Weihnachtswunder für Miss Sophie

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Ist das nicht die süße Miss Sophie? Lord Sylbourne traut seinen Augen kaum. Keine Frau hat er so geliebt – und keine hat ihm so wehgetan. Jetzt sind sie gemeinsam eingeschneit, ausgerechnet an Heiligabend! Und ihm wird erstaunlich warm ums Herz ...


  • Erscheinungstag 30.11.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783745753882
  • Seitenanzahl 179
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

P eter Vane, Lord Sylbourne, blinzelte die Schneeflocken von den Wimpern und verfluchte den eisigen Wind und die dunklen Wolken, die den Himmel immer stärker verfinsterten. Sie befanden sich in einer verlassenen Gegend inmitten eines tobenden Schneesturms, der mehr an die plötzlichen Wetterumschwünge in den Alpen als an das vermeintlich gemäßigte Klima Englands erinnerte.

Er versuchte, seinen Unmut zu zügeln und nicht an das seltsame Unbehagen zu denken, das ihn bereits seit Beginn der Reise verfolgte. Trotz des schlechten Wetters hatte er es vorgezogen, neben der Chaise zu reiten. Durch den immer dichter werdenden Schleier aus Schnee spähte er zu seinem Kutscher. Dick eingehüllt gegen die Kälte, wirkte Merryweather wie eine gespenstische Statue aus einer eisigen Unterwelt. Dem armen Mann blieb auf dem Bock der schwankenden Kutsche nichts anderes übrig, als die Flockenwirbel zu ertragen, derweil er die Pferde mit seinen lauten Befehlen zwang, nicht zu scheuen, sondern weiterzulaufen.

Die Straße führte nun steil den Hügel hinab, und an Merryweathers Verstummen erkannte Peter, dass es unter diesen Bedingungen ein Verbrechen wäre, die Tiere weiter anzutreiben und Hals- und Beinbrüche zu riskieren. Dennoch verspürte er ein unerklärliches Verlangen, die Reise fortzusetzen, als ob sie ausgehungerte Wölfe wären, die ohne Furcht und Gnade eine Spur verfolgten. Allerdings gab es schon seit einigen Jahren keine Wölfe mehr in England, und nur die Wärme, die vom Körper seines Pferdes ausging, bewahrte ihn davor, im Sattel festzufrieren. Umso schuldiger fühlte er sich beim Anblick des Kutschers und des Reitknechts, die oben auf dem Kutschbock am schlimmsten unter dem fürchterlichen Wetter zu leiden hatten.

Jeder halbwegs vernünftige Mann hätte die Reise bereits am letzten Postgasthof abgebrochen und es sich dort gemütlich gemacht, bis der Sturm sich legte, der sich durch bedrohlich-gelbe Wolken und eine unheilvolle Stille angekündigt hatte. Wenn er doch nur auf die üblen Vorzeichen geachtet hätte …

„Merryweather!“, schrie er, um sich inmitten des aufbegehrenden Wieherns der Pferde und der beschwichtigenden Rufe des Kutschers Gehör zu verschaffen. „Bringen Sie die Kutsche dort drüben in den Schutz der Bäume, wenn es Ihnen irgend möglich ist! Ich werde Hilfe suchen, denn die armen Tiere und wir können nicht weiter!“

„Klar, aber wenn wir zu dem Wäldchen hinunterfahren, kommen wir bei dem Schnee nicht wieder hoch. Sie werden sich beeilen, nicht wahr, Mylord?“

„Selbstverständlich, Merryweather! Und natürlich will ich nicht, dass Lady Edwina etwas zustößt. Der Verlobte meiner Schwester wird mich eigenhändig erwürgen, wenn wir es nicht schaffen, diesem verfluchten Schneesturm zu entrinnen, bevor sie sich eine Erkältung zuzieht! Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es Captain Wroxley etwas ausmachen würde, wenn wir seinen Bruder kopfüber in der nächsten Schneeverwehung zurückließen“, fügte er leiser hinzu, als die gut gefederte und vormals glänzende Kutsche zum Stehen kam und rasch ganz von einer Schneeschicht bedeckt war.

Merryweather fluchte vor sich hin, was in den aufrichtigen Wunsch mündete, Mr Cedric Wroxley möge im nächsten Graben landen. Behutsam lenkte er das erschöpfte Gespann durch ein offenes Gatter und den Hang hinab auf das Wäldchen zu, das ein wenig Schutz versprach.

„Da kann ich Ihnen nur beipflichten, Merryweather!“, rief Peter und verzog das Gesicht, als das Kutschenfenster hinuntergelassen wurde, und besagter Mr Wroxley sich lauthals beschwerte.

„Anscheinend fahren wir über einen Acker!“, schimpfte Cedric Wroxley gereizt, als ob er als Einziger Einblick in die Lage hätte.

„Ach nein, tun wir das?“, erwiderte Peter lakonisch.

„Das ist nicht der rechte Zeitpunkt für unangebrachte Scherze, Sylbourne“, entgegnete Wroxley frostig.

„Auf jeden Fall ist es nicht der richtige Zeitpunkt, um das Fenster zu öffnen und die letzte Wärme aus der Kutsche entweichen zu lassen. Nehmen Sie wenigstens ein bisschen Rücksicht auf meine Schwester und meine Tante, und verhalten Sie sich ausnahmsweise einmal wie ein Gentleman“, befahl Peter dem unerträglichen Mitreisenden.

„Suchst du für uns nach einem Zufluchtsort, Peter?“, erkundigte sich Lady Edwina Vane, die Wroxley beiseite geschoben hatte. „Kann ich dich begleiten?“, bot sie ohne große Hoffnung auf seine Zustimmung an.

Peter beneidete seine Schwester wahrhaftig nicht um die Gesellschaft von Cedric Wroxley im Inneren der Kutsche. Sogar ein Schneesturm wie dieser musste ihr vergleichsweise verlockend erscheinen, wenn die Alternative darin bestand, mit diesem selbstmitleidigen Wurm, der sich ohne Unterlass über alles beschwerte, auf Hilfe zu warten.

„Nein, ich muss erst einen sicheren und warmen Ort finden, bevor ich es riskiere, dich und Tante Hester durch das Schneetreiben irren zu lassen, Dina. Im Augenblick bleibst du besser in der Kutsche – auch wenn es kein idealer Ort ist, um einen Sturm auszusitzen. Am besten kauert ihr euch unter den Decken dicht aneinander, um euch warm zu halten, und wenn die Ziegelsteine noch nicht erkaltet sind, behaltet sie zwischen euch.“

Er schenkte seiner Schwester ein aufmunterndes Lächeln und wandte sich an den Mann, der den Damen gegenübersaß. Dabei wich jede Milde aus dem Blick seiner grauen Augen.

„Cedric, denken Sie daran, dass Giles Sie umbringen wird, wenn seiner Verlobten auch nur ein Haar gekrümmt wird – vorausgesetzt, dass ich mich selbst zurückhalten kann, Sie vor ihm ins Jenseits zu befördern, versteht sich. Begehen Sie also nicht den Fehler, alle Wärme für sich zu beanspruchen, wenn Sie das neue Jahr mit heiler Haut erleben wollen!“, warnte er ihn und hoffte, noch bedrohlicher zu wirken, als er es angesichts der Sorge um Dina und seine Tante war. Die beiden Frauen bei diesem selbstsüchtigen Taugenichts zurückzulassen, bereitete ihm großes Unbehagen.

Cedric Wroxley ist es durchaus zuzutrauen, dass er Dina und Tante Hester frieren lässt, nur um selbst keine Entbehrungen erdulden zu müssen, dachte Peter grimmig. Jetzt wünschte er, er hätte dem flehendlichen Blick von Cedrics Schwester, Lady Leticia Durronde, widerstanden, als sie ihn darum gebeten hatte, ihren jüngsten Bruder mitzunehmen. Die Kutsche der Durrondes war mit ihrem Gatten, drei Kindern und dem Kindermädchen bereits voll besetzt. Lady Leticias Zofe und der Butler hatten gedroht, zu kündigen und in Bath zu bleiben, wenn sie Cedric Wroxley auch nur noch eine einzige Meile zu ertragen hätten. Nach der Reise von London nach Bath in der vorangegangenen Woche, bei der er ohne Unterlass geschimpft und gejammert hatte, lagen die Nerven blank.

„Wenn Sie uns nicht in die Irre geführt hätten, müsste niemand frieren!“, rief Cedric und schob das Fenster mit einem Krachen nach oben.

„Verfluchter …“

„Nein, Merryweather, Sie mögen in Ihrer Beurteilung jenes sogenannten Gentleman vollkommen richtig liegen, aber jetzt ist es wichtiger, alle in den Schutz der Bäume zu bringen. Ich wünschte, ich könnte Ihnen einen angenehmeren Ort zum Warten zuweisen. Bitte bleiben Sie in unmittelbarer Nähe der Kutsche, für den Fall, dass Lady Edwina oder Miss Willis Ihre Hilfe benötigen. Und die armen Pferde verdienen so viel Fürsorge wie irgend möglich, nachdem ich sie gezwungen habe, eine solche Höllenfahrt anzutreten.“

„Es wird schon gehen. Wir kauern uns mit den Tieren dort hinten zusammen, Mylord. Suchen Sie einen Ort, wo wir ohne Erfrierungen die Nacht verbringen können, und machen Sie sich keine Gedanken um uns.“

„Jawohl, Merryweather, ganz wie Sie befehlen“, erwiderte Peter spöttisch salutierend und ritt los, um nachzusehen, ob das schwache Licht, das er von der Straße aus entdeckt hatte, ihn zu einem Zufluchtsort führen würde.

Er musste Edwina und seine Tante davor bewahren, eine schrecklich unbequeme Nacht in der engen, kalten Kutsche zu verbringen, noch dazu in der erbärmlichen Gesellschaft des künftigen Schwagers seiner Schwester, der sich endlos über das Wetter und die Kälte beklagte, als ob Edwina die Schuld daran trüge. Keiner verstand, weshalb er nicht einfach in seiner komfortablen Londoner Unterkunft geblieben war. Offenkundig empfand er für seinen älteren Bruder keinerlei Zuneigung. Daher hätte es niemanden sonderlich überrascht, wenn er der Heirat von Captain Giles Wroxley mit Lady Edwina Vane ferngeblieben wäre.

Peter gab es auf, Cedrics undurchsichtige Motive zu ergründen, und konzentrierte sich auf das schwache Licht, das ab und an in der Ferne vor ihm aufleuchtete, wenn der Schnee für einige Momente in eine andere Richtung gewirbelt wurde. Er hoffte inständig, dass er einen Zufluchtsort fand, bevor er sich unrettbar im Sturm und der immer tiefer werdenden Dunkelheit verlor.

Sophie Rose unterdrückte ein Stöhnen, als ihr ältester Schützling den Stickrahmen mit Abscheu zu Boden warf. Sie kam zu dem weisen Schluss, dass es dem feinen Batist, der in den Rahmen gespannt war, auf dem Boden nicht übler erging als in den ungeschickten Händen der ehemaligen Schülerin.

„Es nützt nichts, Miss Rose. Ich kann nun einmal nicht sticken“, gestand Imogen Frayne ihrer Gouvernante und machte ihrer Unzufriedenheit mit einem tiefen Seufzer Luft.

„Ich weiß, meine Liebe. Als du sagtest, du wolltest ein Taschentuch für deinen Bruder Lysander besticken, habe ich es abgelehnt, mit Viola zu wetten, dass du es nicht einmal zur Hälfte schaffen würdest. Ich wette nie gegen Gewissheiten“, sagte Sophie mit einem betrübten Lächeln.

„Lysander ist so perfekt geworden, seit er die geistlichen Weihen empfangen hat. Daher wage ich es nicht, ihm zum Dreikönigsfest etwas Neues zum Anziehen zu kaufen. Ich fürchte, er wirft mir sonst vor, ihn mit verschwenderischem Luxus in Versuchung führen zu wollen oder einen ähnlichen Unsinn. Aber wie dem auch sei, wenn ich diese weiblichen Fertigkeiten nicht beherrsche, werde ich nie einen Ehemann finden“, stellte Imogen bedrückt fest.

Sophie sah die ehemalige Schülerin nachdenklich an. „Meinst du, dein Bruder merkt, wenn ich es für dich zu Ende sticke?“, fragte sie. Und als Imogen nur mit den Schultern zuckte und schmunzelte, hob sie den Rahmen auf, angesichts ihrer Ruhelosigkeit froh, sich mit etwas beschäftigen zu können. „Ich glaube übrigens nicht, dass du Gefahr läufst, keinen Gatten zu finden, wenn die jungen Gentlemen, denen du nach deinem offiziellen Debüt begegnen wirst, nicht völlig blind sind“, erklärte sie und warf einen belustigten Blick auf das blonde Mädchen, das einem Engel sehr ähnlich sah.

„Sie haben ein Recht auf Ihre eigene Meinung“, erwiderte Imogen skeptisch. „Doch was die Stickerei betrifft, die Ihnen ärgerlicherweise so leicht fällt, meine liebe Rosie, bezweifle ich, ob mein mittlerer Bruder überhaupt von dem Geschenk Notiz nimmt. Er ist derzeit so vollauf damit beschäftigt, ein vollendeter Vikar zu sein, dass er bald genauso langweilig sein wird wie der arme Dr. Tombs unten im Dorf. Warum sollte ich im Übrigen eine Heirat in Betracht ziehen, wenn Sie mir ein so schlechtes Beispiel geben?“, verlangte die Achtzehnjährige zu wissen.

Da sie selbst mit ihren fünfundzwanzig Jahren eindeutig unverheiratet war, gab sie in dieser Hinsicht tatsächlich kein gutes Vorbild für ein derartig entzückendes und lebhaftes Mädchen ab. Sophie legte die Stirn in Falten.

„Mein Beispiel sollte dich ermuntern, jeden umgänglichen und gutmütigen Gentleman zu akzeptieren, der um deine Hand anhält. Denn ich führe dir vor Augen, was mit jungen Damen passiert, die sich zu wählerisch verhalten“, antwortete sie halbwegs gelassen, obgleich das Thema bei ihr einen ausgesprochen wunden Punkt berührte.

Glücklicherweise wusste ihr Schützling nichts von dem, was ihr unablässig Kopfzerbrechen bereitete, seit sie vor acht Jahren nach Heartsease Hall gekommen war.

„Mein Bruder Timon ist für mich auch ein schlechtes Vorbild, dem ich nicht zu folgen gedenke. Wie konnte er nur Miss Garret-Lowden bitten, seine Frau zu werden? Sie wird uns alle unglücklich machen!“

„Miss Garret-Lowden ist eine sehr hübsche junge Dame. Stell dir doch einmal vor, wie befremdlich es für sie gewesen sein muss, mitten in ein Familiendrama zu geraten, als sie mit ihrer Mutter hier ankam, um die Weihnachtszeit mit uns zu verbringen.“

„Die arme Tante Helen hätte in der Tat kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt sterben können, nicht wahr?“, ahmte Imogen die Reaktion von Miss Livia Garret-Lowden nach, nachdem sie erfahren hatte, dass der Hausherr an selbigem Morgen Nachricht vom plötzlichen Tod seiner jüngsten Schwester erhalten hatte und eiligst in Begleitung der anderen Schwester nach Irland aufgebrochen war. Sie hofften, rechtzeitig zum Begräbnis dort zu sein oder falls nicht, wenigstens dem trauernden Witwer und seinen zahlreichen Kindern Trost zu spenden. „Es sah beinahe so aus, als ob Miss Garret-Lowden und ihre Mutter der armen Frau vorwerfen würden, ihnen absichtlich Unannehmlichkeiten zu bereiten. Die Reaktion war vollkommen herzlos.“

„Das war bestimmt nicht so gemeint – im Zweifel für den Angeklagten“, sagte Sophie lächelnd, in dem Versuch ihre ehemalige Schülerin aufzuheitern, deren sanfte Züge sich verfinstert hatten. „Insbesondere da ich meine Stellung behalten möchte, und Miss Garret-Lowden eines Tages Mrs Timon Frayne sein wird.“

„Papa wird niemals zulassen, dass sie Sie entlässt, Rosie. Wie können Sie ihn für so rückgratlos halten, selbst wenn Timon ihr williger Sklave geworden ist und alles tut, was sie ihm befiehlt?“

Sophie war froh, dass Imogen keine Ahnung hatte, welche Aufregung die ganze Angelegenheit für ihre Gouvernante mit sich brachte. Sie wünschte sich aufrichtig, ihr beteuern zu können, dass sie sich in ihrer zukünftigen Schwägerin irrte. Bedauerlicherweise war Miss Garret-Lowden allem Anschein nach oberflächlich und dumm, und ihre mit Rüschen überfrachtete Mutter verhielt sich hinterhältig und schien von Ehrgeiz zerfressen. Offenkundig schätzte Imogens Vater, Sir Gyffard Frayne, die beiden ähnlich ein, denn er hatte Sophie vor seiner Abreise nach Irland in die Bibliothek gebeten und ihr aus rein pragmatischen Erwägungen heraus einen Heiratsantrag gemacht.

„Diese Frau und ihre Tochter sind eindeutig zu dem Schluss gekommen, dass mein Sohn eine gute Partie darstellt, die ihnen ein komfortables Leben ermöglicht. Da er bereits den Anteil am mütterlichen Vermögen sein Eigen nennt und der Titel und der Besitz eines Tages auf ihn übergehen werden, haben die Damen durchaus recht. Vielleicht entwickelt sich Miss Garret-Lowden für den Jungen sogar zu einer annehmbaren Ehefrau, aber ich sorge mich um die Zukunft meiner Töchter. Ich möchte nicht, dass ihr Schicksal allein von Miss Garret-Lowdens Wohlwollen und dem ihrer Mutter abhängt, falls mir etwas zustoßen sollte. Ich bitte Sie daher, während meiner Abwesenheit gründlich über eine rein formale Heirat mit mir nachzudenken, Miss Rose. Sie besitzen die nötige Charakterstärke, um diese Hyäne davon abzuhalten, das Leben meiner Töchter zu zerstören, falls ich sterbe, bevor sie mündig sind. Geben Sie mir nicht sofort eine Antwort, denn ich weiß, dass die Vorstellung, einen derartig alten Mann zu heiraten, Ihnen widerstreben muss. Aller Voraussicht nach bin ich nicht vor Beginn des Frühlings wieder hier. Insofern werden Sie genügend Zeit haben, sich mein Angebot durch den Kopf gehen zu lassen. Wägen Sie den Nachteil gegen die Liebe ab, die sie so offenkundig für meine Mädchen empfinden. Außerdem hätten Sie wieder einen festen Platz in der Gesellschaft.“

„Ich bin überwältigt, Sir Gyffard“, hatte sie gesagt. „Dieser Vorschlag kommt für mich gelinde gesagt unerwartet.“

„Ist das nicht ein Grund mehr, ihn in Betracht zu ziehen?“, fragte er in seiner typisch ironischen Art. „Sie scheinen nicht zu den üblichen Mädchenträumen von einer Hochzeit aus Liebe zu neigen, da ich Sie in all den Jahren, die Sie bei uns sind, nie dabei beobachtet habe, mit einem meiner Nachbarn zu flirten. Vielleicht können Sie sich also damit abfinden, an einen älteren Mann gebunden zu sein, wenn Sie dadurch dem wenig beneidenswerten Los einer Gouvernante für den Rest Ihres Lebens entgehen können?“

„Sie sind weit davon entfernt, unter Altersschwäche zu leiden, Sir“, hatte sie widersprochen, doch er hatte nur den Kopf geschüttelte und ihr geraten, sich nichts schönzureden.

„Ich bin fast dreißig Jahre zu alt für Sie. Wenn Sie zustimmen, mich zu heiraten, wird es viel boshaftes Gerede geben. Aber ich kann mir niemanden vorstellen, der sich aufopfernder um meine Töchter kümmern würde. Das haben Sie mehr als bewiesen, seit Sie zu uns gekommen sind. Erst dachte ich, meine geliebte Frau wäre verrückt geworden, als sie vor acht Jahren ein halbes Kind einstellte. Aber sie riet mir, Geduld zu haben und mich nicht einzumischen, und die Zeit hat ihr – wie immer – recht gegeben.“

„Ich kann Ihnen beiden niemals dankbar genug dafür sein, dass Sie mir eine Chance gegeben haben, obwohl ich noch sehr jung war und für die Stelle ungeeignet schien“, hatte sie entgegnet, doch er hatte den Dank mit einem bescheidenen Lächeln von sich gewiesen.

„Nehmen Sie meinen Antrag bitte nicht aus unangebrachter Dankbarkeit an, junge Dame, denn Sie haben uns alles längst mehr als zurückgezahlt. Denken Sie einfach an die Sicherheit, die Sie als meine Frau und eines Tages als meine Witwe genießen würden, in der Gewissheit, von Stieftöchtern umgeben zu sein, die Sie bis zum Ende Ihres Lebens lieben werden. Aber sagen Sie bloß nicht aus Pflichtbewusstsein Ja, meine Liebe. Das würde sich für uns beide als unerträglich erweisen.“

„Ich habe immer Kinder gewollt“, hatte sie unvorsichtigerweise geantwortet.

„Dann muss ich alles zurücknehmen, Miss Rose. Vergessen Sie, dass ich Sie je gefragt habe. Eines Tages werden Sie einen Ehemann finden, der sie Ihnen schenkt und Sie obendrein glücklich macht“, hatte er großmütig erwidert.

„Ich habe einmal einen Mann geliebt, Sir Gyffard. Nein, er war genau genommen damals noch fast ein Junge. Unglücklicherweise kann ich mir nicht vorstellen, jemals einen anderen zu lieben, so sehr ich mich auch bemüht habe, ihn im Laufe der Jahre zu vergessen. Ihr Angebot würde mir die einzige Familie geben, die ich haben kann, da mir kein Mann mehr so viel bedeuten wird, wie der, den ich geheiratet hätte, wenn das Leben ein bisschen weniger grausam und die Umstände nicht so entsetzlich gewesen wären.“

„Dann sollten wir beide ernsthaft über eine engere Verbindung nachdenken, während ich in Irland bin. Immerhin bin ich noch nicht zu alt, um Ihnen die Kinder zu schenken, nach denen Sie sich sehnen – sofern Sie sich mit dem Gedanken anfreunden können, nach Ihrer Jugendliebe einen so schwerfälligen und müden alten Mann zu ertragen“, hatte er mit diesem freundlichen Lächeln gesagt, das sie gewiss würde lieben lernen, wenn sie nur hart genug daran arbeitete.

Ihr Innerstes sträubte sich dagegen, den Antrag überhaupt in Betracht zu ziehen, doch sie wünschte sich so sehr ein Kind, dass die vage Aussicht darauf sie einen Moment aus der Fassung brachte. „Lassen Sie es uns von beiden Seiten als eine Idee – und nicht mehr – betrachten, Sir Gyffard. Denn Sie könnten in Irland durchaus einer geeigneten Dame begegnen, die eine bei Weitem idealere Gattin darstellt als eine schlichte Gouvernante ohne Verbindungen oder Familie.“

„Wir beide wissen genau, dass an Ihnen wenig Schlichtes ist, Miss Rose. Meine Marianne hat mir erzählt, dass eine unglückliche Liebesgeschichte hinter Ihrer Entscheidung stand, sich hier bei uns am Ende der Welt zu verstecken.“

„Falls ich Ihren Vorschlag näher in Erwägung ziehe, werde ich Ihnen alles berichten, was es darüber zu wissen gibt, Sir Gyffard. Andernfalls würde ich zu diesem Thema lieber schweigen.“

„Selbstverständlich, das bleibt ganz Ihnen überlassen“, hatte er das Gespräch ruhig beendet.

Allein der Gedanke an die Unterredung in dem behaglichen altmodisch eingerichteten Zimmer ließ sie erschauern. Sie schob die Entscheidung vor sich her und konzentrierte sich ganz auf das Hier und Jetzt.

„Ich bin mit meinem Los sehr zufrieden“, sagte sie zu Imogen. „Ich eigne mich nicht gut für die Ehe. Zu dir würde ein Leben als alleinstehende Frau hingegen gar nicht passen.“

„Wenn ich ein besseres und freundlicheres Wesen hätte, würde ich es wahrscheinlich als meine Lebensaufgabe ansehen, die Kinder anderer Leute zu unterrichten, so wie Sie es tun.“

„Aber nicht, wenn sie Näharbeiten erlernen wollen“, zog Sophie sie lächelnd auf.

„Nein, eher Aquarellmalerei und die französische Sprache und natürlich den Gebrauch des Globus. Es gibt nichts Herrlicheres, als die Fahrten von Ferdys Schiff durch die Weltmeere zu verfolgen, und ich könnte die meisten Orte aufzählen, an denen er gewesen ist“, ereiferte sich Imogen fröhlich.

„Auch wenn du dich für die unglaublichen Reisen deines jüngsten Bruders begeisterst, besteht wirklich keinerlei Notwendigkeit für dich, Gouvernante zu werden“, widersprach Sophie, die sich ganz sicher war, dass Imogen bald vor den Altar treten würde, und ihre Schwestern Viola und Audrey ihrem Beispiel folgen würden.

Wenn sie Sir Gyffards Antrag ablehnte, würde sie früher oder später eine neue Stelle finden müssen. Und gewiss würde sie es nicht mehr so angenehm antreffen wie hier, wo ihre Schülerinnen sie liebten und sie von der Familie und den Bediensteten mit ungewöhnlicher Herzlichkeit aufgenommen worden war.

„Timons Verlobte wartet bestimmt nur darauf, meine Schwestern und mich aus dem Haus zu werfen. Wenn sie erst einmal unter unserem Dach lebt, werden wir uns ewig anhören müssen, dass Mama nichts als eine gewöhnliche Schauspielerin gewesen sei – wenigstens behauptet Mrs Garret-Lowden das. Und das, obwohl über ihre eigene Herkunft ganz andere Gerüchte in Umlauf sind! Ich vermute, dass einige Damen der Gesellschaft der Ansicht sind, Papa habe das edle Blut seiner Vorfahren verraten, indem er Mama geheiratet hat, aber sie besaß viel mehr von einer Lady als eine von ihnen.“

„Ich glaube nicht, dass jemand aus den feinen Kreisen so etwas behauptet – und schon gar nicht, wenn dein Vater in der Nähe ist“, wandte Sophie ein.

Mit Wehmut dachte sie an die entschlossene, jedoch sichtlich kranke Dame, die sie als Gouvernante eingestellt hatte, obgleich sie erst siebzehn Jahre alt gewesen war. Offenbar war sie zu der Auffassung gelangt, Sophie würde die Mädchen eher wie eine ältere Schwester unterrichten und umsorgen, anstatt ihnen bestimmte Leistungen abzuverlangen und sich nicht darum zu scheren, ob sie glücklich waren. Lady Frayne war drei Jahre später gestorben, und Sophie hatte sich in der Tat fürsorglich um ihre Töchter gekümmert. Doch jetzt hatte Miss Garret-Lowden den ältesten Sohn des Hauses fest im Griff. Vielleicht wird es Zeit für mich, dieser Tatsache ins Auge zu blicken und Sir Gyffards Antrag anzunehmen, überlegte Sophie. Das würde die Zukunft der Mädchen und ihre eigene sicherer machen.

„Du solltest nicht vorgeben, milde und bescheiden zu sein. Schließlich wissen wir alle, dass du es nicht bist.“

„Sie haben vermutlich recht, Rosie“, gab Imogen mit verdächtiger Fügsamkeit nach. „Aber was soll ich auf diese ungerechte Anschuldigung entgegnen? Schweige ich, verstelle ich mich. Wenn ich aber zu streiten beginne, tadeln Sie mich hinterher.“

„Es ist nicht immer leicht, das Richtige zu tun“, antwortete Sophie und schenkte ihr ein liebevolles Lächeln.

„Soll ich Ihnen mit Lavendelwasser die Schläfen massieren und Ihnen ein Glas von Papas bestem Cognac bringen lassen, um Ihre viel geprüften Nerven zu stärken? Das tut zumindest die pflichtbewusste Livia Garret-Lowden für ihre geliebte Mama, wenn sie deren pausenloses Geschwätz zum Schweigen bringen will.“

„Nicht, wenn dir dein Kleid lieb ist. Außerdem sollte der Brandy besser deinem Vater vorbehalten bleiben.“

„Dann müssen Sie mir meine Fehler verzeihen und sich mit der Tatsache abfinden, dass Ihre älteste Schülerin Ihnen niemals Ehre machen wird, Miss Rose.“

„Das werde ich keinesfalls. Du besitzt eine rasche Auffassungsgabe und einen entschlossenen Charakter, Imogen. Wenn dir danach zumute ist, bist du eine vorbildliche junge Dame von Stand und Bildung. Auch wenn einige von uns sich wünschten, du würdest dich etwas häufiger so benehmen.“

„Sich die ganze Zeit über damenhaft und schicklich zu betragen ist so langweilig – das müssen Sie schon zugeben. Aber Mama hat sich stets wie eine Lady verhalten, nicht wahr? Auch wenn sie als Mädchen in Dublin bei ein paar streng privaten Aufführungen der angesehensten Stücke Shakespeares mitgewirkt hat, macht das aus ihr noch lange keine Schauspielerin.“

„Natürlich nicht, und Mrs Garret-Lowden ist dumm, wenn sie anderes behauptet. Dein Vater wird seine Einwilligung zu der Hochzeit zurückziehen, wenn sie nicht vorsichtig ist. Wir alle wissen, wie sehr er deine Mutter geliebt hat. Er wird nicht zulassen, dass über sie ein derartig gehässiger Unsinn verbreitet wird.“

„Ich wünschte, er würde sich dazu durchringen, die Verbindung zu verbieten.“

Da Imogen aus dem Alter heraus war, in dem man ihr das Recht auf eine eigene Meinung verwehren konnte, suchte Sophie nach einem Gesprächsthema, das die ehemalige Schülerin an einem so düsteren Winterabend auf andere Gedanken brachte.

„Wir sprachen eigentlich über deine Zukunft und nicht über die deines Bruders, nicht wahr? Ich wäre sehr traurig, wenn es auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit gäbe, dass du in meine Fußstapfen trittst, meine liebe Imogen. In den meisten Haushalten führt die Gouvernante ein sehr eingeschränktes Leben. Sie ist sozusagen nicht Fisch noch Fleisch und passt weder in die Welt der Herrschaften noch in die der Bediensteten. Ein solches Leben würde sogar deine fröhliche Natur innerhalb eines Monats ersticken. Ich hatte das große Glück, von deiner Mutter eingestellt zu werden. Mir schaudert bei dem Gedanken, was ich sonst hätte ertragen müssen, um mir mein tägliches Brot zu verdienen.“

„Ich gebe zu, dass es großes Glück war – wenn auch eher für uns Fraynes als für Sie, Rosie. Aber meine zwei jüngeren Schwestern warten auf ihr Debüt, und es kann sein, dass ich in ein paar Jahren beiseitetreten muss, damit sie ihre Chance erhalten, einen passenden Ehemann zu finden. Es ist doch gut möglich, dass mich keiner heiraten will, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten“, erklärte Imogen ernst, und Sophie überlegte, ob es richtig gewesen war, die Töchter von Lady Frayne zu Bescheidenheit zu erziehen und sie zu lehren, sich nichts auf ihr Äußeres, ihren natürlichen Charme und ihre beträchtliche Intelligenz einzubilden.

„Es hat nie eine verwöhntere Gouvernante als mich gegeben. Und ich kann mich glücklich schätzen, meine Schülerinnen sehr zu lieben. Aber ich bin mir gewiss, dass du dir besser andere Ziele setzen solltest.“

„In jedem Fall sind Sie ein Vorbild für mich, Rosie. Obwohl es vermutlich etwas anderes ist, die Herrin des Hauses zu sein und eigene Töchter großzuziehen, nicht wahr? Dennoch sehe ich nicht ein, weshalb Sie von mir erwarten, widerspruchslos zu heiraten, während Sie es entschieden ablehnen, eine Ehe einzugehen. Das erscheint mir höchst unlogisch“, argumentierte Imogen listig.

„Ach, ich habe doch gar keine Aussichten und besitze auch keine liebende Familie, die sich eifrig bemüht, mich mit geeigneten Gentlemen bekannt zu machen. Was allerdings nicht weiter zu beklagen ist, denn ich bin bereits fünfundzwanzig und stelle außerdem keine gute Partie dar. Daher sollten wir aufhören, über meine Zukunft zu reden und uns lieber wieder deiner zuwenden, meine Liebe. Und ich würde dir raten, einen netten Gentleman zu heiraten, der über einträglichen Grundbesitz in einem schönen Teil des Landes verfügt. Dort kannst du dann deine eigenen Kinder, anstatt die anderer Leute großziehen. Sobald deine Schwestern dem Schulzimmer entwachsen und ebenfalls alt genug sind, einen attraktiven und stattlichen Ehemann zu finden, werde ich mir ein hübsches Cottage in eurer Nähe suchen und eine Schule für eure Töchter und ein paar sorgfältig ausgesuchte Mädchen von guter Herkunft eröffnen, die eine anständige Ausbildung anstreben. Dann habe ich es bis zum Lebensende gut und unterrichte lauter liebenswerte und bescheidene junge Damen.“

„Sie versuchen ja nur abzulenken, Miss Rose“, tadelte Imogen sie streng. „Ich werde für Sie einen Gentleman finden, dem Sie nicht widerstehen können – und wenn ich Sie mit nach London zerren muss, um ihn aufzuspüren.“

„Keine zehn Pferde brächten mich dazu, dich zu begleiten! Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, deine Schwestern zu unterrichten und kann mich nicht in der Stadt vergnügen.“

Sophie hielt inne und wünschte, dem unliebsamen Gesprächsthema ihrer Verheiratung, beziehungsweise Nichtverheiratung zu entrinnen. In diesem Moment vernahm sie einen schwachen Laut, der von draußen aus dem unwirtlichen Halbdunkel kam, das der Schneesturm mit sich gebracht hatte.

„Sei bitte einen Moment still, Imogen. Hast du das gerade gehört? Ich glaube, ich habe ein Wiehern vernommen. Aber es wird doch heute keiner wagen, sich draußen aufzuhalten …“

„Ein Reiter hätte es jetzt freilich schwer, denn er könnte vor lauter Schneetreiben kaum die Hand vor Augen sehen. Außerdem wäre es eine verrückte Idee, inmitten des Sturms unserem einsamen Haus auf der Anhöhe einen Besuch abzustatten – Meilen vom nächsten Dorf entfernt.“

„Dann habe ich es mir wahrscheinlich nur eingebildet. Ich hatte die stille Hoffnung, dein Bruder Lysander würde die Zeit finden, zu uns zu reiten und uns den Weihnachtssegen zu erteilen, jetzt, da er die geistlichen Weihen empfangen hat. Aber bei dem Wetter ist es natürlich völlig unmöglich“, stellte Sophie nachdenklich fest.

Sie entfernte sich vom Kaminfeuer, trat an das Fenster und spähte so gut sie konnte hinaus in das Schneegestöber.

„Nein, jetzt bin ich mir ganz sicher, dass ich da draußen gerade eine Bewegung gesehen habe. Ob Cordage wohl hinausgegangen ist, um etwas zu erledigen, das er plötzlich für dringend erachtete, und sich im Schneetreiben verirrt hat?“

„Nein, nicht einmal er übertreibt es so mit seinen Pflichten. Bei diesem Wetter würde er nur hinausgehen, wenn es um Leben und Tod ginge. Sie haben wahrscheinlich nur ein vorbeihuschendes Reh gesehen, das unten in den Wäldern Zuflucht sucht. Das erinnert mich daran, dass ich Cordage bitten muss, Brennholz schlagen zu lassen, sobald man sich wieder vor die Tür wagen kann. Bestimmt vergisst er es, weil es ihn so verdrießt, dass Livia und ihre Mutter darauf bestanden haben, über Weihnachten hier zu bleiben. Jeder Mensch mit ein bisschen Anstand im Leibe hätte sofort nach seiner Kutsche rufen lassen, als die Nachricht von Onkel Porthdown kam, die uns den Tod der armen Helen verkündete.“

Sophie begann daran zu zweifeln, dass Imogen und die Garret-Lowdens die kommenden Feiertage ohne Auseinandersetzungen überstehen würden. Dennoch gab sie die Hoffnung noch nicht ganz auf, die festliche Stimmung der Weihnachtszeit würde obsiegen, schob den schweren Vorhang zu, um die Spiegelungen des Kerzenlichts und der Flammen im Kamin abzuschirmen, kniete sich auf die breite Fensterbank und versuchte erneut, durch das Schneetreiben zu spähen.

„Du lieber Himmel!“, rief sie aus, kletterte von der Fensterbank und eilte zur Tür.

„Was haben Sie gesehen, Rosie?“, wollte Imogen wissen.

„Einen Reiter, der kaum mehr wie ein sterblicher Mann, sondern eher wie Hannibal bei seinem Ritt über die Alpen aussah“, murmelte Sophie halblaut, während sie bereits in die Halle lief und nach Cordage und allen anderen rief, die sich in Hörweite befanden. „Imogen, bitte gehe zu deinen Schwestern ins Schulzimmer. Sie sollen dort bleiben und ihre Briefe an euren Vater zu Ende schreiben. Auf keinen Fall darf einer von euch uns hinaus in den Schneesturm folgen“, sagte sie streng.

„Aber Miss Rose, da draußen erfriert vielleicht gerade jemand!“

„Dann gibt es keinen vernünftigen Grund, weshalb du es ihm gleichtun solltest. Bitte kümmere dich um deine Schwestern, wie ich dich gebeten habe. Ich werde dir rechtzeitig Bescheid geben, was zu tun ist, sobald ich es selbst weiß.“

Unter missmutigem Brummen befolgte Imogen die Anweisung. Sophie kannte sie gut genug und wusste, dass auf sie Verlass war. Sie würde ihre jüngeren Schwestern beaufsichtigen, obwohl sie es eindeutig bevorzugt hätte, mitten im Geschehen zu sein.

2. KAPITEL

A ngesichts der unablässigen Schneewehen kniff Peter erschöpft die Augen zusammen, ohne sie ganz zu schließen, damit er nicht gegen den nächsten Baum ritt. Ihm kam es vor, als ob er zu allem Übel auch noch halluzinierte. Missmutig wischte er sich im schneetrüben Zwielicht mit einer Hand über das Gesicht und öffnete die Augen etwas weiter, um klarer zu sehen. Aber die Gestalt an dem erleuchteten Fenster, das er in einiger Entfernung ausmachen konnte, war verschwunden. Also hatte er vielleicht doch noch nicht den Verstand verloren.

Müde und erleichtert seufzte er auf. Er war nicht mehr als hundert Meter von der Zufluchtsstätte entfernt, auch wenn sich die Distanz aufgrund des Schneetreibens, das ständig die Richtung wechselte, schlecht einschätzen ließ. Mal tanzten die kalten Flocken wie wilde Derwische um ihn herum, mal legten sie sich sanft und einschläfernd wie der Tod auf ihn. Er schüttelte den Kopf und murmelte Hannibal, seinem reinrassigen Jagdpferd, etwas Aufmunterndes in die angelegten Ohren. Das arme Tier trug ihn tapfer wie ein fügsames Zugpferd durch diesen winterlichen Albtraum.

Warum verfolgten ihn in dieser verzweifelten Situation ausgerechnet die Erinnerungen an Sophie Bonet? Er hatte gedacht, ein Mann würde Engel sehen, wenn der Tod kurz bevorstand, und keinen hartherzigen, egoistischen kleinen Teufel, als der sie sich erwiesen hatte. Natürlich hatte er einmal geglaubt, sie zu lieben. Doch er war ein junger Narr gewesen, der so wenig Ahnung von der Welt gehabt hatte, dass er nur mit Mitleid auf sein früheres Selbst zurückblicken konnte. Zu seinem eigenen Schutz hätte man ihn einsperren sollen, bis er genug gesunden Menschenverstand erworben hatte, um die hinterhältige Abenteurerin zu durchschauen. Es musste acht Jahre her sein, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte, und seit sie Holm Park den Rücken zugewandt hatte, waren wilde Gerüchte über ihr weiteres Schicksal in Umlauf.

Am besten gefiel ihm die Version, wonach sie sich als Piratenkönigin in der Karibik etabliert hatte und die Gesetzlosen dazu brachte, ihren Befehlen zu gehorchen. Einst war Sophie Bonet beinahe wie eine Verwandte für ihn gewesen und dazu eine unerschrockene Spielkameradin. Sophie hatte eine Abenteuerlust verströmt, bei der er fast vergessen hatte, dass sie ein Mädchen war. Dann war sie zu seiner großen Liebe geworden. Beim Gedanken an die wilde junge Sophie Bonet musste er lächeln. Nun überlegte er, weshalb er sich ihrer jetzt so deutlich erinnerte, als ob er ihre Stimme in den ausgekühlten Ohren hörte.

„Ich verirre mich in mehr als einer Hinsicht, Hannibal, alter Junge“, murmelte er. Leise fluchte er, weil er Edwinas Bitten nachgegeben hatte, sie schnellstmöglich zu ihrer Trauung zu bringen, obgleich es bei diesem Wetter der helle Wahnsinn war.

Da war es wieder – er erhaschte ein paar Wortfetzen, die vom Wind zu ihm getragen wurden. Er hatte davon gehört, dass man kurz vor dem Tod durch Erfrieren Wahnvorstellungen bekam, und kämpfte gegen ein lähmendes Frösteln an.

„Dorthin, Cordage!“

Die Stimme, die der von Sophie ähnelte, wurde lauter. Der trügerische Ruf einer Sirene!

„In einer solchen Nacht ist gewiss keiner hier draußen, Miss! Sie sollten wirklich lieber wieder ins Haus gehen, bevor Sie sich erkälten.“

Der männliche Part des Stimmenduetts sprach mit starkem ländlichen Dialekt, und Peter fragte sich, ob nicht doch Hilfe nahte. Außerdem kam die Männerstimme ihm nicht bekannt vor. Befände er sich in der Vergangenheit mit Sophie, hätte die Stimme eigentlich zu seinem Vater oder Brimble, dem Butler von Holm Park, gehören müssen. Das unwirsche Gerede eines Mannes vom Lande, der verständlicherweise verärgert war, sich in einer solchen Nacht draußen aufhalten zu müssen, passte nicht in diese Vorstellungswelt.

„Nein, ich bin mir ganz sicher, dass ich jemanden gesehen habe“, beteuerte die Stimme von Sophie beharrlich. Peter hielt sie schon beinahe für real und erschauderte bei dem schrecklichen Gedanken, ihr nach all den Jahren ausgerechnet in diesem erschöpften und verwundbaren Zustand zu begegnen. „Dort drüben, hören Sie! Da ist jemand direkt in den Graben geritten, Cordage!“

Ob sie nun echt war oder nicht, Peter brachte das Pferd zum Stehen. Mit letzter Kraft hievte er sich aus dem Sattel und sank bis zur Hüfte in den Schnee ein.

Also gut, der Graben existiert tatsächlich, stellte Peter fest. Daher muss auch die Stimme real sein, die von dem Graben gesprochen hat.

Es blieb ihm kein anderer Ausweg, als zu hoffen, dass die Frau mit der Sirenenstimme einen Weg ersinnen würde, ihn zu retten, bevor Kälte und Erschöpfung ihm und seinem Pferd ein Ende bereiteten. Edwina, Tante Hester und Merryweather würde sonst nichts anderes übrig bleiben, als den nörgelnden Cedric umzubringen, der wahrscheinlich unerträglichste Mann von ganz England. Außerdem würden sie die Kutsche in ein Signalfeuer verwandeln müssen, um nicht zu erfrieren und auf ihre Notlage aufmerksam zu machen.

„Hierher!“, brüllte er so laut er konnte gegen das Heulen des Windes an.

In der trüben Dunkelheit flackerten Lichter auf.

„Rufen Sie die Stallknechte, Miss Imogen!“, brüllte der Mann. „Wir brauchen Hilfe, um ihn hineinzutragen, wenn er schon lange dort draußen ist!“

„Imogen, tu, was Cordage gesagt hat, und kümmere dich dann endlich um deine Schwestern, wie ich es dir aufgetragen habe!“ Die energische Stimme, die der von Sophie so ähnelte, erteilte diesen barschen Befehl einer bedauerlichen Person, die Peter nicht sehen konnte.

„Und Sie sollten auch besser reingehen und sich aufwärmen, Miss!“, rief der Mann, der Cordage genannt worden war, verzweifelt.

„Machen Sie sich nicht lächerlich!“, rief die sture Person ihrem Begleiter zu.

Als der Klang ihrer Stimme immer näher an seine Ohren drang, beschloss Peter, der dazugehörigen Frau dankbar zu sein, dass sie ähnlich eigensinnig zu sein schien wie das unbeugsamste weibliche Wesen, dem er je begegnet war. Denn sie war es zweifellos gewesen, die ihn vom Fenster aus erblickt und Anweisung gegeben hatte, ihn zu retten.

„Fangen Sie das auf!“, befahl ihm die Frau, und er streckte ohne nachzudenken eine Hand aus und bekam das Ende eines Lederriemens zu fassen, den sie in seine Richtung geschleudert hatte. „Nun ziehen Sie sich schon daran hoch!“, kommandierte sie, als ob sie ein ganzes Bataillon ziemlich begriffsstutziger Männer, die sich im Schnee verirrt hatten, auf den rechten Weg zu bringen hätte. Um ein Gegengewicht zu bilden, lehnte sie den Oberkörper zurück.

„Mit einer Hand?“, fragte er missmutig und hatte den Eindruck, dass sie nach Luft rang, als sie seine heisere Stimme vernahm – als ob der Klang ihr jemanden ins Gedächtnis riefe, an den sie ebenfalls nicht erinnert werden wollte.

„Lassen Sie Ihr Pferd los! Es wird uns gewiss folgen. Zweifellos besitzt es mehr Verstand als Sie“, sagte sie schroff, und ihm kam der schreckliche Verdacht, dass es sich nicht um eine Frau handelte, die sich nur wie Sophie Bonet anhörte, sondern dass eben jene höchstpersönlich vor ihm stand.

„Warum sollte ich darauf vertrauen, dass Sie mich aus dem Graben ziehen?“, rief er.

„Bleibt Ihnen im Moment eine andere Wahl? Oder fühlen Sie sich da unten wohl?“, erkundigte sie sich mit einem Unterton in der Stimme, der verriet, dass sie wusste, wen sie rettete, ebenso wie er wusste, wer sie war.

„Ich habe also die Wahl zwischen Hölle und Fegefeuer?“, fragte er ironisch.

Autor

Elizabeth Beacon
<p>Das ganze Leben lang war Elizabeth Beacon auf der Suche nach einer Tätigkeit, in der sie ihre Leidenschaft für Geschichte und Romane vereinbaren konnte. Letztendlich wurde sie fündig. Doch zunächst entwickelte sie eine verbotenen Liebe zu Georgette Heyer`s wundervollen Regency Liebesromanen, welche sie während der naturwissenschaftlichen Schulstunden heimlich las. Dies...
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