Verführt in aller Unschuld?

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Die Kameras laufen heiß, als Savannah zum Auftakt des Rugbyspiels die Nationalhymne singt! Was nicht an ihrer Stimme liegt - sondern an der Tatsache, dass ihre üppigen Kurven gerade ihr Kleid sprengen … Durch einen Tränenschleier sieht sie einen attraktiven Mann auf sich zukommen. Die Sensation ist perfekt! Denn Ethan Alexander, steinreicher Sponsor, scheut sonst das Licht der Öffentlichkeit. Aus einem Grund, den niemand kennt - bis er Savannah mit in seinen Palazzo in die Toskana nimmt. Die Milliardär und die Sängerin, Dunkel und Licht - Unschuld und Verführung …


  • Erscheinungstag 20.03.2010
  • Bandnummer 1914
  • ISBN / Artikelnummer 9783862954520
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Manche sagten, Selbstbewusstsein sei das stärkste Aphrodisiakum überhaupt. Aber für den Mann, den die Rugbywelt nur „der Bär“ nannte, war Selbstbewusstsein nur der Anfang. Selbstbewusstsein brauchte Mut. Und Ethan Alexander bewies jeden Tag, wenn er der Welt sein vernarbtes Gesicht zeigte, dass er Mut besaß.

Ein Raunen ging durch die Zuschauer des Stadio Flaminio in Rom, als Ethan seinen Platz beim Spiel Italien gegen England im Six Nations Turnier einnahm. Die Männer setzten sich ein bisschen aufrechter hin, die Frauen warfen ihre Haare zurück und befeuchteten die makellos aufgespritzten Lippen.

Ohne den Bären fehlte jedem Spiel das besondere Prickeln, das Gefühl von Gefahr, die von seiner Person ausging. Groß, dunkel, das Gesicht von Narben überzogen, war Ethan mehr als ein begeisterter Rugbyfan, er war ein erfolgsverwöhnter Tycoon. Er setzte die Standards, nach denen andere Männer beurteilt wurden. Sein Gesicht mochte verunstaltet sein, doch Ethan besaß jenen atemberaubenden Glamour, der aus Intelligenz und einem eisernen Willen geboren wurde. In seinen Augen brannte ein inneres Feuer, an dem Frauen sich gerne verbrannt hätten und Männer sich wünschten, sie würden Vergleichbares besitzen.

Heute jedoch verwandelte sich seine Vorfreude auf das Spiel in immer größer werdende Verärgerung über die menschlichen Schwächen. Wieso brachte etwas so Unbedeutendes wie Halsschmerzen eine weltbekannte Operndiva wie Madame de Silva dazu, sich zu weigern, bei einem solchen Ereignis die englische Nationalhymne zu singen?

Auf dieselbe Weise, wie ein gebrochenes Rückgrat deine Karriere als Rugbyspieler beendet hat, meldete seine innere Stimme sich mit schonungsloser Ehrlichkeit.

Er hatte eine junge Sängerin als Ersatz für Madame de Silva engagiert. Savannah Ross hatte kürzlich einen Vertrag bei seiner Plattenfirma unterschrieben. Ein kleines Hobby nebenbei, weil er Musik liebte. Er hatte Savannah noch nicht kennengelernt, aber Madame de Silva hatte sie empfohlen. Und seine Marketingleute hielten sie für den kommenden Shootingstar am Opernhimmel.

Vielleicht war sie der nächste Star, im Moment war sie einfach nur zu spät. Ethans Blick wanderte zu der großen Stadionuhr, die die Sekunden bis zum Anpfiff rückwärts zählte. Ein unerfahrenes junges Ding für ein so wichtiges Event zu verpflichten, erinnerte ihn daran, weshalb er normalerweise keine Risiken einging. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, seiner Neuentdeckung eine Chance zu geben. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Konnte Savannah Ross seine Erwartungen erfüllen? Das sollte sie besser. Er hatte seinen Privatjet geschickt, um sie einzufliegen. Und man hatte ihm versichert, dass sie auch im Stadion eingetroffen war. Also, wo blieb sie?

Stirnrunzelnd veränderte Ethan seine Sitzposition. Der Ablauf der Formalitäten vor dem Spiel war auf die Sekunde getimt, weil das Spiel weltweit im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Für Ausnahmen gab es keinen Platz. Savannah Ross hatte den Auftritt zugesagt, jetzt musste sie singen.

Das hier war anders als jedes Theater, jeder Konzertsaal, in dem sie bisher aufgetreten war. Es war ein leerer gekachelter Tunnel, in dem es nach Schweiß und Schmutz roch. Nicht einmal einen anständigen Umkleideraum gab es – nicht, dass ihr das etwas ausmachte. Es bedeutete eine große Ehre, überhaupt hier sein zu dürfen. Gleich würde sie mitten auf dem Spielfeld stehen und die englische Nationalhymne singen … oder zumindest hoffte sie, das tun zu können, sobald sie jemanden fand, der ihr sagte, wann sie wo hinzugehen hatte.

Savannah streckte den Kopf durch den Vorhang ihrer „Umkleidekabine“ und rief laut Hallo. Niemand antwortete. Wenig überraschend in einem menschenleeren Tunnel. Die Frau, die ihr am Eingang des Stadions einen Besucherausweis gegeben hatte, hatte erklärt, dass die vorhandenen Räume für die Spieler und ihre Betreuer gebraucht wurden. Madame de Silva reiste immer mit einer riesigen Entourage, die neben einem eigenen Hairstylisten auch ein Mädchen umfasste, deren einziger Job darin bestand, sich um den Chihuahua der Diva zu kümmern. Wahrscheinlich, vermutete Savannah, war das Management des Stadions heilfroh, die vielen Zimmer, die Madame gefordert hätte, nun anderweitig einteilen zu können. Außerdem reichte ihr, was man ihr zugewiesen hatte: eine Nische – mehr eine kleine Einbuchtung – in der Tunnelwand, vor die jemand hastig einen Vorhang gespannt hatte.

Und es gab Wichtigeres als eine bequeme Suite. Zum Beispiel die verrinnenden Minuten bis zum Spielbeginn. Ganz offensichtlich hatte man sie vergessen. Niemand kannte sie. Den Plattenvertrag hatte sie erst vergangene Woche unterschrieben, und dass sie für Madame de Silva einsprang, war ganz kurzfristig entschieden worden. Es war einfach nicht zu erwarten, dass jemand sich an sie erinnerte. Nachdem man sie zu ihrer Nische geführt hatte, hatte sie keinen Menschen mehr zu Gesicht bekommen. Und jetzt hatte sie keine Ahnung, was sie tun sollte. Singen? Ja, klar, aber wann war sie an der Reihe? Und musste sie auf jemanden warten, der sie aufs Spielfeld führte, oder sollte sie alleine gehen?

Savannah hörte den ekstatischen Jubel der Fans und wusste, dass sie dringend Hilfe brauchte. Gerade als sie losmarschieren wollte, drangen sich nähernde Stimmen an ihr Ohr. Ein Grüppchen Geschäftsleute schlenderte diskutierend durch den Tunnel. Gleich würden sie an ihrer Nische sein. Sie würde einen von ihnen um Rat fragen.

„Entschuldigen Sie …“ Weiter kam sie nicht. Als sei sie eine unsichtbare Fliege, drängten die Männer sie beiseite. Sie waren so in ihr Gespräch über den Mann vertieft, den sie den Bären nannten, dass sie Savannah gar nicht bemerkten. Der Bär hatte sich alleine zu seinem Platz begeben, dabei hatte sich jeder von ihnen darauf gefreut, derjenige zu sein, der ihn begleiten durfte.

Der Bär …

Unwillkürlich erschauerte Savannah. So lautete der Spitzname des Tycoons, der seinen Jet geschickt hatte, um sie abzuholen. Ethan Alexander, begeisterter Rugbyfan und Milliardär, eine geheimnisumwitterte Figur, über die regelmäßig in den Zeitschriften berichtet wurde, die Savannah sich kaufte, wenn sie wieder einmal von unerreichbaren Männern träumen wollte. Niemandem war bislang ein Blick auf Ethans Privatleben vergönnt gewesen. Aber natürlich blühten die Gerüchte umso reichhaltiger, je mehr er jede Publicity scheute.

Sie musste wirklich aufhören, an Ethan Alexander zu denken, und sich auf die missliche Lage konzentrieren, in der sie feststeckte. Um Zeit zu sparen, würde sie erst ihr Kleid anziehen und dann Hilfe suchen.

Doch selbst das wunderschöne Kleid vertrieb Ethan nicht aus Savannahs Gedanken. Nach dem, was die Männer über ihn gesagt hatten, kam Ethans Anwesenheit beim Spiel der eines Mitglieds des englischen Königshauses gleich. Er war der ungekrönte König der Rugbywelt.

Beim Gedanke an so viel geballte Männlichkeit durchlief Savannah abermals ein Schauer. Als es ihr endlich gelungen war, in ihr Kleid zu schlüpfen, war sie das reinste Nervenbündel. Wahrscheinlich nicht überraschend, ging es ihr durch den Kopf, angesichts des vibrierenden Testosterons in der Luft eines Rugbystadions.

Wieder dachte sie an Ethan. Die Macht, die er ausstrahlte, ließ ihn selbst auf einem Titelbild unwiderstehlich wirken. Vielleicht lag das an dem eisernen Willen, der sich in seinen Augen spiegelte, oder an seinem atemberaubenden Körper. Auch wenn er um einiges älter war als sie und sein Gesicht von Narben überzogen war, so war sie nicht die einzige Frau, die der Meinung war, seine Verletzungen machten ihn noch anziehender. In Umfragen, mit welchem Mann Frauen gerne eine Nacht verbringen würden, belegte er regelmäßig den ersten Platz.

Nicht dass jemand, der so unerfahren war wie sie, sich darüber Gedanken zu machen brauchte. Nein, sie fühlte sich mehr zu der Aura aus Gefahr und Tragik hingezogen, die Ethan umgab. In ihren Augen ließen ihn die Narben nur menschlicher und realer erscheinen.

Ach, wirklich?, meldete sich Savannahs zynische Seite. Es sind also deine unschuldigen Gedanken, die dieses Feuer in deinem Inneren entfachen?

Wohlweislich hütete sie sich vor einer Antwort. Sie hatte keine Zeit für diese Ablenkungen. Wieder streckte sie den Kopf durch den Vorhang. Immer noch war der Tunnel menschenleer. Allmählich gingen ihr die Ideen aus. Wenn sie lauthals um Hilfe schrie, würde sie keine Stimme mehr zum Singen haben.

Aber sie durfte Madame de Silva nicht im Stich lassen, schließlich hatte die sie ja empfohlen. Und die englische Mannschaft durfte sie ebenso wenig enttäuschen wie Ethan, der sie unter Vertrag genommen hatte. Ganz zu schweigen von ihren Eltern, die jeden Cent zusammengekratzt hatten, um ihr dieses Kleid kaufen zu können. Sie wünschte, ihre Eltern könnten jetzt hier sein. Eigentlich war sie am glücklichsten, wenn sie auf der Farm mit ihnen zusammen war, in Gummistiefeln knietief im Matsch stehend.

Vor ihrem inneren Auge sah sie das ängstliche Gesicht ihrer Mutter. In diesem Moment wurde ihr klar, dass nicht der Auftritt vor unzähligen Zuschauern ihr Angst machte, sondern die Möglichkeit, dass etwas schiefging und sie ihre Eltern blamierte.

Sie liebte die beiden sehr. Wie viele Farmer hatte es ihre Eltern schwer getroffen, als ihr gesamter Viehbestand der Maul- und Klauenseuche zum Opfer gefallen war. Savannah sah es als ihre Hauptaufgabe an, ihnen ihr Lächeln zurückzugeben.

Unvermittelt hörte sie ihren Namen über die Lautsprecheranlage. Sie zuckte zusammen. Der Sprecher lobte sie in den höchsten Tönen, nannte sie ein Goldkehlchen mit den Engelshaaren. Savannah verzog das Gesicht. Gab es einen besseren Grund, sich die Haare pink zu färben? Die Zuschauer hingegen applaudierten begeistert. Sie würden, so viel war ihr klar, sehr enttäuscht werden, sobald sie sie in natura sahen. Sie entsprach nicht der niedlichen Blondine, als die der Stadionsprecher sie angekündigt hatte. Vielmehr war sie ein einfaches Mädchen vom Land, dem es an Selbstbewusstsein mangelte. Und im Augenblick wäre sie überall lieber als hier gewesen.

Nimm dich zusammen!, befahl Savannah sich ungeduldig. Dieses Kleid hatte ein Vermögen gekostet. Ihre Eltern hatten es sich kaum leisten können. Sie durfte sie nicht enttäuschen. Verbissen zerrte sie am Reißverschluss. Das Kleid war eine Maßanfertigung, die ihre Rundungen perfekt verhüllte. Die Schneider im Norden Englands, pflegte ihre Mutter immer zu sagen, verstanden ein oder zwei Dinge davon, wie man die Reize einer üppigeren Frau zur Geltung brachte. Dank seines raffinierten Schnitts wirkte sie überhaupt nicht dick darin – und als besonderer Pluspunkt schimmerte der Stoff in ihrer Lieblingsfarbe: Pink.

„Das können Sie unmöglich anziehen!“

Savannah fuhr zusammen, als plötzlich der Vorhang zurückgezogen wurde.

„Entschuldigen Sie mal?“, rief sie und hob die Hände vor die Brust. Ein Mann stand vor ihr, dessen Gestalt genau zu der hochnäsigen Stimme passte. „Warum kann ich das Kleid nicht anziehen?“, fragte sie. Das Kleid war wunderschön, doch der Mann starrte es an, als sei es ein Müllsack, in den sie Löcher für die Arme geschnitten hatte.

„Es geht nicht“, entgegnete er nur.

„Was stimmt denn nicht damit?“, erkundigte sie sich mit aller Höflichkeit, die sie aufbringen konnte.

„Es ist völlig unangemessen … Und wenn ich Ihnen sage, Sie können es nicht anziehen, dann ist das so.“

Was für ein Tyrann, dachte sie. Sie erschauderte innerlich, weil der Mann immer noch ihren kurvigen Körper anstarrte. Meinte er, das Kleid sei zu weit ausgeschnitten? Schon immer hatte sie Probleme gehabt, ihre üppigen Brüste zu verstecken. Und je älter sie wurde, desto mehr hasste sie es, wie Männer sie mit Blicken auszogen. Klar, das Kleid besaß einen tiefen Ausschnitt, aber es war ja auch ihr Bühnenoutfit! „Inwiefern ist es nicht angemessen?“

Die Enttäuschung des Mannes, dass sie sich nicht so einfach unterkriegen ließ, war offensichtlich. „Dem Bär wird es nicht gefallen“, erwiderte er, als könne er damit all ihren Hoffnungen den Todesstoß versetzen.

„Dem Bär wird es nicht gefallen?“ Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. Aufs Spielfeld zu gehen und zu wissen, dass Ethan Alexander sie anschaute … davon hatte sie immer geträumt. Aber jetzt, da ihre Fantasie wahr zu werden drohte, schwand ihre Zuversicht rapide. Allerdings bedeutete das nicht, dass sie aufhören würde, ihr Kleid zu verteidigen. „Ich verstehe Sie nicht. Weshalb wird es ihm nicht gefallen?“

„Es ist pink“, sagte der Mann und verzog das Gesicht, als sei diese Farbe stets von einem fürchterlichen Gestank begleitet.

Savannah brach es das Herz. Das Kleid war wunderschön. Ihre Mutter war so glücklich gewesen, es ihr kaufen zu können.

„Sie müssen es ausziehen!“

„Was?“

„Ich weiß, dass Sie kurzfristig eingesprungen sind“, fuhr der Mann in einem freundlicheren Tonfall fort, den Savannah fast noch unheimlicher fand als seine Einschüchterungsversuche. „Deshalb wissen Sie nicht, dass einer der Hauptsponsoren des Spiels ein Kleid zur Verfügung gestellt hat. Natürlich erwartet er, dass die Sängerin es trägt.“

Vielleicht wollte er, dass sie anfing zu weinen, damit er den Helden spielen und sie trösten konnte. Falls ja, stand ihm eine herbe Enttäuschung bevor. Weil sie eher klein und ein bisschen füllig war, glaubten die Menschen oft, sie sei ein süßes dummes Ding, das man herumschubsen konnte. Dabei hatte sie schon mehr als ein Mal einem Kälbchen bei einer schwierigen Geburt auf die Welt geholfen. Auf einer Farm aufzuwachsen hieß nicht unbedingt, Respekt vor vornehm tuenden Leuten zu haben.

„Tja, wenn ich ein anderes Kleid tragen soll“, sagte sie pragmatisch, „sollte ich es wohl besser einmal zu Gesicht bekommen.“ Sie war nicht nach Rom gekommen, um Ärger zu machen, sondern um einen Job zu erledigen. Und die Uhr tickte. Außerdem war sie viel zu höflich, um dem Kerl zu sagen, was ihr wirklich auf der Zunge lag.

Kurze Zeit später kehrte der Mann mit dem Kleid zurück. „Madame Wie-hieß-sie-noch-gleich? war hocherfreut, dieses Kleid tragen zu dürfen“, erklärte er von oben herab und reichte das Kleid an Savannah.

Savannah wurde blass, als sie Madame de Silvas Kleid sah. Sie hätte wissen müssen, dass es der berühmten Sängerin auf den Leib geschneidert worden war. Die Operndiva brachte wahrscheinlich nur halb so viel wie sie auf die Waage und trug für gewöhnlich Haute-Couture-Kleider aus Paris. „Ich glaube nicht, dass es mir passt“, murmelte sie, während sie das schmal geschnittene Abendkleid anstarrte.

„Egal ob es passt oder nicht“, beharrte der Mann, „Sie müssen es anziehen. Ich kann nicht zulassen, dass Sie in Ihrem Kleid aufs Spielfeld marschieren, wenn der Sponsor Sie in seinem Kleid erwartet. Sein Design einer weltweiten Öffentlichkeit zu präsentieren, ist schließlich der ganze Zweck dieser Übung.“

Mit ihr darin? Savannah bezweifelte stark, dass der Sponsor sich die Sache so vorgestellt hatte. Dieses Kleid war ihr definitiv zu klein! „Ich werde mein Bestes geben“, versprach sie trotzdem.

„Braves Mädchen“, versetzte der Mann.

Mit zitterndem Kinn betrachtete Savannah das leuchtend rote Kleid. Darin würde sie wie ein Trottel aussehen. Von draußen drang das Lärmen der Menge immer lauter zu ihr herein.

Wo blieb sie nur? Stirnrunzelnd warf Ethan einen weiteren Blick auf seine Armbanduhr. Das Spiel fing gleich an; seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er hatte dem englischen Team eine Ersatzsängerin versprochen. Und jetzt sah es so aus, als ließe Savannah Ross ihn im Stich. In wenigen Minuten würden die Mannschaften auf dem Feld auflaufen. Die Marschkapelle befand sich bereits auf dem Spielfeld. Der korpulente Tenor, den die Italiener für ihre Nationalhymne verpflichtet hatten, nahm längst den Applaus der Zuschauer entgegen. Wo, zum Teufel, war Savannah Ross?

Ängstliche Blicke wurden in Ethans Richtung geworfen. Wenn der Bär unglücklich war, waren alle unglücklich. Und Ethan wirkte ungewöhnlich gereizt.

Zu dem eng anliegenden Kleid gehörte ein weißer Schal mit blauen Tupfen, der wie eine Schärpe getragen wurde und eine entblößte Schulter bedeckte.

An Madame de Silvas schlankem Körper mag das hinreißend aussehen, dachte Savannah, während sie versuchte, das Tuch einer sinnvolleren Aufgabe zuzuführen. Falls es ihr gelang, die Naht ein wenig aufzutrennen, konnte sie es vielleicht benutzen, um ihre Brüste ein wenig mehr zu verhüllen. Bislang hatte sie mit ihrem verzweifelten Ziehen und Zerren allerdings nichts erreicht.

Und was den Reißverschluss anging …

Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken, dass Houdini vor Neid erblasst wäre, trotzdem bewegte sich der Verschluss keinen Millimeter. Wieder lugte sie durch den Vorhang, doch im Tunnel hielt sich niemand mehr auf. Selbst der unheimliche Mann hatte sich aus dem Staub gemacht. Das Lärmen der Zuschauer war leiser geworden. Das war ein schlechtes Zeichen. Es bedeutete, der Stadionsprecher hatte seine Ankündigungen beendet, gleich würde das Spiel anfangen. Und davor musste sie doch die Nationalhymne singen! „Hallo? Ist da jemand?“

„Hallo“, erwiderte eine junge Frau freundlich. Sie schien aus dem Nichts gekommen zu sein. „Kann ich Ihnen helfen?“

Nachdem Savannah sich von ihrem Schock erholt hatte, wäre sie der Frau am liebsten vor Dankbarkeit um den Hals gefallen. „Wenn Sie mir einfach mit dem Kleid helfen könnten …“ Ihr war klar, dass es nahezu unmöglich war, aber sie musste es zumindest versuchen.

„Keine Panik“, beruhigte die Frau sie.

Ihre Retterin entpuppte sich als Physiotherapeutin, die sich glücklicherweise mit dem menschlichen Körper bestens auskannte. Und irgendwie gelang es ihr tatsächlich, Savannah in das Kleid zu bugsieren. „Viel Glück“, wünschte sie.

Entsetzt starrte Savannah die Lagen aus blutrotem Taft an. Madame de Silva war nicht nur schlanker als sie, sondern auch um Einiges größer. Alles befand sich an der falschen Stelle. Aber jetzt war es zu spät, sich darüber Sorgen zu machen.

„Sie sollten sich wohl besser beeilen“, sprach die junge Frau ihre Gedanken laut aus. „Bevor Sie Ihren Einsatz verpassen.“

Führen Sie mich nicht in Versuchung!, schoss es Savannah durch den Kopf. Dann tat sie einige vorsichtige Atemzüge, um auszuprobieren, ob sie in dem engen Kleid auch singen konnte. Es ging mehr schlecht als recht, stellte sie zerknirscht fest.

Wie gerne hätte sie sich wieder in ihren Tagtraum mit Ethan Alexander geflüchtet, anstatt aufs Spielfeld hinausgehen zu müssen, wo er sie tatsächlich sehen und ganz sicher über sie lachen würde.

Aber …

Innerlich wappnete sie sich für ihren Auftritt.

Fest entschlossen, sich nicht von einem dummen Kleid, das ihr etliche Nummern zu klein war und nur von Sicherheitsnadeln gehalten wurde, unterkriegen zu lassen, marschierte Savannah den Tunnel entlang.

2. KAPITEL

Sie hatte vergessen, wie sehr sich ihr Brustkorb weitete, wenn sie wirklich die Stimme hob. Wie, um alles in der Welt, hatte ihr nur etwas so Wesentliches entfallen können?

Vielleicht weil die Zuschauermenge zu einem bunten Farbenmeer verschmolzen war und sie nur an den dunkel und bedrohlich wirkenden Umriss eines Mannes denken konnte, der in einer Loge unmittelbar hinter der englischen Strafbank saß?

Irgendwie musste sie ihre Gedanken von ihm befreien, wurde Savannah klar, als sie tief Luft holte, um den ergreifenden Refrain anzustimmen. Doch wie sollte ihr das gelingen, wenn sie Ethans Blick doch in jeder Sekunde auf sich ruhen spürte? Gleich als sie das Spielfeld betreten hatte, hatte sie gewusst, wo er saß und wen er anschaute. Dieses Gefühl drängte jede Furcht vor der jubelnden Menge, die sie mit ohrenbetäubendem Geschrei begrüßt hatte, in den Hintergrund.

Ich darf nicht ständig an mögliche Katastrophen denken, befahl sie sich. Nervös befeuchtete sie sich die trockenen Lippen mit der Zungenspitze und tat noch einen tiefen Atemzug. Einen sehr tiefen …

Die erste der Sicherheitsnadeln löste sich. Das ganze Kleid geriet ins Rutschen. Die Nadeln der Physiotherapeutin mochten sich für Bandagen eignen, nicht aber für vollbusige Sängerinnen.

Binnen Sekunden änderte sich seine Stimmung komplett, von ungeduldig zu verzaubert. Schon nach den ersten Noten aus Savannahs Mund war der gefühlskalte Milliardär, wie die Leute ihn nannten, zu einem begeisterten Fan seiner neuen jungen Sängerin geworden. Und das Publikum war exakt seiner Meinung. Alle Zuschauer waren von der Darbietung völlig gefesselt. Anfangs, als sie auf das Spielfeld gestolpert war, hatte man sie mit Pfiffen und lautem Grölen begrüßt. Und auch er hatte in ihr nur eine lächerliche Gestalt gesehen, mit Brüsten, die ihr fast aus dem Ausschnitt fielen.

Dann erinnerte er sich, dass das Kleid ja ursprünglich für Madame de Silva bestimmt war. Er hätte sie vorwarnen müssen. Jetzt war es dafür zu spät. Allerdings spielte es auch keine Rolle mehr, denn sobald Savannah Ross anfing zu singen, hatte sie die Menge fest in der Hand.

Sie weigerte sich aufzugeben. Savannah sang weiter, auch als der ersten Nadel weitere folgten. Mit der Hymne sollte sie den Hoffnungen und Wünschen eines ganzen Landes Ausdruck verleihen, und genau das tat sie nun – was machte es da schon, dass das dumme Kleid sie im Stich ließ? Doch kurz vor dem Ende passierte die Katastrophe. Die letzte Nadel löste sich, und eine ihrer Brüste nutzte die Gelegenheit, um dem beengtem Kleid zu entkommen.

Und niemandem entging die weiße Haut mit der sinnlichen rosa Knospe, weil unzählige Kameras den Augenblick einfingen und auf Großleinwände übertrugen. Nur weil das Publikum zu tosendem Applaus ansetzte, gelang es Savannah, auch noch den letzten Ton zu singen, anstatt vor Scham im Erdboden zu versinken.

Sein Beschützerinstinkt erwachte. Ethan sprang vom Sitz auf. Noch im Laufen zog er sich das Jackett aus. Als er Savannah erreichte, begriffen die Zuschauer allmählich, was sich da gerade auf dem Spielfeld ereignet hatte. Seiner jungen Sängerin hingegen liefen die Tränen über die Wangen, während sie versuchte, ihr Kleid wieder zurechtzuziehen. Sie hob den Kopf, als er sie ansprach. Und als sie ihn ansah, erlebte er etwas sehr Seltsames.

Ein verstörendes Gefühl stieg in ihm auf, wie er es erst sehr selten, vielleicht noch nie empfunden hatte. Jetzt ist nicht die Zeit, um Gefühle zu ergründen, mahnte er sich. Er legte sein Jackett über Savannahs Schultern und führte sie vom Spielfeld. Dann musste der italienische Tenor eben das Canto degli Italiani – das Lied der Italiener – früher als vorgesehen anstimmen.

Der Gedanke an die helle, ihn an geschlagene Sahne erinnernde Haut, die jetzt unter seinem leichten Jackett verborgen war, brachte ihn gehörig aus der Fassung. Anders als alle anderen Frauen, mit denen er normalerweise ausging, übte diese junge Savannah Ross eine ziemliche Wirkung auf ihn aus. Einen Arm um ihre Schulter gelegt, führte er sie schnellen Schritts vom Spielfeld. Sie bemühte sich, seine Geschwindigkeit und gleichzeitig Abstand zu ihm zu halten. Als sie an der Tribüne vorbeikamen, brachen die Zuschauer in Jubel aus.

„Viva L’Orso!“, riefen die Italiener. „Hoch lebe der Bär!“ Die englischen Fans standen ihnen in nichts nach. Ethan fragte sich, ob die Komplimente seinem ritterlichen Verhalten oder der Tatsache galten, dass Miss Ross mit ihren sinnlichen Brüsten das Kleid gesprengt hatte. Aber eigentlich interessierte ihn die Antwort gar nicht. Ihm war nur daran gelegen, sie sicher aus dem Stadio Flaminio und außer Sichtweite der lüsternen Männer zu geleiten, von denen es für seinen Geschmack hier viel zu viele gab.

Als Savannah in Ethans Umarmung den Tunnel erreichte, fühlte sie sich ganz krank vor Scham. In Gegenwart dieses Mannes, der für seine guten Umgangsformen bekannt war, kam sie sich furchtbar fehl am Platz vor. Ethan Alexander war ein kaltherziger weltbekannter Tycoon, sie hingegen ein durchschnittliches Mädchen, das nicht ins Rampenlicht gehörte. Ein Mädchen, das sich gerade in einer Woge sinnlos aufwallenden Verlangens wünschte, Ethan und sie wären einander auf der Farm ihrer Eltern begegnet – dort wusste sie zumindest, wie sie sich verhalten sollte.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte er schroff.

„Ja, danke.“

Er hielt sie am Arm fest, als befürchtete er, sie könne sonst hinfallen. Hielt er sie für so schwach? Erleichterung durchströmte sie, als er sich endlich abwandte, um zu telefonieren.

Das hier ist schlimmer als jeder schlimmster Albtraum, ging es Savannah durch den Kopf, während sie Ethans muskulösen Rücken betrachtete. Es war allein ihre Schuld, dass dieser sonst so zurückgezogen lebende Mann auf einmal im Zentrum des öffentlichen Interesses stand. Bestimmt rief er jemanden an, der sie zum Flughafen fahren würde. Das konnte sie ihm nicht verübeln. Sie musste ihn in jeder Hinsicht enttäuscht haben.

Er hingegen übertraf in jeder Hinsicht ihre Erwartungen …

Ethan Alexander in Fleisch und Blut strahlte eine unglaubliche Energie und Macht aus – wie eine Maschine, die ihre Leistungsfähigkeit Adrenalin und Sex verdankte. Zumindest übermittelte ihre überbordende Fantasie ihr dieses verdrehte Bild. Keine Zeitung, kein Fernseher schaffte es, Ethans Größe und seine körperliche Präsenz richtig einzufangen. Doch am meisten überraschte sie, dass schon seine federleichte und eigentlich eher unpersönliche Berührung ausreichte, um ein Feuerwerk in ihrem Innern zu entzünden. Er hatte nur ihren Ellenbogen festgehalten, um ihr den Weg zu weisen, und sein Jackett um ihre Schultern gelegt. Allein das hatte genügt, um Funken ihren Arm entlangschießen zu lassen. Plötzlich verspürte sie ein Kribbeln an Stellen, die definitiv nicht kribbeln sollten.

Ihr Gedankengang wurde durch die junge Physiotherapeutin unterbrochen, die auf sie zutrat und fragte, ob sie helfen könne. „Sie können nichts dafür“, versicherte Savannah der Frau. Sie hoffte, Ethan hörte sie. Sie wollte nicht, dass er einer unbeteiligten Person die Schuld an ihrem Missgeschick gab. „Es lag an meiner Atmung.“

„Was hätten wir erst für ein Problem gehabt, wenn Sie nicht geatmet hätten!“ Die beiden Frauen lachten, dann machte die Therapeutin sich daran, die Sicherheitsnadeln wieder festzustecken. „Und ich bin wirklich froh, dass Sie geatmet haben. Sie singen fantastisch.“

Savannah war sich nie sicher, wie sie auf Komplimente reagieren sollte. In ihren Augen war sie nur ein durchschnittliches Mädchen, das zufällig mit einer überdurchschnittlichen Stimme gesegnet war. Nur hatte sie keine Gebrauchsanweisung bekommen, wie sie mit Erfolg umgehen sollte. „Danke“, sagte sie und machte eine abwehrende Geste.

Aber die junge Frau ergriff ihre Hände und schüttelte sie. „Nein, das dürfen Sie nicht einfach so abtun. Sie waren fantastisch. Alle haben das gesagt.“

Alle? Savannah blickte zu Ethan hinüber, der immer noch telefonierte. Zum Trost zog sie sein Jackett enger um die Schultern. Es war warm und duftete schwach nach Sandelholz. Obwohl ihr die Ärmel bis fast zu den Knien reichten, wurde ihr erst jetzt bewusst, dass auch das Jackett nicht sonderlich viel von ihrem Busen bedeckte. Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust, als Ethan sich jetzt umwandte.

„Okay, fertig“, meldete die Physiotherapeutin. „Allerdings bezweifle ich, dass die Sicherheitsnadeln Miss Ross’ Kleid lange halten werden.

„Gut, gehen wir“, sagte Ethan knapp, nachdem er der Frau gedankt hatte.

„Wohin?“, fragte Savannah nervös.

„Miss Ross, ich weiß, dass Sie einen Schock erlitten haben, aber überall in dem Gebäude befinden sich Paparazzi“, erklärte Ethan. „Ihre Sachen werden Ihnen nachgeschickt.“

„Nachgeschickt wohin?“

„Kommen Sie bitte einfach mit mir.“

Wohin denn mitkommen?“ Der Gedanke, mit Ethan Alexander irgendwohin zu gehen, ängstigte sie. Er war ein so beeindruckender Mann – und ungeduldig dazu. Allerdings machte ihr die Vorstellung, ihm nicht zu folgen und sich allein den Reportern zu stellen, noch mehr Angst.

„Nach Ihnen“, meinte er und versperrte ihr den Weg, sodass sie nicht mehr zurück konnte.

„Wohin, haben Sie gesagt, gehen wir?“

„Ich habe gar nichts gesagt.“

Allmählich verlor Savannah die Nerven. Mit einem Mann, den sie nicht kannte, würde sie bestimmt nicht zu einem unbekannten Ziel aufbrechen, selbst wenn er ihr Boss war. „Gehen Sie nur. Ich komme schon zurecht. Ich rufe mir ein Taxi.“

„Ich habe Sie nach Rom gebracht. Und solange Sie hier sind, bin ich für Sie verantwortlich. Ganz egal, ob Ihnen das gefällt oder nicht.“

Autor

Susan Stephens
<p>Das erste Buch der britischen Schriftstellerin Susan Stephens erschien im Jahr 2002. Insgesamt wurden bisher 30 Bücher veröffentlicht, viele gehören zu einer Serie wie beispielsweise “Latin Lovers” oder “Foreign Affairs”. Als Kind las Susan Stephens gern die Märchen der Gebrüder Grimm. Ihr Studium beendete die Autorin mit einem MA in...
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