Runde durch die Pädiatrie mitnahm.

„Der neue Flügel wird bald eröffnet, aber vorerst sind Ihre chirurgischen Patienten …“

Da lachte sie.

Nicht Nola.

Auch Fiona nicht, die ehrgeizige junge Ärztin, die im dritten Studienjahr am St. Bede’s gewesen war, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Und nervig dazu.

Nein, das Lachen wehte vom Stützpunkt herüber, und Luke wusste, dass es von ihr kam.

Er sah hinüber. Zwar mochte er einen Ruf haben, was Frauen betraf, aber wenigstens erinnerte er sich an alle seine Affären, und sie hatte nicht dazu gehört. Das lange dunkle Haar fiel ihr in Locken über die Schultern, und sie band es gerade hoch, redete und lachte dabei. Mantel und Schal waren verschwunden. In blassblauer Schwesternkleidung stand sie da, eine kräftige Gestalt mit üppigen Kurven.

Vielleicht hatte sie an seinem früheren Krankenhaus gearbeitet? Die meisten Schwestern dort hatte er gekannt. Was letztendlich Teil des Problems gewesen war …

Ja, bestimmt habe ich sie dort einmal gesehen.

Luke beendete seine mentalen Forschungen, als sie über die Station liefen und Patienten und deren Eltern kennenlernten.

„Chloe James, sieben Jahre alt“, informierte ihn Nola. „Fiel am Freitag von einem Spielgerüst fünf Meter tief und zog sich eine Leberverletzung zu. Wurde nicht operiert …“

Luke hörte zu, während er die Patientendaten überflog, und stellte sich der besorgten Mutter vor.

„Eine Vertretung?“ Mrs. James runzelte die Stirn. „Das heißt, Sie springen nur ein? Wie lange arbeiten Sie hier schon?“

„Ich habe heute angefangen“, begann Luke, bevor sein Versuch, Chloes Mutter zu beruhigen, hastig von Nola unterbrochen wurde.

„Dr. Harris war Chefarzt der Chirurgie am St. Bede’s, sodass wir uns glücklich schätzen können, ihn hier bei uns am Primary zu haben.“

Luke presste kurz die Lippen zusammen – nicht nur wegen der Unterbrechung, sondern weil die Pflegedienstleitung augenscheinlich auch seine beruflichen Stationen kannte. Er blickte zu der Assistenzärztin hinüber und sah, dass sie rot wurde.

Fiona musste Nola erzählt haben, wo er gearbeitet hatte. Luke fragte sich, was sie noch enthüllt haben mochte …

Er wandte sich an die Mutter. „Mrs. James, ich vertrete Dr. Eames, der längere Zeit abwesend sein wird. Als Allgemeinchirurg mit Spezialgebiet Unfallverletzungen werde ich Ihre Tochter von nun an betreuen.“

„Dann sind Sie nicht nur heute da?“

„Nein, ich bleibe einen Monat – und wie es aussieht, wird Chloe bis dahin längst wieder zu Hause sein. Wie geht es ihr?“

„Besser“, antwortete Mrs. James. „Nun ja, sie sagt, dass sie Hunger hat.“

„Hallo, Chloe. Darf ich dich untersuchen?“

„Bekomme ich Frühstück?“ Sie sah von ihrem Handyspiel auf und strich eine blonde Strähne hinters Ohr.

„Ich vermute, dafür ist es noch ein bisschen zu früh, aber ich weiß Genaueres, wenn ich einen Blick auf dein Abdomen … deinen Bauch … geworfen habe.“

„Ich weiß, was ein Abdomen ist.“ Das Mädchen legte das Handy beiseite und lehnte sich zurück. Dabei lächelte sie ihn an und zeigte dabei ein paar Zahnlücken.

„Entschuldige, ich wollte nicht herablassend klingen.“ Luke hob das Krankenhaushemd an. „Ich untersuche auch Erwachsene“, erklärte er, während er die Bauchdecke abtastete. „Einige sagen Magen, andere Leib …“

„Oder Eingeweide!“ Sie grinste.

Luke musste lachen und stellte zufrieden fest, dass ihr Abdomen weich blieb, als sie auch lachte.

„Kannst du dich einmal aufsetzen?“, bat Luke und hielt Mrs. James mit einem Kopfschütteln davon ab, ihrer Tochter zu helfen. Erfreut sah er, wie gut sich Chloe bewegte und nur die leichte Unterstützung seiner Hand brauchte, um sich aufrecht hinzusetzen.

„Das konnte sie bis jetzt nicht“, stellte Mrs. James fest.

„Kinder erholen sich sehr viel schneller als wir. Auch emotional.“

„Oh ja!“ Ihre Mutter lachte auf. „Ich stehe praktisch immer noch unter Schock, und sie verlangt Frühstück. Darf sie etwas essen?“

„Für heute nur klare Flüssigkeiten. Wir wollen nichts überstürzen. Ich möchte noch einen Ultraschall machen lassen.“

„Aber ich hab Hunger“, klagte Chloe.

„Ich auch“, antwortete Luke.

Die Kleine lächelte. „Hast du nicht gefrühstückt?“

„Nein. Wir machen noch ein paar Aufnahmen von deinem Bauch und sehen dann weiter.“

Da kam sie herein. Die geheimnisvolle Krankenschwester.

„Hallo, Chloe …“ Ihre Stimme verklang. „Oh, tut mir leid, dass ich störe. Ich komme später wieder.“

„Kein Problem“, sagte Nola. „Wir sind hier fertig.“

Ich kenne die Stimme, dachte Luke, während er den Raum verließ und die Schwester den Infusionsbeutel ersetzte.

Eine Erinnerung regte sich, schwer zu greifen …

Aber jetzt ging es um die Patientin. „Ich möchte verständigt werden, wenn sie zum Ultraschall gebracht wird. David?“ Er blickte zu seinem Oberarzt, der gerade auf seinen Pager sah.

„Ich werde in der Notaufnahme gebraucht“, sagte David.

„Klar.“

Mit David außer Hörweite, konnte er sich jetzt mit Nola befassen. Sicher wäre es höflicher gewesen, auch Fiona außen vor zu lassen, aber er hatte einen guten Grund, es nicht zu tun.

„Meinen Patienten und ihren Angehörigen kann ich selbst erklären, welche Qualifikationen ich besitze“, kam er direkt zur Sache.

„Ich dachte nur …“ Nola schluckte und sah Fiona an, die wieder errötete. Nun, Mrs. James wirkte besorgt, weil es Ihr erster Tag am Primary ist und …

„Wie ich bereits sagte, räume ich Zweifel an meiner Eignung persönlich aus. Bitte sprechen Sie nicht für mich, wenn ich direkt neben Ihnen stehe!“

Das mochte schroff klingen, doch war es ihm wichtig, seine Position von Anfang an klarzumachen. Die Skandalwolken, die vor zwei Jahren bei seinem Abschied vom St. Bede’s über ihm hingen, schienen sich nicht vollständig verzogen zu haben, und er wollte vermeiden, dass sie seinen Ruf hier vergifteten.

Mit dem Fahrstuhl fuhren sie nach oben in die Chirurgie für Erwachsene, und Luke ging schweigend neben seiner Assistenzärztin her. Inzwischen waren ihm Zweifel gekommen, ob er die Situation richtig gehandhabt hatte. Fiona könnte ihren Kolleginnen und Kollegen weit mehr über ihn erzählen als nur, wie er Nola zurechtgewiesen hatte. Sollte er von ihr verlangen, nicht zu wiederholen, was sie vor zwei Jahren gesehen und gehört hatte? Oder sie darum bitten?

Wahrscheinlich würde er damit erst recht Öl in ein Feuer kippen, von dem er gehofft hatte, dass es erloschen war.

Auf dem Weg in die chirurgische Einheit 1 begegnete ihm ein weiteres bekanntes Gesicht – ein OP-Techniker, mit dem er am St. Bede’s zusammengearbeitet hatte.

„Jimmy!“

„Luke!“

Höflichkeiten wurden ausgetauscht, aber ihm entging nicht die Neugier in den Augen des ehemaligen Kollegen.

„Du bist also wieder in London?“, meinte Jimmy schließlich.

„Ja.“ Luke nickte und hörte förmlich die stumme Frage: Und machst einen Bogen um St. Bede’s?

„Letzte Woche sind wir mit der alten Truppe losgezogen“, erzählte Jimmy. „Ein paar sind mittlerweile woanders gelandet, aber wir halten Kontakt. Ross ist jetzt in der Kardiologie.“

„Gut für ihn.“

„Und Shona hat auf die Intensivstation gewechselt.“

Erleichtert hörte er, dass er ihren Namen so beiläufig erwähnte. Vielleicht war wirklich alles vergessen. Doch dann räusperte Jimmy sich und murmelte etwas davon, dass er weitermüsse, und Fiona checkte ihren Pager, obwohl er nicht geklingelt hatte. Luke spürte die plötzliche Anspannung, weil von Shona die Rede war.

„Schön, dich wiederzusehen“, sagte Luke und ahnte, dass ihn in den nächsten vier Wochen die Hölle erwartete.

Sein … aktives Sexleben und die Tatsache, dass er kein Interesse an einer ernsten Beziehung hatte, waren beliebte Tratschthemen am St. Bede’s gewesen. Worauf er nicht im Mindesten etwas gab. In der Regel endeten seine Affären freundschaftlich, weil er sich seine Partnerinnen mit Bedacht aussuchte und von Anfang klarstellte, dass er sich nicht binden wollte. Partnerschaft, Ehe, das kam für ihn nicht infrage. Niemals. Und er sorgte dafür, dass die Frauen das wussten.

Vor zwei Jahren jedoch war ihm sein Ruf zum Verhängnis geworden. Es hatte Gerüchte gegeben über ihn und Shona, eine verheiratete OP-Schwester. Wahrscheinlich würden sie hier am Primary bald wieder aufleben, obwohl sie völlig haltlos waren!

Aber aus Gründen, die Luke nie verraten würde, hatte er sie nicht korrigiert.

Aus denselben Gründen hielt er sich höchstens einen Monat in London auf. Er war hier, um seine Wohnung zu verkaufen und dann zu verschwinden.

Diesmal für immer.

Pippa registrierte kaum, dass die Ärzte gegangen waren.

Sie sah sich die Patientenkarte an, die die Assistenzärztin vervollständigt hatte, und sprach lange mit Mrs. James. Chloes Mutter machte sich Sorgen, weil ihre Tochter nichts essen durfte.

„Warum gehen Sie nicht selbst erst einmal frühstücken?“, schlug Pippa vor. „Sobald ich die Medikamente gestellt habe, rede ich mit Chloe. Sie ist ein kluges Mädchen, sie wird verstehen, warum sie nüchtern bleiben muss.“

„Aber ich will ihr keine Angst machen. Ich muss für ein paar Stunden nach Hause und Milch abpumpen. Hier bin ich nicht entspannt genug, und …“

„Und Sie wollen nach Ihrem Baby sehen.“

„Ja, aber wenn Chloe sich aufregt, kann ich nicht weggehen.“

„Ich kümmere mich um sie. Gehen Sie ruhig, Mrs. James. Wie gesagt, Chloe weiß, dass Sie heute Morgen zu Hause sein müssen.“

Es gefiel dem kleinen Mädchen nur nicht!

Als die Mutter außer Hörweite war, verdrehte Jenny, eine der Krankenschwestern, die Augen. „Sie muss lernen, Nein zu sagen. Also, ehrlich … Chloe dies … Chloe das …“

„Chloe hat gerade ein Brüderchen bekommen und einen schlimmen Unfall gehabt“, unterbrach Pippa sie. „Kein Wunder, dass sie besonders anhänglich und ihre Mutter besorgt ist. Meine Güte, ich habe mit sieben so getan, als hätte ich mir den Arm gebrochen, damit meine Mum mir Aufmerksamkeit schenkt. Chloe hat wenigstens echte Gründe.“

Pippa ließ eine mürrische Jenny zurück und machte sich auf den Weg ins Medikamentenzimmer, um die Morgenmedikation für ihre Patientinnen und Patienten zu stellen.

„Da bist du ja.“ Nola kam herein.

„Genau rechtzeitig“, antwortete Pippa lächelnd. „Kannst du die Medikamente gegenchecken?“

„Natürlich.“ Statt jedoch mit der Arbeit zu beginnen, sprach sie etwas anderes an. „Pippa, du weißt, dass heute die Antragsfrist abläuft …?“

Pippa blickte sie fragend an.

„Für meine Mutterschaftsvertretung.“ Nola tätschelte ihren runden Bauch. „Du springst oft für mich ein, hast dich aber nicht beworben …“

„Nein.“ Pippa wand sich innerlich. Sie hatte gehofft, noch nichts sagen zu müssen, aber nun musste sie heraus mit der Sprache. „Ich habe Interesse an einer leitenden Position im neuen pädiatrischen Flügel angemeldet.“

„Davon hast du gar nichts erzählt.“

„Weil ich nicht wusste, ob ich überhaupt eine Chance habe. Ich möchte auf die PAC-Station.“ Am Primary wurden so viele neue Fachrichtungen angesiedelt, dass es sie nicht überraschte, als Nola die Stirn runzelte. „Pädiatrisch Akute mit Komorbiditäten.“

„Du möchtest chronisch kranke Kinder mit Begleiterkrankungen betreuen?“

„Ja. Das Aufgabenfeld hört sich interessant an, doch wie gesagt, konnte ich nicht einschätzen, ob man mich nehmen wird. Inzwischen wurde ich zu einem Vorgespräch eingeladen. Und ich wollte dich fragen, ob du mir für meine Bewerbung eine Referenz schreibst?“

„Selbstverständlich“, sagte Nola. „Aber, Pippa … du hast nicht einmal eine Andeutung gemacht. Seit Monaten reden wir über den neuen pädiatrischen Flügel. Alle haben sich überlegt, welche Positionen sie sich vorstellen könnten …“ Sie blickte Pippa an und schüttelte leicht den Kopf. „Nur du nicht.“

„Ist das ein Problem?“

„Wegen der Referenz? Nein“, antwortete Nola, führte aber nicht weiter aus, da sie ans Telefon gerufen wurde.

Pippa stand da und fühlte sich getadelt.

Sie war freundlich und kam mit den Kolleginnen meistens gut aus. Da sie jedoch kaum über ihr Privatleben redete, galt sie als reserviert. Pippa war es schlicht nicht gewohnt, ihre Entscheidungen mit anderen zu besprechen. Schon als Kind hatte sie gelernt, mit ihren Gefühlen allein fertigzuwerden und sie zu kontrollieren, um niemandem Kummer zu machen.

Nola hatte recht – sie hatten sich wochenlang eifrig über die Chancen und Möglichkeiten unterhalten, die der Umbau bot. Zwar war sie bei den meisten Diskussionen dabei gewesen, hatte aber niemandem von ihren Plänen erzählt.

Als Nola zurückkam, beschloss Pippa, sich zu entschuldigen. „Nola, es tut mir leid, dass ich nicht schon eher etwas gesagt habe.“

„Kein Problem.“

„Doch, ich hätte dich informieren sollen. Und ehrlich gesagt, bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, ob es die richtige Stelle für mich ist.“

„Sind dafür nicht Kollegen da, Pippa? Und Pflegedienstleitungen? Wir hätten uns zusammen Gedanken machen können.“

Darum ging es ja – Pippa wusste nicht, ob sie erklären könnte, warum sie mit chronisch kranken Kindern arbeiten wollte, ohne bei dem Gespräch in Tränen auszubrechen.

Sie hatte ihren Kolleginnen nicht von Julia erzählt.

Gegen Ende ihrer Ausbildung in einem anderen Krankenhaus war ihr klar geworden, dass sie Julia nicht einmal erwähnen konnte, ohne dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Als Kind und Teenager waren Gefühle wegen ihrer Schwester verboten gewesen. Und heute, als Erwachsene, fürchtete sie nichts mehr, als vor anderen loszuheulen. Um einen Zusammenbruch zu vermeiden, klammerte sie das Thema völlig aus.

Deshalb war sie sehr nervös, wenn sie an das Vorstellungsgespräch dachte.

„Du bist die Richtige für chronisch Kranke, Pippa. Ich habe keine Zweifel, dass du brillant sein wirst“, meinte Nola mit einem angespannten Lächeln. „Hättest du mich gefragt, hätte ich dir genau das gesagt.“

„Danke.“

„Wenn du möchtest, gehen wir zusammen durch, welche Fragen auftauchen könnten. Eine Art Generalprobe?“

„Ich denke, ich bin vorbereitet, aber trotzdem danke.“

„Falls du es dir anders überlegst, sprich mich an. Wie auch immer, deine Patientin mit der Leberverletzung kommt heute noch zum Ultraschall.“

„Ich trage es ein.“

„Man merkt, dass er vom St. Bede’s kommt“, fügte Nola hinzu. „Er ist so arrogant!“

„Wer?“

„Der neue Chefarzt. Ich wollte nur eine Angehörige beruhigen, da hat er mich gleich angefahren!“

„Angefahren?“ Pippa klopfte Luftblasen aus einer Spritze.

„Oh ja.“ In hochmütigem Tonfall fuhr sie fort: „Bitte sprechen Sie nicht für mich, wenn ich direkt neben Ihnen stehe … Ich wollte nur Mrs. James erklären, dass er nicht irgendein Typ ist, den wir von der Straße aufgelesen haben, damit er sich um ihre Tochter kümmert! Und dass er Chefarzt am St. Bede’s war.“

Das St. Benedict Hospital – liebevoll St. Bede’s genannt – war ein bekanntes und hoch angesehenes Lehrkrankenhaus.

„Kannst du seinen Namen an die Weißwandtafel schreiben, wenn du einen Moment Zeit hast?“

„Klar.“

„Dr. Harris. Luke Harris. Er bleibt einen Monat bei uns.“

Bewusst zeigte Pippa keine Reaktion. Nachdem die Medikation überprüft war, zeichnete Nola sie ab und ging. Pippa rührte sich nicht. Es konnte nicht derselbe Luke Harris sein, oder?

Nun, natürlich konnte er es sein.

Luke hatte Chirurg werden wollen. Sein Vater war Professor für Chirurgie am St. Bede’s gewesen.

Aber hätte sie Luke nicht erkannt, wenn er ihr auf der Station begegnet wäre? Immerhin stand auf dem Kaminsims ihrer Eltern noch immer das Foto von Julia und ihm am Abend des Schulballs.

Pippa rief sich den Moment vor zwanzig Minuten in Erinnerung. Fiona war im Patientenzimmer gewesen – sie arbeitete seit zwei Monaten hier – und David. Den dunkelhaarigen Arzt in OP-Kleidung hatte sie nur von hinten gesehen, ein hochgewachsener, breitschultriger Mann.

Luke Harris war ihr erster Schwarm gewesen, vor … wow, fast vierzehn Jahren. Die Erinnerungsreise trug sie jedoch nicht nur in die Bibliothek im warmen Licht der Tischlampe, als Pippa neben Luke gesessen hatte, sondern weckte wieder Gedanken an eine Zeit, in der sie eine Schwester gehabt hatte. Und dann nicht mehr.

Der Schmerz ließ sie kurz die Augen schließen.

Dann wallte Ärger in ihr auf. Luke kam ihr wie ein Eindringling vor, der alles wieder aufwühlte.

Solange sie sich erinnern konnte, hatte Pippa ihre Gefühle verborgen, um ihre Eltern – vor allem ihre Mutter – nicht zu belasten. Und als Julia starb, hatte sie niemanden, mit dem sie reden konnte. Natürlich war sie bei der Schulpsychologin gewesen, aber zu sehr daran gewöhnt, ihre Emotionen für sich zu behalten, konnte sie sich einem fremden Menschen nicht öffnen. Julia war die Einzige gewesen, mit der sie offen reden konnte. Ironischerweise wäre sie auch die Einzige gewesen, die sie in ihrer Trauer hätte trösten können.

Den Menschen, den sie am meisten brauchte, gab es nicht mehr.

Zuerst stürzte Pippa sich in Kunst. Später, während des Studiums und danach, verstaute sie ihre Gefühle in einer mentalen Kiste mit der Aufschrift Zu schwer, um sich damit zu befassen. Pippa wollte sie nie wieder rauslassen.

Deshalb wollte sie Luke Harris hier nicht haben!

Als sie Chloes Zimmer betrat, musste sie lächeln. Das Mädchen hatte ihr feines blondes Haar hochgebunden und trug lila Plüsch-ohrenschützer.

„Hey.“ Pippa bedeutete ihr, die Ohrenschützer abzunehmen, was Chloe mit einem theatralischen Seufzer tat.

„Diese Babys sind so laut!“, meinte sie stöhnend, doch Pippa vermutete, dass das Geklapper von Besteck und Geschirr der Grund war. Gerade wurde das Frühstück verteilt. „Warum kriege ich nichts zu essen?“

„Weil wir dein Bäuchlein nicht ärgern wollen.“

„Es ärgert sich, weil es Hunger hat!“

„Das höre ich.“ Pippa lächelte, als sie sich zu ihr ans Bett setzte. Chloe knurrte unverkennbar der Magen. „Es klingt ziemlich wütend.“

„Hast du gefrühstückt?“

„Nein.“ Sie beschloss, ihr zu verschweigen, dass sie auf dem Weg zur Arbeit ein Mandelcroissant gegessen hatte. „Ich war zu sehr in Eile.“

„Dieser Doktor hatte auch kein Frühstück. Er meinte, ich kann später vielleicht aufstehen. Aber ich will doch nur was essen …“

Chloe fing an zu weinen, und Pippa nahm sie in den Arm. „Weißt du noch, am Freitag, als sie dachten, dass du operiert werden musst?“ Das Mädchen nickte. „Kannst du dich erinnern, dass man dich gefragt hat, wann du zuletzt etwas gegessen hast?“

Sie putzte sich die Nase mit den Tüchern, die Pippa ihr reichte. „Ja, ich glaube.“

„Der Grund ist, dass du besser mit leerem Magen operiert wirst. Du willst bestimmt nicht, dass du dich übergeben musst, während du schläfst.“ Pippa wollte ihr keine Angst einjagen. Sonst hätte sie erklärt, dass sie nüchtern bleiben musste, für den Fall, dass Blutungen auftraten und sie in den OP musste.

„Nein … aber mir geht’s doch gut. Ich muss nicht operiert werden.“

„Du hast dich geschont, und die Infusion hilft. Wir machen heute noch mal ein Ultraschallbild, falls die Ergebnisse dich auf gutem Weg zeigen, bekommst du sicher bald etwas zu essen.“

Mrs. James kam herein und lächelte Pippa zaghaft an. „Fragt sie immer noch nach Essen?“

„Ich glaube, sie versteht, warum wir ihr vorerst nichts geben dürfen.“

„Falls mir schlecht wird.“ Mit einer einleuchtenden Erklärung versorgt, wirkte sie entspannter und ging gleich mit ihrer Mutter in Verhandlungen. „Kann ich an deinem Handy spielen?“

„Ich habe ein Spiel für dich“, sagte Pippa, der Mrs. James’ angespannte Miene nicht entgangen war. „Mummy geht für eine Weile nach Hause.“

„Nein!“

„Doch“, antwortete Pippa ruhig, aber entschieden. „Und deshalb braucht sie ihr Handy, damit ich sie notfalls anrufen kann.“

„Meinetwegen?“

„Richtig.“

„Ich will nicht allein hier sein.“

„Chloe“, begann Mrs. James. „George hat mich seit Freitag kaum gesehen.“

„Er ist nur ein Baby“, maulte Chloe. „Er merkt das nicht.“

„Und ob er es merkt“, widersprach Pippa. „Außerdem muss deine Mummy ihn stillen. Wenn sie einen ruhigen, entspannten Vormittag hat, kann sie mehr Milch geben.“

„Danach kommt sie wieder?“

„Auf jeden Fall“, sagte Mrs. James.

„Aber wenn ich zum Ultraschall muss, und du bist nicht da?“

„Dann gehe ich mit dir“, versprach Pippa. „Chloe, du wirst nicht vergessen.“

Ängstlich sah sie zu ihrer Mum. „Versprochen?“

„Natürlich, Dummerchen.“ Mrs. James gab ihrer Tochter einen Kuss und drückte sie an sich.

Pippa hatte viel zu tun, bis sie dazu kam, die Weißwandtafel zu aktualisieren – Vertretung wegzuwischen und Dr. Harris an die Stelle schreiben. Sie ließ sich nicht anmerken, wie durcheinander sie war.

Luke Harris hatte monatelang ihr Herz besetzt. Nein, jahrelang!

Noch heute wusste sie, wie es sich angefühlt hatte, als er sich die Zeit nahm, mit ihr zu reden. Als sie ein einziges Mal Aufmerksamkeit genoss, statt immer am Rand zu stehen … Luke Harris hatte ihr das Gefühl gegeben, dass ihre Gedanken, ihre Ansichten wirklich zählten.

Die Erinnerung an jene kostbaren Momente brachte sie fast zum Weinen. Aber Pippa weinte nicht. Nicht bei der Arbeit, nicht vor ihrer Familie, vor niemandem. Nicht einmal sich selbst.

Ihre letzte Beziehung hatte mit Bitterkeit geendet. Die Sache ist die, Pippa, ich kenne dich nicht besser als an unserem ersten Abend.

Wieder eine gescheiterte Beziehung. Weil sie niemanden hinter die Mauern blicken ließ.

Oh, Sex war okay … einigermaßen. Obwohl sie lange brauchte, um sich ins Bett verführen zu lassen, und hinterher am liebsten schnell nach Hause gehen würde – oder sich wünschte, er würde gehen.

Nicht, dass sie ein oberflächlicher Mensch wäre. In Wahrheit war sie zu tieferen Gefühlen fähig als die meisten. Nur ihre Beziehungen sollten nicht in die Tiefe gehen. Sie wusste nicht, wie sie ihre geheimsten Gedanken mitteilen, von Julia sprechen sollte oder davon, dass sie die Anlage zu Mukoviszidose in sich trug.

Mit zwanzig hatte sie sich testen lassen, um festzustellen, ob sie Trägerin des mutierten Gens war, und die Klinikpsychologin fragte sie, ob sie Beistand hätte.

„Habe ich“, antwortete Pippa. „Ich möchte es nur wissen.“

Sie hatte den Beistand, auf den sie sich seit jüngster Kindheit verließ: sich selbst.

„Selbst, wenn Sie Trägerin sind, muss Ihr Kind nicht zwangsläufig an Mukoviszidose erkranken. Der Vater müsste das Gen ebenfalls in sich tragen, und sogar dann …“

Ihren Eltern hatte sie das Testergebnis nicht mitgeteilt.

Sie hatten auch nicht gefragt. Sie fragten so gut wie nie, wenn es um Pippa ging.

Obwohl sie damals keinen Freund hatte, ließ sie sich die Pille verschreiben und achtete später darauf, dass ihre Liebhaber immer ein Kondom benutzten.

Ein Missgeschick hatte es nie gegeben.

Sex war nie aufregend genug gewesen, dass etwas hätte reißen können!

Es war ein typischer Tag auf der Kinderstation und doch für Pippa extrem untypisch.

Wie in Alarmbereitschaft blickte sie immer wieder den Flur entlang oder zur Stationszentrale, wo sich die Ärzte oft einfanden. Als ihr Dienst sich dem Ende näherte, ließ die Anspannung allmählich nach, erst recht, nachdem Mrs. James angerufen und Bescheid gesagt hatte, dass sie in einer halben Stunde hier sein würde.

Froh darüber, dass sie Luke nicht über den Weg gelaufen war, brachte Pippa Chloe noch zum Ultraschall. Sie wollte sich erst in Ruhe damit befassen, dass er am Primary arbeitete.

Mitten in den Vorbereitungen blickte der Radiologe lächelnd auf. „Hey, Luke.“

„Mike! Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest.“

Pippa wurde der Hals eng. Noch bevor sie aufsah, bestätigte seine Stimme ihre schlimmsten … Befürchtungen? Oder ihren innigsten Wunsch?

Sie war sich nicht sicher. Sicher wusste sie nur, dass er es war.

Luke.

Pippa schaute zu ihm hinüber und konnte den Blick nicht abwenden. Schon als Teenager hatte er toll ausgesehen, aber jetzt, ein Mann in den Dreißigern, war er umwerfend … groß, breitschultrig und unglaublich attraktiv in der blauen OP-Kleidung!

„Hey.“ Ein flüchtiges Lächeln. „Sind Sie von der Station?“

„Ja. Chloe war ein bisschen aufgeregt, weil ihre Mum nicht mitkommen konnte.“

„Dir passiert nichts“, wandte er sich an das Mädchen. „Es tut überhaupt nicht weh. Wir wollen uns nur ein gutes Bild machen.“

„Wie war es in Amerika?“, fragte Mike, während er sich die Hände wusch.

„Unbeschreiblich.“

„Du warst in Amerika?“, wollte Chloe wissen. Pippa auch, und sie war sehr dankbar für eine neugierige Siebenjährige, die jede Frage stellen durfte. „Auch im Disneyland?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

„Ich war in Philadelphia. Das ist weit weg vom Disneyland.“

„Du hättest hinfahren können. Meine Freundin Sophie war in New York, aber unterwegs haben sie einen Zwischenstopp in Los Angeles gemacht.“

„Warum hat mir niemand erzählt, dass das geht?“, kommentierte Luke lächelnd ihre geografischen Vorstellungen.

„Wir fahren ins Disneyland Paris. Hat Mum mir am Freitag versprochen.“

„Oh, schön.“ Luke grinste. „Was hast du noch herausgeschlagen?“

Pippa musste auch lächeln. Er wusste, wie man mit Kindern umging.

„Ich bekomme eine neue Lampe für mein Zimmer, und Daddy hat mir diese Ohrenschützer gekauft …“ Chloe hielt das plüschige Geschenk hoch. „… damit ich zu Hause nicht höre, wenn George die ganze Zeit brüllt.“

„Deine Eltern scheinen dich sehr zu verwöhnen.“ Obwohl er unbefangen plauderte, verfolgte er aufmerksam, was der Schallkopf auf den Bildschirm übertrug. Der Radiologe untersuchte Chloes Leber, vermaß die Verletzung und checkte, ob sich im Bauchraum freie Flüssigkeit befand. Luke schien mit den Ergebnissen zufrieden, und bald darauf war Chloes Bauch wieder zugedeckt.

„Danke, Mike.“

Luke blickte zu Pippa hinüber und lächelte kurz – das gleiche ausdruckslose Lächeln, das er auch dem Radiologen geschenkt hatte. Pippa war klar, dass er sie nicht erkannt hatte.

Zurück auf der Station, war Chloes Mutter gerade eingetroffen.

„Kannst du dich eben noch um Chloe kümmern?“, fragte Kim, die Stationsschwester. „Laura ist heute Nacht für sie zuständig, aber im Moment hat sie an Bettchen 2 zu tun. Die Drainage ist wieder verstopft.“

„Klar.“

Wie sich herausstellte, musste sie sich erst einmal um Mrs. James kümmern.

„Kann mir endlich jemand sagen, was beim Ultraschall herausgekommen ist?“, sagte die besorgte Mutter.

„Das Personal ist gerade sehr beschäftigt, aber ich werde daran erinnern, dass jemand Sie informiert.“

Bald würde das Abendessen ausgegeben, und Pippa beschloss, Chloe abzulenken. „Puzzelst du gern, Chloe?“

„Nein.“

„Wir haben ein paar mit Disneypuzzles.“

Die Augen des Mädchen leuchteten auf, und bis Pippa die Puzzles geholt und mit Chloe zusammen angefangen hatte, war ihr Dienstschluss eine gute halbe Stunde vorbei. Nicht, dass es ihr etwas ausmachte. Im Gegenteil, als ihr Handy vibrierte und sie sah, dass ihre Mutter anrief, war sie sogar erleichtert, noch bei der Arbeit zu sein.

Wenn ihre Dienste es zuließen, besuchte sie montags ihre Eltern, doch heute Abend wollte sie allein sein.

„Ich komme am Wochenende“, versprach sie.

„Du warst lange nicht mehr auf dem Friedhof.“

Der vorwurfsvolle Unterton war nicht zu überhören, und Pippa verschwand in einem Behandlungszimmer, um in Ruhe telefonieren zu können.

„Nein“, antwortete sie. „Auf Station war viel zu tun.“

Es war eine Ausrede, eine Lüge. Ihre Mutter besuchte Julias Grab fast jeden Tag, aber Pippa fand keinen Trost, wenn sie vor dem Grabstein ihrer Schwester stand.

„Wir sind unterbesetzt …“ Sie blickte auf, als die Tür sich öffnete, und spürte, wie ihre Wangen warm wurden. Luke kam he-rein, zog Schubladen auf, suchte anscheinend etwas.

„Wir haben wirklich zu wenig Leute“, betonte sie. „Deshalb bleibe ich länger. Ich muss Schluss machen …“ Unhörbar stieß sie den Atem aus und versenkte das Handy in ihrer Kitteltasche. Doch als sie aufblickte, sah sie, dass Luke die Lampe über der Untersuchungsliege einschaltete.

„Könnten Sie assistieren?“, fragte er. „Ich muss eine neue Wunddrainage legen und werde den Patienten hierherholen.“

„Bettchen 2? Ich dachte, Laura ist zuständig. Eigentlich habe ich schon Dienstschluss.“

„Sagten Sie nicht gerade, dass Sie heute länger machen?“

Sie lachte auf, knirschte aber insgeheim mit den Zähnen. Sollten Privatgespräche, zu denen man an öffentlichen Orten gezwungen war, nicht höflich ignoriert werden?

Damit nicht genug, schnalzte Luke auch noch mit der Zunge, als er Alkoholtupfer und Pflaster gefunden hatte.

„Verzeihung?“

„So zu tun, als würde man bei der Arbeit aufgehalten … Ich halte Ehrlichkeit für die bessere Methode.“

„Nicht bei meinen Eltern.“

„Oh!“ Er lächelte und griff sich eine Handvoll Kochsalzspülungen, legte sie in die Schale und sah Pippa an. „In dem Fall verstehe ich.“

Was für eine seltsame Unterhaltung … bei einer Notlüge ertappt zu werden und ihm dann auf einmal direkt in die Augen zu schauen.

Augen, deren verschiedene Brauntöne sie schon damals fasziniert hatten wie ein wunderschönes Kaleidoskop. Luke hielt ihren Blick fest, und Pippa stand still da, versuchte herauszufinden, ob das Interesse, das zwischen ihnen aufflammte, auf Anziehung beruhte oder einem Wiedererkennen.

Bei ihr war es beides.

Bei Luke war sie sich nicht sicher.

„Ich sage Laura Bescheid, dass Sie Unterstützung brauchen. Ach ja, und Mrs. James möchte wissen, was nach dem Ultraschall passiert.“

„Ja“, antwortete er, während er sie weiterhin anblickte.

Entweder versuchte Luke Harris herauszufinden, woher er sie kannte, oder er flirtete geradeheraus mit ihr.

„Kenne ich Sie?“

Pippa blieb ihm die Antwort schuldig. Seine Frage tat weh, und sie traute ihrer Stimme nicht, selbst wenn sie die richtigen Worte finden würde.

Seine Augen verengten sich leicht, als überlege er noch immer. Pippa betrachtete seinen dunklen Bartschatten, die gelockerte Krawatte. Das Jackett hatte er ausgezogen, die Ärmel hochgerollt, und sein zitroniger Duft war morgenfrisch, denn er durchdrang den antiseptischen Geruch, der im Behandlungszimmer herrschte.

Wie schrecklich, dass sie sich genauso stark zu ihm hingezogen fühlte wie damals!

„Ich finde es heraus“, meinte er und trug das Tablett hinüber zur Untersuchungsliege.

Aufgewühlt und durcheinander, fuhr sie die zwei Stationen mit der U-Bahn und stieg die Treppen zu ihrem kleinen, sehr kalten Apartment hinauf. Sie stellte den Heizlüfter an und trug ihn vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, bevor sie sich dort auszog.

Die Dusche tat gut, und hinterher schlüpfte sie in ihren kuscheligen Bademantel. Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie ein bestimmtes Fotoalbum aus dem Regal.

Pippas Mutter hatte jedes einzelne Foto von Julia, zusammen mit Familienschnappschüssen und den Bildern des Schulfotografen, dort eingeklebt. Ihre Eltern besaßen ein fast identisches Album, das sie – anders als Pippa – täglich durchsahen. So kam es ihr jedenfalls vor, weil es bei ihren Besuchen entweder auf dem Couchtisch oder in der Küche lag.

Bevor Pippa ihres aufschlug, strich sie mit den Fingern zärtlich über das kleine Keramikherz, das sie damals geformt hatte. Meine Güte, wie verrückt war sie nac...

Autor

Kristine Lynn
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Fiona Mc Arthur
<p>Fiona MacArthur ist Hebamme und Lehrerin. Sie ist Mutter von fünf Söhnen und ist mit ihrem persönlichen Helden, einem pensionierten Rettungssanitäter, verheiratet. Die australische Schriftstellerin schreibt medizinische Liebesromane, meistens über Geburt und Geburtshilfe.</p>
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