Vereint in Thunder Point

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Nach einer bitteren Enttäuschung braucht Peyton Lacoumette vor allem eins: einen Tapetenwechsel. Da kommt die Stelle in einer Arztpraxis im beschaulichen Küstenstädtchen Thunder Point gerade recht. Drei Monate will Peyton hier bei Dr. Scott Grant aushelfen und wieder zu sich selbst finden. Mit jedem Tag verblasst der Schmerz mehr, was auch an ihrem attraktiven Chef Scott liegt. Aber kann sie ausgerechnet mit diesem Mann einen Neubeginn wagen?

"Für großartig erzählte Geschichten und wunderbar gezeichnete Charaktere tauchen Sie ein in Robyn Carrs Welt."

New York Times-Bestsellerautorin Susan Elizabeth Phillips

"Der neuste Carr Roman ist eine fesselnde Mischung aus idyllischem Kleinstadtleben und einer herzererwärmenden, prickelnden Liebesgeschichte."

Romantic Times Book Reviews


  • Erscheinungstag 10.04.2017
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766306
  • Seitenanzahl 368
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Peyton Lacoumette fuhr langsam die Hauptstraße von Thunder Point entlang. Sie lenkte ihren Wagen an vielen kleinen Geschäften und der Arztpraxis vorbei, bis zum Ende der Landzunge, wo sie von einem mit Schnörkeln verzierten Tor aufgehalten wurde. Ein Weg wie dieser konnte eigentlich nur zu einer Villa führen. Sie konnte das Gebäude hinter den wild wuchernden Hecken und den ungestutzten Bäumen kaum ausmachen. Deshalb stieg sie aus, um durch die Gitterstäbe zu schauen. Es gelang ihr aber nicht, viel mehr zu erkennen. Wenn sie mit einigen ihrer Brüder hier gewesen wäre, wären sie vielleicht über die Mauer geklettert. Da sie jedoch alleine war und nur Sandalen und ein Sommerkleid trug, verzichtete sie darauf.

Sie wendete ihr Auto und kehrte in die Stadt zurück. Thunder Point sah nach einem gemütlichen Ort aus. Die Menschen, die sich hier und da unterhielten, wirkten freundlich, wie gute Nachbarn. Einige von ihnen blieben stehen, um einen Blick auf Peytons Wagen zu werfen. Es war ein neuer, schwarzer, glänzender, lächerlich teurer Lexus.

Dass die Leute stehen blieben, um miteinander zu reden, geschah in Städten wie Portland und San Francisco eher selten und in New York City fast nie. Dennoch gefielen ihr diese Metropolen. Im Bayonne in Frankreich war es ebenfalls üblich und beinahe schon eine Pflicht, nie in Eile zu sein.

Sie mochte diese kleine Stadt auf Anhieb, vielleicht weil sie dem Ort ähnelte, der in der Nähe der Farm lag, auf der sie aufgewachsen war. Oder auch Bayonne, jedenfalls in dieser Hinsicht. Peyton beobachtete eine Frau, die körbeweise bunte Blumen vor ihrem Laden aufstellte; vor einem anderen Geschäft fegte ein Mann den Bürgersteig. Vor dem Diner waren zwei Hunde am Laternenpfahl angeleint – eine Dänische Dogge und ein Yorkshire Terrier. Beide teilten sich einen Wassernapf. Die Hauptstraße wirkte sauber und freundlich.

Sie parkte den Wagen vor der Arztpraxis und ging hinein. Es war Mittagszeit; jetzt warteten hier keine Patienten. Die junge Frau hinter dem Empfangstresen erhob sich, um sie lächelnd zu begrüßen.

„Hallo! Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin gerade hier vorbeigekommen und frage mich, wie ich wohl am besten zum Strand gelange?“

„Über die Marina oder über Coopers Strandbar am anderen Ende der Bucht, am Hang. Da führt eine Straße hin, der Highway 101. Es gibt dort eine Treppe zum Strand runter und ein paar Tische oben auf der Sonnenterrasse.“ Die junge Frau lachte. „Coopers Strandbar ist der beste Platz der Stadt, um sich den Sonnenuntergang anzuschauen. Es ist wirklich traumhaft schön, wenn die Sonne hinter den großen Felsen am Strand versinkt. Ich glaube, Cooper macht sein bestes Geschäft mit Leuten, die an den Strand kommen, weil sie den Sonnenuntergang beobachten wollen.“

„Ich habe den Zugang zum Strand bemerkt, aber nicht angehalten. Da draußen wird einiges gebaut …“

„Cooper baut ein Haus, und wir bauen gleich daneben auch eins. Mein Verlobter und ich.“

„Oh, herzlichen Glückwunsch“, sagte Peyton. „Zur Verlobung, nicht zum Bau.“

„Sie können mir auch dazu gratulieren. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich einmal ein Haus direkt am Strand haben würde“, erwiderte die junge Frau grinsend.

Peyton sah sich in dem kleinen Warteraum um. „Die Leute hier in der Gegend fühlen sich heute wohl sehr gesund.“

„Heute ist es tatsächlich ungewöhnlich ruhig hier.“

„Sind Sie Ärztin oder Krankenschwester?“

„Nur die Praxismanagerin. Dr. Grant ist gerade kurz weggegangen, da keine Patienten da waren. Wollen Sie zum Arzt?“

„Nein“, entgegnete Peyton lachend. „Es schien mir einfach nur ein geeigneter Ort zu sein, um mich ein bisschen über die Stadt zu informieren.“

„Ich heiße Devon McAllister.“ Sie reichte ihr über den Tresen hinweg die Hand.

„Peyton Lacoumette. Freut mich, Sie kennenzulernen“, meinte Peyton. „Ich bin auf einer Farm oben im Norden großgeworden, nicht weit von Portland, in der Gegend um den Mount Hood.“

„Wir sind hier ein bisschen ab vom Schuss, aber die Leute mögen das. Es gibt tatsächlich nur zwei Straßen, die in die Stadt führen: am Strand entlang oder die Serpentinenstraße, die nördlich von hier von der 101 abgeht. So haben Sie uns vermutlich auch gefunden, da steht ein ‚Ausfahrt‘-Schild. Die Leute aus der Gegend drohen immer damit, es eines Tages abzunehmen“, fügte Devon lachend hinzu. „Das werden sie zwar nicht wirklich tun, doch einige Leute bevorzugen die verborgenen Qualitäten dieses Städtchens.“

„Wovon leben die Menschen hier?“, wollte Peyton wissen.

„Viele sind Fischer. Dann gibt es hier viele Kleinunternehmer und Ladenbesitzer, und Menschen, die in kleinen Unternehmen arbeiten wie ich. Mein Verlobter ist Sportdirektor und Trainer an der Highschool. Viele der Einwohner arbeiten auch außerhalb – in Bandon, Coquille oder North Bend.“

„Ich bin bis zum Ende der Landzunge gefahren und habe dort ein großes Haus entdeckt. Riesig.“

„Sie meinen das alte Morrison-Anwesen. Das Haus steht leer. Stoff für jede Menge Legendenbildung … Die Villa war vor meiner Zeit hier bewohnt. Soweit ich weiß, war die Familie einmal sehr reich, ging pleite, musste Insolvenz anmelden, und der Sohn hat jemanden umgebracht und landete dafür im Gefängnis. Er war erst ein Teenager. Das war der einzige Mord, der je in dieser Stadt passiert ist.“

„Weshalb macht niemand etwas mit diesem Haus?“, fragte Peyton.

„Ich vermute, es liegt daran, dass es so groß ist. Niemand kann es sich leisten, in so einem Anwesen zu wohnen.“

„Wie groß?“

Devon zuckte die Achseln. „So groß wie ein Country Club. Riesige Zimmer, jede Menge Schlaf- und Badezimmer, eine gigantische Küche, Tausende von Quadratmetern auf mehreren Quadratkilometern Land, auf dieser Landzunge. Das einzige weitere Gebäude da draußen ist der Leuchtturm. Die Landzunge und ihr Zwilling auf der anderen Seite der Bucht sind sehr felsig.“

„Hmm. Hört sich an, als ob ein cleverer Mensch das Haus in eine Bibliothek oder ein Internat oder in ein Pflegeheim verwandeln könnte. Das müsste man sich mal von innen ansehen.“

„Da haben Sie recht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber eine Menge Menschen aus der Stadt waren schon dort, um es sich anzuschauen.“

„Wohnen Sie schon Ihr ganzes Leben hier in Thunder Point?“

„Oh, Gott, nein!“ Devon lachte. „Erst seit einem Jahr. Ich stamme eigentlich aus Seattle – ich bin ein richtiges Stadtkind. Aber dieser Ort hat etwas … Ich mag die Menschen hier, und die Atmosphäre gefällt mir beinahe noch besser. Es ist, als ob man von der Stadt in den Arm genommen wird. Vielleicht weil man absichtlich hierherkommen muss. Thunder Point ist kein Ort, den man zufällig vom Highway aus entdeckt. Ich habe vorher noch nie in einer Kleinstadt gewohnt. Doch dann habe ich meinen Verlobten kennengelernt und diesen Job gefunden, und da bin ich“, sagte Devon lächelnd.

„Aber wer leitet diese Praxis? Gibt es nur einen Arzt?“

„Im Moment arbeiten nur wir beide hier, Dr. Grant und ich. Allerdings sucht er nach einem Partner oder einer Arztassistentin. Er will die Praxis nicht ausbauen, aber es sollten mehr als eine Person in der Lage sein, Rezepte auszustellen oder ein paar Stiche zu nähen. Es ist ziemlich viel los hier. Wir haben so viele Patienten. Diese Stadt könnte eigentlich eine Klinik für medizinische Rundum-Versorgung gebrauchen, doch dazu bräuchte man mehr Platz und Mitarbeiter. Er sagt, dass sei etwas für später.“

„Und die Idee gefällt Ihnen?“

„Ich finde sie toll. Ich liebe Dr. Grant.“

Peyton zog die Augenbrauen hoch und lächelte. „Stört es den Sportdirektor nicht, dass Sie Ihren Chef lieben?“

Devon lachte. „Spencer liebt Dr. Grant auch! Diese Stadt und mein Job – das ist perfekt für uns. Spencer hat einen elfjährigen Sohn, Austin. Und ich habe eine vierjährige Tochter. Sie heißt Mercy.“

„Mögen Sie Ihren zukünftigen Stiefsohn?“, fragte Peyton.

„Er ist ein Traum“, erwiderte Devon. „Mercy vergöttert ihn, und er ist sehr gut zu ihr.“

„Da haben Sie sehr viel Glück“, meinte Peyton. „Solche Dinge können sehr heikel sein – Familien derart zusammenzuführen.“

„Wir haben sehr viel Glück, das stimmt.“

„Was, wenn Sie keinen Mitarbeiter finden?“

„Wir werden das schon schaffen“, antwortete Devon. „Es wird schon irgendwie klappen. Es ist einfach nur so, dass … Na ja, Dr. Grant verbringt eine Menge Zeit damit, in anderen Krankenhäusern einzuspringen. Er hat fast jedes Wochenende Bereitschaftsdienst. Das ist nicht ideal. Er ist ein sehr hingebungsvoller Vater und braucht mehr Zeit für seine Familie.“

„Hingebungsvoller Vater?“, erwiderte Peyton.

„Absolut. Außerdem arbeitet er ehrenamtlich als Mannschaftsarzt des Footballteams. Diese Stadt hat nicht viel Geld, aber Football ist Thunder Point sehr wichtig. Schul- und Sportveranstaltungen sind hier die Hauptunterhaltung, und die meisten Sportler des Colleges arbeiten sehr hart für ein Stipendium. In Spencers letzter Schule – einer großen, reichen, texanischen Highschool – gab es einen ausgebildeten Trainer und einen Sportmediziner als Physiotherapeuten. Wir verfügen hier nicht über solche Möglichkeiten, deshalb ist es so wichtig, Ehrenamtliche wie Dr. Grant zu gewinnen. Ich wünschte, Sie würden ihn kennenlernen.“

„Devon, würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen? Ich muss kurz raus, um etwas zu holen …“

„Klar. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“

„Nein danke“, entgegnete Peyton lächelnd und ging hinaus zu ihrem Auto. Sekunden später kehrte sie mit einer Aktenmappe zurück. Sie öffnete ihre Tasche vor Devons Augen auf dem Empfangstresen und brachte eine dünne Zeitung zum Vorschein. „Ich habe mir ein kleines Cottage in Coos Bay gemietet, um dort meinen Urlaub zu verbringen. Dann bin ich zufällig über diese Anzeige gestolpert und dachte mir, ich sehe mir diese Stadt mal an und hinterlasse meinen Lebenslauf.“

Devon blickte auf den Lebenslauf, und sie machte große Augen, so überrascht war sie. „Arztassistentin? Aus Portland?“

„Ich habe für einen Kardiologen gearbeitet, etwa drei Jahre lang, in einer sehr gut laufenden Praxis. Ich habe gehofft, etwas Ruhigeres zu finden.“ In ihrem Beruf übernahm Peyton eine Vielzahl von Aufgaben: Sie erstellte Anamnesen und Diagnosen, stellte Behandlungspläne auf, beriet, dokumentierte, organisierte, koordinierte, assistierte, kurz: Sie übernahm eigenständige, ärztlich delegierte Assistenztätigkeiten, um den Patienten die bestmögliche Behandlung zu ermöglichen.

Devon fand erst nach einer kurzen Pause die Sprache wieder. Dann sagte sie: „Also sind Sie gar nicht nur auf der Durchreise?“

„Hätte ich aber sein können.“ Peyton lächelte. „Offiziell habe ich noch gar nicht angefangen, mich nach einem neuen Job umzuschauen.“

„Warum haben Sie die Praxis in Portland verlassen?“

„Ich bin ersetzt worden, aber ich verspreche Ihnen, dass meine Beurteilung großartig sein wird“, erklärte Peyton. „Würden Sie meine Bewerbung bitte an Dr. Grant weiterleiten? Falls er Interesse hat: Meine Telefonnummer und meine E-Mail-Adresse stehen gleich da.“ Sie deutete mit dem Finger darauf.

„Wird erledigt“, versprach Devon. „Miss Superraffiniert.“

Peyton lachte. „Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, Devon. Ich wollte meine Bewerbung nicht hierlassen, falls mir die Stadt oder die Praxis oder der Arzt nicht gefallen.“

„Sie haben den Doktor doch noch gar nicht kennengelernt.“

„Aber Sie lieben ihn“, entgegnete Peyton grinsend. „Selbst Ihr Verlobter liebt ihn.“

„Wer liebt mich?“, fragte eine Männerstimme.

Peyton hob den Kopf. Im Korridor, der zu den hinteren Räumen der Praxis führte, stand ein sehr attraktiver Mann. Er trug eine verwaschene Jeans und ein gelbes Hemd. Der Kragen stand offen, die Ärmel hatte er aufgekrempelt. Obwohl er Ende dreißig war, wirkte er auf eine sehr jungenhafte Art gut aussehend. Seine Statur war allerdings weniger jungenhaft – er war breitschultrig, die Arme muskulös und die Hände groß. Sie konnte sogar von hier aus erkennen, wie tiefblau seine Augen waren.

Devon drehte sich um. „Darf ich vorstellen? Dr. Scott Grant, der sich offensichtlich durch die Hintertür hereingeschlichen hat.“

Er trat ein paar Schritte auf sie zu. „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er, „Miss Superraffiniert, richtig?“

„Peyton Lacoumette.“ Peyton reichte ihm die Hand. „Ich habe Ihre Anzeige gesehen. Nachdem ich Devon ein wenig kennengelernt habe, habe ich beschlossen, meine Bewerbung abzugeben. Ich bin Arztassistentin.“

„Ach, tatsächlich?“, fragte er, während er sich den Lebenslauf vom Tresen griff, damit er einen Blick drauf werfen konnte. „Ich habe schon ein paar Bewerbungsgespräche geführt.“

„Rufen Sie mich an, wenn Sie glauben, dass ich hierherpassen würde“, sagte sie. „Ich bin noch eine Zeit lang in Coos Bay – eine kleine Verschnaufpause, bevor der Sommer vorbei ist.“

Ohne den Blick von ihrem Lebenslauf zu wenden, fragte Scott: „Hätten Sie jetzt gleich Zeit für eine kleine Unterhaltung?“

„Ich … ich glaube schon“, antwortete sie perplex. Danach lachte sie ein wenig unsicher. „Ich hatte nicht erwartet … Ich bin überhaupt nicht auf ein Bewerbungsgespräch … Klar, habe ich Zeit.“

„Gut“, erwiderte er. „Kommen Sie mit.“ Und dann wandte er sich um, und sie folgte ihm.

Scott ertappte sich dabei, sehr lange auf den Lebenslauf zu starren, um Schwächen oder Ungereimtheiten darin zu entdecken. Denn wenn er auf die andere Seite des Schreibtisches schauen würde, würde er sich der personifizierten Perfektion gegenübersehen. Und das beunruhigte ihn.

Sie war schließlich nur eine Bewerberin. Sicher, sie war überaus attraktiv. Keine Frage. Doch sie war nicht sein Typ. Er fühlte sich normalerweise von Blondinen wie seiner Frau angezogen. Die Frau auf der anderen Seite seines Schreibtisches aber hatte dunkle Haare, dunkle Augen und eine leicht olivfarbene Haut. Ihr Haar war lang und glatt und schimmerte wie Seide. Italienisch? Mexikanisch? Sizilianisch? Die Augenbrauen über ihren großen Augen bildeten perfekte Bögen. Sie wirkte sehr gepflegt – sie achtete offensichtlich sehr auf sich. Auch ihr schönes Schlüsselbein fiel ihm auf. Schlüsselbein? Scott? Wie bitte? Er hatte Angst, hochzublicken. Vielleicht würde er sich über den Tisch lehnen, um einen Blick auf ihre Füße und Fußknöchel zu erhaschen. Nicht dass ihm Knöchel irgendwie wichtig gewesen wären. Doch er hoffte, dass wenigstens ihre Knöchel dick und unförmig aussahen. Dabei wusste er genau, dass es nicht so war.

„Lacoumette“, meinte er. „Interessanter Name …“

„Das ist baskisch. Ursprünglich kommen die Lacoumettes aus dem Süden Frankreichs, heutzutage fließt aber überwiegend das Blut spanischer Basken durch unsere Adern. Meine Eltern sind in zweiter Generation Amerikaner. Sie betreiben eine Farm in der Nähe von Portland.“ Peyton hielt kurz inne, bevor sie sich räusperte. „Haben Sie Fragen zu meinem Lebenslauf, Dr. Grant?“

„Sie scheinen eine Menge Erfahrung zu haben“, sagte er. „Das ist einer der beeindruckendsten Lebensläufe, die ich je gesehen habe.“

„Ich habe zwölf Jahre Berufserfahrung“, erläuterte sie. „Ich habe in zwei Praxen und zwei Krankenhäusern gearbeitet und ein Jahr lang in einer kleinen Klinik in Bayonne in Frankreich.“

„Frankreich?“

„Eine alte Klinik mitten im Baskenland. Ich wollte gucken, woher unsere Familie stammt. Ich bin vermutlich mit der Hälfte von ihnen verwandt.“ Und dann lächelte sie, wobei sie eine Reihe wundervoll weißer Zähne entblößte. Sie war atemberaubend.

„Was gefällt Ihnen besser? Eine private Arztpraxis oder das Krankenhaus?“

„Was die praktische Arbeit anbelangt, gewinnt das Krankenhaus. Was die Bezahlung anbelangt, würde ich jederzeit eine private Arztpraxis vorziehen.“

Mit ihrer Erfahrung, das wusste Scott, hätte sie am richtigen Ort leicht mehr Geld verdienen können als er. „Haben Sie sich schon anderweitig umgesehen? Das hier ist keine reiche Arztpraxis.“

„Das ist auch nicht der Grund, weshalb ich vorbeigekommen bin“, erklärte sie. „Stimmt was nicht?“

Starre ich sie etwa an? Er schüttelte kurz den Kopf. „Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen“, erklärte er. „Es ist nur so, dass …“ Er holte Luft. „Lassen Sie mich ehrlich sein: Ich habe diese Praxis mit so gut wie keinem Geld eröffnet und führe sie mit ziemlich schmalem Budget. Ich fürchte, ich werde Ihrer Gehaltsforderung nicht entsprechen können.“

Sie neigte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. „Ich erinnere mich nicht, schon etwas gefordert zu haben. Noch nicht.“

Ihm wurde bewusst, dass er sie zwar nicht abschrecken wollte, sich aber dennoch sicher war, dass er nichts hatte, was sie zum Bleiben bewegen konnte. Er legte die Hände auf ihre Bewerbungsunterlagen und lächelte sie an. „Was führt sie nach Thunder Point?“

„Nur Ihre Anzeige“, sagte sie.

Noch einmal auf ihren Lebenslauf blickend, fragte er: „Wie sind Sie in Portland auf meine Anzeige aufmerksam geworden? Über eine Agentur?“

„Nein“, erwiderte sie lachend. „Als ich meinen letzten Job gekündigt habe, habe ich beschlossen, mir bei der Jobsuche Zeit zu lassen. Ich war mir nicht mehr sicher, was ich wollte, außerdem hatte ich in den letzten Jahren nicht besonders oft frei. Also habe ich erst einmal Urlaub gemacht. Ich habe ein bisschen Zeit bei meinen Eltern verbracht und bin dann von Canon Beach bis Coos Bay die Küste entlanggefahren. Ich habe die Anzeige eigentlich eher zufällig entdeckt – ich glaube, in North Bend. Und da ich noch nie etwas von Thunder Point gehört hatte, bin ich einfach neugierig geworden. Eigentlich wollte ich erst in ein paar Wochen langsam meine Fühler ausstrecken. Mit einem spontanen Bewerbungsgespräch in einer Kleinstadt habe ich wirklich nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein: Ich hatte eher an San Francisco oder Seattle gedacht …“

„Aha. Sie mögen die Küste am Nordwest-Pazifik“, stellte er fest.

Sie nickte. „Ja, dort wohnt auch meine Familie. Ich dachte, es sei mal wieder Zeit für ein Krankenhaus“, fuhr sie dann fort. „Eigentlich wollte ich ja nicht mehr in einer Arztpraxis arbeiten – es war mir ein wenig zu gemütlich geworden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich bin in einer winzigen Gemeinschaft von Farmern aufgewachsen und habe seit Jahren nicht mehr in einer Kleinstadt gearbeitet.“

„Eine Kleinstadt-Praxis hat auch gewisse Vorteile“, meinte er. „Ich bin aus einer großen Stadt hierhergezogen. Am Anfang war es ein Experiment, und ich habe nur gehofft, dass ich es irgendwie überstehen würde.“ Er lachte. „Es ist gemütlich, stimmt – Freunde sind gleichzeitig Patienten und umgekehrt. Der Allgemeinarzt der Stadt ist auch eine Art Beratungsstelle, denn in Thunder Point kümmern wir uns noch um vieles mehr. Die Leute hier fahren nicht stundenlang, damit sie einen Spezialisten aufsuchen können. In vielen Fällen reicht ihre Krankenversicherung ja nicht mal aus, um die Kosten zu decken. Sie brauchen ein gutes Praxisteam.“

„Und deshalb sind Sie hier? Um eine gute medizinische Versorgung zu bieten? So selbstlos, wie es sich anhört?“, fragte Peyton.

„Und weil ich dachte, es würde meinen Kindern guttun. Beide Großmütter sind verwitwet und mischen sich gern ein bisschen zu viel ein. Das wurde anstrengend. Ich kann die beiden Frauen nur in einer geringen Dosierung ertragen. Das war ursprünglich tatsächlich einmal meine Hauptmotivation, aber inzwischen gefällt es mir wirklich hier.“ Scott lächelte und betrachtete sie aufmerksam. „Und jetzt erklären Sie mir, weshalb Sie Thunder Point in Betracht ziehen.“

„Es ist ruhig“, erklärte sie. „Es ist möglich, dass so etwas wie das hier eine Weile gut für mich wäre …“

„Eine Weile?“

„Wenn Sie mir diesen Job anbieten und ich ihn annehme, gehe ich eine Verpflichtung ein. Und die würde ich auch erfüllen wollen.“

„Warum haben Sie Ihren letzten Job gekündigt?“, erkundigte er sich.

„Ich wurde ersetzt“, sagte sie. „Der Arzt, für den ich gearbeitet habe, wollte jemand anderen in meiner Position sehen.“

„Wenn ich ihn anrufe, was wird er mir dann sagen?“

„Ich bin mir nicht sicher. Er hatte wohl das Gefühl, dass wir als Team alles erreicht hatten, was möglich war, und dass es Zeit für eine Veränderung sei. Er wird Ihnen erzählen, dass ich meine Arbeit hervorragend erledigt habe.“

Scott überlegte einen Augenblick. „Und das würden Sie mir auch sagen?“

„Nein. Das würde er Ihnen sagen.“

„Gibt es noch eine andere Version dieser Geschichte?“, fragte Scott.

„Er ist mit einer staatlich geprüften Krankenschwester zusammen, die ihn überzeugt hat, dass sie meinen Job übernehmen kann. Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Es wird sich erst mit der Zeit erweisen. Offensichtlich kriegen sie im Moment nicht genug voneinander. Ich habe den Verdacht, dass sie, nachdem sie ein Paar geworden waren, meine ständige Anwesenheit in der Praxis nicht besonders schätzten.“

„Eifersucht?“

„Oder Paranoia.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Es war Zeit für eine Veränderung. Lassen Sie uns einfach Klartext reden, bevor Neugier und Mutmaßungen überhand nehmen, ja? Ich interessiere mich für die Arbeit. Ich interessiere mich nicht für Männer.“

Nun, das war Klartext, stimmt. „Das war sehr ehrlich“, sagte er und räusperte sich. „Sie halten mit nichts hinter dem Berg.“ Er lächelte. „Sie sind sehr direkt.“

„Ich wollte nicht unhöflich sein – ich halte es nur für das Beste, wenn wir von Anfang an Dinge offen ansprechen, die vielleicht problematisch werden könnten. Das ist nichts, worüber ich gerne rede, doch … ehrlich, ich kann keinen Ärger gebrauchen.“

Er grinste. „Das wird die alleinstehenden Männer hier ziemlich enttäuschen“, murmelte er.

„Oh, bitte!“, sagte sie. „Sie werden es verkraften.“

„Vermutlich. Aber nicht ohne …“

„Ohne was?“, fragte sie und blickte ihn finster an.

Er wusste, dass es unprofessionell gewesen wäre, wenn er Fantasien gesagt hätte. „Bedauern“, erwiderte er schließlich. „Sie werden herausfinden, dass die Lebenshaltungskosten hier in der Stadt recht niedrig sind.“ Er notierte eine Zahl auf einen Zettel und schob ihn ihr hin. „Das wäre Ihr Jahresgehalt.“

Sie warf einen Blick darauf und schnappte nach Luft. „Kostet das Leben hier nichts?“

Scott erhob sich hinter seinem Schreibtisch. „Während Sie sich das Angebot durch den Kopf gehen lassen, rufe ich Dr. …“ Er blickte hinunter. „Dr. Ramsdale an.“ Er streckte die Hand aus. „Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, um mit mir über die Position zu sprechen.“

Peyton erhob sich ebenfalls und schüttelte ihm die Hand. „Klar. Ich glaube, dieses Gespräch kam für uns beide unerwartet.“

„Das stimmt. Noch etwas … Können Sie gut mit Kindern umgehen?“

Sie erstarrte, als ob er sie beleidigt hätte. „Ich bin die Älteste von acht Geschwistern. Ich finde, ich komme gut mit Kindern zurecht, obwohl ich überhaupt kein Interesse daran habe, Kinder zu hüten. Inwiefern ist das relevant für diesen Job?“

Leise lachte er und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wir sind hier in einer kleinen Stadt. Die Bewohner, die am häufigsten krank werden oder sich verletzen, sind Kinder und ältere Menschen.“

Peytons Gesichtsausdruck entspannte sich. „Ach so. Stimmt. Natürlich. Das wusste ich.“

Scott folgte Peyton in den Empfangsbereich und blieb stehen, als sie kurz mit Devon sprach. Sie verhielten sich wie alte Freundinnen, bedankten sich gegenseitig für das nette Treffen und versprachen, sich wiederzusehen. Scott fragte sich, was Peyton dachte. Vielleicht fühlte sie sich von Devon angezogen? Nein. Er spürte nichts in der Richtung. Es war einfach nur so, dass Peyton sich mit Devon wohler fühlte als mit ihm. Er beobachtete, wie Peyton die Praxis verließ und in den Luxuswagen stieg, der vor der Praxis parkte.

„Wow, das ist ja ein tolles Auto!“, sagte Devon bewundernd.

Scott runzelte die Stirn. „Ich hoffe, sie bezahlt ihn nicht noch ab.“

„Warum?“

„Weil sie dann echte Probleme mit dem Gehalt kriegen würde, das ich ihr angeboten habe. Das ist ein LS 600. Der fängt überhaupt erst bei hunderttausend an.“

Devon warf ihm einen erschrockenen Blick zu. „Glaubst du, sie nimmt den Job?“

„Keine Chance“, antwortete er. Danach wandte er sich ab und kehrte in sein Büro zurück.

2. Kapitel

Peyton fuhr an den Strand. Sie war in diesem Bundesstaat aufgewachsen; alle Strände hier waren wunderbar, einzigartig und interessant. Sie parkte an der Promenade und ging von dort aus zu Fuß weiter. Es war Ende Juni. Die Schule war vorbei, und es war warm und sonnig. Die Leute genossen das Strandleben. Ein paar Frauen saßen in niedrigen Liegestühlen unter einem Sonnenschirm; zwischen ihnen spielte ein Baby mit einem Eimer und ein paar anderen Spielsachen. Zwei andere Kinder, die etwa vier Jahre alt waren, saßen am Wasser. Der pazifische Ozean war kalt, und die Kinder spielten Fangen mit den Wellen, wobei sie versuchten, nicht nass zu werden. Ein paar Jungs im Teenageralter standen auf ihren Paddelbrettern draußen in der Bucht, andere spielten Frisbee. Die große Dänische Dogge, die ihr bereits vor dem Diner aufgefallen war, saß am Ende des Docks und beobachtete die Jungen auf dem Wasser.

Es war ein sehr sauberer Strand, und sie zog die Sandalen aus, um barfuß im Sand zu gehen. Am anderen Ende des Strands führte eine Holztreppe zu einem kleinen Restaurant – Ben & Cooper’s, wenn es nach dem Schild über der Tür ging. Ein paar Leute saßen auf der Terrasse. Unter dieser Terrasse standen Kajaks und Paddelboards, die man sich offensichtlich mieten konnte.

Am Wochenende war dieser Strand vermutlich voller. Im Augenblick waren nicht allzu viele Menschen dort – vielleicht ein Dutzend. Aber es war erst zwei Uhr nachmittags und Mittwoch. Obwohl die Schule für den Sommer vorbei war, mussten die meisten Menschen doch arbeiten gehen. Peyton entdeckte einen alten verwitterten Baumstumpf. Er war offensichtlich vorher schon einmal als Bank benutzt worden. Die Reste eines von behutsam aufgestapelten Steinen vor Hochwasser geschützten Lagerfeuers waren noch deutlich sichtbar. Sie setzte sich auf den Holzstamm und überlegte sich, welche Möglichkeiten sie hatte. Könnte ich an einem Ort wie diesem in Ruhe nachdenken?

Peyton war fünfunddreißig und Single. Sie hatte einen angesehenen Studienabschluss und jede Menge praktische Erfahrung. Außerdem eine große liebende Familie, die aus gesunden Eltern, vier Brüdern und drei Schwestern bestand. Sämtliche Lacoumette-Geschwister kamen gut miteinander klar, wenngleich sie nicht die allerbesten Freunde waren. Matt zum Beispiel raubte Peyton den letzten Nerv, weil er sich in der Rolle des Witzboldes der Familie gefiel. Ginny ärgerte sie, weil sie immer alles und jeden unter Kontrolle haben wollte. Ellie versuchte, ihre Eltern nachzuahmen und die Nation mit der Reproduktion von fünf Kindern am Leben zu erhalten. Aber Adele war tatsächlich ihre beste Freundin, und der große, ruhige George, der Zweiälteste, bestellte immer noch das Land ihrer Familie und war ihr Fels in der Brandung. George hatte normalerweise nie viel zu sagen, und dennoch hatten sie großartige Unterhaltungen geführt, wenn Peyton dringend jemanden zum Reden brauchte. Den Rest der Zeit sprachen die anderen immer viel zu viel.

In einer Familie mit acht Kindern konnte man gleichzeitig Probleme und Rivalitäten und Verbündete haben – es existierte dennoch eine Art Gleichgewicht. Sie liebten sich alle, aber einige definitiv mehr als andere. Peyton war die Einzige, die weder einen Lebenspartner noch eine Familie hatte. Außer Matt, der kürzlich geschieden worden war, aber das war sicherlich nur vorübergehend – er war lustig und gut aussehend, und die Frauen liebten ihn. Doch Peyton war alleine. Das war einmal Absicht gewesen. Sie hatte es kaum abwarten können, von der Farm wegzuziehen und ein Leben ohne Verantwortung für sieben Geschwister zu führen. Und dann, während andere junge Frauen in ihrem Alter nach Ehemännern Ausschau hielten, hatte sie sich um ihre Karriere gekümmert, um Reisen und Abenteuer und vielleicht auch mal eine großartige Beziehung, aber nichts Dauerhaftes. Sie hatte es nicht eilig, Kinder zu kriegen. Falls sie überhaupt jemals welche haben wollte! Sie hatte, weiß Gott, genug von Kindern. Ihre erste Nichte war geboren worden, bevor sie mit dem College fertig gewesen war, und die Anzahl ihrer Nichten und Neffen wuchs ständig. Bis jetzt waren es zehn. Adele, die inzwischen dreißig war, erwartete ihr erstes Kind. Peytons Mutter, Corinne, war im siebten Himmel; ihre Eltern liebten es, Großeltern zu sein. Für ihren Vater, Paco Lacoumette, gab es nichts Schöneres, als das Oberhaupt eines großen Familienclans zu sein.

Peyton hatte sich in ihrem Leben nichts sehnlicher gewünscht, als an einem Ort zu wohnen, wo es nicht überfüllt war und sie ihr eigenes Zimmer, einen eigenen Schrank und ein eigenes Bad haben konnte. Sie wollte witzige Dinge erleben, die Art von Dingen, für die ihre Geschwister wegen der Kinder weder die Zeit noch das Geld hatten – Ski fahren, Tauchen, Rafting. Sie wollte in der Lage sein, Geld für Kleidung auszugeben, die sie nicht vermissen würde, wenn eine ihrer jüngeren Schwestern sie ihr aus dem Schrank nehmen würde. Sie wollte ein Auto fahren, das vor ihr noch nie jemand gefahren hatte. Es gefiel ihr, sich im Fernsehen anzusehen, was sie wollte, oder bis zum Morgengrauen zu lesen, wenn ihr danach war. Und sie hatte all das getan. In den zehn Jahren nach dem College hatte sie so gelebt, wie sie es sich immer erträumt hatte, und sie hatte es keine Sekunde für selbstverständlich gehalten. Sie hatte sich keinen einzigen Tag ihres Lebens einsam gefühlt. Und dann, kurz nachdem sie dreißig geworden war, war sie endlich bereit gewesen, ihr Leben wieder mit jemandem zu teilen.

Und dann hatte sie den Mann kennengelernt. Ted Ramsdale. Er sah so gut aus, dass ihr Herz einen Augenblick ins Stocken geraten war und es ihr den Atem verschlagen hatte. Eins achtundachtzig, gebaut wie ein junger Gott, dunkles Haar, intensive blaue Augen, strahlend weiße Zähne. Das war das Erste, das ihr aufgefallen war, aber verliebt in ihn hatte sie sich aus einem anderen Grund. Er war großartig, ein energiegeladener Kardiologe, einer der bekanntesten und beliebtesten des Landes. Er war charismatisch; sein Erfolg bei den Patienten hatte auch mit seinem Benehmen zu tun. Er konnte jeden um den Finger wickeln und schaffte es, selbst die nörgeligsten alten Männer dazu zu bringen, haargenau das zu tun, was er wollte. Zehn Minuten bei einem Patienten genügten, und sie fraßen Ted aus der Hand. Er hätte Kurse geben können, wie man ein hingebungsvoller, fürsorglicher Arzt wurde. Sein Team wäre ihm überallhin gefolgt; seine Kollegen baten ihn um Rat. Ted fand immer einen Weg, das zu bekommen, was er wollte, und dabei gleichzeitig allen anderen das Gefühl zu vermitteln, dass sie bekamen, was sie wollten.

Und wie das Glück es manchmal so will, brachte Ted drei Kinder mit. Er teilte sich das Sorgerecht mit seiner Exfrau, und sie war nicht unbedingt kooperativ. Sie wohnten ein paar Kilometer voneinander entfernt, damit die Kinder gleich viel Zeit bei jedem Elternteil verbringen konnten, ohne die Schule wechseln zu müssen. Peyton hatte ihn zuerst beruflich kennengelernt. Danach privat und ohne Kinder. Deshalb hatte es sie völlig unvorbereitet getroffen, als sie erkannte, dass Ted überhaupt keine väterlichen Fähigkeiten besaß. Zu spät hatte sie erfahren, dass er überhaupt nicht in der Lage war, seine eigenen Kinder in den Griff zu bekommen oder sie gar einmal zur Ordnung zu rufen. Es war unheimlich, dass Ted, dieser charmante Arzt, als Vater irgendwie nutzlos war. Als sie seinen Kindern zum ersten Mal begegnete, waren sie sieben, neun und zwölf und unglaublich ungezogen. Peyton war wirklich schockiert. Es schien, als ob die einzigen Menschen auf der Welt, zu denen Ted keine Beziehung aufbauen konnte, seine Kinder und seine Exfrau waren.

Zuerst hatte Peyton das mürrische und aufsässige Benehmen der Kinder auf die Probleme bei der Trennung der Eltern geschoben. Aber nein.

Über zwei Jahre lang hatte sie einige Tage pro Woche mit drei ungezogenen, unsensiblen, unhöflichen, faulen und aufsässigen Kindern verbracht. Ihre Eltern waren immer streng mit ihr und ihren Geschwistern gewesen, hatten sich aber dennoch freundlich und fair verhalten. Doch nachdem ihre Eltern Teds Kinder kennengelernt hatten, hatte ihr Vater gesagt: „Diese drei hätte ich schon vor langer Zeit einmal hinter den Schuppen geführt.“ Paco, der kaum je einmal die Stimme im Zorn erhob, dessen schlimmste körperliche Strafe aus einem liebevollen Schlag auf den Rücken oder einem angedeuteten Klaps auf den Hinterkopf seines Sohnes bestand, hatte nur halb im Scherz zu Peyton gesagt: „Ich glaube, ich hätte ihnen ordentlich den Hintern versohlt.“

Bei Ted und seinen Kindern hatte sich Peyton zum ersten Mal in ihrem Leben einsam gefühlt. Ted hatte immer lange gearbeitet und ständig Bereitschaftsdienst. Seine Kinder waren schrecklich und behandelten sie furchtbar, aber er schien nichts tun zu können, um ihr zu helfen. Die Kinder stritten sich mit ihr und untereinander, ignorierten hartnäckig sämtliche Regeln und hatten Schwierigkeiten in der Schule. Und dennoch war Ted in keinem Punkt eine Stütze. Stattdessen entschuldigte er seine Kinder. Die Distanz zwischen Peyton und Ted war immer größer geworden; er war nicht nur ständig abwesend, sondern auch gefühlsmäßig unerreichbar. Peyton war manchmal bewusst geworden, dass er seine Kinder wie seine Patienten behandelte – er schenkte ihnen zehn Minuten Aufmerksamkeit, und dann war er wieder weg, um sich der nächsten Herausforderung zu widmen. Und Peyton behandelte er genauso. Er hatte keine Geduld gehabt, sich ihre Bedenken anzuhören. Dabei hatte sich Peyton sehr viel Mühe mit seinen Kindern gegeben. Sie wollte sie davor bewahren, schreckliche Erwachsene zu werden – aber es war ihr einfach nicht gelungen, zu diesen drei Teufelsbraten durchzudringen. Peyton hatte ihr Bestes gegeben, aber sie hatte es nicht geschafft. Und sie konnte nicht länger bei ihnen bleiben. Deshalb hatte Peyton ihren Liebhaber verlassen, sein Haus, seine Kinder, und weil er schließlich ihr Vorgesetzter gewesen war, hatte sie auch ihren Job verloren.

Nun brauchte sie einen Ort, an dem sie wieder einen klaren Kopf bekommen konnte. Sie wünschte sich sehnlichst einen Platz für sich ganz alleine. Einen Platz, an dem sie gleichzeitig niemals einsam wäre. Sie schaute auf die ruhige Bucht. Ich wette, es ist sehr ruhig hier am Wasser, dachte sie. Sie wusste, wie Herbst und Winter an der Küste waren – nass und kalt und an vielen Tagen dunkel und neblig. Wenn ich ein kleines Haus oder Apartment mit einem Kamin hätte …

Eine hochschwangere Frau überquerte den Strand. Sie kam aus der Stadt, blieb vor Peyton stehen und strich sich über den kugelrunden Bauch. „Wenn ich verspreche, dass ich nicht rede oder herumzappele, darf ich mich dann zu Ihnen auf den Holzstamm setzen? Ich brauche eine Pause, bevor ich die Treppe in Angriff nehme.“

„Natürlich“, sagte Peyton. „Und Sie dürfen ruhig reden. Machen Sie gerade einen kleinen Schwangerschaftsspaziergang?“

Die Frau ließ sich auf dem Holzstamm nieder, und Peyton reichte ihr automatisch die Hand und griff ihr stützend an den Ellbogen. „Danke. Ja, mein täglicher langer Spaziergang. Danach lese ich ein wenig, während ich mich alle paar Stunden für zwanzig Minuten auf die linke Seite lege.“ Sie hob die Füße hoch. Ihre Knöchel waren geschwollen. „Schauen Sie sich das an! Bald kann ich die Schuhe meines Mannes tragen.“

„Auf die Gefahr, dass ich voreilige Schlüsse ziehe“, sagte Peyton lächelnd, „aber es sieht so aus, als ob diese Komplikationen bald hinter ihnen lägen.“

„Sehr bald. Termin ist in einem Monat. Und wie jede schwangere Frau, die ich kenne, hoffe ich auf eine Frühgeburt. Ich heiße Sarah“, sagte sie und reichte Peyton die Hand.

„Freut mich“, erwiderte Peyton und schüttelte ihr die Hand. „Peyton. Wo werden Sie entbinden?“

„North Bend. Man hat mir gesagt, dass ich jede Menge Zeit haben werde, dorthin zu fahren. Es ist mein erstes Baby.“

„Das erste Kind hat es meistens nicht so furchtbar eilig“, sagte Peyton.

„Sie hören sich an, als wüssten Sie, wovon Sie sprechen.“

„Ich habe zwar keine eigenen Kinder, aber ich bin Arztassistentin. Und ich habe bei einem Allgemeinmediziner gearbeitet. Da habe ich mich oft um werdende Mütter gekümmert.“

„Wohnen Sie hier in der Gegend?“, fragte Sarah.

„Nein. Ich bin nördlich von hier aufgewachsen, in der Nähe von Portland. Aber ich habe ein bisschen Urlaub in Coos Bay gemacht. Dort habe ich eine Jobanzeige gesehen und beschlossen, mich hier ein wenig umzusehen. Gefällt es Ihnen hier?“

„Sehr“, sagte Sarah. „Ich war in North Bend stationiert – in der Coast Guard Air Station. Dann habe ich beschlossen, zu kündigen und eine neue Karriere einzuschlagen.“ Sie grinste. „Ich habe in Thunder Point gewohnt und bin dauernd nach North Bend gependelt. Deshalb kenne ich die Strecke mit verbundenen Augen.“

„Bitte lassen Sie die Augen lieber offen, wenn Sie zur Entbindung ins Krankenhaus fahren“, sagte Peyton lachend.

„Mein Mann fährt. So ist es wenigstens geplant. Also – wo haben Sie sich beworben? In einer Praxis oder in einem Krankenhaus?“

„Ich habe meine Bewerbung bei Dr. Grant abgegeben.“

„Tatsächlich? Ich hörte, dass er eine PA oder einen Partner sucht, aber das ist schon eine Weile her. Ich war mir nicht sicher, ob er das Projekt weiterverfolgt. Wir lieben Scott. Er ist ein Schatz von einem Mann. Ich glaube, alle in der Stadt lieben ihn.“

„Er scheint sehr nett zu sein“, pflichtete Peyton ihr bei. „Ein hingebungsvoller Familienvater, wie man mir sagte.“

Sarah nickte. „Das beschreibt ihn definitiv gut. Er bringt sich sehr in dieser Stadt ein. Nicht nur medizinisch, sondern generell. Bei allen Versammlungen oder Veranstaltungen oder Spielen oder Feiern sind die Grants dabei.“

Peyton holte tief Luft. „Das scheint mir hier ein verschlafenes Nest zu sein. Ziemlich friedlich.“

„Die meiste Zeit schon“, sagte Sarah. „Das da draußen ist übrigens mein kleiner Bruder. Er fängt im Herbst mit dem College an. Er bringt dem anderen Kind bei, wie man auf dem Stand-up-Board paddelt. Das ist hier in der Gegend eine der Lieblingsfreizeitbeschäftigungen. Das und Kajak fahren oder schnorcheln, aber …“

„Man braucht hier ungefähr zehn Monate im Jahr einen Neoprenanzug.“

„Das haben Sie genau richtig erkannt“, bestätigte Sarah.

„Ich bin auf einer Farm aufgewachsen. Wir blickten von dort aus auf den Mount Hood, den wundervollen Mount Hood. Ich habe da das Skifahren gelernt. Zwei meiner Brüder arbeiteten auf dem Berg, erst in den Ferienorten und dann als Ski Patrol.“ Sie holte noch einmal tief Luft. „Mir gefällt die Küste aber auch. Ich mag das Meer und den Strand. Ich habe drei Jahre lang in San Francisco gearbeitet.“

„Ich habe mein ganzes Leben am Wasser gelebt“, sagte Sarah.

„Huhu!“, ertönte der Ruf eines Mädchens über die Bucht. Drei weitere Teenager paddelten über das ruhige Wasser aus der Marina heraus.

„Und hier kommt die Armada“, erklärte Sarah. „Landons Freundin Eve und ein paar andere gute Freunde aus der Stadt. Stand-up-Paddling gehört zu ihren Lieblingshobbys, aber ich bin mir sicher, dass sie bald das Volleyballnetz aufstellen werden. Wenn diese Kinder nicht lernen oder jobben, spielen sie. Ich fürchte, ich muss jetzt los.“ Sie bemühte sich, sich vom Holzstamm zu erheben.

Peyton erhob sich ebenfalls und reichte ihr eine Hand. „Zeit für die zwanzig Minuten auf der linken Seite?“

„Ja, wahrscheinlich.“ Sarah nickte und zog ihre Nase kraus. „Aber meistens muss ich pinkeln.“ Dann lachte sie. „Ich bin auf dem Weg zu Cooper’s, so heißt unsere Strandbar. Cooper, das ist mein Mann. Wenn Sie Lust haben, etwas zu trinken oder Appetit auf einen kleinen Snack haben, würde ich Sie sehr gern dazu einladen. Ich sehe mir die Kids lieber von da oben aus an.“

Peyton lächelte erfreut. „Ich glaube, ich nehme Ihre Einladung gerne an“, sagte sie und half Sarah auf die Füße.

Kurz darauf saß Peyton bei einer Tasse grünem Tee auf der Terrasse von Coopers Strandbar und lernte noch mehr Einwohner aus Thunder Point kennen. Sie hatte Sarahs Füße auf einen Stuhl gebettet und gesagt: „Das erspart Ihnen zwar nicht die zwanzig Minuten, die Sie auf der Seite liegen müssen, aber das und jede Menge Wasser helfen auch.“

„Oh, Sie sind ein Schatz! Sie müssen hierbleiben.“

„Hierbleiben?“, fragte ein großer Mann, der am Geländer lehnte, neugierig.

„Al“, sagte Sarah. „Das ist Peyton. Sie ist Arztassistentin und überlegt, bei Scott zu arbeiten.“

Al drehte sich zu Peyton. „Es wird Ihnen gefallen, mit Scott zu arbeiten. Scott hat mir geholfen, Vater zu werden.“

Peyton runzelte die Stirn. Der Mann war Mitte fünfzig. Andererseits war älteren Männern auch schon Merkwürdigeres passiert. Aber beim Vaterwerden geholfen? „Darf ich fragen, wie er das getan hat? Gehören Fertilitätsstudien zu seinem Fachgebiet?“

Al lachte herzlich über ihre Frage. „Ich weiß, ich sehe irgendwie einfältig aus, aber so einfältig bin ich auch wieder nicht. Nein – diese drei da unten sind meine Pflegekinder. Der Kerl auf dem Paddelbrett bei Sarahs Bruder, Justin, ist siebzehn. Die beiden mit dem Frisbee sind Kevin und Danny. Ich war in großer Sorge, ob mich das Jugendamt akzeptieren würde. Scott hat mir dann geraten, Sally, die Mutter der Jungen, dazu zu bringen, mich als Vormund ihrer Kinder zu bestimmen, damit die Dinge etwas beschleunigt werden. Und jetzt bin ich Pflegevater. Die einzige Genehmigung, die noch fehlt, ist jeden Moment fällig.“

Peyton war fassungslos. „Sie müssen die Kinder ziemlich gut kennen, um so etwas auf sich zu nehmen. Oder haben Sie ein besonderes Händchen für Teenager?“

„Weder noch“, erwiderte Al. „Ich kenne sie erst seit Kurzem, aber es sind tolle Jungs. Bis ihre behinderte Mutter in eine Pflegeeinrichtung musste, haben sie sich zu Hause ganz alleine um sie gekümmert.“ Er deutete mit dem Kinn auf die Bucht hinaus. „Diese Boards sind teuer. Ich werde das Geld aber nicht eher ausgeben, bis zwei Dinge klar sind – erstens, dass ihnen dieser Sport wirklich sehr gefällt, und zweitens, dass sie dabei nicht ertrinken.“ Er lachte leise in sich hinein. „Kevin und Danny waren schon zig Mal unten am Wasser und haben Justin angefleht, doch endlich rauszukommen, damit sie endlich an der Reihe sind. Obwohl die Jungen schwimmen können – jedenfalls so was in der Art –, möchte ich sie nicht gleichzeitig da draußen auf dem Wasser sehen. Nur immer schön einen nach dem anderen. Falls einer von ihnen vom Brett fällt, ist Landon ein geprüfter Rettungsschwimmer. Ich glaube, diese Idee wird mich noch einiges kosten.“

„Nur aus Neugier – wie lange sind Sie schon Pflegevater?“, fragte Peyton.

„Seit ein paar Wochen“, erwiderte Al. „Diese Jungen hatten noch nicht viel Freizeit. Ich meine richtige Freizeit, kindgerechte freie Zeit. Wegen des Gesundheitszustands ihrer Mutter. Ich arbeite ganztags, aber ich möchte keinen Tag des Sommers verschwenden. Ich möchte, dass sie zur Abwechslung einmal richtige Jungs sein dürfen. Sie setzen sich immer noch brav ins Auto und fahren ins Pflegeheim, um ihre Mutter zu besuchen. Wenigstens zweimal in der Woche, wenn möglich noch öfter. Doch ich halte es für wichtig, dass sie Ball spielen, ins Wasser gehen und ein bisschen Spaß haben.“

„Wie lange haben sich die Jungs um ihre Mutter gekümmert?“, fragte Peyton.

„Soweit ich weiß, ungefähr vier Jahre lang. Und wenn es nach Scott geht, haben sie eine verdammt gute Arbeit geleistet.“

Und ich habe es nicht geschafft, Teds Kinder dazu zu bewegen ihre dreckigen Teller in die Küche zu bringen.

Als Cooper auf die Terrasse kam und man ihm Peyton vorstellte, verschwand Al zu seinen Kindern. Cooper trug einen Werkzeuggürtel. „Müsstest du nicht ein bisschen schlafen, damit du deine Knöchel wiederbekommst?“, fragte er seine Frau.

„Viel lieber würde ich endlich das Baby bekommen“, erwiderte sie. Aber sie ließ sich von ihm auf die Beine helfen.

„Beeilen Sie sich nicht zu sehr damit“, riet ihr Peyton. „Sie wollen doch ein schönes und kräftiges Baby bekommen.“

„Will ich das?“

„Bestimmt wollen Sie, dass seine Lungen und sein Herz schön kräftig sind“, sagte Peyton lachend.

„Lass uns doch du zueinander sagen. Und bleib noch ein bisschen hier, Peyton“, bat Sarah sie.

Peyton lächelte und nickte. „Einverstanden.“

„Genieß die schöne Aussicht! Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder“, verabschiedete sich Sarah schließlich.

Peyton blieb gern noch eine Weile. Dieser Ort war so beruhigend!

Die Gruppe aus der Bucht kam nun zum Strand. Sie bauten ein Netz auf dem Sand auf und fingen an, Volleyball zu spielen. Die drei Pflegekinder von Al spielten mit Sarahs Bruder und dessen Freunden. Dann lernte Peyton einen älteren Herrn namens Rawley kennen. Er hatte zwei Kinder im Schlepptau, die mit Eimern und Angeln unterwegs waren – einen Jungen und ein Mädchen. Rawley nickte Peyton kurz zu. „Wie geht’s?“, fragte er. Die Kinder rannten los, die Treppe hinunter.

Sie lächelte. „Großvaterpflichten?“

„So was Ähnliches.“ Er zeigte auf die Kinder. „Das da ist Coopers Sohn, Austin. Das Mädchen heißt Mercy. Sie ist die Tochter von Devon, einer Freundin von mir.“

„Aha! Ich habe Devon schon kennengelernt. Aber ich dachte, Austin sei der Sohn ihres Verlobten?“

Der alte Mann nickte. „Ja“, antwortete er. Mehr nicht. Dann folgte er den Kindern runter an die Pier zum Angeln.

„Nun, dann ist ja alles klar“, murmelte Peyton leise.

Sie hatte den Tee fast fertig ausgetrunken, als ein anderer Mann, ebenfalls mit Werkzeuggürtel ausgestattet, mit Al die Terrasse betrat. Dieser Mann hatte ein Bier in der Hand, und er war ganz schön verschwitzt. Al nahm sich eine Cola und eine Tüte Chips und mexikanische Salsa. Dann sagte er: „Spencer, das ist Peyton. Peyton überlegt, in der Praxis zu arbeiten …“

„Kennen Sie Devon schon?“, fragte der Mann lächelnd.

„Ich habe Sie heute kennengelernt“, bestätigte sie. „Und ich habe mich eine Weile mit ihr unterhalten und meine Bewerbung dagelassen.“

„Wir sind verlobt.“ Spencer wischte sich die Hände an seiner Jeans ab und streckte ihr eine Hand über den Tisch hinweg entgegen. „Ich habe am Haus gearbeitet. Wir heiraten bald. Danach werden wir zwar immer noch viel zu tun haben, aber wir wollen trotzdem sobald wie möglich einziehen. Wie gefällt Ihnen unsere Stadt denn bis jetzt?“

„Malerisch“, sagte sie.

Er lachte. „Nur an der Oberfläche. Diese kleine Stadt hier ist hart im Nehmen.“

„Wie das?“

Er überlegte kurz. „Die Leute hier haben’s nicht sonderlich einfach. Die Lebenshaltungskosten sind hier zwar recht niedrig, aber es gibt nur einen Arzt, einen Anwalt, keinen Zahnarzt. Thunder Point ist eine Arbeiterstadt, und ein großer Prozentsatz der Einwohner hält sich mit Zweitjobs über Wasser. Unsere Teenager haben genauso viele Abschlüsse wie die Schüler einer höheren Schule in der Großstadt, obwohl die meisten von ihnen nebenbei jobben. Und sie sind wirklich gut in der Schule. Ziemlich viele von ihnen können das College besuchen.“

Das erklärt, weshalb Scott Grant mit einem kleinen Budget auskommen muss. „Und trotzdem gefällt es Ihnen hier?“

„Es war eine gute Entscheidung, hierherzukommen“, sagte Spencer. „Meine letzte Highschool war finanziell gut ausgestattet – bekam Spenden, Ausrüstung, Tutoren, Spezialprogramme, was immer Sie wollen. Wenn die Schule etwas brauchte, gab es immer einen Weg. Sie lag in einem wohlhabenden Viertel. Da mussten nicht viele Schüler arbeiten, um über die Runden zu kommen. Natürlich hatten auch dort jede Menge Schüler einen Nebenjob, aber noch mehr Schüler arbeiteten nicht nebenher. Der Schülerparkplatz war immer voll und die Autos keine Schrottkarren.“ Er grinste erneut. „Der Parkplatz der Thunder Point High sieht da ganz anders aus. Diese Leute hier arbeiten hart, um sich über Wasser zu halten. Ich finde es irgendwie inspirierend, mit Kindern zu tun zu haben, die es nicht so leicht haben.“

Darüber hatte Peyton in letzter Zeit sehr viel nachgedacht. Sie war auf einer Farm aufgewachsen, auf einer sehr erfolgreichen Farm. Dennoch waren sie und ihre Geschwister nie verwöhnt worden. Jedes Kind hatte seine Pflichten. Alle mussten hart arbeiten. Paco sorgte sich ständig um die Ernte des kommenden Jahres, die auch mal schlecht ausfallen konnte. Deshalb gab niemand leichtfertig Geld aus. Ein früher Kälteeinbruch mit Frost konnte für die Birnen eine Katastrophe bedeuten. Ein schlimmer Winter konnte den Schafen zusetzen. Wenn es mit abgelegten Sachen ging, warum dann neue kaufen? Und obwohl ihr Vater Aushilfskräfte für die Farm angeheuert hatte, hatte jedes der Kinder seine Pflichten auf dem Hof zu erledigen. „Arbeit ist gut für die Seele“, pflegte er immer zu sagen. „Was würdet ihr daraus lernen, wenn ihr lange schlafen würdet? Pflückt ein paar Wochen lang Birnen, dann habt ihr Zeit zum Nachdenken und die Chance, wirklich etwas zu lernen.“

Damals war Peyton ihrem Vater für diese Weisheit nicht besonders dankbar gewesen. Doch als sie dann aufs College ging, saß sie in der Bibliothek, um zu studieren, während einige ihrer Kommilitonen dauernd ausgingen oder in der Studentenlounge Karten spielten. Peyton hatte eben schon früh gelernt, dass erst die Arbeit kam und dann das Vergnügen. Deswegen war sie keine Außenseiterin – im Gegenteil. Sie hatte ein wunderbares, geselliges, aber eben kein vergnügungssüchtiges Leben. Das Bier mit ihren Freunden hatte ihr, nachdem sie bei ihren Tests hervorragend abgeschnitten hatte, eben besser geschmeckt als nach einem verpatzten Test. Das harte Training auf der Lacoumette hatte sie sehr gut auf das Leben vorbereitet.

Teds Kinder waren ohne Frage viel zu verwöhnt. Peyton hatte sie ein Mal auf die Farm mitgenommen, in ihr Zuhause, wo sich beim Abendessen schon mal an die zwanzig Menschen um den langen Eichentisch scharten – und das war nicht mal die ganze Familie. Dort brüllten und lachten und stritten die Lacoumettes darum, zu Wort zu kommen. Es war ein Ort, an dem alle, die im Haus schliefen, gegen die Badezimmertür klopften, wenn sich jemand da drinnen häuslich eingerichtet zu haben schien. Wo es morgens schon um fünf Uhr Frühstück gab. Teds Kinder waren davon nicht zu beeindrucken gewesen; Ted selbst übrigens auch nicht. Seine älteste Tochter, die fünfzehnjährige Krissy, hatte gesagt: „Es riecht hier irgendwie nach Scheiße, stimmt’s?“ Peytons Mutter hatte nach Luft geschnappt und ihr Vater finster dreingeblickt.

„Das ist Dung“, hatte Peyton den Kindern erklärt. „Es ist Pflanzzeit!“ Ihr Vater hatte immer gesagt: Dieser Geruch ist der Duft des Geldes.

„Entspann dich, Peyton!“, hatte Ted erwidert. „Sie können nichts dafür. Sie haben eben keine Erfahrungen mit einer Farm.“

Peyton seufzte, als sie daran dachte. Vermutlich würde es ihr helfen, ihr Glück wiederzufinden, wenn sie sich in einem Ort niederließ, wo die Kinder nicht verwöhnt waren. Ihre Nichten und Neffen waren gut erzogen. Wie alle Teenager hatten sie auch ihre Probleme und Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, doch man hatte ihnen beigebracht, auf die Gefühle anderer Menschen Rücksicht zu nehmen.

Außerdem war ihr bewusst geworden, dass sie während ihrer Zeit mit Ted und seinen Kindern keine Freunde gehabt hatte. Schlimmer noch: Sie hatte den Kontakt zu ihren Freunden verloren. Teds Praxis und sein Haushalt hatten ihr schlicht keine Zeit dafür gelassen. Seine Exfrau hatte sich nie an verabredete Zeiten gehalten, weshalb Peyton und Ted ihre Pläne ständig ändern mussten. Was bedeutete, dass Peyton ihre Freizeit geopfert hatte, um sich um Teds Kinder zu kümmern, weil er im Krankenhaus sein oder Bereitschaftsdienst für die Notaufnahme hatte. Das erschien Peyton manchmal wie Absicht, aber Ted hatte das abgestritten. „Du darfst unsere Sorgerechtsprobleme nicht persönlich nehmen. Wir müssen flexibel sein.“

Wir? Ted musste nicht flexibel sein. Er lebte in seiner Praxis oder im Krankenhaus. Er spielte Golf und Tennis; angeblich, um wichtige berufliche Beziehungen zu pflegen. Er fuhr zu Konferenzen, die außerhalb der Stadt stattfanden – er war ein ebenso bekannter wie gefragter Redner unter den Kardiologen. Er verbrachte so wenig Zeit mit seinen Kindern, dass es Peyton nicht besonders überrascht hätte, wenn er sich nicht mehr an ihre Namen erinnert hätte.

Vielleicht sollte sie eine Zeit lang in einer Stadt leben, wo man wusste, was harte Arbeit bedeutete. Es würde ihr guttun, sich bei freundlichen Menschen aufzuhalten. Sie könnte wieder etwas Raum für sich haben – ihr eigenes Bad, einen eigenen Schrank, Fernseher, Bücherregal. Ihre Habseligkeiten wären sicher vor dem Zugriff anderer Personen. Sie könnte sich wieder einen Panzer zulegen, damit ihre Gefühle nicht ständig durch kaltschnäuzige Kommentare und Respektlosigkeit verletzt werden konnten. Und sie könnte sich in Ruhe überlegen, wie sie in diesen Schlamassel geraten war und wie so etwas nie wieder geschah.

Vielleicht würde es sie inspirieren, in einer Praxis zu arbeiten, die über ein nur sehr schmales Budget verfügte. Eher, als es in einer reichen Praxis wie der von Ted der Fall gewesen war.

Dieses kleine Küstenstädtchen am Pazifik lag nur drei Stunden von der Farm ihrer Eltern entfernt. Peyton war zwar längst aus der Farm herausgewachsen, flüchtete aber in Zeiten großen Kummers oder der Verwirrung gerne dorthin zurück. Vielleicht sollte sie einfach eine Zeit lang hierbleiben, bis sich ihre Seele und Gefühle wieder erholt hatten. Aber für ein Jahresgehalt von vierzigtausend würde sie sich kein extravagantes Leben leisten können. Ihr letztes Gehalt waren fünfundneunzig pro Jahr gewesen. Doch sie hatte, wegen des Wohnarrangements und Teds ansehnlichen Wohlstands, eine Menge Geld gespart. Tatsächlich war sie immer schon sehr sparsam mit ihrem Geld umgegangen und hatte immer ziemlich viel zur Seite gelegt. Das wollte sie nun nicht alles ausgeben, um in einer kleinen Praxis arbeiten zu können. Es sei denn, es gäbe einen guten Grund dafür.

Während sie ihren Tee in Coopers Strandbar austrank, lernte sie noch weitere Bewohner der Stadt kennen: eine Immobilienmaklerin, die Besitzerin eines Feinkostladens, die die Strandbar mit Leckereien belieferte, und den stellvertretenden Sheriff. Später, als sie am Strand entlangging, begegnete sie noch einmal der Dänischen Dogge namens Hamlet. Der Hund war unruhig, weil er zu weit von Sarahs Bruder Landon, einem sportlichen, gut aussehenden jungen Mann, entfernt war. Die Teenager grüßten freundlich und hörten so lange auf zu spielen, bis Peyton an ihnen vorbeigegangen war. Das gefiel ihr. Mein Leben muss schrecklich durcheinander geraten sein, wenn es mich bereits beeindruckt, dass ein paar Teenager mit Ballspielen aufhören, bis ich vorbeigelaufen bin, überlegte sie, während sie weiterstapfte.

Als sie wieder bei ihrem Wagen eintraf, war es halb fünf. Diesmal saßen ein paar Leute im Wartezimmer – sechs, um genau zu sein. Sie ging zum Empfangstresen, und Devon erhob sich noch einmal. „Oh. Ich glaube, der Doktor ist beschäftigt“, stellte Peyton fest.

„Er behandelt gerade einen Patienten, und ein paar andere Patienten warten noch, aber je nachdem, worum es geht, kann ich ihn kurz loseisen.“

„Ist es hier um diese Zeit immer so voll?“, erkundigte sich Peyton.

„Wir hatten zwei Termine, und ein paar Patienten sind einfach vorbeigekommen. Das ist nicht jeden Tag so, aber es ist auch nicht ungewöhnlich. Soll ich Ihnen lieber seine Handynummer geben?“

„Im Ernst? Ist das nicht irgendwie ein bisschen … Sie wissen schon … ein bisschen zu privat?“

Devon schüttelte den Kopf. „Ich glaube, jeder in der Stadt kennt seine Handynummer.“

„Oh. Das ist unheimlich.“ Teds Patienten bekamen niemals seine Handynummer. Sie mussten sich grundsätzlich am Empfang anmelden.

Peyton nahm einen Zettel vom Counter und schrieb: Drei Monate? „Würden Sie ihm bitte diesen Zettel geben, Devon? Meine Handynummer steht auf meiner Bewerbung. Ich fürchte, eine größere Verpflichtung kann ich im Augenblick nicht eingehen. Und ich werde auch ein wenig Zeit brauchen, mir in der Gegend eine Wohnung zu suchen. Bitten Sie ihn, mich wissen zu lassen, ob er Interesse hat.“

Devon grinste breit. „Ich bin so froh, Peyton! Ich habe ein gutes Gefühl. Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Und Sie wollen sicher bei dieser Frau anrufen“, sagte sie und schrieb eine Nummer auf einen Klebezettel. „Sie ist unsere Immobilienmaklerin und wirklich gut, seltene Mietobjekte aufzutreiben.“

Das entlockte Peyton ein Lächeln. Devon schien ein echter Schatz zu sein. „Ich habe Ray Anne bereits kennengelernt“, erzählte sie ihr. „Sie hat mir ihre Visitenkarte gegeben.“

„Kismet!“ Devon strahlte sie an.

Peyton nickte ihr zum Abschied zu, doch dann fiel ihr noch etwas ein, bevor sie die Praxis verließ. „Darf ich Sie etwas fragen? Ich hoffe, es ist nicht zu persönlich – falls doch, sagen Sie es mir bitte! Ich bin Ihrem Rat gefolgt und war in Coopers Strandbar, um den Blick aufs Meer zu genießen. Dort habe ich ein paar Leute kennengelernt, unter anderem ihren Zukünftigen, Spencer.“

„Ach ja? Oh, gut. Ist er nicht der tollste, bestaussehende Mann der Welt?“

Peyton neigte den Kopf und nickte kurz. „Scheint tatsächlich so zu sein. Ich habe auch Cooper und Sarah kennengelernt, und einen alten Mann, der sich mir nicht vorgestellt hat.“

„Rawley. Er war heute mit Mercy zum Angeln am Dock.“

„Ja, ich habe sie gesehen. Und den Jungen, Austin. Rawley sagte, er sei Coopers Sohn?“

„Stimmt.“

„Aber hatten Sie nicht gesagt, er sei Spencers Sohn?“, fragte Peyton. „Ich bin ein bisschen …“

„Cooper ist sein leiblicher Vater, Spencer sein Stiefvater“, klärte Devon sie auf. „Austins Mutter starb vor ungefähr einem Jahr. Spencer war bis dahin der einzige Vater, den Austin kannte. Und dann zogen sie hierher, damit Cooper sich besser um Austin kümmern kann. Oh, und natürlich, um den Job als Sportdirektor und Coach in der Highschool anzutreten. Da hat es ein Engel gut mit mir gemeint.“

„Das erklärt alles.“

Devon lachte. „Sobald Sie hier anfangen, besorgen wir Ihnen ein Programmheft.“

Es war halb sechs, als Scott, nachdem der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, zum ersten Mal wieder Luft holen konnte. Er notierte sich etwas in den Unterlagen, blickte dann auf und sah Devon im Türrahmen stehen. „Ich wette, du willst gleich Feierabend machen“, mutmaßte er.

„Alles okay. Spencer und Rawley haben sich heute Nachmittag um die Kinder gekümmert. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass Peyton noch einmal vorbeigekommen ist. Sie hat eine Nachricht hinterlassen.“ Devon hielt ihm den Zettel hin. „Sie sagte, dass sie im Augenblick keine weiteren Zugeständnisse machen kann.“

„Oh. Na ja, es wäre eine Hilfe und würde mir Zeit geben, mich nach jemandem umzusehen, der länger hierbleiben will.“

„Vielleicht gefällt es ihr hier.“

„Rechne lieber nicht damit, Devon. Sie ist gefragt. Sie könnte einer Menge anderer Kliniken oder Arztpraxen ihren Preis diktieren. Andere Ärzte würden sich die Finger nach so einer PA lecken. Ich hatte wirklich nicht erwartet, dass sie überhaupt in Erwägung ziehen könnte, auch nur zeitweilig hier zu arbeiten. Schon gar nicht bei dem Gehalt, das ich ihr angeboten habe.“

„Warum macht sie es dann?“

„Ich glaube, Thunder Point ist eine Zwischenstation für sie, während sie sich entscheidet, was sie als Nächstes tun will. Für sehr viel mehr Geld. Und Prestige.“

„Weshalb geht sie dann nicht jetzt schon woandershin?“

„Weil sie klug ist. Sie wird in Ruhe suchen und sich dabei Zeit lassen wollen. Sie wird sorgfältig auswählen und dann einen Wahnsinnsvertrag aushandeln.“

„Hmm“, sagte Devon. „Da könntest du dich irren.“

„Könnte sein“, erwiderte er. „Aber ich wette, ich irre mich nicht. Ruf sie an, machst du das? Sag ihr, dass wir ihr Angebot gerne annehmen wollen, wenn sie uns die nächsten drei Monate zur Verfügung stehen will. Bitte sie, mir zu sagen, wann sie anfangen will.“

„Ich wünschte, du wärst etwas positiver“, sagte Devon. „Das könnte perfekt werden.“

„Versteh mich nicht falsch – ich freue mich, jemanden mit Peytons Erfahrung an Bord zu haben“, sagte er. „Aber weshalb sollte jemand, der bei klarem Verstand ist, für weniger arbeiten, als er in einer anderen Praxis oder Klinik bekommen könnte?“

Autor

Robyn Carr
<p>Seit Robyn Carr den ersten Band ihrer gefeierten <em>Virgin River</em>-Serie veröffentlichte, stehen ihre Romane regelmäßig auf der Bestsellerliste der <em>New York Times</em>. Auch ihre herzerwärmende <em>Thunder Point</em>-Reihe, die in einem idyllischen Küstenstädtchen spielt, hat auf Anhieb die Leserinnen und Leser begeistert. Robyn Carr hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit...
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