Abbys großes Geheimnis

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Dramatischer Rettungseinsatz in Penhally Bay: Abbys Herz schlägt höher, als sie dem faszinierenden Notarzt Mac assistiert. Doch Vorsicht! Mac hat nicht nur den Ruf, ein notorischer Playboy zu sein. Zwischen ihnen steht auch ein großes Geheimnis …


  • Erscheinungstag 08.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733718145
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Abby ließ sich aufs Sofa sinken, während sie wie gebannt auf den Bildschirm starrte.

Die aktuellen Nachrichten zeigten einen Mann, der sich aus einem Hubschrauber der Royal Navy abseilte. Als die Gestalt im Sturmwind hin und her schwankte, hielt Abby den Atem an. Sie hatte den Fernseher eingeschaltet, um den Wetterbericht zu sehen, aber jetzt konnte sie den Blick nicht losreißen von den dramatischen Ereignissen, die sich vor ihren Augen abspielten.

Unter dem Helikopter trieb eine Jacht mit gefährlicher Schlagseite im Wasser.

„Die vierköpfige Familie befand sich auf einem Segeltörn, als sie vor der Küste von Cornwall in Seenot geriet“, berichtete die Reporterin. „Schwerer Seegang hat das Boot an die Felsen gedrückt, es läuft voll Wasser und droht zu sinken. Wir haben erfahren, dass der Steuermann nach einem heftigen Schlag gegen den Kopf bewusstlos ist. Seine Frau hat über Funk Hilfe gerufen. Sie und ihre Kinder sind noch an Bord.“

Ruhig, doch mit mühsam unterdrückter Anspannung fuhr sie fort: „Der Hubschrauberbesatzung bleibt nur wenig Zeit, um alle vier zu retten, bevor das Boot in den Fluten verschwindet. Auch ein Arzt des Royal Cornwall Air Ambulance Service ist an der Aktion beteiligt.“

Jetzt hatte der Mann am Seil das krängende Boot erreicht, hakte sich ab und schlitterte über das Deck. Minuten später wurde er an Bord des Hubschraubers gehievt, in jedem Arm eine kleine Gestalt, die sich fest an ihn klammerte.

Kurz darauf war er wieder unten, um eine dritte Person aus der lebensbedrohlichen Lage zu befreien. Abby beugte sich vor. Der verletzte Steuermann war immer noch an Bord. Konnte er gerettet werden, bevor das Schiff sank?

Das Meer schien zu kochen, dort wo die Rotorblätter das Wasser aufwirbelten. Ganz in der Nähe kämpfte sich ein Rettungsboot der Küstenwache durch die hohen Wellen, jedoch ohne Chance, an das havarierte Boot heranzukommen.

„Der Arzt wird auf die Jacht hinabgelassen“, verkündete die Reporterin.

Das Seil schwang wild hin und her, während der Pilot versuchte, seine Maschine in Position zu halten. Eine Welle hob das Boot an, doch dann tauchte es wieder ab. Die Gestalt am Seil pendelte nach rechts, dann nach links, während das Deck unter ihr wegsackte. Abby wusste, dass auch die Retter ihr Leben riskierten.

Jetzt hatte er es geschafft. Der Arzt stand an Deck, befreite sich rasch aus dem Geschirr, und das Seil wurde wieder hochgezogen. In der leuchtenden Jacke mit dem Namenszug der Luftrettung gut zu erkennen, tastete er sich an Deck vorwärts, verlor fast das Gleichgewicht auf dem heftig schwankenden Boot. Keine Minute später landete ein zweiter Mann mit einer Trage. Den ersten hatte Abby inzwischen aus den Augen verloren. War er über Bord gegangen?

Emma kam ins Zimmer. Als sie sah, wie Abby auf den Bildschirm starrte, nahm sie die Ohrstöpsel ihres MP3-Players heraus und setzte sich neben sie. „Musst du in deinem neuen Job auch so etwas machen?“, fragte sie.

„Bestimmt.“ Allerdings hoffte Abby inständig, dass sie nicht gerade an solchen spektakulären Aktionen teilnehmen musste. Es war etwas völlig anderes, sich bei ruhigem Wetter von einem Hubschrauber abzuseilen als dies hier.

Emma warf ihr einen bewundernden Blick zu. „Cool.“

Zum Glück schien ihre Tochter sich der Gefahr für die Männer nicht in vollem Umfang bewusst zu sein. Abby wollte nicht, dass Emma sich Sorgen um sie machte.

Was ihr wie Stunden vorkam, waren in Wirklichkeit nur wenige Minuten, dann wurde die Trage mit dem Verletzten mit der Winsch verbunden. Noch war die Situation jedoch kritisch. Die Jacht sank immer tiefer.

Schließlich hatte die Hubschrauberbesatzung Retter und Trage geborgen, und sobald sie sicher an Bord waren, drehte die Maschine ab. Sekunden später wurde das Boot von den aufgepeitschten Wellen verschluckt. Nur wenig früher, und es hätte die drei Männer mit sich gerissen.

„Mutter und Kinder stehen unter Schock und leiden an Unterkühlung“, vermeldete die Reporterin. „Sie werden im Krankenhaus behandelt. Über den Zustand des Familienvaters lässt sich nichts Genaues sagen, nur so viel, dass er stabil ist. Aber wir konnten zwei der Akteure, die an der dramatischen Rettungsaktion beteiligt waren, vor die Kamera holen.“

Für Emma war das Drama vorbei, sie stöpselte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und verließ das Zimmer. Abby wollte gerade umschalten, da schwenkte die Kamera auf zwei Männer. Der eine war um die fünfzig, gekleidet in einen Overall der Royal Navy, und der andere trug die signalfarbene Jacke eines Notarztes. Beide lächelten breit, so als hätten sie gerade etwas Erheiterndes erlebt, nicht gefährlicher als eine Routineübung.

Doch als die Kamera näher heranzoomte, machte Abbys Herz unwillkürlich einen Satz. Die Adlernase, das verwegene Lächeln des Jüngeren kamen ihr bekannt vor, trotz des Bartschattens, der Kinn und Wangen bedeckte. Bevor sie jedoch genauer hinsehen konnte, richtete sich die Kamera auf seinen Kollegen.

„Hier ist Sergeant Lightbody, der sich auf das havarierte Boot abgeseilt hatte“, erklärte die Reporterin. „Sergeant, können Sie unseren Zuschauern zu Hause vor den Bildschirmen beschreiben, wie Sie diese Rettungsaktion erlebt haben? Nach allem, was ich gesehen habe, konnten Sie die kleine Familie in letzter Sekunde vom Boot holen.“

Sergeant Lightbody schien nicht zu den Männern zu gehören, die gern im Rampenlicht standen. „Nun, es war ein bisschen windig dort draußen. Einer der schwierigsten Einsätze seit Langem.“

„Ein bisschen windig? Sie untertreiben sicher, Sergeant. Ohne Ihren beherzten Einsatz hätte der Ausflug für die vier Segler in einer Katastrophe enden können. Dass sie noch am Leben sind, verdanken sie ausschließlich dem Mut und der Erfahrung Ihres Teams.“

„Das ist unser Job“, brummte er, sichtlich unbehaglich bei so viel Aufmerksamkeit. „Außerdem ist es Dr. MacNeils Verdienst, dass wir den verletzten Skipper ohne weiteren Schaden bergen konnten.“

Die Kamera schwenkte zurück zu dem jüngeren Mann, und diesmal erkannte Abby ihn. Dazu brauchte sie ihn nicht einmal mit dem Foto zu vergleichen, das sie all die Jahre aufbewahrt hatte. Dr. MacNeil war Mac … der Geliebte ihrer toten Schwester und Emmas Vater!

Mit schwachen Beinen stand sie auf, nahm die Fernbedienung und drückte auf die Pause-Taste, um das Bild einzufrieren. Ja, er ist es wirklich, dachte sie aufgeregt, während sie das leicht verschwommene Gesicht betrachtete. Natürlich war er älter geworden, wie die feinen Linien am Mund und an den eisblauen Augen verrieten. Auch war er breiter, muskulöser, und sein Haar mit den sonnengebleichten Spitzen war viel kürzer. Doch das breite Lächeln und die übermütig blitzenden Augen hätte sie überall wiedererkannt.

Sie drückte auf die Taste, und die Sendung ging weiter.

„Dr. MacNeil, schildern Sie uns doch bitte Ihre Sicht der Ereignisse. Sie sind Notfallmediziner und arbeiten für die Royal Cornwall Air Ambulance. War das heute ein ganz normaler Arbeitstag für Sie?“

Abby hörte kaum hin. Sie hatte Mac gefunden! Und nicht nur das, sie würde auch mit ihm zusammenarbeiten! Mit zitternden Knien ließ sie sich wieder aufs Sofa sinken. Gut, dass Emma nicht mehr im Zimmer war, sie hätte bestimmt sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Abby wollte sich aber erst allein mit der Neuigkeit befassen.

Mac lächelte in die Kamera. Im Gegensatz zu Sergeant Lightbody wirkte er völlig entspannt. „Normal vielleicht nicht, aber wir von der Luftrettung schließen uns mit anderen Rettungsteams kurz, falls ein Notfall dies erfordert. Ein Arzt gleich vor Ort kann über Leben oder Tod entscheiden.“

„Selbst wenn es bedeutet, dass Sie Ihr Leben riskieren?“ Die hübsche Blondine konnte ihre Bewunderung nicht verbergen.

„Die Royal Navy wird schon dafür sorgen, dass mir nichts passiert“, erwiderte Mac leichthin. „Außerdem sind sie die echten Helden. Die Männer von der Marine machen das jeden Tag, und ohne den erfahrenen Piloten und sein Team hätten wir die Familie niemals in Sicherheit bringen können.“

Abby konnte immer noch nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sah. Diesen Mann hatte sie vor Jahren verzweifelt gesucht, und nun war er hier, in Penhally Bay, und überdies ein zukünftiger Kollege!

Welch eine Ironie des Schicksals, dass sie ausgerechnet hierhergezogen waren, weil Emma keinen Vater hatte.

Vor wenigen Monaten, kurz vor Emmas elftem Geburtstag, hatte Abby sie gefragt, ob sie ihre Schulfreundinnen zu einer Party einladen wollte. Zu ihrem Entsetzen war Emma in Tränen ausgebrochen. Erst nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, gestand sie, dass sie in der Schule gehänselt wurde. Nur ihre beste Freundin hielt noch zu ihr.

„Aber warum, mein Schatz? Du hattest doch so viele Freunde.“

Die Tränen flossen von Neuem, und zwischen Schluchzern erzählte Emma, wie es angefangen hatte. Eins der Mädchen zog sie immer wieder damit auf, dass sie keinen Vater hatte.

„Ich hab ihr gesagt, dass ich natürlich einen Vater habe. Dann haben sie gefragt, wo er ist. Als ich sagte, ich weiß es nicht, haben sie sich über mich lustig gemacht. Dass ich entweder lüge oder eine schlechte Tochter sein muss, wenn mein Dad nichts von mir wissen will. Ich habe versucht, nicht auf sie zu hören, aber sie haben immer weitergemacht und scheußliche Sachen gesagt.“

Mit Tränen in den Augen blickte sie Abby an. „Ich weiß, dass du nicht meine Mutter bist, Mum.“ Als ihr auffiel, was sie da gesagt hatte, berichtigte sie sich lächelnd. „Doch, klar, du bist meine Mutter, aber nicht meine leibliche. Aber du hast mir nie verraten, wer mein Vater ist. Warum kümmert er sich nicht um mich? Warum hat er noch nie versucht, sich mit mir zu treffen?“

Ihre Frage klang so verzweifelt, dass Abby das Herz wehtat. Sie war nicht ihre leibliche Mutter, aber sie liebte das Mädchen wie eine eigene Tochter. Dass es das Kind ihrer Zwillingsschwester Sara war, verstärkte die Bindung zusätzlich.

„Ich möchte endlich wissen, wer mein Dad ist“, hatte Emma leise hinzugefügt. „Alle anderen wissen, wer ihr Dad ist, warum ich nicht?“

Abby hatte ihr in die blauen Augen gesehen, die denen von Sara so ähnlich waren, und behutsam geantwortet: „Schätzchen, er weiß vielleicht gar nicht, dass es dich gibt.“

„Wieso das denn? Hat meine richtige Mutter es ihm nicht erzählt?“

„Sara war sehr glücklich, als du unterwegs warst. Vielleicht wollte sie dich ganz allein für sich.“

In Wahrheit hatte Sara ihm die Schwangerschaft verschweigen wollen. Erst als sie erfahren hatte, dass sie nicht mehr lange leben würde, erzählte sie Abby, dass sie mit Mac, dem Surflehrer auf Mykonos, eine Affäre gehabt hatte.

Emma war gerade drei Monate alt, da flog Abby mit ihr nach Griechenland, um nach ihm zu suchen. Vergeblich. Die Sommersaison war vorüber, Touristen und Surflehrer hatten längst ihre Koffer gepackt und waren abgereist. Niemand konnte ihr sagen, wie Mac richtig hieß, geschweige denn, wo er sich aufhielt.

Bevor ihre Schwester starb, hatte Abby ihr versprochen, sich um ihre Tochter zu kümmern. Das Versprechen hatte sie gehalten, und obwohl es nicht immer leicht war, so hatte sie ihre Entscheidung nie bereut. Emma brachte so viel Freude und Sonnenschein in ihr Leben.

„Ich möchte nicht an der Schule bleiben, Mum. Bitte, kann ich nicht auf eine andere gehen, wenn ich in die Sekundarstufe komme?“

„So einfach ist das nicht, mein Herz. Gute Schulen direkt am Wohnort sind hier in London nicht so leicht zu finden. Lass mich erst mit deiner Klassenlehrerin reden, ja?“

Die Lehrerin versprach, zu helfen, aber auch sie konnte die Hänseleien nicht ganz abstellen. Verärgert und traurig zugleich beobachtete Abby, wie ihre Tochter weiterhin litt und sich mehr und mehr zurückzog. Als sie dann in einer Stellenanzeige las, dass der Royal Cornwall Air Ambulance Service einen erfahrenen Sanitäter suchte, besprach sie sich mit Emma und bewarb sich. Cornwall wäre für sie ideal. Die herrliche Landschaft, das Meer sozusagen direkt vor der Haustür, ja, das war genau das Richtige für Emma, die sich gern viel in der freien Natur aufhielt.

Und so weinten sie dem Großstadtleben keine Träne nach. Abby versprach ihrer Tochter, sich noch einmal auf die Suche nach ihrem Vater zu machen, sobald sie sich in ihrem neuen Zuhause eingerichtet hatten. Wie hätte sie ahnen können, dass sich ihre Wege schon bald kreuzen würden?

Abby holte den zerknitterten Schnappschuss aus der Schublade. Das Foto war am letzten Abend ihres Urlaubs mit Sara auf Mykonos entstanden, und sie hatte es wohl schon hundert Mal betrachtet. Eine Gruppenaufnahme am Strand. Mac hatte den Arm um Sara gelegt, die lachend zu ihm aufblickte. Abby selbst stand am Rand, eine ernste, schmale Gestalt mit mittellangem Haar, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Sie bezweifelte, dass Mac sie überhaupt wahrgenommen hatte. Sicher, sie waren einander vorgestellt worden, aber sein Blick war sofort zu ihrer lebenslustigen, fröhlichen Schwester geglitten.

Sie sah zum Fernseher hin. Das Interview war beendet, und doch erwartete sie, dass er gleich wieder auf dem Bildschirm auftauchen würde. Eine Woche Training lag noch vor ihr, dann würde sie ihre neue Stelle beim Luftrettungsdienst von Cornwall antreten. Eine Woche also, um sich ein paar Gedanken zu machen, bevor sie Dr. MacNeil gegenübertrat.

Was sollte sie Emma sagen?

Was sollte sie Mac sagen?

Was sollte sie tun?

2. KAPITEL

Nervös betrat Abby die Zentrale der Royal Cornwall Air Ambulance. Sie arbeitete seit zwölf Jahren in ihrem Beruf, doch ab heute warteten neue Erfahrungen auf sie. In Zukunft würde sie zu ihren Rettungseinsätzen fliegen, und noch war ihr etwas mulmig bei der Vorstellung, sich vom Hubschrauber aus abzuseilen. Trotz des intensiven Trainings, das sie genossen hatte.

Das war aber nur ein Grund für ihre Unruhe. Viel mehr zu schaffen machte ihr, dass sie Mac heute begegnen würde.

Seit sie ihn zufällig im Fernsehen gesehen hatte, plagten sie Hunderte von Fragen. Wenn er nun verheiratet war und Familie hatte? Oder von seiner Tochter nichts wissen wollte? Sollte sie ihr dann verschweigen, dass ihr Vater in der Nähe lebte? Hatte sie überhaupt das Recht, Emma diese Information vorzuenthalten?

Schließlich entschied sie sich, Emma nichts zu erzählen, ehe sie nicht mit Mac gesprochen hatte. Letztendlich war ein schlechter Vater schlimmer als gar kein Vater, oder?

Der Leiter der Luftrettung, den sie bereits bei ihrem Vorstellungsgespräch kennengelernt hatte, erwartete sie an der Tür. Paul war Anfang fünfzig, ein großer Kerl mit einem netten Lächeln.

„Schön, dass Sie da sind, Abby“, begrüßte er sie. „Hat Ihnen das Training Spaß gemacht? Der Kursleiter hat Sie in den höchsten Tönen gelobt. Wie gefällt Ihnen Penhally Bay?“

„Ein idyllisches Städtchen. Viel habe ich allerdings noch nicht gesehen. Wenn ich nicht im Kurs war, musste ich mich um die Einschulung meiner Tochter kümmern oder Umzugskisten auspacken. Aber ich habe Emma versprochen, dass wir uns an meinem ersten freien Tag die Gegend ansehen.“

„Tun Sie das. Für Kinder ist es hier ideal. Meine sind längst flügge, aber sie nutzen jede Gelegenheit, uns zu besuchen.“ Er deutete zur Treppe. „Kommen Sie mit ins Büro. Die Truppe ist schon gespannt darauf, Sie kennenzulernen.“

Ihr Herz klopfte wie wild, und ihre Beine fühlten sich an wie aus Pudding, während sie Paul folgte. Würde Mac sie nach all den Jahren wiedererkennen? Wahrscheinlich nicht. Sie hatte sich äußerlich sehr verändert, und damals hatte er ihr kaum Beachtung geschenkt.

Paul führte sie in einen großen Raum, in dem sich ein paar Leute versammelt hatten. Es duftete nach Kaffee, und das Stimmengewirr verriet eine lebhafte Unterhaltung.

Wie magisch angezogen, fiel Abbys Blick zuerst auf Mac. Die langen Beine von sich gestreckt und die Hände lässig hinterm Kopf verschränkt, saß er auf einem der Stühle und sprach mit einem Kollegen. Wie die meisten Anwesenden trug er einen orangefarbenen Overall. Der Reißverschluss war jedoch fast bis zur Taille heruntergezogen, und unter dem leuchtend weißen T-Shirt darunter zeichneten sich eine breite, muskulöse Brust und ein flacher Waschbrettbauch ab.

Abbys Herz flatterte wie ein gefangener kleiner Vogel.

„Alle mal herhören“, verschaffte sich Paul mit seiner sonoren Stimme die nötige Aufmerksamkeit. „Ich möchte euch unsere neue Kollegin vorstellen. Das ist Abby Stevens.“

Vor diesem Moment hatte sie sich gefürchtet. Würde Mac sich an sie erinnern? An Saras Nachnamen? Hatte er ihn überhaupt gewusst? Obwohl alle anderen sich ihr zuwandten, verfolgte sie angespannt Macs Reaktion.

Die blauen Augen wurden schmal, ein nachdenklicher Ausdruck erschien flüchtig auf seinem Gesicht, aber dann lächelte Mac und erhob sich geschmeidig. Sein Blick glitt über ihren Körper. „Ich bin Dr. William MacNeil, aber hier sagt jeder Mac.“

Er hatte einen festen Händedruck, aber nicht deswegen zuckte sie insgeheim zusammen. Die Berührung löste ein Prickeln aus, das wie ein leichter Stromschlag in ihren Arm schoss, und hastig entzog Abby ihm ihre Hand. Sie wandte sich ab, um die anderen Kollegen zu begrüßen, bekam aber noch mit, wie Mac verwundert die Stirn runzelte.

Paul machte sie mit Mike und Jim, den beiden anderen Sanitätern bekannt, dann mit einem etwas älteren Mann namens Greg, dem Hubschrauberpiloten, und mit Lucy, der Notfallärztin. Kirsten war die Letzte. Sie war für die Telefonzentrale zuständig und hielt während der Einsätze ständigen Kontakt mit dem Rettungsteam.

Alle lächelten Abby freundlich an und gaben ihr sofort das Gefühl, willkommen zu sein. Sie freute sich schon darauf, mit ihnen zusammenzuarbeiten – mit einer Ausnahme.

„Kannst du Abby herumführen, Mac?“, bat Paul. „Ich habe Papierkram zu erledigen, und Lucy und Mike wollten noch berichten, wie der Einsatz gestern abgelaufen ist.“ Er wandte sich an Abby. „Wir sehen uns später, ja?“

„Ein Autounfall auf der Küstenstraße“, begann Lucy, nachdem Paul das Zimmer verlassen hatte. Sie war klein und füllig und hatte helle, kluge Augen. „Der Fahrer war zu schnell unterwegs und prallte mit einem entgegenkommenden Wagen zusammen.“

„Gab es Tote?“

„Überraschenderweise nicht. Der andere Fahrer konnte noch ausweichen, sonst wäre der Zusammenstoß für beide fatal gewesen. Die Feuerwehr brauchte Stunden, bis sie den Verursacher aus seinem Auto geschnitten hatte. Wir mussten ihn die ganze Zeit beatmen, und er ist immer noch nicht über den Berg. Aber er kann von Glück sagen, dass er überhaupt am Leben ist.“

Lucy sah auf ihre Armbanduhr. „So, ich muss los!“ Sie streckte Abby wieder die Hand entgegen. „Schön, noch eine Frau an Bord zu haben, Abby. Bei all den muskelbepackten Männern hier fühlen Kirsten und ich uns manchmal etwas unterrepräsentiert, nicht, Kirsten?“

Die Telefonistin grinste verschmitzt. „Lucy macht Witze – sie kann es jederzeit mit den Kollegen aufnehmen.“

Abby warf einen Seitenblick auf Mac, der das Gespräch schweigend verfolgt hatte. Sie ertappte ihn dabei, wie er sie musterte.

„Sind wir uns schon mal begegnet?“, fragte er schließlich.

Ihr Puls beschleunigte wieder. Sara und sie waren keine eineiigen Zwillinge gewesen, hatten aber deutliche Ähnlichkeiten gehabt … die braunen Augen, die gerade Nase und den großen, weich geschwungenen Mund. Für den Mykonosurlaub hatte Sara sich die Haare kurz geschnitten und platinblond gefärbt. Abby hingegen trug ihr schulterlanges karamellbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und hatte ständig eine Sonnenbrille auf. Auf den ersten Blick hätte man sie nie für Zwillingsschwestern gehalten. Und Mac hatte Abby kaum einen Blick gegönnt.

Außerdem konnte sie ihm jetzt wohl schlecht von Sara und Emma erzählen. Also zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte: „Ich glaube nicht.“

Der nachdenkliche Ausdruck verschwand und machte wieder dem unbekümmerten Lächeln Platz. „Sie haben recht.“ Mac senkte die Stimme. „Ich hätte mich an Sie erinnert. Schöne Frauen vergesse ich nicht“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

„Und sie vergessen dich nicht, wolltest du sagen, hm?“, neckte Lucy und wandte sich Abby zu. „Hüten Sie sich vor unserem lieben Mac. Wir halten große Stücke auf ihn, aber er ist ein Herzensbrecher. Zum Glück bin ich zu alt für ihn, und Kirsten ist schon vergeben.“

„Ich gehe gern jederzeit mit dir aus, Lucy“, konterte Mac gut gelaunt. „Du brauchst es nur zu sagen.“

„Ja, ja …“ Mit einem theatralischen Seufzer griff sie nach ihrer Handtasche. „Okay, ich bin weg.“

„Ich auch“, schloss sich Kirsten an. „Die Arbeit ruft!“

Und dann war sie mit Mac allein. Der betrachtete sie immer noch leicht fragend, und ihr Unbehagen wuchs. „Dr. MacNeil“, begann sie steif. „Wir sollten mit der Besichtigung anfangen.“

Wieder dieses atemberaubende Lächeln. „Nennen Sie mich Mac. Das tut jeder hier.“

Mac ließ Abby vorangehen und unterdrückte einen anerkennenden Pfiff, als er sah, wie sich ihre weiblichen Hüften unter dem Stoff bewegten. Bei jeder anderen Frau hätte der orangefarbene Kittel mit der passenden Hose wenig schmeichelhaft ausgesehen, doch für Abby schien er maßgeschneidert zu sein.

Aber nicht nur ihre verführerische Figur war hinreißend. In ihren warmen braunen Augen konnte sich ein Mann verlieren, und für die hohen Wangenknochen hätte so manches Model, mit dem er ausgegangen war, sonst was gegeben. Selbst die Sommersprossen auf ihrer Nase taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil, sie sah damit richtig süß aus. Vor allem, wenn sie bei seinen Bemerkungen errötete.

Dass sie keinen Ehering trug, hatte er schon festgestellt. Gut. Die nächste Zeit könnte interessant werden …

Mac begann seine Führung in Kirstens kleinem Büro. Sie hatten es gerade betreten, da klingelte das Telefon.

Kirsten hob die Hand, bat um Stille. „Versuchen Sie, ruhig zu bleiben, meine Liebe“, sagte sie schließlich. „Wir schicken so schnell wie möglich jemanden zu Ihnen. Warten Sie einen Moment, ich rede kurz mit unserem Arzt.“

Sie schwang mit ihrem Schreibtischstuhl herum. „Vierunddreißigste Schwangerschaftswoche, anscheinend haben die Wehen eingesetzt. Die werdende Mutter ist allein auf dem Hof und kann nicht ins Krankenhaus kommen, weil ihr Mann mit dem Wagen unterwegs ist.“ Kirsten bedeckte den Apparat mit der Hand. „Sie hat mir erzählt, dass sie einen Plazentavorfall hat und in zwei Wochen mit Kaiserschnitt entbinden sollte.“

„Wo liegt der Hof?“, fragte Mac. Verschwunden war die Lässigkeit, jetzt war er voll und ganz der Arzt, der sich auf einen Notfall konzentriert.

Kirsten deutete auf die Karte. „Dort.“

„Was ist mit dem Krankenwagen?“, warf Abby ein.

„Schwierig“, meinte Kirsten. „Bei den Straßen dauert es mindestens eine Stunde, bis er da ist. Außerdem meinte Jenny Hargreaves – so heißt sie –, dass der Weg zum Hof nur mit Allradantrieb passierbar ist. Was mich nicht wundert, in den letzten vierzehn Tagen hat es heftig geregnet.“

„Wir müssen sie so schnell wie möglich auf die Entbindungsstation bringen“, sagte Mac. „Okay, Kirsten, sag Greg Bescheid, er soll den Heli anwerfen, und Jenny, dass Hilfe unterwegs ist. Kann sie eine Freundin oder einen Nachbarn bitten, in der Zwischenzeit bei ihr zu bleiben?“

Kirsten schüttelte den Kopf. „Nein. Sie ist mit ihrem neunjährigen Sohn allein.“

„Sie soll ihn ans Telefon holen, damit er die Verbindung hält. Ruf im St. Piran an, damit sie sich vorbereiten. Ach, und wir sollten für alle Fälle einen Inkubator für das Baby an Bord haben. Kommen Sie, Abby, Ihr erster Einsatz winkt. Wir müssen uns fertigmachen.“

Während Abby hinter ihm die Stufen zur Kammer hinunterlief, wo die Ausrüstung aufbewahrt wurde, rief sie sich ins Gedächtnis, was sie über Placenta praevia wusste.

„Das sieht nicht gut aus, oder?“, fragte sie beunruhigt, als Mac ihr eine Jacke reichte.

„Erzählen Sie mir, was Sie über den Zustand wissen.“

„Bei einer Placenta praevia liegt die Plazenta vor dem Baby und verschließt dadurch den Geburtskanal. Das kann zu starken, lebensbedrohlichen Blutungen kommen, wenn es nicht behandelt wird. Wenn die Wehen eingesetzt haben, bleibt uns nicht mehr viel Zeit.“

Während ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, welche Komplikationen bei einer Entbindung auftreten konnten. Damals war es noch graue Theorie gewesen, aber seit Sara kurz nach Emmas Geburt gestorben war, wusste Abby, womit sie es zu tun hatte.

Oh, bitte, lass uns rechtzeitig da sein! „Haben wir einen Geburtshelfer in Rufbereitschaft?“

„Im St. Piran. Kirsten wird uns durchstellen, sobald wir in der Luft sind.“ Mac hielt inne und legte ihr die Hände auf die Schultern. Dann sah er ihr in die Augen. „Schaffen Sie das?“ Sein Blick war ruhig, und Mac selbst strahlte eine unerschütterliche Gelassenheit aus.

Es half ihr, sich ein wenig zu entspannen. „Natürlich“, antwortete sie möglichst unbefangen. „Ganz normaler Alltag.“

Wenig später saßen sie im Hubschrauber.

„In zwanzig Minuten müssten wir da sein“, vermeldete Greg über Funk. „Es ist windig da hinten, kann sein, dass wir ein bisschen durchgeschüttelt werden.“

„Meinst du, wir können landen?“, fragte Mac.

„Das Feld hinter dem Bauernhaus ist groß genug. Es kommt nur darauf an, wie matschig der Untergrund ist. Das sehen wir, wenn wir da sind.“

Abby und Mac tauschten einen Blick.

Autor

Anne Fraser
Anne wurde in Schottland geboren, ist aber in Südafrika aufgewachsen. Nachdem sie die Schule beendet hatte, kehrte Sie sie wieder an die Geburtsstätte ihrer Eltern, nach Schottland, zurück. Sie schloss dort eine Ausbildung als Krankenschwester ab, bevor sie auf die Universität ging, um englische Literatur zu studieren. Nach der Geburt...
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