... und schon gehört mein Herz nur dir

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Eigentlich wollte Benedict Arden die kleine Ausreißerin Charlie bloß sicher heimbringen. Als er dort auf ihre hübsche, unverheiratete Mum trifft, steht für ihn allerdings fest: Er muss diese Frau wiedersehen! Und das Schicksal hält eine Überraschung für ihn bereit...


  • Erscheinungstag 05.10.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786656
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mit einer schwungvollen Bewegung nahm der Ober den Deckel von der Suppenschüssel. Da er im Grunde seines Herzens ein Romantiker war, lächelte er zufrieden, als die attraktive junge Frau einen überraschten Laut ausstieß.

Rachel war äußerst erstaunt. Nigel hatte ihr gegenüber zwar schon angedeutet, dass er ihr an diesem Abend einen Heiratsantrag machen würde, doch mit einer so extravaganten Geste hatte sie nicht gerechnet. Verblüfft betrachtete sie den Diamantring auf dem Samtkissen.

Nigel Latimer beugte sich neugierig vor. Zufrieden mit der Reaktion seiner Begleiterin, nickte er dem Ober mit einem verschwörerischen Lächeln zu.

„Er beißt nicht.“ Nigel griff über den Tisch und nahm ihre Hand. „Probier ihn an. Du meine Güte, Rachel, du zitterst ja!“ Ausgerechnet Rachel, die immer so beherrscht war. Er war erfreut und überrascht zugleich.

Rachel ließ den Blick von dem Ring zu ihrer Hand schweifen, an dem sie einen größeren Ring trug. „Das ist ein Schock für mich“, log sie mit bebender Stimme. Da sie ihn nicht kränken wollte, entzog sie ihm die Hand nicht.

Die ganzen letzten Wochen hatte sie darüber nachgedacht, wie sie sich am besten verhalten sollte, wenn der Moment gekommen war. Doch nun hatte sie keine Ahnung, was sie sagen sollte.

Sie blickte in Nigels attraktives Gesicht. Seine sympathischen Züge und das silbergraue Haar ließen ihn sehr distinguiert wirken, was bei seinen Patienten gut ankam. Er war jeder Zoll der erfolgreiche, kompetente Chirurg. Hätte sie da nicht aufgeregt statt bestürzt sein müssen? Manche Menschen wussten einfach nicht, wie gut sie es hatten – und dazu gehörte sie offenbar auch!

Natürlich rechnete Nigel damit, dass sie Ja sagte. Schließlich war er das, was sich viele Frauen erträumten: gut aussehend, nett und wohlhabend. Manchmal fragte sie sich, warum er mit über vierzig immer noch nicht verheiratet war, und es beunruhigte sie, wenn er sagte, sie sei die perfekte Frau und er habe sein ganzes Leben nur auf sie gewartet. Da er sehr hohe Erwartungen an sie stellte, schien es ihr fast, als würde sie eine Rolle für ihn spielen. Perfekte Frauen sagten immer das Richtige im richtigen Moment. Wie würde er wohl reagieren, wenn er ihre anderen, ganz und gar nicht perfekten Eigenschaften entdeckte?

Er musste sie wahnsinnig lieben, wenn er ihr trotzdem den Hof machte, obwohl Charlotte, ihre Tochter, ihn bis zum Äußersten provozierte. Liebte sie ihn? Spielte es überhaupt eine Rolle? War es nicht wichtiger, dass man sich gut verstand und zusammenpasste? Schließlich war sie jetzt dreißig und damit längst über das Alter hinaus, in dem man erwartete, dass pubertäre Träume in Erfüllung gingen.

All diese Gedanken gingen Rachel innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. Was ist bloß mit mir los? fragte sie sich. Nigels Miene verriet Besorgnis, als der Ober wieder erschien und verkündete, Miss French werde dringend am Telefon verlangt.

Es war nicht nur der verzweifelte Wunsch nach einer Atempause, der Rachel veranlasste aufzuspringen. Nur der Babysitter wusste, wo sie war, und sie fragte sich alarmiert, was Charlie nun wieder angestellt hatte.

Als sie kurz darauf zurückkehrte, erhob Nigel sich hastig.

„Was ist los, Schatz?“

Sie unterdrückte einen Schluchzer. „Charlie ist verschwunden.“

„Da bist du ja!“ Benedict Arden zuckte zusammen, als sich plötzlich zwei kleine Arme um ihn legten. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht allein bin.“

Die letzte Bemerkung war nicht an ihn gerichtet, sondern an ein Paar mittleren Alters, das einen wohlhabenden Eindruck machte und ihn missbilligend betrachtete.

Da sein Erscheinungsbild während der vergangenen vierunddreißig Jahre fast immer so gewesen war, dass Leute wie diese ihn von oben herab betrachteten, lächelte Benedict ironisch bei der Erinnerung daran, wie wichtig der erste Eindruck war. Aber wer, zum Teufel, war dieses Kind?

„Ist das dein Vater?“, erkundigte sich die Frau mitleidig und skeptisch zugleich.

„Du meine Güte, nein!“ Benedict wich einen Schritt zurück und stellte erleichtert fest, dass seine Brieftasche sich noch immer in der Innentasche seiner Fliegerjacke befand. Er hatte die Jacke von seinem Großvater geerbt, dem er sehr ähnlich sah, den er jedoch nicht mehr kennengelernt hatte.

Die Jacke, sein etwas zu langes Haar und sein Dreitagebart verliehen ihm ein beinah finsteres Aussehen, und er wirkte nicht gerade wie ein Typ, der ein Kind umarmte. Allerdings wurde er ja auch umarmt.

Die dünnen Arme ließen ihn los, und blaue Augen blickten vorwurfsvoll zu ihm auf. Erst jetzt merkte Benedict, dass es sich nicht um einen Jungen, sondern um ein Mädchen handelte, denn es trug ein T-Shirt und Jeans.

„Das ist mein Bruder“, erklärte die Kleine. „Mein Stiefbruder. Mein Vater hat seine Mutter geheiratet“, fügte sie hinzu, und eine steile Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen. „Sein Vater ist jetzt tot.“

Benedict blinzelte, als sein Vater so herzlos beseitigt wurde. Dieses Kind war wirklich unglaublich!

„Wahrscheinlich war es der Alkohol.“ Seinem Vater zufolge trieb er ihn nämlich dahin – natürlich nur, wenn es sich um einen guten Jahrgang handelte, denn für Sir Stuart Arden war das Beste gerade gut genug.

Benedict bedauerte seine leichtfertigen Worte sofort, als die blauen Augen anerkennend funkelten. Beinah hätte er laut aufgestöhnt, denn er wollte dieses verrückte Mädchen auf keinen Fall noch ermutigen. Wie ein Narr hatte er die Gelegenheit, jegliche Verbindung zu ihr zu leugnen, ungenutzt verstreichen lassen. Doch das würde er bald nachholen. Er hatte Pläne. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass Sabrina sich nach ihm verzehrt hatte, obwohl sie es behauptete, und auf dem Anwesen, das seine Großmutter ihm im australischen Outback hinterlassen hatte, hatte er keine weibliche Gesellschaft gehabt.

„Halten Sie es für verantwortungsbewusst, ein Kind zu dieser Zeit allein in der Stadt herumlaufen zu lassen?“ Die Frau verzog verächtlich den Mund, als sie ihn von Kopf bis Fuß musterte. Der Mann wirkte nicht weniger angewidert, blieb jedoch auf Abstand.

„Nein, das tue ich nicht“, erwiderte Benedict, da er nachvollziehen konnte, warum sie so wütend war.

„J…ja … na ja …“, sagte sie stockend, durch seinen grimmigen Blick und seine Zustimmung offenbar völlig aus dem Konzept gebracht.

„Sie wollten mich mitnehmen, Steven.“ Das Mädchen hatte eine sehr deutliche und durchdringende Stimme, und der Mann war peinlich berührt, als einige Passanten ihn daraufhin anblickten. „Mum sagt, ich soll nicht mit Fremden reden!“

„Wir wollten sie nur zur Polizei bringen.“

„Tun Sie das.“ Allmählich brachte er, Benedict, diesen beiden barmherzigen Samaritern Sympathie entgegen. Er wünschte sich nichts mehr, als die Verantwortung für dieses Kind jemandem zu übertragen, der sich besser dafür eignete. Als er einen Schritt auf den Mann zumachte, wich dieser schnell zurück.

„Ende gut, alles gut“, sagte er und umfasste den Arm seiner Frau. „Gute Nacht.“ Die Frau warf Benedict mehrere misstrauische Blicke über die Schulter zu, als sie sich von ihrem Mann fortführen ließ. Bestürzt sah Benedict ihnen nach.

„Ich dachte schon, die würden nie verschwinden.“ Das Mädchen ließ seine Hand unvermittelt los. „Sie sind genau richtig gekommen.“

Er seufzte. „Sie wollten dir nur helfen. Das ist sehr löblich.“

„Ich brauche keine Hilfe.“

„Zur Polizei zu gehen ist keine schlechte Idee.“ So clever dieses Mädchen auch wirkte, er konnte es nicht allein in einer Gegend lassen, in der es von finsteren Gestalten nur so wimmelte. Ihre nächsten Worte verdeutlichten, dass sie ihn zu diesen finsteren Gestalten zählte.

Denen hätte die Polizei geglaubt.“ Sie deutete in die Richtung, in der das Paar verschwunden war. „Ihnen würde sie nicht glauben. Ich hab Sie ausgesucht, weil Sie so verwahrlost aussehen. Ich würde sagen, dass Sie versucht haben, mich zu kidnappen, und laut schreien. Sie würden mir glauben. Der Mann dachte, Sie würden ihn schlagen“, fügte sie triumphierend hinzu.

Ein Blick auf sein Spiegelbild im nächsten Schaufenster bewies Benedict, dass sie recht hatte.

Seine Mutter war bei seinem Anblick entsetzt zusammengezuckt, sein Vater war nicht so zurückhaltend gewesen. „Du meine Güte, er ist unter die Eingeborenen gegangen!“, war noch eine seiner gemäßigten Bemerkungen gewesen. Seine Schwester, die noch ein Teenager war, hatte überraschender reagiert.

„Die Frauen werden über dich herfallen, weil sie sehen wollen, ob sich hinter deinem gefährlichen Äußeren eine empfindsame Seele verbirgt“, hatte sie gesagt und damit genau ins Schwarze getroffen.

Seit er wieder zu Hause war, hatte er festgestellt, dass die Frauen sich ihm gegenüber etwas anders verhielten. Frauen waren wirklich seltsame Wesen. Dabei fiel ihm ein dringlicheres Problem ein …

„Wenn du nicht zur Polizei gehen willst …“ Vielleicht ist dieses Mädchen dort schon bekannt, überlegte er und wurde wütend bei der Vorstellung, dass die Zukunft eines Kindes so vorhersehbar war. „Wie wär’s, wenn du nach Hause gehen würdest?“

Sie schien über seine Worte nachzudenken. „Der Taxifahrer hat gesagt, dass mein Geld nicht reicht. Ich geh den restlichen Weg zu Fuß. Ich wollte zurück sein, bevor … Ich komm schon klar.“ Sie biss sich auf die Lippe.

Dass ihre Stimme dabei bebte, legte die Vermutung nahe, dass sie nicht halb so gleichgültig war, wie sie tat. Wahrscheinlich ängstigte sie sich zu Tode.

„Ich bezahle dir das Taxi.“

„Sie?“ Spöttisch verzog sie die Lippen.

„Glaubst du, ich kann es mir nicht leisten?“

„Ich steig nicht mit einem Fremden in einen Wagen.“

„Das höre ich gern. Ich fahre nicht in deine Richtung.“

„Warum wollen Sie mir helfen?“

Gute Frage, Ben. Dieses Kind besaß die beunruhigende Gabe, immer auf den Punkt zu kommen. „So jung und schon so zynisch“, sagte Benedict. Dann fiel ihm ein, dass er ja mit einem Kind sprach. „‚Zynisch‘ bedeutet …“

„Ich weiß, was es bedeutet. Schließlich bin ich nicht blöd.“

Eins zu null für dich, dachte er und musste ein Lächeln unterdrücken. „Und ich bin dein Schutzengel. Also nimm mein Angebot an, oder lass es“, erklärte er betont gleichgültig.

„Ich glaub, Sie sind verrückt, aber ich hab ’ne Blase.“ Sie blickte auf ihre Füße. „Neue Turnschuhe.“

„Folgen Sie dem Taxi.“

Der Fahrer kam seinem Wunsch gern nach, nachdem Benedict im Voraus bezahlt hatte. Er hätte gern noch mehr bezahlt, nur um den Eltern dieser Göre seine Meinung sagen zu können.

Das Gebäude, vor dem das Taxi schließlich hielt, lag allerdings in einer anderen Gegend, als er erwartet hatte. Vornehme alte Villen säumten die Straße und zeugten von Reichtum. Als er ausstieg, beobachtete er, wie das Mädchen auf eines der Häuser zuging.

Sie bemerkte ihn erst, als sie den Schlüssel in die Tür zur Wohnung im Erdgeschoss steckte. „Was machen Sie hier?“

„Ich würde mich gern mal mit deinem Vater unterhalten.“ Am liebsten hätte er diesen Narren erwürgt!

„Ich habe keinen Vater.“

„Dann mit deiner Mutter.“

„Sie ist nicht da und kommt erst spät zurück.“ Das Mädchen öffnete die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte hinein. „Ihr Freund will ihr heute Abend einen Heiratsantrag machen.“ Dann fiel die Tür zu.

Als das Bild einer herzlosen, egoistischen Frau, die ihr Kind über ihrem eigenen Vergnügen vernachlässigte, vor seinem geistigen Auge auftauchte, wurde Benedict wütend. Die letzten Worte des Mädchens waren von Tränen begleitet gewesen. Entschlossen drückte er auf die Klingel.

„Ist es wirklich nötig, die Polizei zu alarmieren, Rachel?“, fragte Nigel, nachdem der Babysitter wieder zu schreien begonnen hatte.

Rachel French fuhr zu ihm herum, und ihre grauen Augen funkelten vor Zorn. „Es ist halb zwölf, Nigel, und meine zehnjährige Tochter ist nicht zu Hause. Sie könnte sonst wo sein!“

Wenn sie an das Gespräch dachte, das sie heute mit ihrer Tochter geführt hatte, ahnte sie, wo diese womöglich steckte. Allerdings verstärkte es ihre Panik nur noch. Rachel blickte zum Babysitter, der wie ein Häufchen Elend auf dem Sofa saß. Sie musste sich beherrschen. Ihre Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in ihre Handflächen, doch ihre Miene war gefasst.

„Es … es war nicht meine Schuld!“

„Das habe ich auch nicht behauptet. Charlie ist sehr … einfallsreich. Hast du etwas gesagt, Nigel?“, erkundigte Rachel sich eisig, als Nigel einen geringschätzigen Laut ausstieß.

„So könnte man es auch nennen …“ Aus Frust darüber, dass alles an diesem Abend schiefgelaufen war, vergaß er seine sonstige Zurückhaltung.

„Zu einem anderen Zeitpunkt würde ich deine Meinung gern hören …“

„Rachel, Schatz, ich bin …“

„Im Weg“, beendete sie den Satz und schüttelte seinen Arm ab. „Susan, wann haben Sie Charlie das letzte Mal gesehen? Ich weiß, dass Sie völlig durcheinander sind, aber es ist sehr wichtig.“ Es kostete sie all ihre Willenskraft, Susan die Information nicht gewaltsam zu entlocken. „Wir müssen wissen, wann sie abgehauen ist.“

„Ich … ich weiß nicht genau“, brachte Susan hervor und schniefte. „Ich habe gelernt … nächste Woche habe ich Prüfungen.“

Rachel schluckte die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter.

„Sie werden nicht fürs Lernen bezahlt, sondern fürs Babysitten“, bemerkte Nigel, woraufhin Susan nur noch heftiger zu schluchzen begann.

„Nigel, hältst du wohl den Mund?“, sagte Rachel scharf. In diesem Moment klingelte es an der Tür, und sie schöpfte wieder Hoffnung. „Charlie!“

„Gehen Sie endlich weg?“ Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. „Susan soll nicht wissen, dass ich …“

„Charlie!“

„Mum!“ Das Mädchen ließ die Tür los, und Benedict ergriff die Gelegenheit, um sie zu öffnen. Am anderen Ende des Flurs stand eine Frau, die ein enges, bodenlanges lavendelfarbenes Abendkleid trug und ein Handy in der Hand hatte, die sie nun sinken ließ. Neben ihr stand ein großer, distinguiert wirkender Mann mit silbergrauem Haar.

„Ich bringe dich um, du kleiner Schlingel“, sagte sie liebevoll, und der sinnliche Klang ihrer heiseren Stimme jagte Benedict einen Schauer über den Rücken. Dann sank sie auf die Knie, und das Mädchen warf sich ihr in die Arme.

„Ist alles in Ordnung? Wie konntest du nur?“ Rachel wusste nicht, ob sie mit ihrer Tochter schimpfen oder sie küssen sollte. „Sch, ist ja gut“, fügte sie hinzu, als Charlotte von Schluchzern geschüttelt wurde.

Erst jetzt bemerkte sie den Mann, der hinter ihrer Tochter stand. Flüchtig blickte sie in sein ausdrucksloses Gesicht. Mit seinem olivfarbenen Teint und dem schimmernden schwarzen Haar sah er wie ein Südländer aus.

„Wer ist das, Charlie?“

„Das ist … Steven. Er hat mich nach Hause gebracht. Ich wollte vor dir hier sein, Mum. Woher wusstest du …?“

„Susan hat uns natürlich angerufen.“

„Normalerweise kommt Susan nicht mehr in mein Zimmer, wenn John da ist.“

„John?“ Rachel drehte sich zu Susan um, die ein wenig abseitsstand und sichtlich nervös war.

„Mein Freund. Er kommt manchmal und leistet mir Gesellschaft. Heute Abend musste er früher weg.“ Sie errötete und wandte den Blick ab.

„Da haben wir ja Glück gehabt.“ Rachel strich sich eine braune Strähne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte, zurück, und das wütende Funkeln in ihren Augen verschwand. Liebevoll strich sie ihrer Tochter über das seidige, kinnlange blonde Haar. Sie war so erleichtert. Es hätte wer weiß was passieren können.

Sie ließ den Blick wieder zu dem Mann an der Tür schweifen und bekam vor Dankbarkeit feuchte Augen.

Benedict hoffte, dass er nicht tatsächlich aufgestöhnt hatte. Was für unglaubliche Augen! Helle, fast durchsichtige Haut und mandelförmige Augen, die von der Tatsache ablenkten, dass ihre Züge nicht ganz symmetrisch waren.

„Es tut mir leid, Miss French, aber John und ich sehen uns so selten, weil wir beide jobben und …“

„Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr Freund kommt, Susan“, unterbrach Rachel sie resigniert. „Ich möchte nur nicht, dass Sie Charlie vernachlässigen. Vielleicht sollten Sie jetzt nach Hause gehen.“

„Ja … sicher. Ich hole nur meine Sachen.“

Rachel wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Tochter zu. „Und, junge Dame, hat es sich nun gelohnt?“ Schimpfen würde sie später mit ihr.

„Du weißt, wo ich war?“

„Dazu muss man kein Genie sein, Liebes.“ Ihre Lieblings-Boygroup war anlässlich einer Preisverleihung in einem Londoner Theater gewesen, und Charlie hatte unbedingt einen Blick auf sie erhaschen wollen. Tagelang hatten sie darüber diskutiert, und schließlich hatte Charlie verdächtig schnell kapituliert.

„Es war so voll, dass ich nichts sehen konnte“, gestand sie. „Der Taxifahrer hat mich übers Ohr gehauen, und dann waren da noch diese neugierigen Leute …“

„Das war ja ein richtiges Abenteuer.“ Rachel musste an sich halten, denn sie mochte sich nicht vorstellen, was alles hätte passieren können.

„Ist das alles, was du dazu sagen willst?“, fragte Nigel ungläubig.

Mutter und Tochter blickten ihn stirnrunzelnd an. Obwohl sie sich nicht ähnlich sahen, wurde in Momenten wie diesen deutlich, wie eng das Verhältnis zwischen ihnen war. Rachel stand auf, die Arme auf Charlottes Schultern gelegt.

„Jetzt ja“, erwiderte sie leise.

„Charlie muss bestraft werden. Sie muss wissen, dass sie sich nicht richtig verhalten hat.“

„Das geht dich nichts an!“, rief Charlie und befreite sich aus Rachels Griff.

Rachel seufzte. „Sprich bitte nicht so mit Nigel. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht.“

„Hat er nicht! Er mag mich ja nicht einmal.“

Rachel zuckte zusammen, als ihre Tochter die Wohnzimmertür hinter sich zuknallte. „Entschuldige, Nigel.“

Obwohl sie wusste, dass Nigel es nur gut meinte, hatte sie Verständnis für Charlottes Verhalten. Charlotte und sie waren so lange allein gewesen, dass sie seine Bemühungen, die Verantwortung mit ihr zu teilen, ablehnte. Will ich die Verantwortung überhaupt teilen? fragte Rachel sich resigniert.

„Ach ja?“ Seufzend strich er sich durchs Haar. „Es tut mir leid, Rachel“, sagte er steif. „Ich wollte nur, dass es ein unvergesslicher Abend wird …“

„Na ja, wir werden ihn bestimmt nicht vergessen.“ Angesichts seiner ernsten Miene verschwand ihr Lächeln schnell wieder. „Vielleicht sollten wir ihn einfach abhaken.“

„Willst du mir damit sagen, dass du mich nicht heiraten willst?“, erkundigte er sich ungläubig.

„Natürlich nicht.“ Oder doch? Schuldbewusst betrachtete sie ihn.

Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu, um ihn zu küssen. Sie hatte ihre hochhackigen Pumps vorher abgestreift, und nun blieb der Saum ihres langen Kleids an einem losen Nagel in der Fußleiste hängen.

„Verdammt!“, fluchte sie leise, als der Stoff riss. „Oh, danke.“ Überraschend geschickt hatte der Fremde den Saum vom Nagel gelöst, und ihr fiel auf, dass seine Hände feingliedrig und sehr gepflegt waren. Als er sich aufrichtete und sie ansah, wurde ihr Lächeln ein wenig unsicher.

Sie musste ihren Eindruck, dass er schlicht, aber nett war, revidieren, denn sein Blick war alles andere als schlicht oder nett gewesen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie war alarmiert. Noch nie zuvor war sie mit so viel Männlichkeit konfrontiert worden.

In ihre Dankbarkeit mischte sich Misstrauen. Seine dunklen Augen hatten Intelligenz und an Arroganz grenzendes Selbstbewusstsein verraten. Jemand, der sich von der Hand in den Mund ernährte, war nicht so selbstsicher.

Außerdem sah der Fremde alles andere als unterernährt aus. Ihr wurde heiß, als sie seinen schlanken, muskulösen Körper betrachtete. Egal was er trug, er würde sich immer von der breiten Masse abheben. Nein, die Menge würde sich vor ihm teilen, denn er wirkte nicht so, als wäre er je herumgeschubst worden.

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll“, sagte Rachel und stellte fest, dass es ziemlich überheblich klang. Du meine Güte, dachte sie, dieser Mann hat Charlie vor wer weiß was bewahrt, und du legst ihm zur Last, dass er eine starke Ausstrahlung hat.

Wie sie ihm danken konnte? Obwohl es eigentlich unter seiner Würde war, konnte Benedict nicht umhin, die offensichtliche, abgedroschene Antwort zumindest im Geiste zu formulieren. Er hatte Lust auf den ersten Blick zwar schon erlebt, war aber noch nie so überwältigt gewesen wie bei dieser Frau. Rachel … Er mochte den Namen, er mochte …

„Für Ihre Mühe …“

Benedict betrachtete die Banknoten, die ihr Freund ihm entgegenhielt, und ließ den Blick dann langsam höher schweifen. Was sie wohl an diesem Kerl fand, abgesehen davon, dass er offensichtlich wohlhabend war?

„Ich will Ihr Geld nicht“, erwiderte er verächtlich.

Rachel versetzte Nigel einen Knuff und funkelte ihn an. „Bitte seien Sie nicht gekränkt“, sagte sie. „Nigel wollte nur …“

„Den Loser ausbezahlen, weil er nicht in diese Umgebung passt?“

„Hören Sie mal …“ Es überraschte sie nicht, dass Nigel nicht so selbstbewusst wie sonst klang. Sicher war er es nicht gewohnt, so behandelt zu werden.

„Nigel!“, fiel sie ihm verzweifelt ins Wort. Merkte er denn nicht, dass er den Stolz des Fremden verletzte? „Vielleicht sollten wir uns jetzt Gute Nacht sagen. Charlie …“

„Du willst also, dass ich gehe? Von mir aus …“

„Sei nicht albern, Nigel.“

„Du nimmst ja sehr viel Rücksicht auf seine Gefühle“, erklärte Nigel zu ihrer grenzenlosen Verwunderung. „Und was ist mit mir? Deine sachliche, ausgeglichene Art ist eine der Eigenschaften, die ich an dir schätze, Rachel, aber manchmal wäre es schön, eine Reaktion zu bekommen, die nicht … Vergiss es!“ Er presste die Lippen zusammen und warf einen letzten Blick auf den Fremden.

„Ich rufe dich morgen an, Rachel. Vergiss nicht, dass wir am Dienstag mit den Wilsons zu Abend essen. Und zieh etwas weniger Offenherziges an.“ Er musterte ihren tiefen Ausschnitt. „Du weißt ja, wie konservativ Margaret ist.“ Dann verließ er die Wohnung.

Normalerweise ignorierte sie seine Bemerkungen über ihre Sachen, weil sie eher scherzhaft waren, doch diesmal konnte sie es nicht.

Rachel runzelte die Stirn und blickte an sich hinunter. Da das Kleid Spaghettiträger hatte, konnte sie keinen BH darunter tragen. Allerdings gab es auch nicht viel zu sehen, da ihre Brüste nicht besonders groß waren.

„Oh verdammt!“, fluchte sie, nachdem sie an ihrem Ausschnitt gezupft hatte. Sie war es leid, es allen recht machen zu müssen und ständig Schuldgefühle zu verspüren.

Die Falte zwischen ihren Augenbrauen wurde noch steiler, und Rachel warf den Kopf zurück, sodass ihr schlanker Hals zur Geltung kam. Sekundenlang fragte sich Benedict, wie sie wohl reagieren würde, wenn er die Stelle küsste, an der ihr Puls schlug. Zeter und Mordio schreien, du Narr, rief er sich dann zur Ordnung.

„War das meine Schuld?“

Rachel blinzelte, und er merkte, dass sie ihn ganz vergessen hatte. Sie errötete verlegen und blickte nervös an sich hinunter, um sich zu vergewissern, dass ihr Kleid richtig saß.

„Nein, natürlich nicht. Ich bin Ihnen wirklich dankbar und würde mich gern erkenntlich zeigen, ohne …“

„Meine Gefühle zu verletzen?“

Rachel lächelte bedauernd. „Wie kann ich …?“

„Ich habe noch nichts gegessen. Wie wär’s mit … einem Sandwich?“ Er unterstrich seine Worte mit dem Lächeln, mit dem er schon im Alter von fünf Jahren sämtliche Frauenherzen erweicht hatte.

Ihr gesundes Misstrauen meldete sich zu Wort, doch schließlich nickte sie kaum merklich. „Kommen Sie.“

Er hatte sich bereits als vertrauenswürdig erwiesen, indem er Charlie nach Hause gebracht hatte. Sicher, er sah gefährlich aus, aber sie hatte Charlie oft genug geraten, die Menschen nicht nach ihrem Äußeren zu beurteilen … Trotzdem war ihr ein wenig unbehaglich zumute.

Als sie das Wohnzimmer betraten und Rachel sah, wie müde ihre Tochter aussah, krampfte ihr Herz sich zusammen.

„Ist er weg …?“ Sie verstummte, als sie den Mann bemerkte. „Was machen Sie denn hier?“ Es klang vielmehr neugierig als kritisch.

„Mr … Steve hat Hunger.“

„Ich auch.“

„Du gehst dich jetzt waschen, und dann ab mit dir ins Bett.“ Zu Bens Überraschung zuckte Charlie die Schultern, lächelte und gehorchte. „Setzen Sie sich“, fügte Rachel an ihn gewandt hinzu.

Er nahm Platz und blickte sich neugierig um. „Nett haben Sie es hier.“ Wenn es stimmte, dass ein Raum die Persönlichkeit seines Bewohners widerspiegelte, war Miss Rachel French bescheiden und liebenswert. Jedenfalls war es hier wesentlich gemütlicher als bei ihm, wo der Innenarchitekt sich gründlich ausgetobt und alles im Siebziger-Jahre-Look gestaltet hatte. Benedict streckte die langen Beine aus und seufzte zufrieden. Es war jetzt ohnehin zu spät, um noch zu Sabrina zu fahren.

„Haben Sie … haben Sie eine Wohnung?“ Verlegen wandte Rachel den Blick von seinen zerrissenen Jeans ab.

„Ja, das habe ich.“ Sie wirkte erleichtert, und er fühlte sich ziemlich mies. „Allerdings ist sie nicht so hübsch wie Ihre.“

„Ich wollte nicht neugierig sein. Es gibt nur so viele Obdachlose …“

„Sind Sie ein Weltverbesserer, Rachel?“

Dass er ihren Namen so lässig aussprach, fiel ihr sofort auf. Er hatte eine schöne Stimme – schön und verführerisch.

„Aus Ihrem Mund klingt das wie eine Beleidigung. Manchen Menschen ist das Schicksal anderer eben nicht egal“, erklärte sie ernst. „Ich weiß, dass ich Glück gehabt habe, und ich weiß auch, dass Mitleid nicht gerade konstruktiv ist.“

„Aber etwas ganz Natürliches.“

„Es ist ein bisschen zu spät, um über soziale Unterschiede zu sprechen. Ich mache Ihnen ein Sandwich.“ Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, dem Blick seiner braunen Augen zu entfliehen.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Rachel war alarmiert, als der Fremde ihr in die Küche folgte, die ihr nun noch kleiner erschien. Erleichtert stellte sie fest, dass er im Gegensatz zu Nigel nicht so verschwenderisch mit Aftershave umging. Er riecht so männlich, dachte sie und atmete tief seinen Duft ein. Dann verspannte sie sich. Was mache ich bloß? überlegte sie verwirrt.

„Nein, danke. Ist Käse okay? Ich habe nicht viel im Haus, weil morgen mein Einkaufstag ist.“ Als hätte es ihn interessiert!

Sicher wusste er, welche Wirkung er auf Frauen ausübte, und womöglich nutzte er es auch aus. Er kannte sich mit der weiblichen Psyche – und vermutlich auch mit der weiblichen Anatomie – gut aus. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie er sie berührte, und erschauerte.

„Käse ist okay. Charlie hat mir erzählt, dass Sie heiraten wollen.“ Benedict lehnte sich zurück, die Ellbogen auf den Tresen gestützt.

Rachel bückte sich, um das Messer aufzuheben, das sie hatte fallen lassen. Entsetzt fragte sie sich, wie viel Charlotte ihm erzählt haben mochte. Schnell steckte sie sich ein Stück Käse in den Mund.

„Kinder bekommen ziemlich viel mit“, fuhr er fort, als würde er sich mit solchen Dingen auskennen. Tatsächlich hatte er keine Ahnung von Kindern. Seine Nichte war erst siebzehn Monate alt, und er hatte sie erst zwei Mal gesehen. „Und vorhin habe ich gehört …“

„Charlie bekommt sehr viel mit.“ Sie ließ das Messer in die Spüle fallen und nahm ein sauberes aus der Schublade. „Sie ist sehr klug und hat einen IQ, der bei mir manchmal Komplexe hervorruft. Ab und zu vergesse ich, dass sie noch so jung ist.“ Sie hatte sich schon gefragt, ob es richtig gewesen war, nach London zu ziehen, wo Charlie auf eine Schule für Hochbegabte ging. Sie schien sich nämlich überhaupt nicht einzuleben.

„Und? Wollen Sie heiraten?“

„Ich weiß nicht.“ Warum habe ich ihm das gesagt? fragte sich Rachel.

„Es muss schwer sein, ein Kind allein großzuziehen“, meinte er nachdenklich. „Sicher wäre es eine Erleichterung, jemand zu finden, mit dem man die Verantwortung gemeinsam tragen kann, besonders wenn er im Geld schwimmt …“

Autor

Kim Lawrence
<p>Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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