Verführt von einem Abenteurer

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Was für ein attraktiver Gentleman: Rowena kann den Blick nicht von James Winterleys muskulöser Gestalt und den edlen Gesichtszügen abwenden. Auch wenn die junge Witwe nicht mehr an die große Liebe glaubt – eine Affäre mit dem verwegenen Abenteurer erscheint ihr höchst verlockend! Doch Rowena ahnt nicht, in welch brenzlige Situation James sie bringen wird …


  • Erscheinungstag 16.10.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512978
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mr. Winterley sieht sehr attraktiv aus, nicht wahr?“, bemerkte Mary Carlinge mit einem wehmütigen Seufzer.

„Wenn du mich fragst, wäre er in London besser aufgehoben, und der haut ton muss sich inzwischen doch bereits zur kleinen Saison dort eingefunden haben“, antwortete Rowena argwöhnisch.

„Versuche nicht, das Thema zu wechseln, Rowena Westhope. Du bist vierundzwanzig Jahre alt und im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte, wie kann dich also ein junger, reicher und derart hinreißender Gentleman wie dieser nur so gleichgültig lassen. Ich weiß nicht, wie Callie Laughraine es geschafft hat, ihn heute Morgen wieder in die Kirche zu zerren, aber ich bin ihr sehr dankbar dafür, selbst wenn du es nicht bist.“

Rowena betrachtete den hochgewachsenen, dunkelhaarigen und wirklich sehr gut aussehenden Gentleman und erschauerte unwillkürlich – zu ihrer größten Besorgnis. „Er muss zweifellos sehr reich sein, da er das Saltash-Gut gekauft hat, dabei ist es nicht mehr als eine Ruine. Und vermutlich sieht er recht gut aus, aber er ist viel zu eitel und hochmütig, als dass ich ihn deswegen bewundern könnte.“

„Du bist entweder eine Heilige und gehörst in ein Kloster oder eine Lügnerin, liebe Freundin“, antwortete Mary leise, gerade als Mr. Winterley zu ihnen herübersah, den Blick jedoch gleich weitergleiten ließ, als wären sie seiner Aufmerksamkeit nicht wert.

„Und du bist eine verheiratete Frau und Mutter, Mary Carlinge, und solltest wirklich klüger sein.“

„Ich habe zwar Carlinge geheiratet, kaum dass ich das Schulzimmer verlassen hatte“, sagte Mary ungeniert und sah liebevoll, wenn auch flüchtig zu ihrem vor sechs Jahren geehelichten Gatten hinüber, „aber dein Mr. Winterley ist dennoch einen zweiten Blick wert, und dann sicherheitshalber noch einen dritten und vierten.“

„Er ist nicht mein Mr. Winterley, und für meinen Geschmack weiß er einfach zu gut, wie attraktiv er ist und außerdem eine der besten Partien auf dem Heiratsmarkt“, entgegnete Rowena so kühl sie konnte, denn in diesem Moment ließ der unmögliche Mann den Blick seiner ungewöhnlich grünen Augen wieder zu ihr zurückgleiten und musterte sie forschend.

Sie hatte gehofft, im Schatten einer uralten Eibe so gut wie unsichtbar zu sein. Aber das war, bevor Mary sie entdeckte und darauf bestand, ihr unmögliche Fragen zu stellen. Und jetzt beobachtete er sie beide, als könnte Rowena ihm eine Kröte unter das Hemd stecken, wenn er sie nicht im Auge behielt. Vor fünfzehn Jahren hätte sie es gewiss getan, aber eine nüchterne, vernünftige Witwe würde selbstverständlich nicht einmal daran denken, so etwas zu tun.

„Also mir gefallen Männer, die sich ihres eigenen Wertes bewusst sind. Ich würde außerdem meinen besten Hut verwetten, dass dieser hier auch ein wundervoller, aufmerksamer Liebhaber ist“, fuhr Mary gnadenlos fort. „Sobald ich Carlinge einen weiteren Sohn geschenkt habe, hoffe ich, noch jung und attraktiv genug zu sein, um es persönlich herauszufinden. Das heißt, wenn ihn uns bis dahin keine andere weggeschnappt hat.“

„Oh, Mary, nein. Wie kannst du etwas so Fürchterliches sagen? Vor nur wenigen Minuten haben wir vor Gott unsere Sünden gebeichtet. Du kannst das unmöglich ernst meinen.“

„Sch“, machte Mary Carlinge und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, um die skandalösen Worte der ältesten Tochter des Pfarrers zu hören. „Es ist vielleicht gar nicht so schlecht, dass du dich dieser Tage in dunklen Ecken herumtreibst, wo dich niemand bemerkt. Hast du das übrigens von deiner Schwiegermutter gelernt? Wenn ja, dann ist es gut, dass sie zu ihrer Schwester gereist ist und dich deinem Schicksal überlassen hat. Sonst wärst du an ihrer Seite zu einer langweiligen, einsamen Frau verkümmert, die kleine Hunde züchtet.“

„Es war sehr freundlich von Mama Westhope, mich bei sich aufzunehmen, als ich aus Portugal zurückkam und nicht mehr besaß als die Kleider auf dem Leib. Und ich blieb auch länger, als sie oder ich beabsichtigten, weil der Kummer sie so sehr überwältigte, dass ich es nicht über mich bringen konnte, sie allein zu lassen. Um gemeinsam Nates Tod zu verarbeiten“, verteidigte Rowena sich und die Mutter ihres verstorbenen Mannes. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass Mary dieses Mal recht hatte.

„Freundlich, dass ich nicht lache! Sie hat dich ausgenutzt, Row.“ Ihre Freundin vergaß einen Moment, die raffinierte Frau von Welt zu mimen, um Rowena eine Standpauke zu halten. „Du warst kaum mehr als eine unbezahlte Dienstmagd für sie, und es würde mich schon sehr wundern, wenn sie dich in den vergangenen zwei Jahren nicht täglich für den Umstand bestraft hat, dass du noch lebst, während ihr Liebling tot ist. Nein, du bist lange genug beschimpft und erniedrigt worden, liebste Freundin. Es ist höchste Zeit für dich, wieder leben zu lernen, und dort drüben steht der Mann, mit dem du das tun solltest“, endete sie und wies mit einem triumphierenden Winken der Hand auf Mr. Winterley.

„Wer ist der Gentleman in der braunen Jacke, Mary?“, fragte Rowena über den Mann an Mr. Winterleys Seite. „Du bist eine wahre Fundgrube an Informationen geworden, seit du Mr. Carlinge dazu überredet hast, im Haus seines Großonkels zu leben, als er erbte, statt mit ihm in Bristol zu bleiben.“

„Es ist hier gesünder für die Kinder. Aber nennst du mich etwa ein Klatschweib?“, fragte Mary scharf. Sie schien kurz darüber nachzudenken, zuckte dann mit den Schultern und lächelte schelmisch, als ließe sich die Wahrheit dieses Vorwurfs sowieso nicht leugnen. Und Rowena fiel wieder ein, warum sie ihre alte Freundin trotz ihrer unverblümten, neugierigen Art so liebte. „Womit du natürlich recht hättest. Was soll man sonst auf dem Land tun, als sich für seine Nachbarn zu interessieren oder sich zu Tode zu langweilen? Der Mann in der recht langweiligen braunen Jacke ist der Honourable Mr. Bowood, und sein Vater müsste Lord Grisbeigh sein, einer jener geheimnisvollen politisch einflussreichen Gentlemen, von deren Existenz die Regierung angeblich nichts weiß. Er würde zugeben müssen, dass er arbeitet, und wir alle wissen schließlich, dass Gentlemen so etwas nicht tun.“

Da Mr. Carlinge Anwalt war und Mary ganz offensichtlich verbittert über die Unterschiede, die die Gesellschaft machte, zwischen einem Gentleman, der für seinen Lebensunterhalt arbeitete, und einem Gentleman, der andere für sich arbeiten ließ, lenkte Rowena das Gespräch auf Marys kleinen Sohn und die erst kürzlich zur Welt gekommene Tochter. Sie versuchte, sich auf das wortreiche Schwärmen einer vernarrten Mutter zu konzentrieren und Mr. Winterley aus ihren Gedanken zu verdrängen. Trotz des Geredes, sich einen Liebhaber nehmen zu wollen, weil ihr Leben so langweilig war, wusste Rowena fast sicher, dass Mary ihren Gatten und ihre lebhaften Kinder viel zu sehr liebte, um ihr Leben mit ihnen wegen eines oberflächlichen Modegecken wie Mr. Winterley aufs Spiel zu setzen. Zumindest hoffte Rowena das sehr – ihrer Freundin zuliebe und nicht, weil der Mann hochgewachsen und faszinierend war, aufregend breite Schultern hatte und etwas in ihr weckte, das sie lieber nicht empfinden wollte.

„Hier versteckst du dich also heute, Rowena Finch“, unterbrach eine weitere Freundin aus alten Zeiten Marys Geschichten über ihre geliebten Kinder, und jetzt ruhten sogar zwei sehr aufmerksame Augenpaare auf ihr. Rowena wurde etwas unruhig unter Callie Laughraines durchdringendem Blick und errötete zu ihrem Ärger, da Callies Worte ausgerechnet die Aufmerksamkeit jenes Mannes erregt hatten, dem sie auszuweichen versuchte.

Er sah wie ein byzantinischer Prinz aus, fand sie, den man als vornehmen Gentleman verkleidet und in ein englisches Dorf versetzt hatte, um die Bewohner einzuschüchtern. Er strahlte eine Kraft und Selbstbeherrschung aus, die Rowena fast schon ärgerte. Es fiel ihr schwer, ehrlich zu sagen, was sie wirklich von dem Eindringling hielt, aber es war auch nicht wichtig, denn sie hatte mit gut aussehenden Gentlemen wie ihm ein für alle Mal abgeschlossen – außerdem würde er sie keines Blickes würdigen, selbst wenn es anders gewesen wäre. Sie war eine uninteressante, verarmte Witwe, die in sehr bescheidenen Umständen lebte, und er war der Bruder eines Viscounts und viel zu attraktiv und aufregend für sie, und damit hatte es sich.

„Ich bin nicht mehr Rowena Finch, wie du sehr wohl weißt, Callie“, rief sie streng in Erinnerung.

Callie war die Enkelin des verstorbenen Pfarrers von Raigne, die als kleines Baby zu ihm gekommen war. Als die Finches in Great Raigne erschienen, wo Rowenas Papa den Hilfspfarrer für Reverend Sommers abgeben sollte, konnte Rowena gerade eben krabbeln und ihr Bruder Joshua war noch ein Baby. Damals war Callie nicht nur ihre Freundin, sondern sogar wie eine ältere Schwester für sie gewesen.

„Ja, das weiß ich“, sagte Callie jetzt so leise, dass nur ihre beiden Freundinnen sie hören konnten. „Wenn die Ehe dir auch nicht bekommen zu haben scheint.“

Mary nickte heftig. „Callie hat recht, und du solltest auf sie hören“, sagte sie und bemerkte erst jetzt, dass ihr Mann versuchte, ihr zu verstehen zu geben, dass ihre Kutsche bereits wartete. „Ich hoffe, wenigstens du kannst ihr Vernunft beibringen, damit sie aus ihrem Schneckenhaus herauskommt. Rowena will einfach nicht auf mich hören, und du hattest schon immer einen größeren Einfluss auf sie als ich. Nur weil du die Älteste bist, du verstehst. Nicht weil du Lady Laughraine bist und kurz davor, eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Das heißt, wenn du einmal nicht so sehr damit beschäftigt sein wirst, Gideons Frau zu sein, dass wir dich kaum noch zu Gesicht bekommen.“

„Nun gut, und ich werde versuchen, nicht ganz so beschäftigt zu sein und mehr Zeit für meine Freunde zu haben. Und jetzt geh endlich und überlass es mir, Row zu ihrem eigenen Besten zu schikanieren, Mary. Dein armer, gequälter Mann wird dir eines Tages noch eine Lektion erteilen und ohne dich losfahren, wenn du nicht aufpasst.“

„Dann gehe ich also, da alle so erpicht darauf sind, mich loszuwerden. Was aber nicht bedeutet, dass ich die Hoffnung aufgebe, was dich und einen gewissen Gentleman angeht, Rowena Westhope, sei gewarnt!“

„Gut, dass sie gegangen ist, bevor wir die Geduld mit ihr verloren haben und noch ein wenig Zuneigung für sie empfinden“, meinte Callie und verdrehte die Augen, nachdem Mary, die sie beide liebten, an der sie aber oft auch verzweifelten, davongetrippelt war. „Mary sagt solche unerhörten Dinge, um zu vertuschen, wie sehr ihr das Leben auf dem Land wirklich gefällt. So unmodisch, dass es gar nicht zu ihr passt.“

„Bald wirst du es ihr in dieser Hinsicht gleichtun“, stellte Rowena fest, betrachtete aber besorgt das blasse Gesicht und den noch immer völlig flachen Bauch ihrer Freundin. Die frühen Monate der Schwangerschaft hatten an Callies Energie gezehrt, und Rowena hoffte inständig, dass dieses zweite Kind im Gegensatz zum ersten gesund zur Welt kommen würde.

„Lenk nicht vom Thema ab, Row“, tadelte Callie, die es offensichtlich müde war, von ihrem Mann und engen Freunden voller Sorge angesehen zu werden. „Du bist jetzt seit fast einem Monat wieder zu Hause, und ich habe dich kaum gesehen, geschweige denn einen Plausch mit dir gehalten. Wann immer wir dich einladen, ist es dir unmöglich zu kommen, und Mary sagt, du weichst jeder Einladung zum Dinner oder gar zu einer Gesellschaft aus. Das geht nicht so weiter, meine Liebe.“

„Warum nicht? Ich bin eine Witwe. Warum kann ich nicht in Ruhe leben?“

„Weil du vierundzwanzig Jahre alt bist und nicht vierundsiebzig. Außerdem machst du einen traurigen und ein wenig resignierten Eindruck. Das Leben mit deiner Schwiegermutter hat dir eindeutig nicht gutgetan. Diese Frau war schon kränklich und weinerlich, bevor ihr Sohn im Kampf gefallen ist, also möchte ich mir gar nicht vorstellen, wie sie jetzt gewesen sein muss. Ein Leben mit ihr kann dir nur geschadet haben, Rowena. Hör auf jemanden, der es wissen muss.“

Die Reue über die vielen Jahre, die Callie dadurch vergeudet hatte, dass sie auf ihre selbstsüchtige, arglistige Tante gehört hatte, statt auf den Mann, von dem sie damals getrennt lebte, klang deutlich in ihrer Stimme mit.

„Gideon hat dich immer geliebt, Callie. Die Liebe, die ihr füreinander empfunden habt, war für jeden deutlich zu sehen, seit ihr alt genug wart zu wissen, was Liebe und Leidenschaft bedeuten.“

„Wir wussten vielleicht, was es war, aber wir waren nicht alt genug, um damit umgehen zu können. Glaube aber nicht, dass du mich mit meinen Fehlern aus der Vergangenheit vom Thema abbringen kannst, denn jetzt reden wir über dich und nicht über mich. Es wird höchste Zeit, dass du an deine Zukunft denkst, die nichts mit den Diensten einer Gesellschafterin oder Gouvernante zu tun hat. Ich weiß, dass du weder mit dem einen noch mit dem anderen zufrieden sein würdest.“

„Warum nicht? Du warst neun Jahre lang Schulmeisterin und scheinst es unbeschadet überstanden zu haben.“

„Ach, wirklich?“, sagte Callie bitter, als würde sie jeder Tag schmerzen, den sie fern von ihrem Mann verbracht hatte, selbst jetzt da sie vereint waren und wieder ein Kind erwarteten. „Ich möchte nicht, dass du dich so lange wie ich vom Leben abwendest, Rowena. Wie kann ich dir die Pein beschreiben, die es mir bereitet, wenn ich mit ansehen muss, wie meine geliebte Freundin, die wie eine Schwester für mich ist, sich mit einer faden Existenz abfindet, statt für ein lebenswertes Leben zu kämpfen? Und alles nur wegen eines einzigen jugendlichen Fehlers.“

Rowena wollte schon verteidigen, dass sie so überstürzt geheiratet hatte, seufzte dann aber geschlagen. „Vielleicht bin ich nicht so tapfer wie du, Callie“, gestand sie.

„Du könntest kaum weniger tapfer sein.“

„Oh doch. Du warst so stark, als du Grace verlorst. Und als du dich dann mit Gideon gestritten hast, trafst du einfach den Entschluss, nicht mehr mit ihm zusammenzuleben. Es tat fast weh, damals zu erleben, wie ihr beide versuchtet, eure wahren Gefühle voreinander zu verbergen. Jetzt wünschte ich, ich hätte dir nicht versprochen, deinen Aufenthaltsort geheim zu halten. Die neun Jahre, die du allein warst und von deiner Tante betrogen wurdest, waren eine viel zu lange Zeit, Callie.“

„Und dennoch willst du dasselbe Leben für dich, das ich erleiden musste? Nein, Rowena, du darfst nicht aufhören, für dich zu hoffen, nur weil dein schicker Lieutenant dich unglücklich gemacht hat. Und ich kann nicht dabeistehen und tatenlos zusehen.“

Rowena atmete tief durch. „Doch, das kann ich. Was mich angeht, wird die Liebe überschätzt, und ich werde nicht noch einmal heiraten. Unabhängig davon gebe ich aber zu, dass ich aufhören sollte, mich schuldig zu fühlen, weil Nate gestorben ist und ich noch lebe, und mir ein so angenehmes Leben machen wie nur möglich. Ich habe vor, eine Anzeige zu schalten, um eine Position als Gouvernante oder Lehrerin zu finden, und freue mich schon darauf, endlich die gute Erziehung zum Einsatz zu bringen, die Papa und dein Großvater mir ermöglicht haben.“

„Das ist das Stichwort für meine Bitte. Gideon und ich wollten dir schon ein Angebot machen, seit du so müde und niedergeschlagen heimgekommen bist. Möchtest du nicht für mich arbeiten, Row? Bitte! Ich brauche dich mehr als die jungen Damen reicher Eltern. Der feinen Gesellschaft sind naive, hohlköpfige Debütantinnen sowieso lieber.“

„Du brauchst ganz gewiss noch keine Gouvernante, Callie, selbst wenn es ein Mädchen wird. Und eine Gesellschafterin auch nicht, jetzt da du jeden Moment mit Gideon verbringst“, antwortete Rowena zweifelnd.

Es erschien ihr nicht richtig, eine Stellung anzunehmen, nur weil sie und Callie befreundet waren – und Mr. Winterley teilte offenbar ihre Meinung, wenn sie sein Stirnrunzeln richtig deutete. Der nicht ganz so gleichgültige, harte Blick seiner grünen Augen verriet Rowena, wie viel ihm am Wohlergehen seiner Gastgeberin lag. Als würde er sie warnen, ihr keine Sorge zu bereiten, wenn sie sich nicht mit ihm anlegen wollte. Rowena musste ein Gefühl der Eifersucht unterdrücken und sagte sich, dass der Mann sehr wohl tat, sich um Callie und Gideon zu kümmern, da er sich für einen Hausgast bereits so unverschämt lange auf Raigne aufhielt, dass er ihnen zumindest Loyalität schuldete.

„Mir bleiben lange nicht genug freie Momente für Gideon, und ich möchte so gern bei ihm sein, wann immer ich kann. Wir haben viel zu viele Jahre verschwendet, sodass jetzt jede Sekunde kostbar ist, und ich will sie mit ihm verbringen und mit dem Baby, sobald es – so Gott will – gesund zur Welt gekommen ist.“

„Was sollte ich denn für dich tun, Callie? Mama Westhope sagt, ich sei eine Katastrophe als Hausfrau, also wäre ich dir in der Hinsicht keine Hilfe.“

„Mrs. Craddock wäre zutiefst beleidigt, wenn ich ihr eine zweite Haushälterin zur Seite stellen wollte. Nein, was ich brauche, ist eine Schreiberin und eine Gehilfin, der ich vertrauen kann. Für beides wärst du vollkommen. Du hattest schon immer eine bessere Handschrift als ich, und wenn ich Gehilfin sage, meine ich wohl eine Art Sekretär. Ich weiß, die meisten sind Männer, aber stell dir vor, was Gideon davon halten würde, wenn ich mir von einem Mann helfen ließe.“

„Nein, lieber nicht.“ Rowena lachte. „Aber brauchst du wirklich Hilfe bei deiner Korrespondenz? Es würde mich sehr betrüben, wenn du mich nur einstellen willst, weil ich ohne einen Penny in der Tasche dastehe“, brachte Rowena mühsam hervor. Tatsächlich wäre es fast wie ein Traum, in Raigne bleiben und für ihre liebste Freundin arbeiten zu können. Fast, erinnerte sie sich allerdings hastig, während sie versuchte, dem Blick des Mannes auszuweichen, der sich als Albtraum erweisen könnte.

„Ja, wirklich. Dieser kleine Teufel hier beschäftigt mich so sehr, dass ich jede Hilfe brauche, die ich bekommen kann“, gestand ihr ihre Freundin, die Hand schützend über ihren noch flachen Bauch legend.

„Gewährst du mir einige Tage Zeit, damit ich es mit Mama, Papa und Joanna besprechen kann? Falls ich meine süße Schwester dazu überreden kann, lange genug den Kopf aus den Wolken zu nehmen, um an irgendetwas anderes zu denken als ihren heißgeliebten Mr. Greenwood, heißt das.“

„Was für eine wunderbare Pfarrersfrau Joanna doch abgeben wird. Sie war schon immer braver als wir. Allerdings hoffe ich, dass Hester sich niemals in einen ernsthaften Mann verliebt, denn sie würde den armen Kerl in den Suff treiben“, bemerkte Callie und warf der zehnjährigen Hester Finch einen nachsichtigen Blick zu, die sich gerade auf dem frisch gemähten Rasen vor der Kirche herumwälzte und sich bemühte, so viel Gras wie möglich in die Ausschnitte ihrer Spielkameraden zu stopfen.

„Sie hat noch genug Zeit, aufzuwachsen und eine Dame zu werden. Es sind schon unwahrscheinlichere Dinge geschehen. In ihrem Alter waren wir beide nicht sehr viel besser, und sieh dich jetzt an“, meinte Rowena. „Hes muss allerdings lernen, dass man keine schwächeren Gegner drangsalieren sollte“, fügte sie jedoch streng hinzu und machte sich auf den Weg, ihre kleinen Brüder und Schwestern zur Ordnung zu rufen, nachdem ihre Mutter ihr einen verzweifelten Blick zugeworfen und sie selbst versprochen hatte, über Callies Bitte nachzudenken.

„Stell dir vor, das Angebot wäre von jemandem gekommen, den du nicht kennst, und sag mir dann, du würdest die Stellung nicht haben wollen, Rowena“, rief ihre Freundin ihr nach.

Rowena wandte sich um und nickte zustimmend, zuckte aber kläglich die Schultern, als die Opfer ihrer kleinen Schwester immer lauter schrien. Sie musste für Ruhe sorgen, bevor das Gekicher sich in tränenreiches Heulen verwandelte und das ernste Gespräch unterbrach, in das ihre Eltern, Sir Gideon und Lord Laughraine vertieft waren.

2. KAPITEL

Reverend Finch und seine Gattin sind wahrlich mit Nachwuchs gesegnet. Ich frage mich nur, wie sie alle Kinder in selbst der geräumigsten Pfarrei unterbringen können. Wenigstens wird ihnen die entzückende Miss Joanna bald abgenommen, da heute das Aufgebot bestellt wurde. Danach bleibt ihnen nur noch, Mrs. Westhope wieder zu verheiraten, bevor die nächste junge Dame im heiratsfähigen Alter ist, meinst du nicht?“, sagte Henry Bowood so leichthin, dass James wusste, er wurde schamlos wegen seiner widerwilligen Faszination, die er für die noch entzückendere Witwe empfand, aufgezogen.

Der Mann sah einfach zu viel. Das war schon immer so gewesen. James beschloss, vorsichtiger zu sein und damit aufzuhören, die Witwe Westhope zu beobachten. „Wohl wahr. Sie scheinen eine lange, fruchtbare Ehe hinter sich zu haben“, stimmte er gelassen zu, als wäre ihm das und auch die zurückhaltende Schönheit völlig gleichgültig, die aussah wie eine Frau, die mehr vom Leben außerhalb dieses schönen ländlichen Zufluchtsorts wusste, als ihr lieb war.

Er selbst kannte dieses Gefühl nur allzu gut, und deswegen interessierte die älteste Tochter des Pfarrers von Raigne ihn. Nicht, dass sie das Geringste getan hatte, um seine Aufmerksamkeit zu wecken, in dem Monat, seit sie wieder im Dorf war, so viel musste er zugeben. Widerwillig nahm er den Blick von den lärmenden Kindern und der erstaunlich nachsichtigen älteren Schwester und wandte sich dem anderen Gast zu.

„Neidisch?“, fragte er zynisch in der Hoffnung, den Mann ablenken zu können, dessen Vater der Leiter des Agentenrings der Regierung war.

„Hätte ich jemals den Wunsch nach einer Familie verspürt, dann bin ich spätestens davon kuriert worden, als ich deine kleinen Bälger über den Kanal schmuggeln musste“, konterte Bowood mit trockenem Humor.

James nickte ernst. Es wurde höchste Zeit, dass er die goldlockige Zauberin mit den kobaltblauen Augen und all die pikanten Spielchen, die sie nun niemals miteinander würden spielen können, vergaß und sich auf die wahren Umstände seines Lebens konzentrierte. „Ich kann dir nicht genug danken, dass du das für mich getan hast, Harry. Jetzt da Fouché weiß, dass ich kein einfacher Händler bin, hätte ich sie nur gefährdet. Du warst der einzige andere Mann, der die Erfahrung und Gerissenheit besaß, sie besseren Händen als meinen zu übergeben und endlich in Sicherheit zu bringen.“

„Und dennoch vertraust du mir nicht an, wo sich Hebes Kind befindet. Die anderen beiden, die du aus der Gosse geholt hast, als ihre Eltern ihrem Schöpfer gegenübertraten, wären in einer Familie besser aufgehoben“, sagte Bowood steif.

„Es ist vernünftiger, wenn du es nicht weißt. Bedenke, dass der Chef von Bonapartes Polizei keine Skrupel kennt, wenn es darum geht, den Spionagering noch weiter aufzulösen. Angefangen hat es damit, dass Hebe La Courte zu viel ausplauderte, bevor ihre Gefängniswärter zu weit gingen und sie töteten. Sollte ihm Hebes Kind in die Hände fallen, würde jeder von uns ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein, und das weiß er.“

„Nicht jeder von uns ist so weichherzig wie du, James“, gab Bowood zu bedenken.

James überlief es eiskalt, und er fragte sich, wie rücksichtslos Harry Bowood werden könnte, sollte es nötig sein. Das glückliche Kindergeschrei und der fröhliche Gesang eines Rotkehlchens ganz in der Nähe verblassten, und er musste an die schrecklichen Ereignisse seiner letzten verpfuschten Mission in Paris denken. Selbst jetzt konnte er nicht sagen, warum ihn das starke Gefühl überkommen hatte, er müsse unbedingt hinreisen und selbst herausfinden, was nicht stimmte. Die Erinnerung an den entsetzlichen Anblick des geschundenen Körpers seiner einstigen Geliebten, in einer der dunkelsten Ecken im dunkelsten Teil der alten Stadt hingestreckt, ließ ihn hier im warmen Sonnenlicht eines englischen Sonntags erschaudern. Es war ein Glück, dass Hebes Tochter noch nicht einmal drei Jahre alt war und wahrscheinlich bald ihre hinreißende, waghalsige Mutter vergessen haben würde.

„Das ist keine Sanftmut, sondern Schuldgefühle“, beichtete er düster.

„Du übernimmst die Verantwortung für Waisen, die eigentlich nichts mit dir zu tun haben, und nennst es Schuldgefühle?“, fragte Bowood verblüfft.

James warf ihm einen warnenden Blick zu. „Warum nicht? Der gute Reverend würde sagen, dass ich es nur verdient habe, nach allem, was ich in den letzten Jahren – und wer kann schon sagen, zu welchem Zweck – getan habe.“

„Die Gesellschaft könnte sich nicht mehr in dir täuschen, James. Du hast das Herz und die Seele eines Mönches, nicht eines nutzlosen Müßiggängers.“

„Meinst du?“, entgegnete James und fragte sich, was ein Mönch wohl für Mr. Finchs älteste Tochter empfinden würde. Und ob er wohl ebenso versucht sein würde, ihr jenes abscheuliche Häubchen vom Kopf zu reißen und mit den Fingern durch das schwere, lange goldblonde Haar zu fahren, bis es ihr über die Schultern fiel und ihre argwöhnische Miene ein wenig milderte.

„James, die Pferde stehen zu lange“, rief sein Bruder ihm ungeduldig vom Friedhofstor aus zu, und James schob für den Augenblick jeden Gedanken daran beiseite, die zugeknöpfte Tochter des Pfarrers von Raigne aus der Reserve zu locken.

„Ich könnte sogar zu Fuß gehen, wenn ich müsste, großer Bruder“, sagte er so unverschämt er nur konnte, weil es ihn an einem so schönen, intimen Tag mit der Familie ganz besonders kränkte, noch so sehr die Entfremdung zwischen sich und seinem Bruder zu spüren.

„Zweifellos. Die Frage ist nur, was du tun würdest, solltest du deine makellosen Schaftstiefel mit einem Staubkorn beschmutzen, geschweige denn mit einem Kratzer entstellen?“

„Dann müsste ich sie natürlich meinem Kammerdiener schenken. Ich könnte sie unmöglich wieder tragen“, erwiderte James schwer seufzend, als wäre der Zustand seiner Garderobe viel beunruhigender für ihn als die Geringschätzung, die sein Bruder ihm entgegenbrachte.

„Eitler Geck“, sagte Lord Farenze ungeduldig. Es war genau die Reaktion, die James hatte provozieren wollen, warum schmerzte sie ihn also?

„James macht doch nur Spaß, Luke“, warf Lady Chloe Winterley, Viscountess Farenze, nachsichtig ein.

Chloe hatte Luke vor genau sechs Monaten geheiratet, schien sich aber bereits ein klares Bild von der Beziehung der beiden Brüder gemacht zu haben. James war nicht sicher, ob er sich über ihren Scharfsinn und ihre Freundlichkeit ihm gegenüber freuen sollte. Gerade vor Bowood wollte er nicht, dass die Entfremdung von seinem Bruder zu sehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wurde. Schließlich war sie der Grund, weswegen er überhaupt in dieser üblen Situation steckte, und Bowood war einer der wenigen Menschen, der die Wahrheit kannte über jene finstere Zeit im Leben der Winterley-Brüder. In jenem entsetzlichen Sommer, als er siebzehn gewesen war und Luke verheiratet mit einer Hexe, war James zu Harry, einem Schulfreund, geflohen und hatte ihm seine Geheimnisse anvertraut. Wenigstens hatte sein Bruder in der zweiten Ehe sein Glück gefunden, selbst wenn er zehn Jahre gebraucht hatte, um sich einzugestehen, dass er nicht ohne Chloe leben konnte. James dachte an den Schaden, den Pamela ihm zugefügt hatte, und erschauderte, als könnte er noch immer ihr höhnisches Lachen hören, nachdem sie damals einen Keil zwischen ihn und seinen Bruder getrieben hatte.

„Höchste Zeit, dass ich Finch und seine Frau in Ruhe ihren Kinder überlasse“, mischte Lord Laughraine sich freundlich ein. James konnte es immer noch nicht fassen, welchen Frieden er diesen Sommer über hier gefunden hatte. Seine Lordschaft und sein Erbe schienen ihn tatsächlich mit aufrichtiger Freude aufgenommen zu haben, nun da Sir Gideon Laughraine wieder ein glücklich verheirateter Mann war.

Auf der Fahrt zurück nach Raigne in Gideons glänzender neuer Kutsche betrachtete James am Weg die tiefroten Weißdornbeeren und die in der Oktobersonne schimmernden Brombeeren, die bereits den Herbst ahnen ließen. Bowoods Ankunft hatte seinem beschaulichen Landleben ein wenig den Glanz genommen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er seinen Aufenthalt hier auf dem Land genossen, seit er ein heruntergekommenes Herrenhaus in den Hügeln von Raigne und das dazugehörige verwahrloste Gut gekauft hatte. Brackley Manor, aus dem hiesigen grauen Stein bestehend und so uralt, dass niemand sagen konnte, wann es erbaut wurde, hatte etwas in ihm tief berührt. Harry hatte es einer romantischen Laune zugeschrieben und traf damit wahrscheinlich den Nagel auf den Kopf. Aber James verspürte den heftigen Wunsch, die Verwahrlosung eines halben Jahrhunderts wiedergutzumachen und das Gut mit seiner Hilfe zu neuem Leben erwachen zu sehen. Und es bereitete ihm Freude, etwas Neues aufzubauen, statt an seiner Zerstörung zu arbeiten. Er wollte ein Heim erschaffen, statt es zu ruinieren, selbst wenn er es nicht verdiente, das alte Haus mit einer zufriedenen kleinen Frau und einer ganzen Schar von Kindern zu einem wahren Zuhause zu machen.

Harry gehörte zu einer anderen Welt, in der es für James keinen Platz mehr gab. Denn er war ein demaskierter Spion und damit nutzlos für jede Regierung, die nichts anderes tun konnte, als ihn so bald wie möglich loszuwerden. Es war sehr nett von Harry, ihn danach noch als Freund anzuerkennen, musste James zugeben und fragte sich, warum er nicht dieselbe impulsive Zuneigung und Dankbarkeit für seinen alten Freund und dessen schlauen, verschlagenen Vater empfinden konnte wie damals als verwirrter Siebzehnjähriger.

Damals hatten Lukes harte Worte ihn so sehr getroffen, dass James für jeden Zuneigung empfunden hätte, der ihm seine Freundschaft anbot. Jetzt kam ihm Harrys Angebot eines aufregenden neuen Lebens, wie es sich ein jugendlicher Dummkopf wie er damals nicht einmal vorstellen konnte, nicht mehr so wundervoll vor. Nach einem Sommer in Frankreich, wo er die täglichen Schrecken, aber auch die Hochstimmung einer Revolution in ihrem Zenit beobachten und Lord Grisbeigh berichten konnte, kam James mit dem Gefühl nach Oxford, dass er sehr viel mehr gesehen hatte, als ein junger Mann seines Alters eigentlich sollte. Doch durch die Aufregung in seinem Leben hatte die Tatsache, dass Luke ihm aus dem Weg ging, ihn nicht so sehr geschmerzt. In den folgenden drei Jahren hatte er jeden Urlaub in verschiedenen Teilen Europas verbracht und sich eingeredet, dass es ihn nicht berührte, wenn Darkmere Castles strenge, atemberaubende Pracht und auch Lukes Zuneigung für immer für ihn verloren waren. Die Sommerzeit in Italien und Österreich und sogar ein unvergessliches Abenteuer in Russland halfen ihm dabei, seine zukünftige Karriere als Agent vorzubereiten. Was wäre jedoch geschehen, wenn er an jenem Tag nicht zu Harry geflohen wäre? Wenn er den Mut gehabt hätte, zu Hause zu bleiben, das Unrecht zu verringern, das er selbst Luke angetan hatte, aber vielleicht auch das geringere Unrecht, das Luke ihm angetan hatte, als er ihn aus seinem Heim verbannte?

All das waren jetzt nur sinnlose Überlegungen, und dennoch empfand er jetzt weniger Zutrauen und Dankbarkeit für seinen alten Freund, als er wahrscheinlich sollte. Ein weiterer dunkler Punkt in seinem Leben, den er lieber nicht weiter untersuchen wollte. Niemals würde er die letzte fürchterliche Auseinandersetzung mit seinem Bruder vergessen. Warst du der Geliebte meiner Frau? Die harte Frage, auf die es keine Antwort geben konnte, klang ihm noch immer so deutlich im Ohr nach, als hätte Luke sie eben erst gestellt und nicht vor siebzehn Jahren. Betroffen machte James sich klar, dass sein halbes Leben seit damals vergangen war. Die einzige Antwort, die er Luke damals hatte geben können, war ein Schweigen gewesen, das sich durch seine Länge zu dem Eingeständnis eines Feiglings gewandelt hatte. Und so hatte Luke sich abgewandt, als könnte er den Anblick seines Halbbruders nicht mehr ertragen. Dann habe ich keinen Bruder mehr. Und das war heute ebenso wahr wie damals, trotz der Versuche seiner neuen Frau, die Kluft zwischen Luke und seinem Halbbruder zu schließen.

„Zum Teufel, Chloe, warum kann ich nicht bleiben?“, fragte Luke seine Frau einige Tage später, als sie sich zu James in die Bibliothek des Hauses gesellten, wo ihm erlaubt war, die Entwürfe des Architekten für die Renovierung von Brackley Manor zu studieren.

„Weil es meine Pflicht ist, jeden von Virginias Auserwählten allein zu sprechen, bevor er sich an seine Aufgabe macht. Ich hätte gern dein Gesicht gesehen, wenn ich deinem Bruder erlaubt hätte, mit dabei zu sein, als ich dir deine Aufgabe mitteilte, Luke Winterley.“

„Damals warst du nicht meine Frau.“

„Nein, und ich hätte auch nie zugestimmt, es zu werden, wenn ich gewusst hätte, dass du mir nicht vertraust.“

„Dir vertraue ich, ihm vertraue ich nicht“, erklärte Luke grimmig, und James unterdrückte ein Lächeln, obwohl ihm nicht wirklich nach Lachen zumute war, seit er den dicken Umschlag in Chloes schmaler Hand entdeckt hatte.

„Bleib, wenn du denn musst, Luke“, warf er ein, so beiläufig er konnte. „Es wird niemanden von uns überraschen, was Lady Chloe mir zu sagen hat. Ich bin der Einzige auf Virginias Liste, der noch nicht nach ihrer Pfeife getanzt hat. Aber wenigstens könnt ihr euch darauf verlassen, dass ihr in diesem Jahr keine Hochzeit mehr ertragen müsst.“

„Warum nicht?“, fragte Chloe so unschuldig, dass er sie scharf ansah.

„Weil ich nicht das geringste Bedürfnis verspüre, zu heiraten. Und könnt ihr euch etwa vorstellen, ich würde mich ebenso gern in einen Vater verwandeln wie ihr drei?“

„Nun, am Anfang dieses Jahres hätte ich wahrscheinlich gesagt, nichts wäre unwahrscheinlicher. Aber seit damals habe ich gelernt, dass selbst das Undenkbare geschehen kann, wenn man es nur sehnlich genug wünscht“, antwortete Luke und sah seine Frau so leidenschaftlich an, dass James das Gefühl hatte, er müsse eigentlich erröten, wenn er noch gewusst hätte, wie das ging.

„Beenden wir dann dieses Jahr wenigstens mit einer Gewissheit – ich werde nicht heiraten. Nicht einmal Virginia könnte ein solches Wunder bewirken, und was immer sie mich auch anweisen wird zu tun, es wird nicht mit einer Heirat enden. Da ich mich in einem Teil der Gegend niedergelassen habe, wo du mich so wenig zu Gesicht bekommst, wie du nur willst, Bruder, können wir so fortfahren wie bisher. Und ich bin mehr als froh, es euch beiden zu überlassen, die Linie der Winterleys fortzuführen.“

Er war offenbar zu weit gegangen, da Chloes Wangen sich verfärbten und Luke sogar noch finsterer aussah und gleich darauf den Raum verließ, nachdem er seine Frau gebeten hatte, die Sache mit seinem verflixten Bruder so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Am nächsten Morgen würden sie abreisen, da die letzte Aufgabe, die Lady Virginia sich vor ihrem Tod erdacht hatte, endlich übergeben war.

„Warum musst du ihn immer so reizen, James?“, fragte Chloe betrübt.

„Es ist leichter, als die tote Bruderliebe wieder zum Leben zu erwecken, Chloe. Versuche nicht das Unmögliche, denn dieses Wunder hat selbst Virginia nicht vollbracht.“

„Ich glaube nicht, dass irgendeine Art von Liebe so leicht stirbt, wie du denkst, aber Luke ist zu geschickt darin, seine Gefühle zu verbergen, und du leider ebenfalls.“

„Vielleicht, aber einige Dinge versteckt man eben besser oder ignoriert sie, bis sie von selbst verschwinden.“

„Das werden wir noch sehen“, erwiderte Chloe hartnäckig. „Lady Virginia hat dieses Jahr schon drei Wunder vollbracht. Vielleicht gelingt ihr ja noch eins.“ Sie streckte die Hand aus, sodass er den Brief ergreifen oder auf den Boden fallen lassen musste.

„Vielleicht auch nicht“, sagte er und nahm den Brief widerwillig an. „Erwarte nicht zu viel.“

„Deine Großtante Virginia hat mich das genaue Gegenteil gelehrt, James“, meinte sie leise und ließ ihn dann allein, damit er den letzten Brief einer Frau lesen konnte, die er so sehr geliebt hatte, wie es ihm nur möglich war.

James rollte die Architektenpläne auf und schloss sein Notizbuch. Er war zu verstört, um mit seinem Lieblingshengst in die Hügel zu reiten und den Frieden zu suchen, den er so ersehnte, also verließ er das Haus durch die Verandatüren, die von Lord Laughraines Bibliothek in die Gärten und die weite Parklandschaft dahinter führten. Zum Henker, jetzt zitterte sogar seine Hand, als er nachprüfte, ob Virginias Brief sich in seiner Tasche befand. Er hielt inne und wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigte, tief die klare Herbstluft einatmend. So, jetzt war er fast wieder der Alte.

Die Geräusche der Natur, die sich langsam auf den Winter vorbereitete, schienen nur noch zu unterstreichen, dass er nicht nach Raigne hätte kommen dürfen, nur um diese hügelige, üppige Landschaft und seine arme alte Ruine von einem Haus in den Bergen in sein Herz zu schließen. Doch es hatte keinen Zweck, Vergangenes zu beklagen, und hier konnte niemand sehen, wie er um eine Frau trauerte, die ihm selbst neun Monate nach ihrem Tod noch zeigte, dass sie ihn geliebt hatte. Er hatte gespürt, dass sie dieser Welt müde gewesen war, lange bevor ihre letzte kurze Krankheit sie dahingerafft hatte. Doch sie zu verlieren hatte Risse in die Mauer geschlagen, die er vor einem halben Leben um sein Herz errichtet hatte, und seitdem schienen diese Risse immer größer geworden zu sein.

Eine ganze Jahreszeit war vergangen, seit er hier war, betroffen von Hebes Tod und auf der Suche nach … wer wusste schon, wonach? Im Sommer hatte Frederick Peters, Anwalt, sich in Sir Gideon Laughraine verwandelt, den Erben eines Titels und eines großartigen alten Herrenhauses samt Anwesen. Aber Gideon war in Wirklichkeit Virgil Winterleys Enkel, und James hatte Großonkel Virgil ebenfalls geliebt, also bedeutete das zwei weitere Menschen, die er nicht hassen konnte, selbst wenn er wollte. Gideons liebreizende, resolute Frau Calliope hatte ebenfalls die Wände um sein Herz zum Einstürzen gebracht. Es gefiel ihm nicht, wieder etwas für andere Menschen zu empfinden, andererseits konnte er auch nichts dagegen tun. Was nützte es also, sich das Gegenteil einreden zu wollen?

Am besten verließ er Raigne, bevor irgendeinem dieser Menschen etwas zustieß wie der armen Hebe. Sobald er Virginias Brief gelesen hatte, würde er gehen. Er besaß jetzt ebenfalls ein Gut, selbst wenn er sich zunächst damit oder mit dem Haus darauf nicht gerade brüsten konnte. Doch auf dem ungepflegten Brackley-Gut würde James Winterley, Wüstling, Abenteurer und jedem gegenüber gleichgültig, sicher sein vor seiner Familie und sie vor ihm. Entschlossen setzte er seinen Weg fort und erreichte den Baumgarten, für den Raigne bei Pflanzenkennern berühmt war. Es war James nicht wichtig, dass ihre Blätter hier ein Wunder und eigentlich in China oder Amerika zu Hause waren. Er liebte insgeheim das letzte Aufbäumen des Herbstes, das wundervolle Gold, Bernsteingelb und Feuerrot der Blätter, und hatte vorgehabt, eine bescheidenere Form dieser Pracht auf Brackley erstehen zu lassen. Jetzt beschloss er, ein gut bestückter Obstgarten würde besser sein.

Autor

Elizabeth Beacon
<p>Das ganze Leben lang war Elizabeth Beacon auf der Suche nach einer Tätigkeit, in der sie ihre Leidenschaft für Geschichte und Romane vereinbaren konnte. Letztendlich wurde sie fündig. Doch zunächst entwickelte sie eine verbotenen Liebe zu Georgette Heyer`s wundervollen Regency Liebesromanen, welche sie während der naturwissenschaftlichen Schulstunden heimlich las. Dies...
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